Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Am Rande des Abgrunds

Der Frieden und die einträchtige Ruhe, deren Einzug in dem stillen Hause hinter der Stadtmauer so sicher erwartet worden war, schienen dort nicht heimisch werden zu wollen. Das freundliche Vernehmen der ersten Monate war lange verschwunden und flog höchstens noch manchmal ab und zu, einem Vogel ähnlich, der irgendwo ein hübsches Plätzchen gefunden, um sein Nest zu bauen, dann aber durch irgend eine Gefahr oder Unannehmlichkeit verscheucht wurde und es nun doch nicht lassen kann, manchmal versuchsweise zurückzukommen und nachzusehen, ob es nicht doch noch möglich sei, sich wieder anzusiedeln. Alle waren verstimmt, indem jedes Einzelne das Andere verklagte und ihm die meiste Schuld beimaß, daß es so gekommen war; immer geneigt, sich selbst nahezu ganz davon freizusprechen. Mindestens war dies bei Ulrike und der Räthin der Fall, wie denn Frauen, wenn sie einmal in Gegensatz zu einander gerathen, häufig immer mehr und mehr sich in denselben hineinarbeiten und selten gerecht genug sind, ihrerseits einzusehen, daß nur der beiderseitigen Bemühung es möglich wird, einen Riß nicht zur unausfüllbaren Kluft werden zu lassen. Von dem letztem Vorwurf konnte sich nur Führer freisprechen. Der Abend, an welchem er Ulrike nicht zu Hause getroffen, hatte seinen Entschluß, die Ruhe seines Hauses um jeden Preis wieder herbeizuführen und auf dauerhafter Grundlage fester aufzubauen, nur bestärkt und den Gedanken der Selbstanklage in ihm geschärft. Er war sogar nicht mehr fern davon, sich selbst als die Hauptursache zu betrachten; denn er hatte sich durch die Geschäfte seines Amtes so gänzlich von Haus und Familie abziehen lassen, daß er die Mutter fast nur noch beim Frühstück sah, daß er an den meisten Tagen nicht einmal zu Tische nach Hause kam und sogar das Wenige, dessen er bedurfte, sich in das Ministerhotel bringen ließ. Kam er dennoch heim, so geschah es zu so ungewohnter Zeit, daß er selten Jemand anders als die alte, ans Haus gewöhnte Frau daselbst antraf, und daß Wochen vergingen, in welchen er Ulrike nicht anders als nur flüchtig begegnete. Seine letzte Unterredung mit ihr lag ihm wie ein immer schwerer lastender Stein auf der Brust. Er glaubte gegen sie zu weit gegangen zu sein. Nachdem er ihre Anforderungen abgewiesen hatte, wollte es ihm nicht mehr aus Kopf und Herzen, daß sie vielleicht doch nicht ohne alle Berechtigung gewesen seien. Er nahm sich immer vor, bei einem nächsten günstigen Anlaß darauf zurückzukommen und die Angelegenheit in einer Weise einzuleiten und zu ordnen, welche, ohne ihn bloßzustellen, Ulrike befriedigen und ihr den Beweis liefern sollte, daß sein Herz und sein Leben wie zuvor in ihrem innern Wesen nur ihr zugewendet waren. Er konnte das auch von sich sagen und niemals mit größerem Rechte als seit der letzten, unerwarteten, verhängnißvollen Begegnung mit Primitiva. Allein dieser Anlaß, diese günstige Gelegenheit, auf welche er wartete, wollte sich von selbst nicht einstellen, und so blieb die Sache immer verschoben und vertagt, und die beiderseitige Stimmung konnte dadurch unmöglich günstiger werden. Es war, wie wenn ein feuchtkalter Niederschlag sich auf eine blanke Metallplatte gelagert hat und versäumt worden ist, denselben in der ersten, rechten Zeit zu entfernen. Die unscheinbaren Tropfen verwandeln sich nur zu schnell in Rost und graben sich immer tiefer und zerstörender ein. Wenn die Gatten sich gleichwohl begegneten oder in Gesellschaften sich fanden, welche Führer trotz seiner Abneigung nicht immer vermeiden konnte, so war ihr Verkehr mehr von der Art, wie der allgemeine Anstand es erfordert; der frühere gemüthliche Ton, der von selber und ungesucht kommt, wie der Klang einer wohlgestimmten Saite, war verschollen.

Bei einer solchen flüchtigen Begegnung war es auch gewesen, daß Friedrich, in der Wärme seines Herzens immer bereit, das Bessere zu glauben und die Hand zur Versöhnung zu bieten, die Bitte ausgesprochen hatte, Ulrike an jenem Abend zu Hause zu finden. Sie wußte allerdings, daß sie die Einladung zum Concerte bereits angenommen, und es ging ihr auch flüchtig durch den Sinn, daß es seine großen Schwierigkeiten haben und der Gesellschaft Ungelegenheiten bereiten würde, wenn sie nun ihre Absage schicken wolle. Dennoch regte sich auch in ihr etwas wie eine Rückerinnerung an ein wärmeres und besseres Gefühl, und sie versprach gern, was gern angenommen wurde. Sie war im Augenblick auch fest entschlossen, Führer's Wunsch zu erfüllen, um so mehr, als sie ihm gegenüber ein gewisses Gefühl des Gedrücktseins, eine Art von Beengung nicht loswerden konnte. Nicht etwa, daß die gegen ihre Lebensweise geäußerten Vorwürfe ein Bedenken in ihr hervorgerufen oder sie irre gemacht hätten, sie befand sich vielmehr nach ihrer Ueberzeugung bei dieser vollkommen im Rechte. Was ihr Mann dagegen einwendete, erschien ihr nur als eine bürgerlich beschränkte Anschauung, welche sich vielleicht für den dunkeln Professor der Rechte geschickt hätte, für den ersten Minister eines großen Landes aber ebenso wenig paßte als der Studentenrock, den er in frühern, fröhlichen Jahren getragen haben mochte. Was sie Führer gegenüber beunruhigte, war vielmehr ganz anderer Art. Die Beziehungen des jungen Herzogs zu ihr waren immer häufiger, seine Aufmerksamkeiten immer dringender geworden; sie nahmen ein immer deutlicheres Gepräge an, sodaß über deren Sinn eine Täuschung wohl nicht mehr möglich war. Allerdings war weder im Benehmen noch in den Reden des galanten Fürsten etwas zu bemerken, was geradezu ein Unrecht enthalten hätte; aber beide bewegten sich in so engen Grenzen, daß die Linien haarscharf neben einander fortliefen, und eine feste Hand, ein vollkommen klares Auge dazu gehörte, sie nicht zu verwirren, sondern festhaltend zu unterscheiden. Ulrike war sich bewußt, den Fürsten hierbei in keiner Weise ermuntert zu haben; aber das mußte sie auch vor sich selber gestehen, daß sie ihn mindestens nicht zurückgewiesen. Die Huldigungen, die er ihr darbrachte, die Auszeichnungen, welche sie durch ihn erfuhr, hatten ihrer Eitelkeit geschmeichelt, und es regte sich etwas von dem leichtsinnigen Blute ihrer Mutter in ihr, als sie zum ersten Male in der Gesellschaft gesungen und der Herzog unter den Ausdrücken des überschwänglichsten Lobes und Entzückens sie galanterweise mit einer gefangenen Nachtigall verglichen und sein Bedauern darüber ausgesprochen hatte, daß sie bei einer solchen Stimme und einem solchen Talente sich nicht völlig der Kunst gewidmet habe. Von da an gab es Augenblicke, in welchen sie sich viel mit diesen Gedanken beschäftigte, in welchen sie an dem Bilde etwas Wahres fand und selber zu glauben anfing, sie habe die eigentliche Bahn ihres Berufs nicht gefunden, der Zweck ihres Lebens sei verfehlt. Dann träumte sie wohl auch von Verhältnissen und Beziehungen, wie sie eintreten könnten, wenn sie völlig ungebunden wäre; sie sah sich gefeiert und gepriesen, auf einer glänzenden Künstlerlaufbahn dahinschreitend, auf Lorbeeren und Gold wandelnd, frei mit sich und ihrem Herzen schaltend und ungehindert, jede Huldigung anzunehmen, die ihr gefiel, jede Höhenstufe zu erklimmen, die sich ihr zeigte. Allerdings war im Grunde ihres Gemüths noch so viel des Guten und Trefflichen vorhanden, daß sie sich bemühte, solche Gedanken niederzukämpfen, solche Bilder zu verscheuchen; aber wenn es ihr auch gelang, blieb doch von denselben, wie von den Photographien, die ein Blitz gebildet, ein nächtlicher Abdruck in den Geheimnissen ihrer Seele zurück. Sie war einige Male im Begriffe, Führer Alles zu entdecken. Dann aber wurde sie wieder trotzig; sie erinnerte sich seiner an sie gestellten Forderungen und sah ein, daß sie ihm dadurch vollkommen Recht geben und ihr ganzes künftiges Leben nothwendig für immer in die einfache, freudenlose Bahn hineinzwängen würde, vor der sie tiefes innerliches Grauen empfand. Auch fehlte ihr wohl der Muth, den ernsten Augenblick einer Entscheidung herbeizuführen; denn es ließ sich nicht voraussagen, wie dieselbe ausfallen würde; ein Geheimniß solcher Art, zwischen ihr und dem Fürsten so lange getheilt und bewahrt, mußte sie bei Führer nothwendig im bedenklichsten Lichte erscheinen lassen.

