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Der kleine Ludwig war in seinem neuen ländlichen Aufenthalte bald angewöhnt. Er gewann seine guten Pflegeältern sehr lieb, und ging mit ihren Kindern so vertraulich um, als wären sie seine Geschwister. Die Freundlichkeit, mit der Alle im Hause ihm begegneten, machte ihn vergessen, daß er sich in einem fremden Hause befinde. Zwar hatte er noch immer eine große Sehnsucht nach seiner Mutter; allein er war deßhalb nicht traurig. Er tröstete sich mit der Hoffnung, die geliebte Mutter bald wieder zu sehen; und die fröhliche Gemüthsart, die dem kindlichen Alter eigen ist, und mit der besonders Ludwig reichlich begabt war, verscheuchte alle traurige Gedanken. Er war immer so fröhlich, so freundlich und dienstfertig, und hatte so gute Einfälle, daß Alle im Hause ihn täglich lieber hatten. Ja in dem ganzen Dorfe war er bei Jedermann beliebt.
Die ländliche Kost kam ihm Anfangs etwas seltsam vor. Sogleich am ersten Morgen, an dem er sich wieder heiter und fröhlich fühlte, machte er mit den Kindern einen Spaziergang um das Dorf und den kleinen See, um die Gegend zu besehen. Sobald er aber zurück kam und in die Stube trat, fragte er, ob der Kaffee noch nicht fertig sey?
Die Mutter lächelte und sagte: »Lieber Ludwig! Wir haben dahier unsern eigenen Gebrauch, in den du dich fügen mußt. Einige vornehme Leute in der Stadt trinken den Kaffee ohne Milch; wir Landleute dahier trinken die Milch ohne Kaffee. Wir finden dieses viel wohlfeiler; überdieß ist die Milch viel gesünder und schmeckt uns viel besser. Versuch es einmal!« Sie brachte eine Schüssel Milch und ein großes Stück Roggenbrod. Da Ludwig beinahe zwei Stunden lang die Felder und Wiesen durchwandert hatte, und der schöne Morgen sehr warm gewesen, so schmeckte ihm die frische Milch sehr gut. Er sagte, der beste Kaffee würde ihm lange nicht so gut geschmeckt haben, und er würde künftig zu seinem Frühstücke anstatt des Kaffees sich immer Milch ausbitten. So ging es auch mit andern Speisen. Er bekam selten Fleisch, sondern meistens nur Speisen von Mehl, Milch und Butter, gekochtes Obst und allerlei Gemüse, was aber Johanna alles sehr gut zu bereiten wußte. Er gewöhnte sich sehr gut daran. Da er auf dem Lande mehr Bewegung hatte, als in der Stadt, so hatte er auch mehr Appetit, und die Speisen schlugen ihm auch besser an. Da er anstatt des Zuckerbrodes nur schwarzes Brod, und anstatt des Confektes bloß Obst zu essen bekam, so waren seine Zähne schöner und weißer, als das reinste und weißeste Elfenbein. Ueberhaupt bekam er ein viel gesünderes Aussehen, und blühte wie eine Rose.
Das Angenehme des Landlebens hat wohl kein Mensch lebhafter gefühlt, als der kleine Ludwig. Da er, so lange er sich denken konnte, in einer engen Straße der Stadt gewohnt hatte, so gefiel es ihm auf dem Lande ganz ungemein wohl, und er sah fast täglich etwas Neues, das ihm Freude machte. Seine Pflegemutter Johanna hatte für die Schönheiten der Natur vieles Gefühl, und suchte es auch in ihren Kindern zu wecken. Und da Ludwig in der deutschen Sprache bewundernswerthe Fortschritte machte, so konnte die liebevolle Pflegemutter sich bald ungestört mit ihm unterhalten.
