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Der Sommerabend ging wunderbar schön zu Ende. Draußen im Freien blaute der Himmel, von rothem Abendgold durchflammt, und die Sonne sank so unumwölkt und schleierlos dem Untergang entgegen, daß das geblendete Auge den Glanz nicht zu ertragen vermochte und der ganze Westen in ein brennendes Duftmeer zerfloß. In dem engen Gäßchen hinter der Stadtmauer war freilich von all der Herrlichkeit nichts zu bemerken; dort waltete schon tiefe Dämmerung, und nur wer an den hohen Häusern emporblickte, der gewahrte einen schmalen Streifen von dem blauen, sonnendurchleuchteten Himmel und darunter an den Mauem und Zinnen den Widerschein des Abends, der die altersbraunen Ziegel in noch glühenderes und tieferes Roth tauchte, als wäre es Blut, was daran herniederströme. Auch in das einsame Haus und den Garten mit seinen mächtigen Baumkronen fiel noch ein Rest des Glanzes herab, als suchte er den Frieden und die stillen, unscheinbaren, aber heitern Menschen, denen er hier so oft zu fröhlichem Feierabend geleuchtet, schon vor mehr als einem halben Jahrhundert, als hier noch der Abendgesang der Mönche erklang, später, da Führers Aeltern ihr klosterhaft abgeschlossenes Leben darin verbrachten, und wieder, als der Sohn mit der Mutter, nur den Wissenschaften lebend, in diesen Räumen fast vergessen hatte, daß draußen eine wildbewegte Welt brandend und brausend vorüberzog. Wohl war es noch einsam in dem Gebäude und dem Garten; es schien sogar, als ob noch tieferes Schweigen dort eingezogen, aber der Eindruck, den das Ganze machte, war nicht mehr so friedlich wie sonst; es war Alles geblieben, wie es war, und doch lag, wie in einem Angesicht eine neu entstandene Kummerfalte, auf Garten und Haus ein düsterer Zug, als ob der Besitzer einige Zeit entfernt oder mit andern Dingen beschäftigt gewesen und darüber nicht Zeit gefunden, Alles mit der Genauigkeit zu ordnen, mit jener Sauberkeit zu schmücken, die sonst in jedem Zweige an der Hecke, an jedem Steinchen des Weges sichtbar geworden. Eine gewisse Verwahrlosung gab sich kund, eine Hast, die das Nöthige und Unvermeidliche wohl thut, aber nicht mit jenem angenehmen Behagen, das solchen Verrichtungen ihre Wichtigkeit und Bedeutung für Haushalt und Familie gibt, sondern wie etwas Lästiges und Unvermeidliches, mit dem man so schnell als möglich fertig zu werden trachtet, um wieder an Anderes zu kommen. Während sonst im Hause und dem breiten, gewölbten Thorweg keiner Spinne Zeit gelassen worden wäre, ihr Netz aufzuspannen, und während früher ein vom Winde verwehtes Blatt, ein von einem nestbauenden Vogel verzettelter Halm schon wieder beseitigt war, ehe er recht Platz gefunden, waren jetzt überall solche Spuren von Unordnung zu erkennen, und in den Zimmern des obern Stocks waren gegen alle Gewohnheit die Fensterläden nur halb angelehnt, als wären sie schnell aufgestoßen worden, um in einen unbewohnten Raum, den man flüchtig besucht, schnell vorübergehendes Licht zu bringen. Die Thür des Hauses stand offen, und selbst in dem großen Einfahrtsthor war das sonst so unerbittlich streng geschlossene Eingangspförtchen noch so spät geöffnet, denn in dem Pförtchen stand die Frau Räthin, unruhig und sehnsüchtig wartend, indem sie von Zeit zu Zeit den Kopf in die dunkle Straße hinausbeugte, als wollte sie den, dessen sie mit Ungeduld harrte, um einige Schritte früher kommen sehen. Niemand kümmerte sich um die alte Frau; das Gäßchen war wie ausgestorben, und wenn Jemand durch das Dunkel herankam, eilte er hastig und wohl gar laufend vorüber, als ob ein dringendes Geschäft ihn riefe, oder in der Nähe Wichtiges und Merkwürdiges vorgehe, dessen Zeuge zu sein er nicht versäumen wolle.
Einige Male hatte der Räthin schon das Wort auf der Zunge geschwebt, um die Eilenden anzurufen, aber immer wieder hielt sie an sich; denn sie war zu sehr an das Haus gewöhnt und dem Verkehr mit Menschen entfremdet, wenn er sich nicht auf die nächsten Nachbarn und unter diesen wieder auf jene beschränkte, die der in ihren alten, strengen Anschauungen ergrauten Frau ihrer Beachtung und Theilnahme und wohl auch der damit verbundenen Wohlthaten würdig dünkten. So konnte sie sich nicht entschließen, in der sinkenden Nacht den nächstbesten, wildfremden Menschen anzureden, ihm zu zeigen, daß sie ihre Unruhe nicht zu bemeistern vermöge, und ihn so gewissermaßen zu ihrem Vertrauten zu machen.
»Es wird das Beste sein«, sagte sie leise vor sich hin, »ich schließe das Haus und kehre in mein Zimmer zurück. Die Einsamkeit und mein Gebetbuch werden mir wohl helfen, diese Ungeduld zu bezwingen. Wenn es Gutes ist, was ich erfahren soll, wird es zur rechten Zeit wohl an mich kommen, und ist's Schlimmes, so erfahre ich es immer noch früh genug.« Schon zog sie das Pförtchen an, als sie, noch einmal flüchtig zurückblickend, im Dämmerlichte wieder eine Gestalt herankommen sah, die ihr bekannt schien. »Meister Will!« rief sie. »Ist Er es, oder ist Er es nicht?«
»Bin's schon, Gnaden Frau Räthin«, erwiderte der Angeredete, indem er stehen blieb und, keuchend vom Laufen, tief Athem holte. »Sie sind noch um diese Zeit auf der Straße? O du lieber Gott, was man nicht Alles erlebt! Aber freilich, es geht Sie ja nahe genug an; es ist ja Ihr Sohn.«
»Rede Er, Meister!« sagte die Räthin, indem sie sich zusammennahm, um ihre Unruhe möglichst zu verbergen. »Wie kommt Er auf meinen Sohn? Der ist vor einigen Tagen in wichtigen Geschäften nach St.-Wendelin zu Seiner Durchlaucht gereist und befindet sich noch dort.«
»Ihr Wort in Ehren, Gnaden Frau Räthin«, erwiderte der Weber, »aber das ist es ja eben, weswegen der Lärm in der Stadt entstanden ist und was man nicht glaubt! Der Herzog, das werden Sie schon wissen, ist vergangene Nacht plötzlich und unerwartet in der Stadt angekommen, aber allein und im größten Unwillen, und die Leute sagen, es sollen zwischen ihm und dem Minister, Ihrem Herrn Sohne, entsetzliche Dinge vorgefallen sein; der Herzog soll mit dem Degen auf ihn losgegangen sein.«
Die Räthin zitterte, daß sie kein Glied stillzuhalten vermochte; dennoch gewann sie es über sich, einen Laut hervorzustoßen, der wie Lachen klingen sollte. »Albernes Geschwätz!« sagte sie. »Ein gescheidter Mann und ruhiger Bürger wie Er, Meister, sollte sich mit solchen Sachen gar nicht abgeben und derlei Kindereien nicht glauben.«
»Es glaubt auch Niemand recht daran«, sagte Will, »aber es ist das Gerede so, und daß es was Besonderes gegeben hat, das ist gewiß. Der Minister ist nicht mitgekommen; kein Mensch weiß, wo er geblieben ist, und er wird wohl auch so bald nicht kommen, denn es heißt, der Herzog habe befohlen, daß Alles, was die Regierung angeht, statt, wie bisher an den Minister, direct an ihn gebracht werden soll.«
»Direct an ihn!« stammelte die Räthin, ohne recht zu wissen, was sie sagte.
»So sagen die Leute«, fuhr der Weber fort. »Sie stehen auf der Straße zusammen, so dicht, daß man auf den Köpfen gehen könnte, fast wie damals, als der alte Herr die Verzehrsteuer eingeführt hatte und es darüber zum Krachen kam. Jesus, mein Heiland, mir zittert noch Alles im Leibe, wenn ich daran denke! Wenn man so etwas wieder erleben müßte!«
»Es wäre entsetzlich«, flüsterte die Räthin.
