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Meine Geschichte,« sprach hierauf Theopistus, »ist der Geschichte meines Bruders sehr ähnlich; ich kann also etwas kürzer sein.
»Wie der Wolf mich forttrug, hat der Vater noch gesehen. Zwei wackere Männer jagten mich dem Tiere ab. Es waren zwei Hirten, die in dem waldigen Gebirge einen Widder suchten, der sich von der Herde verirrt hatte. Da hörten sie plötzlich das Geschrei eines Kindes. Sie sprangen hin und erblickten den Wolf, der scheu und flüchtig, wie ein Räuber, mit mir zu entrinnen suchte. Sie hatten einen großen, zottigen Hund bei sich, der an Mut und Stärke einem Wolfe wenig nachgab. Der Hund stürzte, von den Männern angehetzt, sogleich wütend auf den Wolf zu und packte ihn im Genicke. Der Wolf ließ mich los und wehrte sich seiner Haut. Die Männer kamen mit Spießen bewaffnet herbei und erlegten den Wolf. Hierauf sahen sie sich nach mir um. Der Wolf hatte mich nur bei meinem Kleide gepackt und fortgeschleppt und mich deshalb nicht verletzt. Als sie daher an mir weder Blut noch Wunden fanden, waren sie sehr erfreut und dankten Gott. Einer der zwei Hirten nahm mich auf den Arm und trug mich mit sich fort in sein Haus. Er fragte mich zu Hause, als ich mich von dem Schrecken erholt hatte und wieder reden konnte, wie ich in den Wald gekommen sei. Ich erzählte ihm, wie es uns ergangen und wie ein Löwe meinen Bruder, sowie der Wolf mich unserm Vater geraubt habe und wie der gute Vater dort am Flusse einsam zurückgeblieben sei! Allein der Hirte hielt es für überflüssig, den Vater aufzusuchen. Ach, sprach er, dein Vater wurde gewiß, gleich deinem Bruder, von einem Löwen, von Wölfen oder andern Raubtieren aufgefressen. Jene Gegend am Flusse ist sozusagen ihr Sammelplatz, und ein Mann ohne andere Waffen, als einen Baumast, kann sich ihrer unmöglich erwehren.
»Der Hirte, der mich zu sich genommen hatte und mir die Geschichte meiner Errettung in der Folge wohl hundertmal erzählte, war ein Christ und ein sehr frommer, rechtschaffener Mann; seine Hausfrau war eine ebenso fromme, redliche Seele. Beide hatten großes Mitleid mit mir, und als ich ihnen meinen Namen Theopistus, an Gott gläubig oder Gott getreu, nannte, hatten sie eine große Freude, weil sie daraus erkannten, daß ich ein Christenkind sei. Sie beschlossen einmütig, mich mit ihrem kleinen Sohne, der in meinem Alter war, zu erziehen, und sie waren immer so liebreich und freundlich gegen mich, wie gegen ihr eigenes Kind.
»Es wohnten mehrere Hirten zerstreut im Gebirge umher, die zusammen eine christliche Gemeinde ausmachten. Auch hierher waren zur Zeit der Verfolgung einige christliche Lehrer gekommen und einer derselben war hier geblieben, um dieser christlichen Gemeinde als Priester vorzustehen. Er unterrichtete uns Kinder mit unbeschreiblicher Liebe und Treue in der christlichen Religion und lehrte uns auch sonst noch manches, was gut und nützlich war. Meine Erziehung war also in der Hauptsache so, wie die meines Bruders Agapius beschaffen, und ich will mich nicht damit aufhalten, sie ausführlich zu beschreiben. Der Hirte, der mich mit seinem Sohne erzog, hatte eine sehr zahlreiche Schafherde. Als wir zwei Knaben nun heranwuchsen, mußten wir mit ihm die Schafe hüten; als wir aber erwachsen und stark und gewandt genug waren, die Herde gegen wilde Tiere zu verteidigen, blieb er altershalber manchen Tag zu Hause und überließ die Aufsicht über die Herde uns zwei Jünglingen. Eines Tages trieben wir unsere Schafe weit hinein in das Gebirge. Wir zündeten auf den Abend ein lustiges Feuer an, teils um unser Abendessen zu bereiten, teils um die wilden Tiere, die das Feuer scheuen, von der Herde abzuhalten. Wie wir nun unter vertraulichen Gesprächen bei dem Feuer so dasaßen und es bereits sehr dunkel war, sprang der große Hund, der zu unsern Füßen lag, plötzlich auf und fing an heftig zu bellen. Es war noch der nämliche Hund, der einst den Wolf so tapfer gepackt hatte. Er war nunmehr sehr alt; allein wegen seiner Treue genoß er noch das Gnadenbrot. Auch die übrigen Hunde wurden wach und erhoben ein lautes Gebell, Wir vermuteten die Annäherung eines Wolfes, standen auf und griffen nach unsern Spießen; allein zu unserm Erstaunen sahen wir im Glanze unsers Hirtenfeuers einen bewaffneten Krieger auf uns zuschreiten. Das war eine seltsame Erscheinung in diesen friedlichen Bergen. Mein Pflegevater kam mit dem Kriegsmanne und sah sehr bestürzt und traurig aus. Wir zwei Jünglinge konnten uns gar nicht vorstellen, was das zu bedeuten habe; wir wurden es aber sogleich inne.
