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Eines Sonntags gingen Lorenz und Johanna mit ihren Kindern, wie gewöhnlich, in die Kirche. Es war ein herrlicher Herbstmorgen. Die Kinder waren sehr fröhlich. Die Mutter aber war sehr betrübt, weil viele der festlich geputzten Leute sie nicht einmal grüßten, sondern sie nur mit verächtlichen Blicken ansahen. Sie betete in der Kirche besonders herzlich, Gott wolle die große Schmach, daß man sie für eine Diebin und ihren Mann für einen Dieb halte, von ihr nehmen.
Als sie nach geendetem Gottesdienste mit ihrem Manne und den Kindern aus der Kirche trat – sieh, da hielt vor ihrem Hause eine prächtige Kutsche, mit vier Pferden bespannt. Die Leute, die vor Johanna hergingen, riefen erfreut: »Das ist die Kutsche unserer Herrschaft! O Gott Lob! unsere gnädige Herrschaft ist wieder von der Flucht zurück gekommen.«
Wirklich stand die Frau von Waldenberg unter Lorenzens Hausthüre; neben ihr stand eine andere Frau, von sehr feinem, adeligen Aussehen, die den Leuten unbekannt war. Ludwig aber that plötzlich einen lauten Schrei: »O mein Gott!« rief er, »O meine beste Mutter!« und sprang mit weit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie faßte ihn in ihre Arme, und benetzte sein Angesicht mit reichlichen Freudenthränen. Auch Ludwig weinte vor Freuden. Die Leute, die umher standen, wurden sehr gerührt, und viele hatten Thränen in den Augen. »Es ist Ludwigs Mutter!« flüsterten sie einander zu; »wer hätte gedacht, daß der arme Knabe eine so vornehme Mutter habe!«
Da indeß das Gedränge des Volkes immer größer wurde, führte Frau von Waldenberg den hocherfreuten Ludwig und seine Mutter in die Stube. Die Mutter setzte sich, von der Freude so mächtig angegriffen, daß sie fast nicht mehr zu stehen vermochte, auf die Bank. Sie betrachtete Ludwig mit innigem Vergnügen. »Ei, wie bist du indeß gewachsen,« sagte sie, »und wie gesund und blühend siehst du aus!« Sie bemerkte mit Wohlgefallen, wie nett und reinlich Ludwig gekleidet war; denn er hatte einen neuen blauen Frack an, der eben so gemacht war, wie sein voriger, der ihm aber zu klein geworden; sein Halskragen war zwar nicht gestickt, aber weiß wie Schnee, und seine schwarzen Haarlocken waren auf's schönste geordnet. Die Mutter that hunderterlei Fragen an ihn. Er konnte nicht genug rühmen, wie liebreich seine Pflegeältern ihn aufgenommen und wie gütig sie ihn diese lange Zeit hindurch behandelt hatten.
Ludwigs Mutter erzählte hierauf, welchen Jammer sie über seinen Verlust empfunden, und was ihr seit jener Zeit Alles begegnet sey; wie bestürzt der Vater, laut seiner Briefe, über die Nachricht gewesen, Ludwig sey verloren gegangen; wie sie den Vater bisher nicht mehr gesehen habe; wie sie sich freue, ihren lieben Ludwig wieder zu sehen, und wie sie hoffe, nun, da der Friede nahe sey, auch den Vater bald wieder zu sehen. Beide, Mutter und Sohn, fühlten sich so glücklich und selig, daß sie die ganze Welt um sich her vergaßen.
Lorenz und Johanna verstanden von der ganzen Unterredung nichts; denn es wurde kein deutsches Wort, sondern nur französisch gesprochen. Indeß sahen sie an den lebhaften Reden, an den Mienen, Blicken und Thränen der Redenden, daß ihre Freude unaussprechlich seyn müsse.
Frau von Waldenberg wendete sich, da Ludwig und seine Mutter jetzt von Dingen redeten, die ihr längst bekannt waren, zu Lorenz und Johanna. Sie bezeigte ihnen ihre Freude, unter ihren Unterthanen so menschenfreundliche Leute zu finden, und sagte ihnen, wer Ludwigs Mutter sey. Lorenz und Johanna vernahmen mit Erstaunen, daß Ludwig, den sie als den Sohn einer verarmten, landesflüchtigen Mutter in ihr Haus ausgenommen, ein junger Graf, und seine Mutter eine sehr vornehme Gräfin und überaus edle, tugendhafte Frau sey.