»Ja«, rief der Weber, »ich glaub' nicht, daß ich's überleben thät'. Aber so viel ist gewiß, daß es schlimm aussieht. Ich bin nur hinaus, um den Sohn meiner Schwester, den Richard, zu suchen. Der Bub ist mein ganzes Kreuz, an dem allein ich genug zu tragen hätte! Ich bin schon glücklich gewesen, weil ich ihn bei einem Kaufmann in die Lehre gebracht habe und noch dazu ohne Lehrgeld. Aber gleich in der ersten Woche ist er wieder davon und hat einen Commis geschlagen, der von ihm verlangt hat, er solle ein Faß in das Gewölbe rollen. Heute ist er mir nun aus der Bodenkammer gestiegen, in die ich ihn eingesperrt hatte, und darum muß ich ihn suchen, denn der Unglücksbub ist zu Allem fähig. Er ist nirgends zu finden!«
»Ich habe den Bedienten, unsern Sebald, auch um Nachricht in die Stadt geschickt«, sagte die Räthin, »die Köchin ist selbst fortgelaufen, aber es kommt keins davon zurück.«
»Sie können wohl nicht durch«, meinte Will. »An der Hochbrückengasse steht Alles voll Menschen; man muß den Umweg machen über den Schloßplatz, und da ist just auch Militär ausgerückt.«
»Mein Gott! Mein Gott!« jammerte die alte Frau. »Was werden meine alten Augen noch Alles erblicken müssen, ehe sie sich schließen? Also ist es wirklich wieder so weit, daß ein solches Unglück vor der Thür steht? Dazu diese entsetzliche Ungewißheit wegen meines Sohnes!«
»Das ist freilich entsetzlich, wenn Sie nichts wissen«, sagte der Weber. »Wenn er der eigenen Mutter keine Nachricht gegeben hat, dann wird es wohl sein, wie die Leute sagen.«
»Und was sagen die Leute?« rief stockend die Räthin, indem sie die Hände an die Schläfe legte, welche fieberhaft pulsirten.
»Sie sagen, der Herr Minister habe mit dem Herzog ein Bündniß gemacht gehabt, so was man einen Tractat heißt, daß er alle neuen Gesetze ausführen und so regieren wolle, wie es der Herr Minister haben wolle. Der Herzog habe das auch versprochen; jetzt aber wolle er es nicht mehr halten, und da habe ihm der Minister seine Wortbrüchigkeit vorgeworfen. Darauf habe ihn der Herzog in der Wuth in den Kerker werfen lassen. Andere erzählen gar, er habe den Degen gezogen und ihm in die Brust gerannt.«
Die Räthin vernahm diese Worte nur undeutlich, wie durch das Brausen eines Wasserfalls; sie sah den Redenden nur wie durch einen Flor vor sich stehen. Sie wankte, und da der in seiner Erzählung begriffene redselige Weber davon nichts gewahrte, wäre sie zusammengesunken, hätte nicht der kräftige Arm eines Mannes, der im Dunkel unbeachtet hinzugetreten war, sie umfaßt und aufrecht gehalten. »Gehen Sie Ihrer Wege, guter Freund!« rief der Mann dem Weber in etwas barschem Tone zu. »Kramen Sie Ihre Geschichten anderswo aus! Sie sehen, daß sie für die Frau Räthin nicht geeignet sind.« Dem Weber stockte bei der Anrede das Wort im Munde. Verwundert sah er bald den Angekommenen, bald die Räthin an und schien sich auf eine Frage zu besinnen.
»Sie«, rief die Räthin endlich, »Sie sind's, Herr Riedl?«
»Ich bin's«, erwiderte er. »Beruhigen Sie sich, Frau Räthin, und erlauben Sie, daß ich Sie in Ihre Wohnung geleite! Die Nachtluft könnte Ihnen schaden. Ich bringe Nachricht von Friedrich.«
»Von Friedrich?« rief die Räthin, sich vollständig aufrichtend. »O, dann rasch, rasch! Verlieren wir keinen Augenblick, daß ich Alles erfahre! Kommen Sie, ich bin nicht mehr schwach. Wo ist er? Wie geht es ihm? Er befindet sich doch wohl?«
»Erlauben Sie«, war Riedl's Erwiderung, »diese Mittheilungen für einen vertrautern Ort zu versparen! Hier möge genügen, damit auch die Nachbarn und Geschichtenerzähler ihren Theil daran erhalten, daß Ihr Sohn gesund und ungefährdet ist und sich in voller Sicherheit befindet. Gehen Sie, Mann, und breiten Sie das auch aus!« fuhr er zu Will gewendet fort. »Wenn diese Nachrichten vielleicht weniger pikant sind als die Ihrigen und deshalb weniger geglaubt werden, so haben sie doch den Vorzug, daß sie wahr sind.«
Mit diesen Worten hatte er den Weber leicht beiseite geschoben, war mit der Räthin ins Pförtchen getreten und zog dieses dem Meister, der gern noch mehr gehört hätte, ziemlich unsanft vor der Nase zu.
»Nun, wegen der Freundlichkeit wird der Herr Riedl auch nicht gestraft«, brummte der Weber, die verschlossene Thür ansehend. »Das ist ein Volksfreund! Ich muß schon sagen: das ist eine eigene Freundschaft. Unsereins gehört doch auch zum Volk. Aber ich will nun heim«, unterbrach er sich selbst, »und will schauen, ob der Unglücksbub nicht doch gekommen ist, und hab' ich ihn nur wieder, so will ich ihn einsperren, daß er mir sicher nicht das zweite Mal auskommt. Dann aber will ich auch in die Stadt zurück und will erzählen, was ich erfahren habe.«
Während der Weber unter diesen Reden seine ärmliche Wohnung erreicht und an das papierverklebte Fenster des Erdgeschosses geklopft hatte, war Riedl mit der alten Räthin im Hause und im Wohnzimmer angelangt und ließ die Frau, welche mehr angegriffen war, als sie scheinen ließ, auf das Ledersopha des Wohnzimmers niedergleiten. Die Natur war schwächer als der Wille der sonst so entschiedenen Frau, in Anwandlung einer leichten Ohnmacht sank sie auf die Rücklehne zurück und schloß die Augen. Riedl, mit der Oertlichkeit des Hauses und dessen Gewohnheiten wohl vertraut, holte vom Arbeitstische der Räthin am Fenster ein Fläschchen Karmelitergeist, das die alternde Frau in ihrem Nähkorbe zu bewahren pflegte, ein erprobtes, unfehlbares Hausmittel gegen äußere Verletzungen und innerliches Uebelbefinden. Riedl schüttete einige Tropfen auf die Hand, bestrich der Ohnmächtigen die Schläfe und hielt ihr das Fläschchen an die Nase. Bald schlug sie die Augen auf und ließ sie auf dem Manne, der mit der Sorgfalt eines Sohnes um sie beschäftigt war, eine Weile mit einem Ausdruck ruhen, aus welchem halb Dank, halb Verwunderung sprach. »Ich danke Ihnen«, sagte sie nach einiger Zeit, sich erhebend. »Ihre Nachricht hat mich schon gestärkt. Ich werde bald wieder die Alte sein. Sagen Sie mir nur mehr! Sagen Sie mir Alles, was Sie wissen! Darf ich es wirklich glauben, daß Friedrich gesund, frei und außer Gefahr ist?«
»Es ist, wie ich gesagt habe. Sie können außer Sorge sein. Ich weiß es von ihm selbst – er hat mir geschrieben.«
»Er hat Ihnen geschrieben?« rief sie jammernd. »Ihnen und nicht mir, seiner Mutter? O dann ist doch irgend etwas da, was verborgen werden soll; sonst hätte er gewiß seiner Mutter geschrieben, und nicht –«
»Nicht einem Fremden, wollen Sie sagen«, entgegnete Riedl, da sie stockend innehielt, in gelassenem Tone. »Geniren Sie sich nicht, Frau Räthin, aber vergessen Sie auch nicht, daß ich für Ihren Sohn kein Fremder bin. Vielleicht hat er eben jetzt mehr als jemals eingesehen, wie sehr ich sein Freund bin, und hat gerade deshalb an mich geschrieben. Auch bestehen noch andere Gründe dafür. Er muß wünschen, daß für den ersten Augenblick sein Aufenthalt unbekannt bleibe. Briefe an Sie könnten wider Willen auf die Spur führen; an mich können sie auf geheimem, unverdächtigem Wege kommen.«
»Aber wie hängt das Alles zusammen?« klagte sie wieder, die Hände zusammenschlagend. »Soll auch das für mich ein Geheimniß sein?«
»Das nicht«, sagte Riedl nach einigem Besinnen. »Sie begreifen, um was es sich handelt: es ist Ihr Sohn, dessen Geschick dabei auf dem Spiele steht; Sie werden also schweigen. Wissen Sie denn, er ist über die nächste Grenze und hat in diesem Augenblicke wohl längst die Schweiz erreicht. Dort wird er unter anderem Namen in der Verborgenheit abwarten, bis die Verhältnisse geklärt sind, oder bis er selbst einen bestimmten Entschluß gefaßt haben wird.«
»Ueber die Grenze! Verborgen und unter einem andern Namen!« jammerte die Frau. »Wie ein Flüchtling, ein Verbrecher, auf den gefahndet wird! Also so weit ist es gekommen? O mein Gott, hätte er sich doch nie verleiten lassen, diese gefährliche Laufbahn zu betreten! Das ist nun das Ende.«