In einem solchen Zustand der Unruhe und des Schwankens hatte sie sich auch befunden, als sie das Versprechen gegeben, das Singkränzchen nicht zu besuchen, sondern abends zu Hause zu sein. Sie hatte Besuche gemacht, allerlei Einkäufe besorgt und nach ihrer Rückkehr unmittelbar an die Generalin ihre Absage geschickt. Sie blieb auch standhaft, als ein Billet derselben kam, worin sie die Störung unendlich bedauerte und Ulrike beschwor, ihr Erscheinen doch möglich zu machen, wenn es nur irgend angehe. Auch als die Generalin selbst den abscheulichen Fahrweg durch das Gäßchen nicht scheute und in eigener Person angefahren kam, ihre Verlegenheit und den Verdruß der ganzen Gesellschaft zu schildern, blieb sie standhaft und hielt die vorgeschützte Migräne mit solcher Tapferkeit aufrecht, daß die gewandte Dame endlich die Unmöglichkeit einsah, sie andern Sinnes zu machen und anfangen mußte, an die Wahrheit eines Uebels zu glauben, an welchem sie, gestützt auf manche Erfahrungen des eigenen Lebens, anfangs sehr begründete Zweifel sich erlaubt hatte. Das Einzige, womit sie sich dabei tröstete, war, daß Seine Durchlaucht der Herzog, welcher zuerst die Ansicht gehabt hatte, zu erscheinen, um das altitalienische Madrigal zu hören, welches Ulrike vortragen sollte, nun unvermuthet eine Jagdpartie unternommen habe, daß also mindestens nach dieser Seite hin ein falscher Schritt nicht zu befürchten stand.

Mit selten empfundener Beruhigung sah Ulrike die Generalin sich entfernen und war höchlich mit sich selbst zufrieden. Der Abend kam ihr unter den angenehmsten Empfindungen heran, als ganz unerwartet und noch spät abermals ein Briefchen der Generalin eintraf und sie in neue Unruhe versetzte. Das Billet wirkte wie ein Stein, der, in stille Wasserflut geschleudert, dieselbe erregt und in immer weitern Ringen und Kreisen die Unruhe sich ausbreiten macht. Es enthielt die Nachricht, der Herzog sei unerwartet von der Jagd zurückgekommen und habe sofort zu der Generalin geschickt, seinen Besuch anzukündigen, und habe ausdrücklich hinzufügen lassen, daß er bestimmt darauf rechne, das Madrigal zu hören. Die Dame beschwor Ulrike, das Concert, dessen Gelingen lediglich von ihr abhänge, nicht zu stören und nicht sie und sich dem Mißfallen des Fürsten auszusetzen. Eine Weile war Ulrike unentschlossen. Der Gedanke, wie sie bei Führer ihre Abwesenheit entschuldigen sollte, beengte sie von der einen Seite, während sie andererseits sich von der Vorstellung beunruhigt fühlte, daß und wie sehr dem Fürsten ihr Nichterscheinen auffällig sein müsse. Der bessere, ruhigere Theil ihres Gemüthes wollte sie im Hause zurückhalten, die Freude, zu gefallen, der Gedanke an den zu erwartenden Beifall zog sie zu der Gesellschaft hin. Dennoch war die erste Empfindung nahe daran, die Oberhand zu erhalten. Sie setzte sich an den Schreibtisch, um die wiederholte Absage niederzuschreiben; allem indem sie sich auf die passendsten Worte dazu besann, stiegen ihr aufs neue Bedenklichkeiten auf, wie sehr es im Grunde doch unmöglich und unthunlich sei, in dem Concerte nicht zu erscheinen. Noch während des Niederschreibens hielt sie inne, führte den zierlichen Federhalter nachdenklich an den Mund und besann sich. Es war ihr ein Ausweg eingefallen, welcher Alles in bester Weise auszugleichen versprach. »Vortrefflich!« rief sie halblaut vor sich hin. »So will ich es machen. Nur um das allgemeine Vergnügen nicht zu stören, will ich auf eine Stunde in das Kränzchen fahren. Das Madrigal wird ja bald gesungen sein, und noch ehe Friedrich zurückkommt, bin ich lange wieder da. So kann ich seinen Wunsch erfüllen und zugleich auf der andern Seite jeden Verdruß und jede Verstimmung vermeiden.« Mit flüchtigen Zügen warf sie die Antwort in diesem Sinne auf das Blatt und rief ihre Dienerin, ihren Anzug zu beenden. Sie fand es unnöthig, als sie das Haus verließ, die Räthin davon zu verständigen. Sie scheute die Berührung mit der eigensinnigen alten Frau, die ohne Zweifel wieder mit ihren grämlichen Bedenklichkeiten angerückt gekommen wäre; sie war ja bald wieder zu Hause, dann sollte sie sowie Führer Alles erfahren.

Der Plan war ganz gut ausgesonnen; nur eins war dabei außer Acht geblieben: der Reiz und die Verlockung der Gesellschaft und die Schnelligkeit, mit welcher in ihr die Zeit, zumal eine in bestimmte Schranken gemessene, dahinfliegt. Wie leicht konnte irgend ein Umstand sich ereignen, welchen vorherzusehen eine Unmöglichkeit war und der sie dennoch wider Willen festhielt!

Und so kam es auch.

Das Madrigal stand allerdings gleich unter den ersten Nummern, welche vorgetragen werden sollten, aber die erste Nachricht, welche ihr unter den Begrüßungen der Generalin und den Complimenten der Gesellschaft zu Ohren kam, war die von einer neuerlichen Botschaft des Herzogs, welche meldete, daß eine plötzliche Verhinderung ihn nöthige, etwas später zu kommen, weshalb er dringend bitten lasse, den Vortrag des Madrigals bis zu seiner Ankunft zu versparen. Was konnte sie thun? Es war geradezu unmöglich, diesem Wunsche zuwider zu handeln. Führer selbst, wenn er zugegen gewesen wäre, hätte das kaum gewagt. Sie mußte also bleiben und beschwichtigte die in ihr wie ein heißer Strahl aufquellende Unruhe mit dem Gedanken, wie sie Friedrich Alles einfach, der Wahrheit gemäß erzählen wolle, und wie er dann selbst einsehen müsse, daß sie nicht anders zu handeln vermocht. So ging die Zeit, bis zu welcher sie heimzukehren gedacht hatte, vorüber, ohne daß der Herzog erschien, und im Gefühle des begangenen Unrechts wollte die frühere Besorgniß verstärkt wiederkehren, als der Eintritt des Fürsten sie nöthigte, sich zu fassen, um seine Begrüßung mit der gebührenden Haltung zu empfangen und die Artigkeiten entgegen zu nehmen, mit denen er sein Ausbleiben entschuldigte und den Dank für die ihm zu Gefallen geschehene Verzögerung aussprach.

Sie begann ihren Gesang in großer Befangenheit, und während des Ritornells, das dem Eintritt der Singstimme vorherging, ging ihr Athem so schwer und heiß, daß sie selbst es für unmöglich hielt, einen Ton hervorzubringen. Sie begann mit einem Gefühle von Unsicherheit, das sie sonst nicht kannte; aber vielleicht eben deswegen war ihr Vortrag von einem so ungesuchten Ausdruck der Innigkeit durchweht, daß alle Zuhörer gefesselt und tief ergriffen lautlos den in ihrer Einfachheit rührenden Tönen lauschten. Der Herzog hatte sich in eine dunkle Ecke zurückgezogen, um, wie er sagte, die Musik ungestörter genießen zu können; er saß wie in sich gekehrt und hatte die Hand vor die Augen gelegt, um sich ganz gegen jede Störung der Außenwelt abzuschließen. Dennoch entging es Ulrike nicht, daß er, als die allgemeine Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt war, seine Hand tiefer heruntergleiten und den brennenden Blick unablässig auf ihr haften ließ. Sie erglühte in steigender Befangenheit und fühlte sich doch in unbegreiflicher Weise erhoben; ohne selbst zu wissen und zu wollen, wie es gekommen, durfte sie sich wohl sagen, daß sie nie vollendeter gesungen.