»Auch unsere Gemeinde mußte einen Mann ins Feld stellen. Der Kriegsmann hatte bereits diesen Nachmittag die streitbaren Jünglinge nebst ihren Vätern unter der großen Eiche, unter der die Gemeinde gewöhnlich zusammenkam, versammelt und befohlen, das Los zu ziehen. Der alte Hirte hatte für seinen Sohn ziehen müssen, weil der Kriegsmann sehr eilig war und es für zu weitläufig hielt, den Sohn erst herbeizurufen. Das Los hatte den Sohn getroffen und der Krieger kam nun, ihn mit sich zu nehmen.
»Der gute Jüngling ward, als er das hörte, totenbleich und dem alten Vater standen Tränen in den Augen. Allein ich sprach zu dem Krieger: »Nimm diesen nicht, nimm mich! Ich habe mehr Lust, Soldat zu sein, mein Vater war auch Soldat. Ich gehe sogleich statt meines jungen Freundes hier mit dir!« Das gefiel dem Soldaten sehr. »Aha,« sagte er lachend, »Art läßt nicht von Art. Man singe dem jungen Löwen vor, er wird doch brüllen. Komm also sogleich mit mir. Du, mutiger Bursche, bist mir lieber als der bleiche, zitternde Junge da.« Mein Pflegevater und sein Sohn brachen in Tränen aus und priesen meine Großmut. »Das ist eine edle Tat,« sprach der alte Hirt, »daß du für einen andern in den Krieg ziehen willst.« Ich aber sprach: »Es ist nicht mehr als meine Schuldigkeit, daß ich für ihn gehe; ich bin dir für das, was du an mir getan hast, noch viel Dank schuldig. Denn du hast mir das Leben gerettet und mich erzogen. Wenn ich auch im Felde umkomme und so für deinen Sohn, der mir ein zweiter Bruder ist, das Leben gebe, so sei das der Dank für das Gute, das du an mir getan hast. Auch geziemt es sich ja für Christen, daß einer für den andern das Leben gebe, so wie Christus sein Leben für uns alle gegeben hat.«
»Der alte Mann sagte weinend: »Nun, so zieh' denn hin, mein Sohn! Gott hat dir diesen Mut in dein Herz gelegt. Werde, wie einst David, den Gott auch von der Schafherde hinweg ins Feld rief, ein Kriegsheld und bleibe dabei ein frommer, gottesfürchtiger Mann, wie David. Vielleicht ist es dein Glück, daß du jetzt den Hirtenstab mit dem Spieße vertauschest; ja mir kommt es vor, dein edelmütiger Entschluß werde dir zum Segen gereichen und Gott werde dir deine edle Handlung belohnen. Er wolle dein Schild sein und dich aus allen Gefahren, denen du jetzt entgegengehst, erretten!« Er segnete mich, und ich ging mit dem Krieger.
»Der wackere Hirte hatte auch vollkommen recht und sein Wort traf zu. Mein Entschluß, statt meines jugendlichen Freundes in das Feld zu ziehen, war mein größtes Glück, so wie auch meinem Bruder sein Entschluß, für andere in das Feld zu ziehen, zum Segen gereichte. Gott führte uns junge Krieger hierher, wo wir einander als Brüder erkannt und noch dazu Vater und Mutter gefunden haben. Er hat uns den kleinen Liebesdienst reichlich vergolten. Ihm sei Lob, Preis und Dank!«