»Das wollen wir nicht hoffen«, entgegnete Riedl »Indessen freut es mich, das von Ihnen zu hören. Es ist mir eine Genugthuung, zu erfahren, daß Sie jetzt ebenso denken wie ich. Wer hat ihm mehr abgerathen als ich? Wer hat ihm eindringlicher auseinandergesetzt und bewiesen, daß seine Beziehungen zum Fürsten nie zum Heile führen können, daß der Besitz der Macht früher oder später zu Uebergriffen und Mißbräuchen führen muß, und daß dann der Mächtige, um sich das Erröthen zu ersparen, den Treubruch nicht an sich selbst, sondern an dem zu rächen pflegt, dem die Treue gebrochen wurde?«
»Nein, nein«, sagte die Räthin sich erhebend. »So elend ich bin, das kann ich Ihnen doch nicht zugeben. Meine Meinung über die Fürsten als von Gott eingesetzte Obrigkeit ändert sich nicht mehr so leicht. Ich klage nur über seinen Ehrgeiz, durch den er sich verlocken ließ, die stille, bescheidene Bahn als Lehrer zu verlassen. Wie glücklich wäre er auf dieser geworden, wie viel Gutes hätte er wirken können! Für diese Geschäfte aber, davon bin ich überzeugt, ist mein Sohn nicht gemacht.«
»Sie haben Recht«, sagte Riedl, »aber auch das habe ich vorausgesagt. Friedrich ist für eine solche Stellung zu gut, zu sanft. Wer regieren will, muß nicht blos die Hände, er muß auch das Herz von Eisen haben. Friedrich ist ein Schwärmer, allerdings im schönsten und edelsten Sinne des Wortes, aber doch ein Schwärmer. Er lebt Idealen und hat auch hier nur einem solchen gedient. Jetzt ist der Schleier gefallen, und statt der Göttin, die er dahinter geahnt, grinst ihm ein Ungeheuer entgegen, scheußlich wie ein mexikanisches Götzenbild.«
»Nein und abermals nein«, sagte die Räthin, welche ihre volle Fassung wiedergewonnen hatte, und nahm die Haltung zurückweisender Förmlichkeit an, die sie sonst immer im Umgange mit Riedl beobachtet hatte. »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihre Mittheilungen, mein Herr, aber ich will ein- für allemal von diesen Dingen und in diesem Tone nichts hören. Es wird mir lieb sein, wenn Sie mir Friedrichs Brief zu lesen geben. Er wird ja doch auch für seine Mutter bestimmt sein! Im Uebrigen aber werden Sie sich wieder überzeugt haben, wie wenig wir zusammenpassen.«
»Den Brief?« sagte er zögernd. »Das geht nicht an. Der Brief ist nicht für Sie bestimmt, sondern für mich. Er enthält den Auftrag, Sie zu beruhigen und Ihnen herzliche Grüße mit der Nachricht zu bringen, daß er, sobald er einen Ruhepunkt gefunden haben wird, Ihnen sogleich unmittelbar schreiben will.«
Sobald er einen Ruhepunkt gefunden haben wird!« rief die Räthin in neu ausbrechendem Schmerz. »O mein Sohn! Wie gut ist es nun, daß Deinen braven Vater schon die Grube zudeckt! Wenn er das hätte erleben müssen, das hätte ihn hineingestürzt. Mein Sohn, mein Herzenskind flüchtig und ohne eine Stelle, wo er sein Haupt zur Ruhe hinlegen kann! Aber, das soll mir nicht sein«, fuhr sie entschlossen fort, »das muß anders werden, und ich selber will es anders machen. Wenn Sie mir auch den Brief nicht zeigen, so weiß ich doch genug. Mein Sohn kann nichts begangen haben, was ein so großes Unrecht wäre, daß er deswegen flüchtig werden müßte, wie Kain der Brudermörder. Da muß ein Irrthum im Spiele sein oder schändliche Verleumdung. Der Herzog ist hier, ich gehe zu ihm, ich will mit ihm reden. Er soll eine Mutter hören, die für ihren Sohn redet und einsteht für ihn. Ich weiß, daß er immer große Stücke auf ihn gehalten hat; der wird ihn nicht so schnell und so geradehin verurtheilen. Er wird gerecht sein, und das will ich ihm sagen, denn deswegen hat ihm unser Herrgott die Krone gegeben und ihn zum Herzog gemacht.«
Soviel Alter und Aufregung es gestalteten, war die Räthin unter diesen Worten eilig in das Nebengemach gegangen, welches sonst Führer's Studirzimmer gewesen und durch das man auf kürzerem Wege in eine Kammer gelangte, wo Kleider aufbewahrt zu werden pflegten. Riedl folgte ihr. In dem Arbeitszimmer über dem Schreibtische hing ein schlichtes Oelgemälde, das Führers Vater und die Räthin in einem gemeinsamen Familienbilde darstellte. Der Vater sah ernsthaft und gerade vor sich hin. Er trug bürgerliche Kleidung, aber die gemessene Haltung ließ den Beamten erkennen auch ohne den daneben liegenden Hut mit der Dienstkokarde. Ihm zur Seite auf dem naturgetreu copirten Kanapee mit dem Lederüberzuge saß die Räthin, trotz der inzwischen verflossenen Jahre noch an dem freundlichen Ausdruck der Züge und dem milden Blicke der Augen erkennbar. Zwischen beiden, ein blühender Knabe, stand Friedrich, dem die Mutter die Hand auf die Schulter legte, als wenn sie ihn behüten und bedächtig zurückhalten wollte. Zu beiden Seiten in schönen, runden Goldrahmen, fein in Aquarell gemalt, hingen die Bilder Friedrichs und Ulrikens.
»Uebereilen sie sich nicht, Frau Räthin!« sagte Riedl, während sie in dem anstoßenden Kabinet unter ihren Kleidern herumsuchte. »Seien Sie überzeugt, daß ich Ihrem mütterlichen Herzen volle Gerechtigkeit widerfahren lasse, aber ich muß Ihnen sagen, daß Sie sich vergebens bemühen. Gehen Sie jedenfalls heute nicht zum Herzog! Es ist zu spät!«
»Zu spät?« rief die Räthin. »Zu spät für eine Mutter, welche um Gerechtigkeit für ihren Sohn bittet? Niemals!«
Riedl zuckte die Achseln. »In Residenzen hat man darüber andere Begriffe«, sagte er. »Es kommt Niemand zum Herzog. Seit seiner Rückkehr hält er sich streng eingeschlossen und läßt Niemand vor sich. Ihre Bemühung würde also vergeblich sein. Und dann« fuhr er nach kurzem Innehalten mit gesteigertem Nachdruck fort, »wissen Sie denn so gewiß, daß der Herzog Ihren Sohn eines Unrechts beschuldigt und daß Friedrich deswegen abgereist ist und sich verborgen hält? Können Sie sich nicht einen Fall denken, daß die Schuld auf der andern Seite zu suchen wäre? Wäre es nicht auch möglich, daß, wenn Sie Gerechtigkeit suchen, Sie den Herzog bei dem Herzog verklagen müßten?«
Die Räthin ließ das Umschlagetuch, das sie ergriffen hatte, fallen und sah ihn mit großen Augen an. »Was wollen Sie damit sagen? Das verstehe ich nicht.«
»So erfahren Sie denn«, begann Riedl, »was ich jetzt, da Sie genugsam vorbereitet sind, Ihnen mitzutheilen nicht weiter anstehe.«
»Mein Gott, was soll ich noch hören?« rief die Frau, indem sie, wie ahnend, daß sie einer Stütze bedürfen würde, in den Lehnstuhl vor Führer's Schreibpult niederglitt.
Riedl schritt durch das Zimmer und blieb dann vor der Erwartenden stehen. »Ich muß mit einer Frage beginnen«, sagte er, »die Ihnen vielleicht sonderbar dünken mag. Sie kennen ohne Zweifel aus den Mittheilungen Ihres Sohnes die Vergangenheit, die Jugendgeschichte jener Dame, die er zu seiner Frau gemacht hat?«
»Jener Dame?« rief die Räthin erbleichend. »In welchem Tone reden Sie von der Frau meines Sohnes. Was ist's mit ihr? Friedrich hat mir Alles erzählt!«
»Gut«, sagte Riedl und stellte sich einen Stuhl neben den der Frau. »Dann wissen Sie auch, wie Friedrich sie in Hamburg kennen lernte und sie vor den Nachstellungen eines vornehmen und reichen Verführers bewahrte?«
»Weiter, weiter!«
»Und Sie ahnen nicht, wer der Verführer war?« fuhr er fort, während die Räthin ihn mit weit geöffneten Augen anstarrte. »Es war Niemand anders als der damalige Erbprinz, der jetzige Herzog; sein schurkischer Kammerdiener, der sich jetzt als Castellan zu St.-Wendelin befindet, war der Vermittler.«
»Der Herzog!« lallte die Räthin, als ob ihr der Schlag die Zunge gerührt hätte.
»Nicht anders. Sie sahen sich wieder unter sehr geänderten Verhältnissen. Er war regierender Fürst geworden, sie war die Frau seines vertrauten Freundes und ersten Ministers. Die Ehe war, wie Sie Sie wissen, nicht so glücklich, als wir beide es wohl gewünscht hätten. Friedrich hat sich eben auch hier als Schwärmer bewiesen. Genug, die junge Frau glaubte sich vernachlässigt und war es auch vielleicht nach ihrem Sinne; das leichtsinnige Blut ihrer Mutter regte sich in ihr, sie trat in deren Fußtapfen und ließ sich in ein heimliches Verständniß mit dem Herzog ein.«
»Es ist nicht möglich!« rief die Räthin, die vor Erstaunen und Erregung nichts mehr hervorzubringen vermochte.