Sie ahnte nicht, wessen Ohr unten auf der Straße ebenfalls den wundervollen Tönen ihrer Stimme gelauscht.

Ueber dem Beifalle, welcher von allen Seiten auf sie losstürmte, und über den Lobeserhebungen des Herzogs vergaß Ulrike auf einige Zeit völlig, daß sie sich vorgenommen hatte, unmittelbar nach ihrem Gesange aufzubrechen. Sie hätte es auch nicht gekonnt, denn der Herzog, sowie die ganze Gesellschaft verlangten stürmisch die Wiederholung des Madrigals. Sie hatte keinen haltbaren Grund, das zu verweigern, und die Generalin war entzückt, daß die Migräne, an der sie gelitten, sie so vollständig verlassen zu haben schien. Dann wurde sie von diesem und jenem im Gespräche festgehalten, dem ohne Unart nicht wohl auszuweichen war, und zuletzt trat auch der Herzog wieder heran und bat um den Vortrag eines andern Liedes, das sie in einem frühern Concerte gesungen und das in hohem Grade sein Wohlgefallen errungen hatte. Sie trat an das Piano, auf welchem die Musikalien bunt durcheinander lagen, während die Gesellschaft im Saale und in den anstoßenden Zimmern in Gruppen zusammenstand und sich an den Confitüren und sonstigen Erfrischungen erquickte, welche in der eingetretenen Pause herumgereicht wurden. Der Herzog trat hinzu, als ob er das Finden beschleunigen und suchen helfen wolle; aber unter den Notenheften und Blättern begegnete seine Hand der ihrigen. Sie fühlte dieselbe im Augenblicke gefaßt und leidenschaftlich gedrückt, und während das Auge des Fürsten wie suchend fest auf die Noten gerichtet war, flüsterte seine Stimme heiß zu ihr empor: »Zaubrerin, so werde ich denn nie diesen himmlischen Augen gegenüberstehen, ohne die halbe Welt zum Zeugen zu haben?« Sie erwiderte nichts. Glücklicherweise hatte sie eben das gesuchte Notenblatt gefunden und trat zu dem begleitenden Künstler, um den Vortrag zu beginnen.

Als sie gesungen und einen Augenblick ausruhend sich auf einen der Divans zurückgezogen hatte, stieg wohl der Gedanke an Führer und wie sie zu Hause erwartet werde, gleich einem auflodernden Feuer in ihr empor. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie so schwach gewesen und den Lockungen dennoch nachgegeben; aber kühlere Ueberlegung dämpfte die Flamme wie Wasserguß. Es war nun einmal geschehen, war nicht mehr zu ändern, so wollte sie mindestens den Abend genießen und sich denselben nicht durch unangenehme Gedanken verbittern lassen.

Als die Gesellschaft sich trennte, war es bereits tiefe Nacht. Das einsame, stille Haus, das seine Herrin und Frau vergeblich erwartet hatte, war noch einsamer und stiller als sonst; Alles schien im tiefsten Schlafe zu liegen, nirgends verrieth ein Lichtschimmer, daß noch ein Auge wache. Dennoch war die Räthin noch gar wohl auf der Hut und tastete von ihrem Bette aus nach dem Schnürchen der oberhalb desselben angebrachten Stockuhr, um sie die Stunde nachschlagen zu lassen. Sie mußte eben genau wissen, wann die Frau Tochter nach Hause gekommen. Auch am Fenster von Führer's Zimmer lehnte noch lange im Finstern eine dunkle Gestalt und verschwand erst, als der aufdämmernde Morgen die Nacht verscheuchte.

In den nächsten Tagen waren die Ehegatten einander nicht begegnet. Es mochte wohl auch beiderseits der Wunsch nach einem Zusammentreffen nicht vorhanden sein, sondern viel eher das Bestreben bestehen, sich auszuweichen. Beide fühlten stillschweigend, daß die Verhältnisse auf einem Punkte angekommen waren, auf welchem es zur Erklärung und Entscheidung kommen mußte, und der Unterschied zwischen den Anschauungen beider lag wohl nur darin, daß, während Ulrike sich vor einer solchen Wendung scheute, Führer sich darnach sehnte und entschlossen war, den ersten sich bietenden Augenblick dazu zu benutzen.

Und der Augenblick kam.

Die Generalin, deren Haus der Sammelplatz der vornehmen musikalischen Welt war, besaß ein kleines, niedlich eingerichtetes Landhaus, eine halbe Stunde von der Stadt am Rande eines großen Waldes gelegen, der ein bedeutendes Jagdgehege bildete und dessen äußerste Partien in eine Anlage mit verschlungenen Wegen nach Art der englischen Parks umgewandelt waren. Der Garten der Villa war durch den lebenden Zaun von kurz geschnittenen Fichten und Buschwerk nicht überall so fest abgeschlossen, als dies allenfalls durch eine Mauer oder Planke hätte geschehen können; ein solcher fester Abschluß war aber gar nicht beabsichtigt, denn für den Besitzer der Villa war es sehr angenehm, durch eine Hinterthür seine Spaziergänge über sein eigenes enges Gebiet hinaus in einen so nahe gelegenen herrlichen Wald ausdehnen zu können. Anderntheils hatte der alte Herzog die Bewilligung hierzu gern gegeben; denn der General, ein alter, mit Narben und Orden reichlich bedeckter Invalide, war ihm außerordentlich lieb und werth gewesen. Jetzt allerdings konnte der alte Militär keinen Gebrauch mehr davon machen, aber die Vergünstigung dauerte fort und ward seiner Frau sehr angenehm, welche, obwohl erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stehend, kein Bedenken getragen hatte, ihre Hand in die eines fast siebzigjährigen Greises zu legen. Der Alte saß beinahe immer in einem Rolllehnstuhl im Gartensaal und war gütig und nachsichtig, sowie klug genug, daß er nichts dagegen hatte, wenn die junge Frau sich – sozusagen unter seinen Augen – vergnügte und wie ein gefangener Vogel an verlängertem Faden herumflattern konnte.

Unfern im Walde, unter einer Gruppe von besonders schönen Buchen, welche einen kunstlosen grünen Laubtempel bildeten, hatte eine Mooshütte gestanden, welche früher den Jägern zum Vogelherd oder zur Aufhütte gedient haben mochte; als die Ansiedelungen der Städter näher heranrückten und den Jagdbetrieb zurückdrängten, war sie außer Gebrauch gekommen und wurde nicht mehr beachtet, und so fand Niemand etwas Auffallendes darin, daß sie sich allmälig in eine Art Einsiedelei umgewandelt hatte. Diese war nun ein angenehmer Zielpunkt für die Bewohner der Villa oder deren Gäste, und die Generalin saß oft, mit einem Buche in der Hand, in dem kleinen, rindenbedeckten Häuschen und sah durch dessen Fenster auf die grüne, saftige Waldwiese hinaus, die von einem dichten, buschigen Tannenanflug abgegrenzt war, hinter welchem wieder prachtvolle Buchen und Ulmen ihre hundertjährigen Häupter emporhoben. Es war kaum glaublich, welch wirkliche Waldstille und Einsamkeit so nahe bei der Stadt in dem kleinen Raume anzutreffen war, zumal wenn Feiertags das Geläute und das Lärmen der Gewerke in den nahen Mauern verstummt war. Durch die Bäume ging ein Drahtzug bis in den Gartensalon der Villa, sodaß der General, dem seine lahmen Beine alles Lustwandeln unmöglich machten, leicht ein Glockenzeichen geben konnte, wenn er der Einsamkeit und der Schlachtenpläne überdrüssig geworden war, welche meistens den Gegenstand seiner Unterhaltung bildeten.

