Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel.
Das verirrte Kind im Walde

Lorenz Linder, der Pächter eines kleinen Landgütchens zu Ellersee, war mit Anbruch der Morgenröthe in den Wald gegangen, und hatte den ganzen Tag hindurch Holz gefällt. Als die Sonne sich zum Untergange neigte, machte er sich, mit einem großen Büschel Reisholz auf dem Rücken und mit seiner Axt über der Schulter, auf den Weg nach Hause. Da hörte er aus einem Dickicht des Waldes eine kläglich jammernde Stimme. »Ach,« sagte Lorenz voll Mitleids, »das ist ein Kind, das sich in dem Walde verirrt hat. Ich will es aufsuchen, und auf den rechten Weg führen.«

Er drang mit Mühe durch das verwachsene Gesträuch, und kam auf einen grünen Platz, der rings von Schlehendornen und Haselstauden umgeben war, und in dessen Mitte ein großer Eichbaum stand. Unter dem Baume kniete ein holder, lieblicher Knabe von etwa sechs bis sieben Jahren. Der Knabe blickte mit seinen schönen, schwarzen Augen andächtig zum Himmel; die hellen Thränen floßen ihm über die röthlichen Wangen, und seine empor gehobenen Hände waren fest gefaltet. Er war sehr gut und zierlich gekleidet. Sein dunkelblauer Frack war von sehr feinem Tuche; alle übrige Kleidungsstücke waren weiß wie Schnee. Reichliche schwarze Locken hingen ihm auf die Schultern herab; den Hals trug er bloß, und ein schön gestickter Halskragen vom feinsten Nesseltuche war über das dunkelblaue Kleid ausgebreitet. Der bekümmerte Kleine hatte übrigens weder Hut noch Mütze bei sich. Er wiederholte jetzt die Worte, die er schon mehrere Male laut ausgerufen hatte, noch einmal. »O mein Gott, mein Gott,« rief er in französischer Sprache, »erbarme Dich meiner!«

Lorenz verstand kein Französisch. Allein der gute Knabe hatte die Worte so rührend ausgesprochen, daß sie dem ehrlichen Lorenz dennoch tief in das Herz drangen. Sobald der weinende Knabe den Mann erblickte, sprang er auf, eilte auf ihn zu, nahm ihn freundlich bei der Hand, und bat, in gebrochenem Deutsch, inständig und flehentlich, ihn zu seiner Mutter zurück zu führen.

Lorenz fragte den Knaben, wo seine Mutter sich aufhalte, und wie es komme, daß er sich in diesem Walde verirrt habe. Mit Mühe und öfterem Fragen verstand Lorenz die Erzählung, die der Kleine von seinem Unfalle machte, so ziemlich. Der Knabe war aus Frankreich, und hieß Ludwig. Seine Aeltern hatten, als die Revolution ausgebrochen war, sich nach Deutschland geflüchtet. Ludwig war damals noch kaum drei Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte einen der entflohenen Prinzen begleitet, und befand sich gegenwärtig noch unter dessen Gefolge. Die Mutter hatte sich mit Ludwig indessen zu Trier aufgehalten. Als die französischen Kriegsheere sich der Stadt näherten, nahm Ludwigs Mutter auf's Neue die Flucht. Auf ihrer Flucht war sie nun heute in einem großen Dorfe unweit des Waldes angekommen. Ludwig war mit seiner Mutter vom frühen Morgen bis Mittag in einer Kutsche gesessen, die gedrängt voll Flüchtlinge war. Er wünschte, bis das Essen fertig würde, in dem Garten am Wirthshause sich eine kleine Bewegung zu machen. Die Mutter erlaubte es ihm, verbot ihm aber ernstlich, sich aus dem Garten zu entfernen. Ludwig versprach zu gehorchen, und sprang voll Freude und ohne Hut in den Garten hinab. Allein da erblickte er einen Schmetterling von gar prächtigen Farben, und wollte ihn fangen. Der Schmetterling flog über die Hecke. Zum Unglücke stand die Gartenthür offen. Ludwig verfolgte das bunte, flüchtige Thierchen auf die große Wiese, die an den Garten stieß. Nun ließ sich auf einmal in dem nahen Walde der Kuckuk hören. Ludwig hatte unter seinen Spielsachen einen Kuckuk gehabt, der sehr artig aus Holz geschnitzt und mit Farben bemalt war. In dem Gestelle, auf dem der Vogel saß, befand sich ein kleiner Blasebalg, durch dessen Bewegung man den Ruf des Kuckuks hervorbringen konnte. Ludwig freute sich sehr, jetzt einmal einen lebendigen Kuckuk zu hören; er wünschte ihn auch zu sehen, und dachte nicht mehr an den Schmetterling. Er sprang sogleich hinein in den Wald. Es war aber, als wolle der Vogel ihn nur zum Besten haben; er ließ sich von Zeit zu Zeit auf einem andern Baum tiefer im Walde hören, ohne daß Ludwig das Geringste von ihm sah. So wurde denn der arme Ludwig sehr tief in den Wald gelockt. Es fiel ihm nun doch ein, wieder zu seiner Mutter zurück zu kehren. Er lief so schnell er konnte. Allein er wußte sich nicht mehr zurecht zu finden. Anstatt nach dem Dorfe zu laufen, entfernte er sich immer mehr davon. Er irrte mehrere Stunden im Walde umher, und gerieth zuletzt so tief zwischen Büsche und dornige Gesträuche hinein, daß er keinen Ausweg mehr fand. Ermüdet und von heftigem Hunger gequält, war er unter dem Baume, unter dem ihn Lorenz fand, auf die Knie gesunken, und hatte mit heißen Thränen zu Gott gefleht, ihn aus dieser äußersten Noth zu erretten.

Lorenz sprach: »Du hast einen großen Fehler gemacht, mein lieber Ludwig, daß du dich durch die bunten Farben eines Schmetterlings und den lustigen Ruf des Kuckuks verleiten ließest, den Befehl deiner Mutter zu übertreten.«

Ludwig nickte treuherzig mit dem Kopfe und weinte schmerzlicher.

»Nun, nun,« sagte Lorenz liebreich, »weine nicht mehr! Ich denke, Gott hat deine Reue angesehen, und dein kindliches Gebet erhört. Ja glaube mir, Er habe dir verziehen, und dir Hülfe geschickt. Danke Ihm nun dafür, dem lieben Gott, und versprich Ihm, daß du künftig vorsichtiger seyn, und das vierte Gebot nicht mehr so leichtsinnig vergessen wollest. Du hast nun erfahren, wie leicht ein Mensch, der nur seiner Augenlust folgt, und jeder lustigen Stimme Gehör gibt, auf Abwege und in große Noth gerathen könne.«

»Ach,« fügte Lorenz noch bei, »es gibt in dieser Welt noch manche bunte Dinge, die einen Menschen leichter verführen können, als ein Schmetterling; und die lockende Stimme der Verführung kann besonders die Jugend in größeres Unglück stürzen, als der Ruf des Kuckuks. Gott wolle dich davor bewahren, und dich glücklich und unbeschädigt durch diese Welt führen. – Doch, nun komm mit mir; ich will dich wieder zu deiner Mutter bringen.«

Lorenz führte den Knaben auf einem schmalen Fußsteige, der nicht leicht zu finden war, aus dem Dickicht heraus auf den gewöhnlichen Weg.

.


 << zurück weiter >>