»Mehr als das; es ist die bitterste Wirklichkeit. Als das Zerwürfniß in der Ehe so weit gekommen war, daß Friedrich von einer zeitweiligen Entfernung eine wohlthuende Einwirkung auf das Gemüth seiner Frau erwarten zu dürfen glaubte, ahnte er nicht, was schon geschehen war. Die Frau benutzte die Reise, welche sie zu einer Verwandten, ihrer einstigen Erzieherin, bringen sollte, um mit dem Herzog in St.-Wendelin zusammenzutreffen. Als Friedrich, durch unerwartete, dringende Geschäfte gerufen, dahin kam, überraschte er ihn in ihren Armen.«
Riedl stand auf; er wollte der Räthin Zeit lassen, sich zu fassen. Erst kämpften Entrüstung und Schmerz in den Mienen der guten Frau, dann brach sie in Thränen aus und rief: »O mein Sohn! O mein Friedrich! Das also sind die schönen Hoffnungen, in denen Du gelebt, das der Dank für Deine Güte, der Lohn für Deine Liebe? O ich weiß, ich fühle, was er gelitten hat, was er leiden muß; denn ich weiß es, ich allein, wie sehr er sie geliebt hat.«
»Er wird sich fassen«, antwortete Riedl. »Er ist ein Mann; wenn auch von weichem Gemüthe, besitzt er doch Stärke genug, über sich selbst zu siegen. Ich denke, Sie werden jetzt nicht mehr zum Herzog gehen und Gerechtigkeit fordern wollen. Sie werden begreifen, daß Führer gehandelt hat, wie er mußte.«
»Mein Sohn hat recht gethan«, rief die Räthin nach einem weitern Augenblicke der Sammlung mit beklommenem Athem. »Schreiben Sie ihm das! Jetzt, da ich Alles weiß, werde ich ruhig sein. Schreiben Sie ihm das auch! Er wird sich vielleicht meinetwegen ängstigen; er soll es nicht thun. Er soll mir Nachricht zukommen lassen, sobald es sein kann, ohne ihm Ungelegenheit zu bereiten. Und schreiben Sie ihm auch«, fuhr sie, sich langsam erhebend fort, indem sie nach Ulrikens Bild langte und es von der Wand herabnahm, »schreiben Sie, was Sie mich haben thun sehen! Schönes, herrliches Geschöpf!« unterbrach sie sich selbst, indem sie einen Blick auf das Gemälde warf. »Ausgestattet mit Allem, was der Himmel geben kann, sich selbst und Andere zu beglücken, und untergegangen im Leichtsinn, in eitler Vergnügungssucht! Wohlan denn, Du hast das Haus verschmäht; im Hause ist keine Stelle mehr für Dich.« Sie schloß das Gemälde in eine Lade des Schreibtisches ein und kehrte mit würdiger Haltung in das Wohnzimmer zurück, in welches eben die Dienstboten von ihren abenteuerlichen Ausflügen zurückgekommen waren und mit Entschuldigungen ihres langen Außenbleibens beginnen wollten. Sie winkte ihnen, zu schweigen, und stützte sich auf Riedl's Arm, während sie mit der andern Hand wieder an die pochende Schläfe griff. »Es scheint, ich habe mir doch etwas mehr zugemuthet, als ich vermag«, sagte sie schwach, indem sie sich mit sichtbarer Anstrengung aufrecht erhielt.
»Es ist kein Wunder, wenn Sie angegriffen sind«, sagte Riedl theilnehmend. »Jüngere Nerven als die Ihrigen würden wohl einem solchen Sturme nicht ungestraft Stand halten. Bringen Sie die Frau Räthin zu Bette!« rief er dem Mädchen zu. »Ihr ist nicht wohl, und sie bedarf vor allem der Ruhe. Ich werde morgen wiederkommen und mich nach Ihrem Befinden erkundigen. Vielleicht bringe ich bis dahin schon neue Nachrichten.
Er drückte die Hand der alten Frau und ging dem Mädchen nach, das mit dem Lichte in den Hausgang trat, um ihm bei eingetretener Dunkelheit die Stiege hinunter zu leuchten. Als er schon an der Schwelle stand, rief ihn die Räthin zurück. »Herr Riedl«, sagte sie, als er näher kam, und streckte ihm die Hand entgegen, »ich habe es in meinem Leben immer so gehalten: wenn ich mir eines Unrechts bewußt bin, kann ich es nicht auf dem Herzen behalten. Ich will es Ihnen nur gestehen, ich habe Ihnen auch Unrecht gethan; ich habe Sie für einen herzlosen Raisonneur gehalten und habe oft gewünscht, Sie möchten meinem Friedrich fern bleiben. Aber jetzt, in dieser schweren Stunde, wo Sie sich der alten verlassenen Frau so freundlich angenommen haben, wie nur ein liebender Sohn es kann, jetzt sehe ich wohl, daß Sie wirklich ein Freund meines Sohnes sind und daß Sie auch ein gutes Herz haben müssen. Verzeihen Sie mir, Herr Riedl, und seien Sie von nun an auch mein Freund! Und damit gute Nacht!«
In der herzoglichen Burg herrschte zur nämlichen Zeit nicht geringere Bewegung und Unruhe. Das Vorzimmer zu den Gemächern des Fürsten war trotz der einbrechenden Nacht noch sehr belebt; in allen Ecken und Fensternischen standen Gruppen verschiedener Zusammensetzung beisammen, alle in mehr oder minder eifrigem Gespräche, mehr oder minder laut und erregt, je nachdem Stellung und Lebensklugheit ihnen gestattete und Besinnung genug gelassen hatte, den Ausdruck ihrer Gefühle zu mäßigen und ihre Gedanken zu verbergen. An der großen Saalthür standen einige Offiziere beisammen, deren einer durch die Schärpe als der Adjutant vom Dienste bezeichnet war; am Seiteneingang, der in das Gemach des Herzogs führte, stand ein Lakai und neigte das Ohr gegen das Schlüsselloch, um beim leisesten Geräusche bereit zu sein, die Befehle des darin wartenden Oberkammerdieners in Empfang zu nehmen.
»Es ist, mit einem Worte, eine völlig unbegreifliche Geschichte«, rief der Adjutant, »und bis jetzt müht man sich vergebens, eine verlässige Spur zu finden.«
»Nun, ich dächte«, entgegnete der Baron Adelhoven, »für ein halbwegs geübtes Jägerauge wäre die Fährte ziemlich deutlich zu erkennen. Erinnere Dich, Schroffenstein, was ich Dir vor zwei Jahren gesagt habe, als wir uns auf dem Rathhause bei dem Bankett trafen, das die Stadt zur Feier der saubern neuen Freiheiten gab! Erinnere Dich, wie mir der Schmuck auffiel, den der Herzog der Dame zum Hochzeitsgeschenke gegeben hatte! Es fuhr mir gleich damals durch den Sinn. Jetzt weiß man, warum er ein so kostbares Cadeau gegeben hat. Ich hatte Recht: der Parvenu war klüger, als wir alle dachten.«
»Dafür ist es nun mit seiner Herrlichkeit zu Ende«, sagte Schroffenstein und zog sich die Schärpe zurecht.