Der Generalin, nur wenige Jahre älter als Ulrike, war es rasch gelungen, diese an sich zu ziehen; Ulrike hatte die ihr offen entgegenkommende Neigung nicht zurückgewiesen, und so war zwischen beiden Frauen eine Art von freundschaftlichem Verhältniß entstanden, das, obwohl es einen hohen Grad von Innerlichkeit und Zutraulichkeit zu haben schien, im Grunde doch nur auf äußern Dingen beruhte. Es konnte auch nicht wohl anders sein. Ulrike war lebhaft und leidenschaftlich; sie befand sich beinahe fortwährend im Zustande leichter Erregung; es rollte etwas von dem unstäten Künstlerblute in ihren Adern, das ihre Mutter zu einem so traurigen Ende geführt hatte. Die Generalin dagegen wußte sich, wenn es nöthig schien, allerdings den Anschein lebhafter Empfindung sehr täuschend zu geben und auf diese, wo sie ihr entgegen trat, wie mit einer Art künstlichen Echos zu antworten, aber sie war dabei von einer solchen kühlen innern Ruhe und Herzenskälte, daß ihr niemals das Blut über die Augen emporstieg und sie immer den Kopf oben und so frei behielt, ihre eigene Lage sowohl als ihre Umgebung mit kaltem und gelassenem Auge überblicken zu können. Die Generalin war nicht schön zu nennen. Sie war wohlgebaut, aber ihre Formen waren schlank und fast zu hager, um angenehm zu erscheinen. Die etwas bleichgelbe Gesichtsfarbe war von keinem röthlichen Anflug unterbrochen; nur der Mund war vom schönsten Kirschroth und durch eine leichte Anschwellung der Oberlippe so reizend geformt, daß sein berückendes Lächeln denjenigen wohl festzuhalten vermochte, der es gewagt hatte, zu nahe in den Bereich ihrer Augen zu gerathen. Diese mit ihrem leuchtenden Dunkelbraun glichen jenen Wassern, welche von dem Eisengehalt, den sie mit sich führen, tief gefärbt sind, mit kaum merklicher Bewegung in vielen Biegungen und Windungen durch eine ebene Gegend rinnen und, anscheinend klar bis auf den Grund, unter den überhängenden Gesträuchen Untiefen bergen, aus welchen keine Rettung für den ist, der vertrauend in sie hinabtaucht.

Sie fand anscheinend den Besuch des musikliebenden Fürsten in ihren Cirkeln völlig unbedenklich, und so sorgfältig im Benehmen zwischen ihm und Ulrike Alles vermieden wurde, was auf das Vorhandensein näherer Beziehungen zwischen denselben hätte schließen lassen, war die Herrin des Hauses doch die Einzige, welcher auch die feinsten Fäden des sich immer dichter verschlingenden Gewebes nicht entgingen. Ihr Blick war gefärbt durch eine Regung, welche auch das blödsichtigste Auge mit der Schärfe des Falken waffnet, durch die Regungen der Eifersucht. Nicht etwa, daß sie den Herzog geliebt hätte, aber als sie gewahr geworden, daß er gegen eine Andere nicht gleichgültig schien, regte sich der Neid, und die Gedanken an Macht, Einfluß und Reichthum erhoben sich im Hintergrunde ihres Gemüths wie Gestalten einer Nebelspiegelung. Sie hatte und verfolgte keinen bestimmten Plan, aber sie dachte daran, die Aufmerksamkeit des jungen Fürsten auf sich zu lenken, und besaß die Geduld, das Hervorbrechen eines Keims abzuwarten, wenn er auch erst lange gähren und arbeiten und viele Stufen der Entwicklung unsichtbar durchmachen mußte, ehe der Augenblick kam, wo er die Schollen zersprengen und die ersten Blattsprossen im Lichte entfalten sollte.

Es war schon geraume Zeit unter den beiden Frauen beredet worden, daß sie einmal ganz allein miteinander einen Nachmittag in dem Landhause zubringen und mit Ausschluß aller andern Gesellschaft nur sich gehören wollten. Die Generalin wußte Ulrike nicht genug zu sagen, wie viel sie auf dem Herzen habe, was sie ihr vertrauen wolle und einzig ihr vertrauen könne. Ulrike, deren Seele schwer belastet war, fühlte ein gleiches Bedürfniß, obwohl sie bei nur oberflächlicher Selbstprüfung sich sagen mußte, daß, wenn sie etwas mitzutheilen hatte, es ein Geheimniß war, das keinem menschlichen Ohre anvertraut werden durfte.

Die längst verabredete Zusammenkunft fand endlich statt. Man hatte in der Villa gespeist, der General war nach der Tafel eingenickt, und die Frauen hatten durch den Garten und den Park einen Spaziergang nach der Einsiedelei gemacht. Dort saßen sie nun und sahen im Waldesgrün den bunten Hehern zu, die mit munterem Geschrei durch die Wipfel fliegend einander neckten, und den Eichhörnchen, welche die Tannenzapfen auskernten und die abgenagten muthwillig spielend herunterwarfen.

Das Gespräch stockte; die vertraulichen Mittheilungen der Generalin, welche zuvor so nothwendig erschienen waren, wollten nicht in Fluß kommen; auch Ulrike war schweigsam und fühlte sich aus der Einsamkeit wie von einem Hauche unerklärlicher Ahnung und Wehmuth angeweht, als habe sie ein großes Unglück zu beweinen oder eine drohende große Gefahr zu bestehen. Die Generalin überließ sie ihrem Nachsinnen, und wäre Ulrike nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, es hätte ihr nicht entgehen können, daß die Dame häufig aufhorchte, wenn sich in einiger Entfernung, wo die Landstraße vorüberzog, das Rollen eines Wagens oder der Hufschlag eines galoppirenden Pferdes hören ließ.

»Der Draht des Glockenzugs bewegt sich«, sagte sie, mit einem Male aufstehend. »Es scheint, mein Mann bedarf meiner. Verweilen Sie indessen hier, meine Liebe! In wenig Augenblicken fliege ich zu Ihnen zurück.«

Ulrike stand an dem kleinen Fenster der Einsiedelei, den Arm an das Gesims gelegt und auf diesen den Kopf gelehnt, versunken in Gedanken und Träumereien, welche sie unklar umschwebten wie die Bilder, welche beim Einschlafen die verdämmernde Seele umgaukeln. Sie hörte kaum, wie der flüchtige Tritt der Dame sich im Walde verlor; sie wurde nicht gestört, als es nach einiger Zeit in den Büschen rauschte und ein schöner Jagdhund spürend hervorkroch, dem bald ein Jäger folgte, dessen erster Blick auf die Einsiedelei und deren zeitweilige Bewohnerin fiel. Sie schrak erst auf, als die Thür sich öffnete, und mit Glut übergossen, unfähig, sich zu regen, stand sie vor dem Herzog, welcher in dem knappen, mit Metallknöpfen besetzten grünen Jagdrock noch wohlgestalteter und gewinnender aussah als in der soldatischen Kleidung, welche er sonst zu tragen pflegte.

»Nun, das nenne ich Waidmannsheil!« rief der Fürst, den leichten Ton des Scherzes anschlagend. »Meine Diana hat vorzüglich gespürt; sie hat mir das schönste Edelwild aufgejagt, eine Gazelle, wie ich in diesen Wäldern sie wohl nicht gesucht hätte.«

»Durchlaucht«, stammelte Ulrike, »Sie hier? Wie ist das möglich?«

»Wie es so gekommen ist«, entgegnete der Fürst, sein Jagdgewehr in die Ecke lehnend, mit eigenthümlichem Lächeln, »das weiß ich selbst nicht und verlange auch gar nicht darüber nachzudenken. Ein Waidmannsgang hat mich in den nahen Wald geführt und bis hierher gebracht. Doch«, fuhr er einlenkend fort, indem er Ulrike fester betrachtete und ihre grenzenlose Verwirrung gewahr ward, »ich will keine Unwahrheit sagen. Etwas weiß ich doch von diesem Wie. Ich habe neulich Ihr Gespräch mit der Generalin belauscht. Ich hörte, wie Sie verabredeten, diesen Nachmittag die Einsiedelei zu besuchen. Ich will nur aufrichtig sein und gestehen, daß ich absichtlich in die Nähe kam, und daß mich die Hoffnung leitete, Ihnen zu begegnen.«

Ulrike raffte sich auf und wollte der Thür zu. »Durchlaucht, lassen Sie mich fort!« rief sie. »Wenn irgend ein menschliches Auge –«

»Bleiben Sie!« sagte er beruhigend. »Kein menschliches Auge wird uns hier erspähen. Ich werde auch nicht so lange verweilen, daß wir gesehen werden könnten. Ich will sogleich wieder fort, sobald Sie mir eine Frage beantwortet haben werden.«

»Was könnte ich –« stammelte Ulrike.