Frau von Waldenberg erzählte nun auch, wie es zugegangen, daß Ludwigs Mutter – bis aus Böhmen, sehr eilig, und geraden Weges – hieher gekommen sey. Die Geschichte war kurz diese: Ludwigs Mutter, die Gräfin, hatte sich nach Prag geflüchtet. Auch Herr und Frau von Waldenberg hielten sich dort auf. Allein die Gräfin wußte nichts davon; sie lebte in Prag sehr zurückgezogen, und besuchte keine Gesellschaften. Der Verwalter zu Waldenberg muhte seiner Herrschaft von Zeit zu Zeit berichten, was in seinem Amtsbezirke vorgehe. Er berichtete denn auch den Rechtsfall, der sich mit den Goldstücken zugetragen, die angeblich in den Rockknöpfen eines ausgewanderten französischen Knaben sich sollen befunden haben. Frau von Waldenberg erzählte die seltsame Begebenheit in einer Gesellschaft. Eine adelige Dame, die zugegen, und mit Ludwigs Mutter bekannt war, erzählte es dieser. Ludwigs Mutter, die Gräfin, begab sich augenblicklich zu Frau von Waldenberg, sich näher zu erkundigen. Der Verwalter hatte sehr ausführlich berichtet. Der Ort Waldenberg, der Namen Ludwig, der Tag, an dem er seine Mutter verloren, der angenommene Namen, unter dem seine Mutter sich geflüchtet hatte, die Anzahl, ja auch das Gepräge der Goldstücke traf aufs genaueste zu. Die Gräfin zweifelte keinen Augenblick, der Knabe, in dessen Rock die Goldstücke gefunden worden, sey ihr geliebter Ludwig; denn sie selbst hatte die Goldstücke heimlich eingenäht. Sie brannte vor Begierde, ihren innigst geliebten Ludwig wieder zu sehen. Allein sie wollte es nicht wagen, nach Waldenberg zu reisen, weil bloß Waffenstillstand und noch nicht Friede war, und die französischen Kriegsheere noch auf deutschem Boden standen. Allein Herr von Waldenberg sagte zu der Gräfin: »Ich und meine Frau sind bereit, unverzüglich mit Ihnen nach Waldenberg zu reisen. Können Sie sich entschließen, in dem Passe für eine Kammerfrau meiner Gemahlin zu gelten, so stehe ich Ihnen dafür, Sie werden ganz sicher, ohne irgendwo angehalten zu werden, nach Waldenberg kommen, und dort einen sichern Aufenthalt finden.« Die Gräfin nahm diesen Vorschlag mit der größten Freude an, und alle Drei machten sich sogleich auf die Reise.
»So,« sagte Frau von Waldenberg am Ende ihrer Erzählung, »gaben diese Goldstücke Veranlassung, daß Ludwigs Mutter so schnell hieher kam. Ohne den falschen Verdacht, in den Ihr, guter Lorenz, und Ihr, meine liebe Johanna, gekommen seyd, wäre es vielleicht noch Jahre lang angestanden, bis die Frau Gräfin ihren geliebten Ludwig wieder gesehen hätte.«
»Ach,« sagte Johanna höchst erfreut, »die große Freude, die Ludwig und seine Frau Mutter empfinden, hat mich die unverdiente Schmach, die uns getroffen hat, ganz vergessen gemacht! Meine Freude gleicht wahrhaft der ihrigen. Ja, ich sehe es auch hier wieder, daß Gott alle Widerwärtigkeiten, die Er über uns kommen läßt, uns und Anderen zum Besten zu lenken weiß.«
Frau von Waldenberg erinnerte nun Ludwigs Mutter, es sey Zeit, nach Waldenberg zurück zu kehren. Die Gräfin stand auf, wendete sich zu Lorenz und Johanna, und bezeigte ihnen in den rührendsten Worten, die von der Frau von Waldenberg in das Deutsche übersetzt wurden, den innigsten Dank. Johanna brachte die noch übrigen Goldstücke nebst dem Verzeichnisse, was sie davon für Ludwig verwendet habe, und wollte sie zurück geben; allein Ludwigs Mutter sagte: »Davon kann keine Rede seyn! Behaltet sie, und ich werde darauf bedacht seyn, Eure Liebe zu meinem Sohne noch reichlicher zu belohnen.«
Johanna beeilte sich nun, Ludwigs Kleidungsstücke und weißes Zeug zusammen zu packen, und ihre zwei Kinder, Lise und Konrad, brachten nach wenigen Minuten, jedes ein Päckchen. Als Ludwig die Wanderbündelein erblickte, und nun scheiden sollte, ward er tief betrübt; sein liebliches Gesichtchen zeigte von der innigsten Wehmuth und der gute Knabe brach in Thränen aus. Er nahm von seinen Pflegeältern den rührendsten Abschied, und umarmte alle Kinder des Hauses als seine Geschwister. Lorenz, Johanna und alle Kinder weinten. Auch Ludwigs Mutter war sehr gerührt, und die Thränen kamen ihr in die Augen. »Ich sehe da einen neuen Beweis,« sagte sie, »daß Alle im Hause meinen Ludwig herzlich liebten, und daß er hier so gut aufgehoben war, wie ein Kind vom Hause.«
Frau von Waldenberg tröstete die Kinder, und Lorenz und Johanna. »Weinet nicht, ihr guten Leute,« sprach sie; »Ludwig nimmt noch nicht für immer Abschied; er bleibt mit seiner Mutter noch lange bei uns zu Waldenberg. Da könnet ihr einander noch recht oft sehen.«
Ludwig stieg nun mit seiner Mutter und Frau von Waldenberg in die Kutsche, und nachdem sie an dem Pfarrhause angehalten, und dem edelmüthigen Pfarrer einen Besuch gemacht und auch ihm für seine Liebe und Güte gegen Ludwig gedankt hatten, fuhren sie zurück nach Waldenberg in das Schloß.