»Wer weiß«, entgegnete Adelhoven. »Ich möchte nicht drauf schwören. In einer so peniblen Situation, als die gegenwärtige, ist es nicht gut, auf irgend etwas zu pariren. Der Wind kann mit einem Male wieder umschlagen. Meine Nachrichten sind übrigens verlässig und genau, denn meine Quelle ist der Castellan von St.-Wendelin, der mit dem Herzog hierher gekommen ist und mit dem mein Jäger auf vertrautem Fuße steht. Es ist eine alte Geschichte, die sich schon in der Zeit angesponnen hat, als der Herzog von der Universität kam und die sentimentale Freundschaft mit dem gewesenen Minister geschlossen hatte. Auf dem Rückweg in Hamburg lernte der Erbprinz das Dämchen kennen. Der Professor hat sie dann geheirathet und ihm zugeführt und dadurch das Portefeuille erhascht, um seine Hörner hineinstecken zu können.«
»Lästerzunge!« rief Schroffenstein. »Ich hasse diesen Menschen, wie man nur Jemand hassen kann; ich habe gute, triftige Gründe dazu; aber was Du sagst, glaube ich nicht von ihm. Dazu hat er sich nicht hergegeben. Ein Schwindler mag er sein, aber er ist ein ehrlicher Kerl bei alledem.«
»Es ist schön von Dir, daß gerade Du ihn vertheidigst«, lachte Adelhoven. »Du denkst wohl, Du willst Dir den Rücken decken, falls die Geschichte nochmal umschlagen sollte? Wäre es aber, wie Du glaubst, dann um so schlimmer für Deinen Schützling! Wenn das Weib ihn düpirt hat, kommt zum Schaden noch der Spott und er wird zu all seiner Ehrlichkeit noch ausgelacht. Aber wie steht es denn drinnen?« fuhr er fort, indem er mit bedeutsamem Nicken nach dem Zimmer des Herzogs deutete. »Ist es wahr, daß Durchlaucht allein gespeist und Niemand vorgelassen hat?«
»Niemand. Der Oberkammerdiener sagte, der Herzog sei leidend und wolle allein sein. Es zieht sich, wie es scheint, ein schweres Gewitter zusammen.«
»Nun, wo das Gewitter sich entladen wird, kann man so ziemlich voraussagen«, entgegnete Adelhoven. »Aber da kommt Dein Vater. Von dem werden wir wohl Näheres erfahren können. – Nun, Excellenz«, rief der Baron, den Eintretenden begrüßend, »kommen auch Sie, um Neuigkeiten zu holen, oder bringen Sie deren?«
»Wie Sie es nehmen«, entgegnete Schroffenstein der Vater, der in die große Uniform seines frühern Amtes gekleidet war. »Ich bin zunächst hier, um für alle Fälle bereit zu sein. Land und Thron haben sich noch nie in einer so gefährlichen und schwankenden Lage befunden als jetzt, wo buchstäblich Alles auf einen Wurf gestellt zu sein scheint. Ich weiß zwar, daß Seine Durchlaucht meiner geringen Dienste längst nicht mehr bedürfen; dennoch gereicht es zu meiner eigenen Beruhigung, sagen zu können, daß ich sie wenigstens angeboten habe, daß ich im Augenblicke der Entscheidung an dem Platze nicht fehlte, auf welchen meine frühere Stellung sowie die Vorrechte meiner Geburt mich berufen.«
»Und wo«, flüsterte Adelhoven ihm lachend ins Ohr, indem er sich zugleich den Anschein gab, als wolle er eine verstreute Faser von seinem Rocke ablesen, »wo, wenn das Glück wohlwill, ein vacant werdendes Ministerportefeuille wieder erwischt werden kann.«
Schroffenstein der Vater hielt es nicht der Mühe werth, darauf zu antworten. Als ob er die Bemerkung des lustigen Jagdjunkers gar nicht vernommen hätte, wandte auch er sich mit der Frage nach dem Befinden Seiner Durchlaucht an den die Thür bewachenden Lakaien, als diese aufging und der Oberkammerdiener Bornemann den Kopf durch die Spalte steckte. »Seine Durchlaucht wollen ausreiten«, rief er; »geben Sie Befehl, daß die Mira sogleich gesattelt und in einer halben Stunde an das Hofgartenthor gebracht werde!«
»Und wen geruhen Seine Durchlaucht zur Begleitung zu befehlen?« rief in unterwürfigem Tone der Adjutant, welcher eilfertig hinzugesprungen war.
Der Oberkammerdiener blickte mit dem ganzen Gefühle seiner augenblicklichen Wichtigkeit im Saale umher; er machte eine boshafte Pause, um alle fühlen zu lassen, daß der Wink, der sie bestimme, nur aus seinem Munde komme. »Durchlaucht wollen gar keine Begleitung«, sagte er dann. »Nur der Jockey vom Tage soll sich bereit halten.«
»Und wie befinden sich Seine Durchlaucht?« fragte der ältere Schroffenstein wieder, indem er den Oberkammerdiener mit vertraulicher Herablassung auf der Brust und an der Rockklappe faßte und ihn ein paar Schritte seitwärts zu führen suchte. »Ich bin noch einmal hier«, fuhr er dann fort, als der Kammerdiener statt der Antwort nur vielsagend mit den Achseln zuckte. »Die Lage der Stadt wird immer dringender und bedenklicher. Wenn das Befinden Seiner Durchlaucht es irgend gestattet, so melden Sie mich!«
»Es ist unmöglich, Excellenz«, entgegnete Bornemann zurückweichend. »Durchlaucht haben sich zwar vollständig wieder erholt, aber ich habe den strengsten Befehl, Niemand zu melden, wer es auch sein möge. Excellenz begreifen also –«
»An Ihnen ist es, zu begreifen, Bornemann, daß Sie bei mir wohl eine Ausnahme machen dürfen. Ich bin im Stande, sowohl Ihre Entschuldigung als Ihre Entschädigung bei Seiner Durchlaucht zu übernehmen.«
Der Oberkammerdiener sah ihn mit einem Blicke an, in welchem Hochmuth und Spott sich mischten. »Mein Auftrag lautet, Niemand zu melden bei Verlust meines Dienstes. Dem gegenüber gibt es keine Entschuldigung, und was die Entschädigung betrifft, so möchte ich den Verlust meines Dienstes nicht riskiren; denn man will von bedeutenden Verlusten wissen, welche Eure Excellenz in neuester Zeit erlitten haben sollen.«
»Unverschämter Bursche!« knirschte Schroffenstein, während der Oberkammerdiener wieder in das Vorzimmer zurückkehrte. »O daß nur auf eine Stunde die alte Macht wieder mein wäre, um mich an dem Gesindel rächen und mein Kerbholz mit ihm ausgleichen zu können! Aber nur Geduld! Mir ist, als ginge eine Ahnung durch diese Räume, daß ein solcher Augenblick nicht mehr fern ist.«
Die Hauptthür schlug mit ungewohnter Raschheit ihre Flügel auseinander. General Bauer trat sporenklirrend und säbelrasselnd ein. »Melden Sie mich sogleich bei Seiner Durchlaucht!« rief er schon auf der Schwelle. »Es ist Gefahr im Verzug.«
»Seien Sie mir willkommen, Verehrtester!« sagte Graf Schroffenstein, der ihm entgegengetreten war und vertraulich den Arm in den seinigen legte. »Aber Sie werden sich mit mir trösten und lernen Geduld zu haben. Es ist strenger Befehl, Niemand zu Seiner Durchlaucht zu lassen.«
»Ich muß den Herzog sprechen. Jede Verzögerung bringt Gefahr. Die Unruhe in der Stadt hat schon eine bedenkliche Höhe erreicht. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden, es müssen Befehle gegeben werden, und Niemand weiß, wer sie zu ertheilen hat.«
»Dasselbe habe ich vorgestellt«, sagte Schroffenstein. »Aber der Oberkammerdiener verschanzt sich hinter den Auftrag Seiner Durchlaucht und will den angedrohten Verlust seines Dienstes nicht wagen.«
»Aber in des Henkers Namen«, rief der General, indem er den Säbel auf den Boden stieß, »was soll das werden? Einmal müssen wir doch ins Klare kommen. Wer ist denn Minister? Was ist wahr von all den Dingen, die man sich erzählt, und was nicht? Ist der Mensch, der uns so lange mit seinem freisinnigen Wesen gequält hat, noch Minister? Wo ist er dann? Warum läßt er sich nicht blicken? Oder hat die Professorenwirthschaft ein Ende? Wer steht dann am Ruder?«
»Sie finden uns alle hier nicht besser unterrichtet und nicht minder auf die Entwicklung gespannt, als Sie es selbst sind, Herr General«, rief Adelhoven. »Gewiß ist nur so viel, daß zwischen dem Herzog und dem Minister ein persönlicher Zusammenstoß stattgefunden hat, infolge dessen dieser seine Entlassung eingereicht haben soll. Ob sie angenommen ist und wer der Nachfolger werden soll, darüber sind wir nicht mehr im Klaren als der Pöbel, der auf den Straßen herumjohlt und nicht übel Lust zu haben scheint, wieder einmal Krawall zu machen.«
»Sie sollen nicht!« rief General Bauer. »Sie sollen nicht denken, daß sie es durchsetzen, wie das erste Mal. Mir ist, als spürte ich etwas von der damaligen Luft. Aber das zweite Mal wollen wir zeigen, daß wir wenigstens etwas gelernt haben. Und wenn der Tod darauf stünde, ich gehe zum Herzog.«
Entschlossenen Schrittes wandte er sich gegen die Gemächer des Herzogs, als ein Diener gegenüber die Flügelthür ehrerbietig auseinanderschlug und mit halblauter Stimme, aber allgemein verständlich das Erscheinen der Herzogin-Mutter ankündigte. Athemlose Stille trat ein. Im nächsten Augenblicke rauschte die hohe Greisin, von Primitiva geleitet, durch den Saal, wie gewöhnlich vom Scheitel bis zur Sohle in schwarze Seide gehüllt und um das Haupt einen schwarzen Schleier geschlagen, welcher das weiße Haar sowie die erblindeten Augen beinahe vollständig verhüllte. An der Hand des Fräuleins schritt sie schnurstracks auf die Thür der herzoglichen Zimmer los, vor welcher der Lakai rathlos und in unendlicher Verlegenheit stand, indem er es nicht wagte, der Fürstin den Eintritt zu wehren, und doch mit einer halben Geberde anzudeuten schien, als habe er dergleichen im Sinne.
»Was ist hier?« fragte die Herzogin, welche auch die kleine dadurch entstandene Verzögerung gewahrte, in strengem Tone.