»Ich habe Sie immer nur vor Zeugen sprechen können«, rief der Fürst, »vor einer ganzen Gesellschaft, wo sich der hundertäugige Argus noch verhundertfacht hat. Was ich für Sie empfinde, wissen Sie – Sie wissen es von früher her. Ich habe mich unterstanden, es Ihnen auch jetzt wieder zu gestehen. Aber ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, was Sie gegen mich empfinden. Sie sind immer schweigsam, Sie sind verwirrt, wenn ich zu Ihnen spreche. Das kann für mich und gegen mich sprechen; es kann ein Zeichen Ihres Unwillens sein, es kann auch bedeuten, daß ich Ihnen nicht ganz unangenehm bin. Darum beantworten Sie mir offen die Frage: Zürnen Sie mir wegen meines Geständnisses, zürnen Sie mir, weil ich Sie liebe?«

»Lassen Sie mich, Durchlaucht!« rief Ulrike, noch immer vergeblich nach Fassung ringend.

»Sie sagen nicht nein?« rief der Herzog. »Ich darf also hoffen, daß Sie mir nicht zürnen, daß Sie mir verziehen haben? Dann beweisen Sie mir das auch! Beweisen Sie es mir dadurch, daß Sie nicht so von mir eilen! Gönnen Sie mir das Glück, Sie eine Sekunde lang ohne Zeugen zu sehen, in Ihre Wunderaugen blicken, mich an dem Zauber Ihrer Schönheit berauschen zu dürfen! Warum wollen Sie mir versagen, was Ihnen keinen Schaden bringt? Wird die Sonne ärmer an Licht und Glanz, wenn sie einen Strahl auf einen Bittenden senkt? Ich weiß wohl, was Sie mir erwidern können. Sie sind gebunden. Ich bin es auch; der Glückliche, dem Sie gehören, ist mein Freund! Aber ich begehre ja auch nichts von Ihnen. Ich will Sie nur einmal sehen, will nur einmal mein Herz ganz vor Ihnen ausschütten, die Ueberfülle seiner Empfindungen ausströmen lassen, die es sonst zerspringen machen müßte! – Wie, noch immer keine Antwort?« fuhr er fort, als Ulrike nichts erwiderte, sondern die Hände ringend und faltend angstvoll in dem kleinen Raume hin und her schritt. »Sie sind beunruhigt. Was fürchten Sie doch? Seien Sie versichert, ich weiß gewiß, daß kein Zeuge uns in diesem Augenblicke stören wird. Was kann Sie an der Liebe eines Mannes erschrecken, die Sie nicht theilen? Oder dürfte ich etwa hoffen?« rief er feuriger, näher tretend. »Dürfte ich diese reizende Verwirrung zu meinen Gunsten deuten? Ulrike, Sie hätten mir nicht blos verziehen, ich dürfte träumen, Ihnen auch nicht gleichgültig zu sein, hoffen, daß ein wärmeres Gefühl auch in Ihrem Busen sich regt? O wenn das wäre, welche Welt von Paradiesen thut sich unabsehbar vor mir auf bei diesem Gedanken! Was wäre ich zu thun bereit, in der Absicht, Sie die Meine nennen zu können! Rede«, rief er, indem er sie umfaßte und den Arm zärtlich um ihre Hüften schmiegend sie an sich zog. »Rede, Ulrike! Liebst Du mich?«

Sie erwiderte nichts; sie war einer Ohnmacht nahe, aber sie widerstrebte nicht, als er sie vollends in die Arme schloß und ihr Mund und Antlitz mit Küssen überdeckte, deren Innigkeit nicht unterscheiden ließ, ob sie blos genommen und nicht auch erwidert waren. »Lebe wohl!« rief er dann, sich rasch losreißend. »Meine Zeit ist um. Ich weiß jetzt genug. Ich sehe Dich wieder.«

Er verschwand.

Ulrike blieb allein und fand jetzt Zeit genug, aus der Hütte ins Freie und in die Waldesfrische zu treten, die ihr mit der Kühlung des einbrechenden Abends an die glühenden Wangen hauchte. Es währte geraume Zeit, bis, sich mit dem Tuche fächelnd, die Generalin langsam bemessenen Schrittes von der Villa herangewandelt kam.

»Ich bin lange geblieben, meine Liebe!« sagte sie lächelnd und mit einem Blicke Ulrikens Aussehen überfliegend, ohne sich etwas von dem, was sie entdeckte, merken zu lassen. »Mein Herr Gemahl hat mich so lange aufgehalten. Er ist übler Laune. Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Ehe auch schon die Erfahrung gemacht haben, daß die Männer Launen haben. Aber was ist Ihnen denn? Ich bemerk jetzt erst, wie sehr Sie erhitzt sind. Mein Gott, Sie sind doch nicht unwohl?«

»Nein«, rief Ulrike, »und doch – allerdings! Es ist, als sollte ein Anfall meines Kopfleidens wiederkehren. Ich will Ihnen nicht länger lästig fallen. Ich muß nach Hause. Hoffentlich wird mir dort besser werden.«

»Das beklage ich unendlich«, rief die Generalin mit rührender Theilnahme. »Ich hatte mich so sehr auf diese Stunden unseres Zusammenseins gefreut. Aber wenn Sie leiden, will ich sogleich sorgen, daß der Wagen für Sie bereit gemacht wird.« Ulrike schritt bereits dem Hause zu, die Generalin folgte langsam. Ihr scharfes, ruhiges Auge spähte zurückblickend nach allen Seiten; sie bückte sich, um an der Thürschwelle ein kleines Stahlknöpfchen aufzuheben, auf welchem ein Rehkopf in matter Vergoldung getrieben war. Der Fürst war im Vorbeieilen mit dem Aermel hängen geblieben und hatte dasselbe abgestreift. Sie steckte das Knöpfchen ein; dann folgte sie raschern Schrittes der Vorangeeilten.

In unbeschreiblicher Erregung erreichte Ulrike das heimische Haus: es flimmerte ihr vor den Augen, es brandete vor ihrem Ohr. In einem Augenblick hob sich ihr Herz im Entzücken darüber, sich vom Herzog geliebt zu wissen, der, wie sie sich selbst nicht mehr verhehlen konnte, auch ihre Neigung zu gewinnen gewußt hatte; im nächsten schmetterte durch die süßen, verlockenden Weisen der Weckruf ihres bessern Theils wie der ernste Glockenschlag der ersten Morgenstunde, der die Gespenster, welche die unheimliche Mitternacht freigelassen, in ihre Grüfte zurückscheucht. Sie gedachte dann Führer's edler Einfachheit, der tüchtigen Offenheit seines ganzen Wesens, seines kräftigen Gemüthes, das so ganz geeignet war, einem Andern zur verlässigen Stütze zu dienen. Dann war sie entschlossen, ihm ganz anzuhängen, jeden andern Verkehr abzubrechen; bald aber behielten die Bilder der Lust und des verlockenden Scheins wieder die Oberhand, wie die Speichen eines umwirbelnden Rades, die oben und unten wechseln. Die Ankunft im Hause war nicht geeignet, etwas an ihrer Stimmung zu ändern, denn es war gänzlich leer. Gegen alle Gewohnheit war sogar die Räthin durch dringende Geschäfte zu einem Gang in die Nachbarschaft veranlaßt worden. Das Dienstmädchen, das offenbar ihre Rückkehr sobald nicht erwartet hatte, hatte ebenfalls die Gelegenheit benutzt und war ausgeflogen. Der für Beppo eingetretene Diener war der Einzige, der sie empfing, und den sie, zu ihren Zimmern eilend, rasch verabschiedete. Sie durchschritt den leeren, hallenden Gang des zu ihren Zimmern führenden Stockwerks und kam in den großen Vorsaal, der manchmal zum allgemeinen Versammlungsorte der Familie diente und in welchem ein Piano aufgestellt war. Beim Anblick desselben blieb sie stehen; es war ihr, als ob dasselbe enthalte, was sie im Augenblick bedurfte. Sie hatte schnell Hut und Tuch abgeworfen und saß an dem Instrument, sich in freien, regellosen Phantasien ergehend, und wie die Tonwellen unter ihren kunstfertigen Händen hervorbrachen und dahinströmten, war es, als ob auch die stürmenden Fluten ihres Herzens sich Bahn gebrochen und es entlasteten. Sie ging allmälig in bekanntere Motive über und wußte zuletzt selbst nicht, wie es kam, daß sie das Thema des Madrigals anschlug, das sie im letzten Concerte gesungen.

Führer war inzwischen eingetreten und hatte sich hinter ihren Stuhl gestellt. Er war unerwartet von den Geschäften losgekommen und heimgeeilt. Es schien ihm ein glückliches Zeichen, als ihm die Töne des Flügels entgegenrauschten. Er hielt einen Augenblick inne; dann trieb ihn das warme Herz, in den Saal hinaufzueilen.