Eines Tages hatte Johanna die gewöhnliche Wohnstube frisch ausweißen lassen, die Fenster und den kleinen Spiegel wohl gereinigt, und den Stubenboden nach Landessitte mit feinem, weißem Sande bestreut. Als Ludwig am andern Morgen in die Stube trat, betrachtete er die Stube, und sagte: »Sie ist nun wohl recht hell und freundlich; aber in der Stadt haben wir doch in einem viel schönem Zimmer gewohnt. Da waren schöne Landschaften an die Wände gemalt, zwischen den Fenstern hing ein großer Spiegel in einer goldenen Rahme, und der Fußboden war mit einem farbigen Teppiche bedeckt. So solltest du deine Stube auch auszieren lassen!«
»Lieber Ludwig,« sagte die Mutter, »wir Landleute haben nicht so viel Geld, uns so prächtig einzurichten. Dieß ist aber auch gar nicht nothwendig. Es wäre thöricht, wenn wir uns eine Landschaft wollten an die Wand malen lassen; wir sehen ja hier in unserer Stube immer die schönste Landschaft vor Augen. Sieh nur einmal durch das Fenster! Wie schön blau ist die Luft, wie lieblich grün sind Feld und Wald, und sieh nur, wie eben jetzt die Bäume und dort der Kirchthurm im Morgengolde glänzen! So etwas kann kein Maler zu Stande bringen. Die blumige Wiese, die sich vor unsern Fenstern ausbreitet, ist ein so schöner, bunter Teppich, daß nie ein Prinz oder eine Prinzessin auf einen von schöneren Farben getreten ist. Und der See dort, in dem sich der Himmel, Wald und Felsen, und die Mühle mit dem neuen rothen Ziegeldache abspiegeln, ist ein größerer Spiegel, und viel herrlicher, als man in einem fürstlichen Pallaste einen finden kann. Meinst du nicht?«
»O ja,« sagte Ludwig; »in der Stadt sah ich nie etwas so schönes. Da sah ich, wann ich zum Fenster hinausschaute, nur Dachziegel, Mauern und Pflastersteine. Auf dem Lande ist es viel schöner!«
»Nicht wahr,« sprach die Mutter, »der liebe Gott hat unsern Aufenthalt auf Erden recht schön eingerichtet? Sag' einmal selbst, hat Er nicht Alles, was wir sehen, sehr schön gemacht, und mit den lieblichsten Farben bemalt?«
»Ja, das ist wahr!« rief Ludwig; »Er ist doch ein recht lieber, gütiger Gott. Das erkennt man auf dem Lande viel besser, als in der Stadt.«
Ludwig machte manchmal selbst sehr gute Bemerkungen über das Stadt- und Landleben. Lorenz stand mit allen den Seinigen im Sommer mit Aufgang der Sonne auf, und bald nach Untergang der Sonne gingen sie zu Bette. Den Sommer über wurde in dem Hause kein Licht angezündet. Ludwig fügte sich in diese Ordnung und sie gefiel ihm sehr wohl. Er sah früherhin die Sonne nie aufgehen; nun aber konnte er die schönen, goldenen Morgen, die ihm in's Fenster schienen, nicht genug bewundern. »Die Leute in der Stadt,« sagte er, »sind doch rechte Thoren, daß sie den schönen Morgen verschlafen, und dann die halbe Nacht beim Kerzenlicht zubringen. Sie könnten viel mehr Freude haben, wenn sie früher aufstehen und früher zu Bette gehen wollten. Auch würden sie viel Geld für Kerzen ersparen.«
Die Kinder gingen mit Ludwig öfter in den nahen Wald, um Erdbeeren zu pflücken. Da kamen sie einmal in ein kleines Thal, das gar nicht schöner hätte seyn können. Die Hügel umher waren von prächtigen Eichen und schlanken Birken mit hellgrünem Laube, und die röthlichen Felsen von dunkelgrünen Tannen beschattet; der Wiesengrund, durch den ein silberhelles Bächlein floß, war mit reichlichem Grase und unzähligen Blumen von allen Farben bedeckt, und herrlich von der Sonne beleuchtet. Unten an den Hügeln und Felsen wuchsen eine Menge Erdbeeren, und die Ufer des Bächleins waren blau von Vergißmeinnicht. »Hier ist es doch recht schön!