»Entschuldigen Ihro Durchlaucht!« sagte der General hinzutretend. »Die Dienerschaft hat Befehl, Niemand einzulassen und Niemand zu melden, wer es auch sei.«
»Hinweg von der Schwelle!« rief die Fürstin zürnend. »Noch lebe ich, und solange ich lebe, ist kein Gemach in diesen Räumen, das mir verboten wäre.«
»Gott sei Dank!« rief Schroffenstein, dem General zunickend, während die Flügel der Thür hinter ihr zusammenschlugen. »Das kam zur rechten Zeit. Jetzt werden wir wenigstens bald wissen, in wessen Händen das Regiment ist.«
Herzog Felix hatte indessen im Innersten seiner Gemächer trost- und ruhelose Stunden in unseligster Stimmung zugebracht. Mit sich selbst allein und mit dem Vorgefallenen beschäftigt, vermochte er zu keinem Entschlusse zu kommen. Im militärischen Ueberrocke, den er nachlässig übergeworfen hatte, schritt er aufgeregt hin und her und warf sich bald auf die Ottomane, den glühenden Kopf wider die Seidenkissen pressend, als ob er Kühlung suche, bald sprang er nach wenigen Augenblicken wieder empor, um die rastlose Wanderung von neuem zu beginnen. Auf dem Arbeitstische lag ein offener Brief. So oft er daran vorüberschritt, wollte er die Hand ausstrecken, denselben zu ergreifen, aber immer zog er sie mit einer Art Scheu zurück, als fürchte er, sich an demselben zu verletzen, und dennoch kehrten immer wieder die Augen nach dem Blatte zurück. Ungeduldig riß er endlich ein seidenes Tuch vom Schranke und warf es auf den Tisch, um ihn zu bedecken. »Verschwinde, verdammter Mahner!« murmelte er. »Ich will dich nicht immer vor mir sehen, diese Buchstaben sollen mich nicht immer anstarren wie schwarze, fragende Augen! Ruhe, Ruhe!« rief er dann, sich vor die erhitzte Stirn schlagend. »Wer gibt mir die nöthige Sammlung? Was entreißt mich diesem Zustand, gegen welchen die Qualen der Folter Seligkeit sein müßten? Ich erliege, ich fühle, daß ich die Kraft nicht habe, diesen Sturm zu bändigen, und dennoch kann ich es nicht über mich gewinnen, Jemand in mein Fahrzeug zu mir zu nehmen, meine Ohnmacht zu bekennen und Hülfe zu verlangen. – Wie er vor mir dastand!« fuhr er nach einer Weile nachsinnend und in seinem Wandern innehaltend fort. »Mit welcher Miene des Stolzes er auf mich heruntersah, als wäre er der Fürst und ich ein zitternder, unterwürfiger Knecht, als wäre er der Richter, der dem verurtheilten, überwiesenen Verbrecher seinen Spruch verkündet! Und hatte er denn nicht Recht, wenn er mich so ansah? Was bin ich sonst? Ich bin ein Verbrecher an dem Heiligsten, an dem Einzigen, was die Gesellschaft der Menschen zusammenhält, daß sie sich nicht gleich wilden Thieren unter einander zerfleischen. Ich habe seine arglose, aufopfernde Freundschaft hintergangen, habe sein Vertrauen mißbraucht, seinen arglosen, offenen Sinn getäuscht! Er hat mir sein Leben dahingegeben, und ich habe es ihm dadurch gedankt, daß ich ihm sein Weib, in welchem er das Glück seines Lebens zu finden gehofft, entriß. Ich habe das Haus, das er sich gebaut, mit Schmach bedeckt. Es ist schändlich, unerhört! Ich wollte, die Erde öffnete sich unter meinem stampfenden Fußtritt und schlänge mich hinab, um mich vor mir selber zu verbergen! Warum mußte ich sie wiederfinden«, begann er nach kurzem Nachdenken in etwas weicherer Stimmung, »sie, die mir schon beim ersten Begegnen die ganze Seele verwirrte und mich zur Gewalt verlockte? Warum mußte ich sie unter solchen Verhältnissen wiederfinden? Warum mußte der Unselige gerade dieses Weib in sein Haus führen, dessen leichtes Gemüth niemals zu seinem einfachen, geraden Wesen stimmen konnte, dessen Bild schon jetzt, nach wenig Tagen durch die Ereignisse in mir verwischt ist, daß ich kaum seine Züge wiederzuerkennen vermag? Aber wie«, rief er, plötzlich wieder auffahrend, »wenn sie seiner unwürdig war, verringert das meine Schuld, gibt das meiner Handlungsweise eine andere Gestalt? Nein, sie erscheint nur desto schändlicher. O, er hatte Recht, wenn er auf mich niedersah, als ob er mich unter der Berglast seiner Verachtung begraben wollte! Er hatte Recht, mir seinen Dienst vor die Füße zu werfen. Alle Welt wird erfahren, daß er es gethan und warum er es gethan, und alle Welt wird mit Fingern auf mich deuten und wird gut heißen, was er that, und wird sagen: Der Mann hatte Recht; er hat Ehre im Leibe; aber der Herzog ist – Himmel und Erde!« rief er wie außer sich, indem er von der Ottomane wieder emporsprang und sich in den Haaren wühlte. »Wo ist ein Ausweg aus diesem Labyrinth, ein Ausweg, der mir die Schande erspart, der mich dieses Blatt vergessen läßt und dieses Bild in meiner Erinnerung auslöscht?« Wie wider Willen schob er das Tuch beiseite, ergriff den Brief und las, halblaut murmelnd:
»Mit tiefem Schmerze thue ich diesen Schritt, denn es ist schwer, einem Ideale zu entsagen, dessen Verwirklichung so nahe zu sein schien, um so schwerer, wenn damit alle Hoffnung aufgegeben werden muß; denn Völker- und Menschenglück können nicht gedeihen unter einer Hand, die vom Treubruch besudelt ist.«
In welchem Tone er mit mir spricht!« rief Felix. »Darf er in diesem Tone mit mir sprechen? Bin ich nicht immerhin der Fürst, dem er seine Stellung verdankt, dem er sich beugen muß, und wenn es auch wahr wäre, daß ich ihm Unrecht gethan? Er darf nicht! Ich dulde den Hochmuth nicht, der aus diesen Worten spricht; ich muß ihn beugen, muß ihn vor mir gedemüthigt sehen. O daß ich einen Führer fände, der mir den Weg dazu zeigte, und wäre es ein Dämon der Unterwelt, ich wollte ihn willkommen heißen!«
Er hatte in der Aufregung nicht bemerkt, daß sich die Thür längst geöffnet und die Herzogin eingelassen hatte; sie war im Dunkel des Gemachs an derselben stehen geblieben und schien der Hand zu warten, welche sie weiter führen sollte. »Du hast nicht nöthig, Dämonen zu beschwören«, sagte sie jetzt feierlich. »Es gibt noch gute Geister, die Dir zur Seite stehen, wenn Du sie hören willst. Du suchst einen Ausweg aus dem Labyrinth, in das Du Dich verwickelt hast? Nun wohl! Es ist allerdings sonderbar, wenn der Blinde der Führer dessen werden will, der sich seiner offenen Augen rühmt, aber gib mir Deine Hand und ich will Dir den gesuchten Ausweg zeigen.«
Der Herzog stand wie festgebannt an seiner Stelle. Er bedurfte einiger Augenblicke, um sich von seiner Ueberraschung zu erholen; dann eilte er hinzu, bot der Fürstin den Arm und geleitete sie an einen Lehnstuhl, in den sie sich tastend niederließ.