Ulrike war so vollständig in ihr Spiel und in ihre Gedanken versunken, daß sie weder seinen Eintritt noch seine Annäherung gewahrte und im eigentlichen Sinne erschreckend zusammenfuhr, als sie ihn plötzlich hinter sich wahrnahm.

»Es war nicht meine Absicht, Dich zu erschrecken, meine Liebe«, sagte Führer. »Ich wollte nur ein ungesehener Zuhörer sein. Thue, als wäre ich gar nicht zugegen! Es ist sehr lange her, daß ich Deinen Gesang nicht mehr gehört, Deine Kunst nicht mehr bewundert habe.«

»Wenn Du es gewünscht hättest, wäre das wohl leicht möglich zu machen gewesen«, erwiderte Ulrike kalt. »Du hättest nur jene Kreise besuchen dürfen, in welchen Musik gemacht wird. Wenn Du also dieses ohnehin sehr fraglichen Genusses verlustig geworden, ist es jedenfalls nicht meine Schuld.«

»So mag es denn die meine sein«, entgegnete Führer ruhig, wenn auch unangenehm berührt von dem kühlen Tone, der durch Ulrikens Worte wehte. »Meine Anschauung über Musik ist eben eine etwas andere, und wenn ich auch weit entfernt bin, der kunstmäßigen Ausübung derselben irgendwie nahe treten zu wollen, so habe ich sie doch am liebsten als gesellige Kunst, wenn man es so nennen darf, als Kunst im Hause, als Hausmusik, und hier, wirst Du gestehen, war mir allerdings Gelegenheit nicht gegeben.«

Ulrike wußte nicht, wie ihr geschah; aber im Augenblicke tönte ihr aus dem Gespräche mit dem Fürsten das Gleichniß mit der gefangenen Nachtigall durch die Seele. »Derlei kommt im Leben vor«, sagte sie. »Mancher findet es entzückend, die Nachtigall in einen Käfig zu sperren, und glaubt, daß ihr Gesang nie bezaubernder töne als in seinem Käfig!«

Führer blickte sie mit steigendem Befremden an. »Das Bild trifft wohl nicht zu«, sagte er dann, sich zusammennehmend, »und gilt jedenfalls nur, wenn die Nachtigall sich selbst gefangen fühlt. Ich aber habe sagen hören, die Nachtigall fühle sich nur im einsamen Walde heimisch, wo sie ihr Nest gebaut, sie singe am schönsten, wenn sie nur für sich und die Ihrigen, für ihre Waldeinsamkeit singt. Die Nachtigall wird leicht die Freiheit vom Käfig zu unterscheiden wissen und die Wahl zwischen beiden wird ihr nicht schwer werden, und wenn auch die Stäbe des Käfigs von Gold wären.«

»Es ist mir nicht mehr überraschend, daß wir uns in verschiedenen Ansichten begegnen«, sagte Ulrike, indem sie sich abwendete und sich zu erheben versuchte.

»Verweile noch!« sagte Führer und hielt sie fest. »Die Verschiedenheit ist doch wohl nur eine scheinbare. Ich gedenke einer Zeit, wo wir uns in vollster Uebereinstimmung befanden und in allen Dingen mit überraschendem Einverständniß begegneten. So ist es jedenfalls einmal gewesen. Sollte es nicht mehr so sein? Sollte diese Hoffnung auf die Gegenwart eine so arge Selbsttäuschung enthalten?«

»Vielleicht«, entgegnete Ulrike unsicher. »Vielleicht ist es auch die Erinnerung, welche täuscht.«

»Nein, meine Theure, das glaube ich nicht!« rief Friedrich. »Doch will es mich bedünken, als seiest Du nicht in der Stimmung, über diesen Gegenstand in Ruhe zu sprechen. Ich finde Dich eigenthümlich bewegt, und wenn ich auch die Ursache davon nicht zu wissen begehre, so wirst Du begreiflich finden, daß ich den Versuch mache, Dir zu zeigen, daß das Recht auf meiner Seite ist. So viel ist gewiß, mich hat die Erinnerung nicht getäuscht; sie zeigt mir jene Stunden, wo wir uns zuerst begegneten, wo ich Dich fand, wo ich Dich lieben lernte, wo auch Dein Herz sich dem meinigen zuneigte –«

Ulrike schwieg.

»Ich weiß, wie lebhaft, wie gleichmäßig unser Empfinden zusammenstimmte! Ich fühle noch die Wonne des Augenblicks, als ich Dir meine Liebe gestand, als Du zum ersten Male an meine Brust sankst und, von innerer Aufwallung hingerissen, mir Deine Liebe und Deinen Dank stammeltest.«

»Das ist es«, rief Ulrike, indem sie aufsprang und sich beinahe gewaltsam Platz machte. »Dank! Ich muß mich immer mahnen lassen, was Du für mich gethan.«

»Ich gestehe«, sagte Führer, sich ruhig, aber ernst erhebend, »einen solchen Vorwurf aus Deinem Munde zu hören habe ich nicht erwartet, und meine einzige Erwiderung darauf ist, daß mein Bewußtsein mir sagt, daß ich ihn nicht verdiene. Du kannst unmöglich glauben, daß mir je der Gedanke in den Sinn kommt, Dich an irgend etwas mahnen zu wollen. Es ist traurig, daß Du mir das sagst, und ich sehe nun leider, es steht schlimmer zwischen uns, als ich gedacht und gefürchtet. Du zürnst mir, Du bist unzufrieden und glaubst vielleicht ein Recht dazu zu haben, weil ich Deiner Jugend, Deinem Hang nach Zerstreuungen und Vergnügen nicht vollends den Zügel ließ. Vielleicht habe ich hierin einen Fehler begangen; vielleicht hab' ich meine Anschauungen als Professor mit in den Minister herübergenommen. Allein damit ist noch nichts verloren; das kann noch immer geändert werden, und ich erwarte Deine Vorschläge, wie es geschehen soll.«

»Thue, was Dir gefällt!« erwiderte Ulrike. »Ich bin es längst gewohnt, mir vorschreiben zu lassen.«

»Ulrike!« rief Führer schmerzlich.

»Was findest Du daran so Besonderes? Ja, ich bin es gewohnt, nach Vorschrift zu handeln, mich als ein Geschöpf zu betrachten, das willenlos unter fremder Vormundschaft steht.«

»Unter Vormundschaft!« rief Führer aufwallend. »Bei Gott, es wäre vielleicht gut; denn es gibt Leute, welche der Vormundschaft nie entrathen können.«

»Diese galante Bemerkung zielt wohl auf mich?«

»Das magst Du selbst entscheiden. Du hast von der gefangenen Nachtigall gesprochen – ich will Dir die Geschichte einer Nachtigall erzählen, die Dich nahe genug angeht, um Dich, wenn es noch möglich ist, zur Besinnung zu bringen; die Geschichte einer Sängerin, die den einfachen Zustand der Freiheit im grünen Walde als Armuth und Entbehrung empfand, welche dem Lockruf des Vogelstellers, der ihre schöne Stimme und ihr zartes Gefieder rühmte, nicht zu widerstehen vermochte, einer Nachtigall, die Leben und Freiheit hingab für reichliches Futter und für die Gefangenschaft in einem goldenen Käfig – die Geschichte einer Frau, die nicht nur sich selbst verdarb, die sogar ihre eigene Tochter an fremdes Laster verkaufte.«

Ulrike schluchzte laut auf. »Das also war's«, rief sie. »O, nun begreife ich Alles. Arme, arme, unglückliche Mutter, was magst Du gelitten haben!«

»Wie?« rief Führer schmerzlich entgegen. »Auch jetzt, nachdem Du Alles weißt, denkst Du nur an sie, nicht an Dich selbst, nicht an mich? O, dann ist es weit gekommen mit Dir, traurig weit, und dann ist es meine Pflicht, zu ernsten Mitteln zu greifen.« Er machte einen Gang durch das Zimmer und blieb vor Ulrike stehen, welche sich schluchzend in einen Stuhl geworfen hatte. »Ich werde mein Haus von nun an so einrichten, daß es den Ansprüchen an meinen Stand und an meine Stellung durchaus entspricht. Du aber wirst vor allen Dingen darnach trachten, das Haus, mein Haus zum Mittelpunkte Deines Lebens und Deiner Thätigkeit zu machen und Deine Stellung in ihm einzunehmen. Es soll Alles geschehen, was nach billigen Rücksichten möglich ist, aber Du wirst nicht vergessen, daß ich auch als Minister Bürger geblieben bin, ein Bürger an Gesinnung und Sitte, daß es mir nicht einfällt, mich wegen meiner jetzigen Stellung über meine Abstammung erheben und in Kreise drängen zu wollen, in welche ich weder gehöre, noch gehören will! Das Gleiche wirst Du Dir für Deinen Umgang zur Richtschnur nehmen. Das ist mein entschiedener, unabänderlicher Wille.«