« rief Ludwig. »Der große herrschaftliche Garten, in den mich meine Mutter zu Zeiten führte, ist nichts dagegen. Dort sah man mehr Sand, als Gras und Blumen; und an den Bäumen sah man keine Aeste; sie sahen wie große, grüne Kugeln aus. Aber hier in diesem Waldthale – wo duftende Erdbeeren in Fülle wachsen, wo zu beiden Seiten des klaren Bächleins viele tausend und tausend zierliche blaue Blümchen blühen, wo diese großen Eichen ihre mächtigen Arme ausstrecken – da ist es herrlich! Das ist ein rechter Garten; ja die ganze Gegend, die unser Dörflein umgibt, ist ein wahrer Lustgarten; und ich lobe und preise den Gärtner, der Erdbeeren, Vergißmeinnicht und Eichen gepflanzt hat – den lieben Gott! Wann ich wieder zu meiner Mutter komme, so gehe ich nicht mehr mit ihr in die Stadt; sie muß mit mir auf das Land ziehen. Da wollen wir uns der lieben Sonne und der frischen Luft, der Blumen und Kräuter und Bäume recht freuen, und Gott dafür danken.«
Was dem fröhlichen Ludwig das Leben auf dem Lande noch angenehmer machte, war die Fröhlichkeit, mit der alle Kinder des Dorfes Abends bei der großen Linde oder draußen auf der Wiese ein gemeinschaftliches Spiel machten. Wie es zu Kriegszeiten gewöhnlich geht, so spielten die Knaben jetzt meistens Soldaten. Ludwig, der in der Stadt einige Male die Soldaten exerzieren gesehen, sah den Knaben zu, und sagte zu ihnen: »Ihr machet es nicht recht Wenn es euch beliebt, so will ich euch zeigen, wie ihr es machen müsset.«
Das war den Knaben sehr lieb, und Ludwig lehrte sie nun, schön aufrecht hinstehen, die Füße auswärts setzen, und das Gewehr auf mancherlei Art handhaben, das übrigens nur ein Haselstock war; er ließ sie bald im langsameren, bald in schnellerem Schritte marschiren, sich bald rechts, bald links wenden, und allerlei Schwenkungen und Stellungen machen. Die Knaben sagten, daß er die Sache verstehe, und erwählten ihn einmüthig zu ihrem Oberst, auf welche Ehre Ludwig nicht wenig stolz war. Er ließ es sich sehr angelegen seyn, Alles herbei zu schaffen, was, wie er sagte, zum Dienste nöthig sey. Auf Ludwigs Bitten kaufte der reiche Müller seinem Knaben auf dem Jahrmarkte eine kleine Trommel, und Johanna gab ein Taschentuch von feinem Muselin her, das Zur Fahne dienen mußte; es war zwar rein gewaschen, allein etwas schadhaft. Doch Ludwig sagte: »Das macht nichts! Wenn die Fahne recht zerfetzt ist, so ist das nur um so ruhmvoller.«
Er fand in Johannens Nähzeuge einige versilberte Flitter, und verfertigte daraus, nachdem er zuvor um Erlaubniß gebeten, einen Stern, den er aber nur bei großer Parade an seinem blauen Fracke trug; er wußte sich einige farbige Papierstreifchen zu verschaffen, und bestimmte sie für die flinkesten und gewandtesten Knaben zu Ordensbändern.
Wann nun die Bauern Abends unter der Linde ihre Pfeife rauchten, so sahen sie dem Spiele der Kinder mit Vergnügen zu. Sogar der Herr Pfarrer schaute manchmal eine halbe Stunde zum Fenster heraus, und bezeigte seine Zufriedenheit mit diesen Spielen; denn er hatte es gern, wenn die Kinder fröhlich waren, und sich öffentlich und gemeinschaftlich belustigten. Auch viele Bäuerinnen kamen herbei, und hatten an der Geschicklichkeit ihrer Söhnchen große Freude. Sie gaben indessen gern zu, daß Ludwig sich vor allen übrigen Knaben auszeichne. Die Bauernknaben waren bräunlich von Angesicht, und stark von Gliedern; Ludwig aber sah aus wie Milch und Blut, und war so zart wie ein Prinz. Er wußte Alles sehr gut anzuordnen, und gab seine Befehle mit so großem Ernste, als wäre dieses Spiel die wichtigste Angelegenheit.
Johanna sagte einmal besorgt zu ihm: »Möchtest du denn wirklich einmal Soldat werden?« »O ja!« sagte Ludwig freudig; »warum denn nicht?« »Aber da könntest du ja um das Leben kommen!« sagte sie. »Das weiß ich wohl,« sagte Ludwig; »allein ich habe neulich gelesen, und glaube es auch: »Es ist schön und rühmlich, für das Vaterland zu sterben!«