»Sie?« rief der Herzog staunend und verwirrt. »Sie kommen zu mir, durchlauchtige Mama?«
»Ich höre am Tone Deiner Stimme«, entgegnete sie, »daß Du befangen bist, mich bei Dir zu sehen, und Du hast auch volle Ursache dazu. Ja, ich bin es, ich, die Du zu einer Gefangenen herabgewürdigt, ich habe mir selbst die Freiheit gegeben und komme zu Dir. Zwar sollte das nicht wieder geschehen; ich hatte es in mir beschlossen und vor dem Ewigen geschworen, Du solltest dieses Angesicht, an dem Du zu freveln Dich unterstanden, nie wieder schauen, aber die Kunde von der plötzlichen Wandlung, die in den Verhältnissen eingetreten, hat mich des Gelöbnisses entbunden. Ich komme, wenn auch nicht Deinetwegen, aber ich komme, weil höhere Rücksichten es mir gebieten, Rücksichten auf unser Geschlecht, auf den Thron dieses Landes und auf unser Recht an demselben. Vielleicht hat der Blitz, der Dir vor den Füßen in den Boden schlug, die Nacht erhellt, die Dich umgab, und Dir den Abgrund gezeigt, an welchem Du stehst. Drum will ich es noch einmal versuchen, Dich zurückzuhalten. Du schweigst?« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu, in welcher sie eine Antwort erwartet hatte. »Du hast mir nichts zu sagen?«
»Ich bin zu überrascht, Durchlaucht«, erwiderte Felix, sich in einen Stuhl neben ihr werfend. »Ich wollte allein sein, wollte das Vorgegangene mit mir allein durchkämpfen. Wenn Sie mich sehen könnten, Mama, würden Sie erkennen, wie wenig ich darauf vorbereitet bin, Jemand zu empfangen, zumal Sie.«
»Ich glaube Dir's, mein Sohn«, entgegnete die Herzogin. »Es mag schwer ankommen, eine Täuschung zu bekennen, in der man so tief befangen war. Es mag bitter sein, einzugestehen, daß man auf dem Irrweg der Sünde und des Lasters gewandelt ist. Aber ich will es Dir verzeihen, ich will sogar den Irrweg segnen, wenn er Dich zur Einsicht bringt, zur Erkenntniß und zur Besserung! Ich will Dir daher ein demüthigendes Geständniß ersparen; meine Fäden sind überall angeknüpft und das fehlende Auge ersetzt mir das Gefühl; ich glaube bereits so ziemlich Alles zu wissen, was zwischen Dir und dem sogenannten Minister vorgefallen ist. Beantworte mir das Eine: Ist es wahr, daß er seine Entlassung gefordert hat?«
»Es ist wahr.«
»Nun, und Du hast doch keinen Augenblick gezaudert, sie anzunehmen?«
»Ich muß wohl. Unter uns ist eine Verbindung nicht mehr möglich. Ich werde nicht umhin können, sie anzunehmen.«
»So verschiebe es um keines Pulses Dauer«, rief die Herzogin, »und danke dem Himmel, dessen Gnade und Langmuth Dir noch einmal Gelegenheit gibt, das Netz zu zerreißen, womit jener Abenteurer Dich umsponnen hat!«
»Sie gebrauchen harte Worte, Mama!« entgegnete der Herzog nach einigem Schweigen. »Diese Bezeichnung verdient Führer nicht.«
»Nicht? Und wer bürgt Dir dafür?« rief die Herzogin entgegen. »Warum glaubst Du seinen glatten Reden mehr als meiner grauen Erfahrung? Wer sagt Dir, daß nicht Alles ein von ihm und seiner Horde abgekartetes, lange vorher bedachtes Spiel war, nichts als eine Schlinge, Dich durch jenes Weib noch mehr an ihn zu fesseln, Dich vollends von ihm abhängig zu machen? Wer bürgt Dir dafür, daß seine Entlassung ernst gemeint ist, daß er nicht blos beabsichtigt, Dich fühlen zu lassen, wie unentbehrlich er Dir schon geworden ist?«
»Nein, Mama«, sagte der Herzog, sich ruhig erhebend, »das denkt Führer nicht. Mit einem solchen Argwohn thun Sie ihm bitteres Unrecht an. Zu meiner Beschämung muß ich es gestehen: ich habe kein Arg an ihm gefunden; er ist wirklich ein edler Mensch –«
»Oder weiß sich geschickt den Schein eines solchen zu geben«, rief die Herzogin. »Ich kenne ihn auch; Du hast selbst veranlaßt, daß ich ihn kennen lernte. Mit meinen erloschenen Augen habe ich seine Seele geschaut. Es ist ein guter Kern in ihm, ja er ist ein Mann von ganz ungewöhnlichen und außerordentlichen Fähigkeiten, aber er hat sie entadelt durch den Mißbrauch für schlechte Zwecke, der gute Kern in ihm ist verdorben – er ist ein vergiftetes Samenkorn. Was aus ihm aufsprießt, kann nur ein neues Giftgewächs sein.«
»Es kann nicht sein«, sagte der Herzog, hin und herschreitend. »Aber wenn es auch so wäre, mit all diesem sind nicht die Mittel geboten, die Verlegenheit zu beseitigen. Mein Gott, wie schrecklich habe ich mich, nach allen Seiten verstrickt! Wie soll ich mich aus dieser Verwirrung lösen ohne Schande? Es ist unmöglich.«
»Nicht doch«, sagte die Herzogin ruhig. »Gewinne es über Dich, mich gelassen anzuhören! Ich sage Dir: es ist möglich, sobald Du willst. Ich mache es möglich; ich zeige Dir den Weg, den einzigen Weg, der Dich aus dem Labyrinth führt, der Dir Beschämung und unserm erlauchten Namen einen Flecken erspart.«
»Reden Sie, Mama! Retten Sie mich, und ich will Alles thun, was Sie verlangen. Nennen Sie diesen Weg!«
»Der Weg ist jener der Umkehr«, sagte die Herzogin ernst. »Du hast Dich von dem frechen Neuerer und Schwindler auf eine abschüssige Bahn verleiten lassen, auf der ein Schritt vorwärts Dich in den Abgrund stürzt. So kehre um von der unseligen, unnatürlichen Genossenschaft mit jenen, die unter dem Scheine der Freundschaft unsere geborenen und geschworenen Feinde sind! Von den wahnsinnigen Ideen frevelhafter Neuerung kehre zu Deinen wahren, erprobten Freunden, zur alten, unumstößlichen Wahrheit zurück! Die Welt«, fuhr sie, an des Herzogs Arm sich erhebend, fort, »die Welt darf nie erfahren, welchen Grund Dein Zerwürfniß mit jenem Manne hat, sie darf wenigstens nie darüber Gewißheit erhalten. Damit das geschehe, muß aller Anschein von persönlicher Veranlassung verschwinden. Du mußt beweisen, daß es nur politische Gründe, Rücksichten der Staatsweisheit waren, welche die Trennung veranlaßten. Du mußt erklären und zeigen, daß Du Dich von der Verwerflichkeit der Staatslehren überzeugt hast, welche jener vertritt; Du mußt zeigen, daß Du es aufgegeben hast, sie zu verwirklichen.«
»Sie haben Recht, Durchlaucht«, entgegnete nach kurzem Besinnen der Herzog. »Der Gedanke ist vortrefflich und Ihrer würdig. Das wäre wirklich ein Weg, der zum Ziele führt; aber mir ist es unmögliche ihn zu gehen. Ich bin schon zu weit gegangen, um noch umkehren zu können; man würde mich als einen Thoren brandmarken, wenn ich es thäte.«
»Wer wird wagen, das zu thun? Du thust, was vor Dir Unzählige gethan, was nach Dir noch Manche vollbringen werden. Oder glaubst Du der erste unter den Fürsten zu sein, der das Scepter mit ähnlichen Gedanken wie Du ergriff und sie dann wieder aufgab, weil er genöthigt war, eine Wahl zu treffen zwischen ihnen und der Herrschaft?«
Der Herzog schritt durch das Gemach und blieb vor der Herzogin stehen. »Wir sind allein«, sagte er. »Lassen Sie mich eine Gewissensfrage an Sie richten, Mama! Ich weiß, daß jene Anschauungen, welche ich mit Führer zu verwirklichen strebte, Ihnen nicht die richtigen scheinen, aber hier unter uns und vor Gott müssen wir uns, die Hand aufs Herz gelegt, nicht eingestehen, daß sie doch die wahren sind? Glauben Sie nicht, es wird eine Zeit kommen, die trotz unseres Widerstrebens sie verwirklicht?«
»Ich glaube es nicht«, sagte die Herzogin fest. »Aber auch wenn es so wäre, dann lasse die Zeit, wenn sie kommen soll, zu ihrer Stunde hereinbrechen! Uns geziemt es jedenfalls nicht, sie zu beschleunigen. Die Herrschaft bedeutet nichts, wenn sie nicht unumschränkt ist. Wer ihr Grenzen und Bedingungen setzen will, der begeht ein Verbrechen gegen unser gottgegebenes, wohlbegründetes Recht. Wahnsinnig derjenige, der sich im Besitze befindet und ihn selber aufgibt, ehe er muß.«
»Ich kann dennoch nicht, Mama«, sagte Felix nach einigem Besinnen. »Wenn ich auch wollte, ich kann nicht. Die Gesetze sind in aller Form und Feierlichkeit erlassen – ich kann sie nicht wieder aufheben; ich habe mein Wort dafür verpfändet.«
»Verlange ich denn«, rief die Herzogin eifrig, »daß Du Dein Wort nicht halten sollst? Verlange ich, daß Du die Gesetze, die Du unüberlegt gegeben, wieder aufheben sollst? Das wäre so unklug als Dein erster Schritt; das hieße Dich zu einem andern Aeußersten drängen. Sieh um Dich! Die Stadt ist in Gährung, das Land unruhig – man ist ungehalten über den Sturz des Volksministers, man denkt vielleicht daran, ihn nicht fallen zu lassen. Bei solchen außerordentlichen Zeit-Verhältnissen müssen auch außerordentliche Mittel gelten. Gut denn! Die Gesetze, die Du gegeben hast, sollen unangetastet bestehen bleiben. Aber was hindert, ihre Wirksamkeit eine Weile aufzuheben, nur auf so lange, bis Ruhe und Gehorsam wiederhergestellt sind, bis jene geordneten Zustände wieder bestehen, mit denen allein regiert werden kann? Oder willst Du Dir abtrotzen, willst Du Dich zwingen lassen, den Minister zu behalten, den Du als Mann neben Dir nicht mehr dulden kannst?«
»Zwingen?« rief Felix heftig. »Wer sollte es wagen?«
»Sie haben es schon einmal gewagt und mit Erfolg. Was sollte sie abhalten, ihr Glück noch einmal zu versuchen? Besinne Dich, Felix! Du hast keine andere Wahl. Du weißt«, fuhr sie fort, indem sie näher an ihn hinantrat, als fürchte sie, daß irgend Jemand das vernehmen könnte, was sie ihm mittheilte, »Du weißt, welche Nachrichten es waren, welche Deinen Minister so unvermuthet nach St.-Wendelin geführt haben. Der große Staat, der unser Grenznachbar ist, hat Deine Neuerungen längst mit höchst ungünstigen Augen betrachtet; er hat Dich gewarnt, er hat dagegen Verwahrung eingelegt. Man ist dort nicht gesonnen, es bei Protesten und Warnungen bewenden zu lassen, und wenn Du auf Deinem Wege beharrst, so wirst Du Dich überzeugen, daß man zu handeln entschlossen ist. Versuche es einmal, wirf Dich ganz dem sogenannten Volke in die Arme! Sieh, ob es Dich trägt und schützt, wenn beim weitern Verfolg Deiner Pläne der Krieg losbricht, wenn ein Dir zehnfach überlegenes feindliches Heer über die Grenze und vor die Hauptstadt rückt! So folge denn meinem Rath und kehre um! Ergreife die Hand des mächtigen Nachbars, die er Dir bietet! Geld, Truppen, Alles, was Du bedarfst und willst, steht zu Deiner Verfügung, ja, man ist sogar bereit, noch ein engeres Bündniß mit Dir einzugehen und es durch die Hand der einzigen Tochter zu besiegeln. Macht, Glanz, Reichthum öffnen Dir eine unabsehbare Aussicht. Es ist nicht möglich, daß Du länger schwanken kannst.«
»Sie verwirren, Sie blenden mich«, rief der Herzog, »aber Sie überzeugen mich nicht. Ich kann Ihre Gründe nicht widerlegen, doch ist es mir unmöglich, darnach zu handeln. Es widerstrebt mir, etwas zurückzunehmen, was ich gegeben, ein Gebäude einzureißen, zu dem ich selbst den Grundstein gelegt habe.«
»Gut denn – auch davon kann ich Dich befreien!« rief die Herzogin dringender. »Du weißt, wie lange am Nachbarhofe Dein Besuch gewünscht und erwartet wurde – Du hast ihn immer zu verzögern gewußt. Jetzt ist ein günstiger Augenblick dazu gegeben. Reise hin, schließe selbst die neuen Verträge, knüpfe die neuen, segensreichen Verbindungen an! Mir aber gib Vollmacht, hier zu handeln! Ich will Dich der Gehässigkeit überheben, mit Dir selbst in Widerstreit zu kommen; ich will den Boden ebnen, bis Du wieder zurückkommst, und dann wird es immer noch bei Dir stehen, ein schöneres Gebäude aufzuführen, als das erste war.«
Der Herzog stand unschlüssig. Da erscholl von außen durch die Nacht wildes Getöse, verworrenes Geschrei, Klirren von eingeworfenen Fenstern, das Prasseln von schwer niederfallenden Steinen.