»Dein Wille?« sagte Ulrike kalt. »Gut. Höre auch den meinigen! Was Du da sprichst, wäre Zwang. Einem solchen füge ich mich nicht.«

»Wie, Du willst mir widerstreben?«

»Ja. Ehe ich mich in neue Ketten schlagen lasse, ist es besser, die alten Bande zu lösen.«

»Ulrike, so kannst Du sprechen? Nein«, fuhr er fort, als sie weinend ihr Gesicht im Tuche verbarg, »ich habe dieses Wort nicht gehört. Ich will Dir zeigen, wie ich Dich liebe, und will thun, was ich für meine Pflicht als Mann und Hausvater erachte. Vielleicht aber liegt in dem, was Du gesagt, ein Fingerzeig, der zur Heilung führen kann. Vielleicht ist es gut, wenn Du eine Zeit lang aus den hiesigen Kreisen entfernt wirst. Es trifft sich eben, daß die Tante, bei der Du ja schon mehrere Jahre zugebracht hast, etwas erkrankt ist und lebhaft wünscht, Dich auf kurze Zeit bei sich zu haben. Ich habe den Brief heute erhalten. Du wirst zu ihr reisen und bei ihr bleiben, bis ich Dich zurückrufe.«

»Ich werde nicht«, rief Ulrike, mit flammenden Augen aufspringend.

Führer trat mit all seiner gebieterischen Männlichkeit vor sie hin. »Du wirst«, sagte er, »und zwar schon morgen. Meine Mutter kommt. Schweige! Sie braucht nicht zu wissen, was unter uns gesprochen worden ist; ich will keine Scene. Ich werde sie, soweit nöthig, in Kenntniß setzen; Du aber begibst Dich auf Dein Zimmer und bereitest Alles zur Reise vor, die Du morgen schon antrittst.«

Ulrike sprang auf; das strömende Antlitz im Tuche verbergend, stürmte sie aus dem Zimmer. Friedrich hielt sich ruhig. Er wollte seiner Mutter in seiner jetzigen Stimmung nicht begegnen und ließ die alte Frau, welche ihn an dem ungewohnten Orte nicht vermuthete und daher achtlos vorüberschritt, ruhig ihren Weg gehen. Lange hatte er so nachsinnend gesessen und wollte sich unbemerkt in sein Zimmer begeben, als der Diener ihm meldete, daß ihn ein Besuch erwarte. Friedrich gab Auftrag, den Fremden in den Garten, in das Thurmgemach zu führen, welches eine Art Gartensaal bildete, von der andern Seite aber an die Bibliothek stieß. Als er dann sich selber nach dem Garten begab, flog ihm, ohne daß er sich erklären konnte, wie, die Erinnerung an die Nacht durch den Kopf, welche er dort mit Riedl zugebracht, wie das wohl im Leben zu geschehen pflegt, daß man einer Person gleichsam durch eine Art Ahnung gerade in dem Augenblicke gedenkt, in welchem sie uns unvermuthet entgegentritt. Der ihn erwartende Besuch war Riedl, den die Räthin nicht gesehen hatte, aber wohl auch nicht erkannt haben würde; denn er trug dieselbe Verkleidung, in welcher er in der Versammlung der Kinder von Zion sich eingefunden hatte. Auch Friedrich hätte ihn nicht erkannt, hätte Riedl ihm nicht die Hände entgegengestreckt und dabei lachend die Rundperücke abgenommen.

»Es ist warm«, sagte er; »mußt mir schon erlauben, daß ich mir's bequem mache.«

»Du hier?« rief Friedrich verwundert, indem er Riedl's Hand ergriff und wärmer schüttelte, als es vielleicht zu jeder andern Zeit geschehen wäre. Er fühlte die Herzlichkeit, mit welcher Riedl ihm die Hand geboten hatte, und das war etwas, was er gerade heute doppelt schwer vermißte. »Sei mir gegrüßt, Tollkopf!« fuhr er fort. »Ich sehe wohl, Du bist immer noch der Alte. Was für eine Mummerei! Du hast Deinen Beruf verfehlt; Du hättest Schauspieler werden sollen.«

»Der bin ich auch«, sagte Riedl, indem er sich setzte, als ob er zu Hause wäre, und Führer mit der Hand einlud, neben ihm Platz zu nehmen. »Du bist es nicht minder. Jeder Mensch ist ein Schauspieler; was macht denn den Schauspieler aus, als daß er absichtlich seine Person verleugnet, seinen Charakter aufgibt und einen andern darstellt, mit einem Worte, daß er etwas Anderes scheinen will, als er ist, daß er sich verstellt? Der Unterschied zwischen mir und Euch andern Schauspielern ist nur der, daß ich gestehe, einer zu sein, während Ihr es meist nicht Wort haben wollt und wohl gar in moralischer Entrüstung aufpochend an die Brust schlagt, wenn man Euch solche Falschheit zu Last legt.«

»Nun«, sagte Friedrich lächelnd, »Du wirst doch Ausnahmen zugeben?«

»Ausnahmen?« erwiderte Riedl, während Friedrich dem Diener, welcher Wein und Imbiß gebracht hatte, zuwinkte, sich zu entfernen. »Ja, es gibt Ausnahmen. Leider, daß es so ist. Es gibt Menschen – ich glaube das irgendwo einmal gelesen zu haben – welche wie reife Früchte von selbst aufspringen, daß man ihnen bis auf den Kern sehen kann. Aber wie durch jede Ausnahme, wird auch hier die Regel nur bestätigt und gezeigt, daß ein solcher Mensch, und wenn er zum Beispiel zehnmal Minister wäre, nicht in diese Welt des Scheins gehört, daß er mit seiner Wahrheit und Offenheit nach Utopien oder in die amerikanischen Hinterwälder verwiesen werden muß.«

»Ich fühle den Stachel Deiner Rede«, sagte Führer, »aber der Stich verwundet nicht; ich bin durch mein Bewußtsein dagegen gepanzert. Aber wen stellst Du denn eigentlich vor? Was beabsichtigst Du mit dieser Verkleidung? Fürchtest Du nicht in Unannehmlichkeiten mit der Polizei zu kommen?«

»Nein, wahrlich nicht«, lachte Riedl. »Ich bin mit der Polizei ganz gut Freund. Was ich vorstelle? Ich bin ein Oekonom von draußen, vom platten Lande, habe mein Gut verkauft und verzehre nun meine Rente in der Stadt. Solchen Leuten sieht die Polizei nicht auf die Finger, zumal wenn der Minister so sehr liberal ist! Ueberdies bin ich Mitglied einer frommen Brüderschaft. Der Actuar, der die Fremdenliste zu führen hat, gehört ebenfalls dazu. Der hat also nicht den mindesten Argwohn gegen mich.«

»Ich habe von Deinen frommen Umtrieben gehört.«

»O, Du wirst noch mehr davon zu hören bekommen. Deswegen bin ich hier. Ich habe Dir Mittheilungen der wichtigsten Art zu machen, und weil ich nicht wußte, ob ich Dich treffen und sprechen könnte, habe ich sie für alle Fälle schriftlich niedergelegt.«

»Gib!« sagte der Minister, indem er die Hand nach den Papieren ausstreckte, welche Riedl auf den Tisch legte.

»Jetzt nicht«, sagte dieser abwehrend. »Es ist zwar eine ernsthafte Sache, eine urkundliche Bestätigung, daß Du das Amt nie hättest übernehmen sollen, aber es ist keine Gefahr bei dem Verzug, es hat bis morgen Zeit. Gönne Dir selbst diese Nacht! Die Mittheilung wird Dich ernstlich beschäftigen, darum gönne mir, gönne uns beiden diese unverhoffte Stunde des Beisammenseins! Auch will mich bedünken, als bedürftest auch Du eines heitern Gesprächs, das Dich von den Geschäften des Tags, vom Treiben des Lebens und der Politik ablenkt.«

»Du magst wohl Recht haben«, sagte Führer, ohne einen Seufzer unterdrücken zu können.