»Hörst Du?« rief die Herzogin. »Wie lange wirst Du noch zögern? Warte nicht, bis der Pöbel eindringt und mit den Waffen in der Faust Dir Gesetze vorgetreten schreibt! Lasse mir die Vollmacht ausfertigen! Ich habe sie für alle Fälle längst vorbereiten lassen; sie bedarf nur Deiner Unterschrift. Ich will gehen und sie Dir schicken. Du willst, mein Sohn? Nicht wahr? Ich fühle es an dem Beben Deiner Hand, daß Du willst. Wohlan denn, rufe meine Dame! Ich werde gehen und das Werk beginnen.«
Der Herzog klingelte. Primitiva erschien auf der Schwelle. Schweigend und mit tiefer Verneigung verabschiedete sich die Herzogin von dem Enkel und folgte der Führerin.
»Wollen Durchlaucht die Gnade haben, sich ankleiden zu lassen? Die Mira ist gesattelt«, sagte der Oberkammerdiener, nach einer Weile eintretend, leise und von fern.
»Ah, ganz recht!« fuhr der Herzog auf. »Ich vergaß. Ja, es ist gut. Ich will ausreiten; das wird mich zerstreuen. Man soll das Pferd an das hintere Thor führen. Ich will durch den Park. Dahin wird sich das Volk wohl nicht verlaufen haben.«
Der Kammerdiener trat näher, um dem Fürsten beim Ankleiden behülflich zu sein.
»Sind alle meine Befehle vollzogen?« fragte dieser während desselben. »Ist Niemand mehr im Vorzimmer?«
»Niemand, Durchlaucht«, entgegnete. Bornemann, reichte ihm Hut und Reitpeitsche und öffnete die Thür. Als jedoch der Herzog den Fuß auf die Schwelle setzte, drang von draußen aus dem Vorzimmer ein lautes Gespräch herein, das sich fast wie ein Wortwechsel anhörte. Der dort befindliche Lakai war bemüht, eine ärmlich gekleidete, weinende Frau mit zwei Kindern zur Thür hinauszudrängen.
»Ich hab' Ihnen schon einmal gesagt«, rief er, »daß Seine Durchlaucht nicht zu sprechen ist. Wie können Sie nur die Frechheit haben, wiederzukommen? Ich begreife auch nicht, wo der Portier seine Augen hat, das Volk so hereinzulassen.«
»Allgerechter Gott im Himmel!« rief die Frau, indem sie weinend die Hände rang. »Ich muß aber zu Seiner Durchlaucht, muß heute noch zu ihm. Er muß mir meinen Mann wiedergeben. Ich will ihm Alles sagen! Er muß ein Einsehen haben und muß uns helfen.«
»So kommen Sie morgen wieder!« sagte der Lakai. »Heute ist keine Zeit. Sie müssen eben warten.«
»Ich kann nicht warten«, jammerte die Frau. »Wir gehen zu Grunde. Mein Mann wird krank an dem entsetzlichen Orte, wohin sie ihn gebracht haben. Er hält es nicht aus; er stirbt, ehe ich ihm Hülfe bringen kann.«
»Was geht hier vor?« rief Felix vortretend. »Was wollen Sie? Ich bin der Herzog.«
Augenblicklich stürzte die Frau mit einem lauten Schrei zu seinen Füßen, die sie umklammerte, ohne daß er sich dessen erwehren konnte. »Herr und Heiland!« rief sie. »Gnädige Durchlaucht, Sie sind es? Sie sind ja der Herr, der uns das Geld gegeben, das uns so ins Unglück gebracht hat! Gott sei ewig Lob und Dank, daß ich Sie gefunden habe! Nun werden Sie es sagen, daß wir das Geld von Ihnen haben; Sie werden es sagen, daß der Rempelmann kein Dieb ist und werden ihm seinen ehrlichen Namen wiedergeben!«
»Ich verstehe Sie nicht völlig, gute Frau«, sagte der Fürst. »Fassen Sie sich und erzählen Sie ruhig! Ich erinnere mich wohl an meine Gabe.«
Halb vor Freude lachend, halb unter Thränen in verwirrten Worten und abgebrochenen Sätzen erzählte die Meisterin, was geschehen war. Es genügte, den Zusammenhang klar werden zu lassen.
»Ich bedaure«, sagte der Herzog, »daß meine wohlgemeinte Gabe solches Unheil gestiftet hat. Aber ist es denn möglich, daß ein solches Urtheil gefällt wurde?«
Graf Schroffenstein der Vater, eine Urkunde mit mächtigen Siegeln in der Hand, war inzwischen eingetreten und Zeuge des Gesprächs geworden. »Das sind die Segnungen des neuen Gerichtsverfahrens, Durchlaucht«, flüsterte er mit tückischem Lächeln dem Fürsten zu. »Das ist ein neuer Beleg für die Vorzüglichkeit dieser Volksgerichte.«
»In der That«, sagte Felix bedächtig, »es scheint nicht Alles Gold zu sein, was glänzt. Was bringen Sie hier?«
»Ihre Durchlaucht die Frau Herzogin-Mutter hatten die allerhöchste Gnade, mich mit der Überreichung dieser Urkunde zu beauftragen.«
»Gut«, sagte Felix umkehrend. »Legen Sie das Blatt auf meinen Tisch, Bornemann! Ihnen aber, Graf, binde ich auf die Seele, daß dieser armen Frau heute noch geholfen werde. Sie soll womöglich heute noch ihren Mann wiederhaben. Wenn ich es verhindern kann, soll ein Unschuldiger nicht eine Minute länger im Kerker schmachten. Gehen Sie, gute Frau! Verzeihen Sie, was mein guter Wille Uebles gestiftet hat! Ich werde darauf denken, es gut zu machen.«
Während Schroffenstein mit der vor Entzücken wortlosen Frau Rempelmann sich entfernte, war der Herzog in das Kabinet zurückgetreten. Die Vollmachtsurkunde lag auf dem Tische, unmittelbar daneben Führers Absagebrief. »Ja«, sagte er halblaut, indem er einen Blick auf diesen warf und die Feder ergriff, »ich will unterzeichnen. Jetzt habe ich das Mittel gefunden, diesen Stolz zu brechen, diesen Uebermuth, der sich über den Thron emporbäumen will. Stolz? Nein, das ist es nicht; das ist Verachtung. Wohlan, sein Spielzeug büße mir für ihn!«
Ende des vierten Bandes.
Druck von Bär & Hermann in Leipzig.
Papier von Julius Lange in Jeßnitz bei Dessau.