»Du seufzest. Wie gesagt, Du hättest das Amt nicht übernehmen sollen. Du hättest bleiben sollen, was Du warst, der freie Mann des Wissens, der Lehrer, der echte Priester, der Pflanzer der Zukunft, der wahre König, der Niemand als Gott verantwortlich ist, seiner Wissenschaft und sich selbst. Aber sage, was Dir ist? Deine Stirn ist ungewöhnlich umwölkt. Das haben die Geschäfte nicht gethan, dafür kenne ich Dich. Das Herz muß Dir in den Kopf gestiegen sein, denn Du hast ein Herz, und darum sag' ich zum dritten Male: Du hättest das Amt nicht übernehmen sollen. Ein Minister kann kein Herz haben. Das ist ein innerer Widerspruch.«

»Du hast es getroffen«, sagte Friedrich nach einigem Besinnen, »und ich sehe nicht ein, warum ich Dir die Sache nicht mittheilen sollte. Du warst ja zugegen, als meine Frau zum ersten Male in dieses Haus trat.«

Riedl unterbrach ihn mit abwehrender Geberde und faßte seinen Arm. »Genug«, sagte er, »ich weiß jetzt schon mehr als genug, ich weiß Alles. Ich bin kein Freund des Aberglaubens, aber als damals der Toast auf Dein häusliches Glück so unangenehm unterbrochen wurde, wollte mich's doch wie eine schlimme Vorbedeutung bedünken. Ich bin zu sehr Dein Freund, als daß ich Dich und Dein Haus ganz aus den Augen verloren hätte; ich habe zu viel Menschen im Leben kennen gelernt, um nicht auch aus der Ferne beobachten zu können. Ich weiß daher bereits, was ich von Dir erfahren soll. Es ist eben wieder ein Exempel von der alten Nichtsnutzigkeit der Perlenfischerei.«

»Was willst Du damit sagen?«

»Nun, das ist doch klar. Perlen sind etwas Seltenes, Reines, Edles. Darum hält man sie so besonders hoch und verwendet sie als einen kostbaren Schmuck. Aber das Finden hat seine Schwierigkeit. Nicht in jeder Muschel haust ein solches Kleinod, aber Jeder, der auf die Fischerei ausgeht, ist überzeugt und hofft, eine Perle zu finden. Er öffnet seinen Fang. Unter zwei- bis dreitausend soll einer hier und da eine Perle finden, alle Andern bekommen nichts als leere Muschelschalen und unsaubere, klebrige Hände.«

»Du bist ein Weiberfeind«, sagte Friedrich. »Ich hoffe noch immer, Alles ins Gleis zu bringen. Ulrike ist im Grunde gut, sie wird sich lenken lassen. Sie soll fort zu meiner Tante. Dadurch wird sich Alles ausgleichen.«

»Ein guter Gedanke!« lachte Riedl. »Wenn noch Hülfe möglich ist, ist das der rascheste, beste Weg. Aber ich gestehe, daß ich Deine Hoffnung nicht theile, wenn sie blos auf der Güte Deiner Frau ruht; denn gut, gut sind sie alle, aber auch schwach und eitel. Da steht die Wage inne. Verhältnisse, Temperament legen ihre Gewichte nach und nach in die Schalen. Welche davon sinken soll, das entscheidet am Ende der Zufall.«

»Ein häßliches Bild!« rief Führer. »Ich will davon nichts mehr hören. Welches Recht hast Du, so zu sprechen? Du kennst die Frauen nicht und verleumdest, sie, wie Du die menschliche Natur selbst verzerrst.«

»Je nun«, sagte Riedl, »Jeder sieht mit seinen eigenen Augen. Mit fremden kann er doch nicht sehen, und durch Brillen gucken dünkt mich geradezu wie eine Fälschung. Und welches Recht ich habe, so zu reden? Eben das meiner eigenen Augen. Ich rede nach dem, was ich gesehen und erfahren habe. Wenn es Dich nicht langweilt, will ich Dir's rasch erzählen. Du kannst wohl denken«, fuhr er nach dem Anzünden einer frischen Cigarre fort, »daß ich nicht immer ein Hagestolz war, nicht immer im Sinne hatte, so einsam zur Grube zu traben. O, auch ich habe jenen unsaglichen Zauber empfunden, auch ich habe die schmerzliche Feuertaufe erhalten, ohne welche kein Mensch sagen kann, daß er diesen Namen wahrhaft verdient! Ich habe geliebt und trotz meiner struppigen Locken auch geliebt zu werden geglaubt. Ich wußte wohl, daß ich kein Adonis war; ich wußte aber auch, was ich galt, ich wußte, daß ich jung, reich, ein Mensch von Aussichten war, und das Kaufmannstöchterchen, vor welchem ich meinen Brandaltar angezündet hatte, schien sich den Weihrauch und Duft meiner Opfer ganz wohl gefallen zu lassen. Es war ein Mädchen, Freund, kaum über die Kinderjahre hinaus, eine Blondine mit den unschuldigsten Augen, mit dem Blick eines Rehs, mit dem Augenaufschlag einer Madonna, schüchtern, rein, unschuldig. Die ersten Regungen der Liebe bei ihr waren, wie Schiller sagt, der erste einweihende Silberton auf dem reinen Saitenspiel. Bei den warmen Gefühlen, mein Freund, die mich zu jener Zeit belebten – ich war damals sehr glücklich! Ich konnte den Moment, wo sie ganz die Meine werden sollte, kaum erwarten; ich zählte die Sekunden, wenn ich von ihr entfernt sein mußte, und berechnete die Minuten, bis zu welchen ich wieder zu ihr eilen konnte. Da traf es sich einmal, daß ich eine kleine Geschäftsreise über Land zu machen hatte, von der ich erst am andern Mittag zurückkehrte. Aber ich war so ganz Amoroso, daß ich meine Zukünftige bestürmte und beschwor, mir trotz dieser kurzen Trennung doch ja gewiß Nachricht an den Ort zukommen zu lassen, wo ich die Nacht zubringen mußte. Ich bat sie, mir zu schreiben, und wenn es auch nur ein paar Zeilen wären! Sie versprach es und hielt auch Wort. Ich sehe mich noch, wie der Postbote mir den Brief übergab, wie ich ihn aufbrach und dann verwundert umdrehte; denn der Umschlag mit der Adresse trug allerdings meinen Namen, aber das Briefchen schien nicht für mich bestimmt zu sein. Weißt Du die Geschichte von Ludwig dem Strengen von Baiern? Ja? Oder vom Grafen Wetter vom Strahl im Käthchen von Heilbronn? Gut! Es war meinem Schatz gegangen wie diesen beiden, sie hatte die Briefe verwechselt. In jenem aber, den ich empfangen hatte, stand zu lesen: »Mein theurer, untrennbarer Otto!« Ich, wie Du vielleicht weißt, heiße Christoph. »Mein häßlicher Rothkopf ist verreist und kommt erst morgen zurück. Ich erwarte Dich zur gewöhnlichen Zeit im Gartenhause. O wenn der Rothfuchs nicht auch ein Goldfuchs wäre, hätte ich ihm schon längst den Abschied gegeben, um ganz zu sein Deine ohne Dich verschmachtende Amalie.« Ich weiß nicht, ob ich nöthig habe, Dir erst zu sagen, daß das, was ich las, mich beinahe von Sinnen brachte! Hätte ich Messer oder Pistolen zur Hand und die Schändliche vor mir gehabt, wer weiß, ob ich es nicht gemacht hätte wie der gestrenge Ludwig mit Maria von Brabant. Weil dies nicht der Fall war, fuhr ich nur mir selbst in die Haare. Da traf mein Blick zufällig den Spiegel, vor dem ich eben stand, und ich sah, daß die verschmachtende Amalie wirklich nicht so Unrecht hatte. Es sah mir aus dem Spiegel ein recht häßlicher Rothkopf entgegen. Ich kannte den »untrennbaren« Otto; es war ein Vetter des Mädchens, ein junges Bürschchen, das aussah wie Milch und Blut, ein Ulanencadet. Mit dem konnte ich allerdings nicht concurriren. Ich kam mir selber unaussprechlich albern vor: ich lachte mich und mein Spiegelbild tüchtig aus. Das half und kurirte mich vom Zorn und von der Verzweiflung, die mir schon von fern ihre Krallen gezeigt hatte, um sie in mein Fleisch zu hauen. Ich sah die Verschmachtende nicht mehr, weil ich meinen Wohnsitz änderte, und gelobte mir heilig, nicht mehr an sie zu denken, und wenn«, fuhr er fort, indem er, sich erhebend, mit dem Weinglase anstieß und den Rest ausstürzte, »wenn mir jemals wieder im Leben die Lust ankam, auf die Perlenfischerei zu gehen, so recitirte ich mir selbst ihren Brief, und Du siehst, daß mein Gedächtniß mir bis zur Stunde noch vollkommen treu geblieben ist.«


 << zurück weiter >>