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11. Die Brüder.

Die Offiziere, die in dem Hause speisten, in dem Theopista als Sklavin diente, gingen nach geendigter Tafel, und nachdem die Sonnenhitze etwas nachgelassen hatte, in den Garten am Hause, der mit allen Arten nützlicher Gewächse und köstlicher Baumfrüchte prangte, und dem man es nicht angesehen hätte, daß er diesen Morgen so vieler Blumen beraubt worden. An den Garten stieß eine sehr große, frischgemähte Wiese, deren schönes Grün vom Glanze der Sonne erhellt, zum Teil aber von hohen, dichtbelaubten Bäumen mit dunklem Schatten bedeckt war. Zwischen den Bäumen, deren immer zwei oder drei beisammen standen, öffnete sich eine weite Aussicht auf das Lager, dessen weiße Zelte fernen, schneebedeckten Hütten ähnlich sahen. Unter einem Paar der ältesten, höchsten Bäume mit dicken moosbewachsenen Stämmen und weit ausgebreiteten Ästen voll des schönsten, grünen Laubes, befand sich ein großer steinerner Tisch nebst einigen steinernen Bänken. Der schöne Lustwald war bloß durch einen klaren, rauschenden Bach, über den ein Steg führte, von dem Garten getrennt. Die Offiziere gingen hinüber und setzten sich auf die steinernen Bänke, wo es ungemein kühl und lieblich war. Einige andere Offiziere aus den benachbarten Häusern gesellten sich nach und nach zu ihnen. Auch mehrere Soldaten aus dem Lager hatten diesen angenehmen Schatten ausgesucht. Sie saßen oder lagen unter den Bäumen umher; ihre Spieße steckten neben ihnen im Boden, die Helme lagen daneben, und ihre glänzenden Schilde hatten sie an den Baumstämmen aufgehängt.

Theopista brachte auf Befehl ihrer Frau den Offizieren an der steinernen Tafel Erfrischungen – einen großen, schöngeformten Krug mit Wein nebst zierlichen Bechern, Brot und einige Körbchen voll kühlender Früchte. Nachdem sie alles auf die Tafel gestellt hatte, setzte sie sich, von der Arbeit des Tages ermüdet, in einiger Entfernung auf eine Rasenbank, die von blühendem Gesträuche beschattet war. Denn sie hatte von ihrer Frau den Befehl, bei der Hand zu bleiben, um, wenn etwas abgehen sollte, es sogleich herbeizuschaffen. Keinem der Offiziere kam es in den Sinn, sie für mehr als eine Sklavin anzusehen; denn ihr aschgraues Gewand war nur von Wollenzeug, und ihren Kopf hatte sie mit einem weißen Leinentuche umwunden, das die Haare verbarg und ihr ganz das Aussehen einer Sklavin gab.

Die Offiziere beachteten sie kaum, tranken, und der Wein machte sie sehr gesprächig. Sie redeten vieles von dem glücklich beendigten Feldzuge und ihren kriegerischen Taten. Ein alternder, etwas grämlicher Offizier wandte sich jetzt an einen jungen Offizier, der wie Milch und Blut aussah, und sprach: »Du, Hauptmann, dir hat der Feldherr heute ja eine ganz besondere Ehre erwiesen, indem er dir die Hälfte seines Lorbeerkranzes gab.«

Der Hauptmann sagte bescheiden: »Nicht mir war der Kranz zugedacht, sondern dem ganzen Kriegsheere. Der Feldherr sagte es ausdrücklich. Ich empfing ihn auch nur im Namen des Heeres.«

Ein anderer Offizier rief: »Den halben Lorbeerkranz hat der Hauptmann redlich verdient. Ihr wißt alle, wie die Feinde, als sie sich überall eingeschlossen sahen, in der Wut der Verzweiflung noch einen Versuch machten, sich durchzuschlagen, und mit vereinter Macht gerade auf den Feldherrn einstürmten. Wäre der Hauptmann hier mit seiner tapfern Schar und die andere Schar mit ihrem mutigen Hauptmanne, der heute die andere Hälfte des Lorbeerkranzes erhielt, ihm nicht gerade im entscheidenden Augenblicke zu Hilfe gekommen, so hätte unser geliebter Feldherr wohl gar das Leben verlieren und die Schlacht einen sehr unglücklichen Ausgang nehmen können.«

»Ei warum nicht gar!« sagte der alte Offizier; »wir andern wären auch noch da gewesen. Doch – sei dies, wie es wolle, so werdet ihr doch alle bekennen müssen, daß der junge Herr da und sein Glücksgenosse, der andere junge Herr, in sehr kurzer Zeit ein ganz ungeheures Glück gemacht haben.«

»Es ist wahr,« sprach der junge Hauptmann, »ich habe ein so außerordentliches Glück, daß es mir selbst oft wie ein Traum vorkommt. Es ist kaum ein Jahr, daß ich noch den Pflug lenkte.«

»Wie,« fiel ihm der alte Offizier ärgerlich ins Wort, »du bist also nur ein Bauerssohn?«

»Nein,« sprach der Hauptmann. »Meine Geschichte hat indes von meiner Kindheit an so viel Wunderbares, daß ich sie euch doch erzählen muß. Mein Vater war kein Bauersmann, sondern, wie ich mich aus den dunklen Jahren der Kindheit noch deutlich erinnere, ein vornehmer Herr und ein Kriegsheld. Er wohnte in einem schönen, großen Hause, und in dem größten Zimmer des Hauses hatte er eine vollständige Rüstung – einen schönen Helm, einen hellglänzenden Harnisch nebst Schwert und Lanze und einen prächtigen Schild. Ich weiß noch gar wohl, wie ich mich über die eherne Haube und die eisernen Kleider, deren Gebrauch mir der Vater erklärte, nicht genug wundern konnte. Meine Mutter war sehr schön, und ich hörte die Leute im Hause oft sagen, weit und breit im Lande gebe es keine schönere Frau. Ich hatte noch ein kleines Brüderchen, ein gar schönes Knäblein mit langen, gelben Haaren. Unsere Eltern hatten aber viel Unglück. Alle unsere Pferde, sogar der Schimmel, auf dem der Vater gewöhnlich auf die Jagd ritt, und der mir vor allen andern Pferden lieb war, wurden krank und kamen um. Bald darauf erkrankten die Menschen und viele starben. Es war ein großer Jammer! Zuletzt gingen mein Vater und meine Mutter mit uns weit fort, bis an das Meer. Da bestiegen wir ein Schiff. Wir Knaben waren über die unermeßliche Menge von Wasser höchst erstaunt, und das Schwanken des Schiffes machte uns zuletzt krank. Endlich, nachdem wir lange nichts als Himmel und Wasser gesehen, sahen wir wieder Land und waren höchst erfreut. Nun entstand aber, ich weiß nicht mehr warum, auf dem Schiffe ein großer Streit. Die Schiffsknechte brachten unsern Vater und uns Kinder mit Gewalt an das Land; der Schiffsherr aber, ein garstiger Mohr, behielt unsere Mutter auf dem Schiffe zurück. Ich denke es mir noch recht gut, wie wir Kinder den bösen schwarzen Mann baten, unsere liebe Mutter uns nicht zu nehmen.«

Theopista, die Gemahlin des Eustachius, hatte diese Erzählung mit immer größerer Aufmerksamkeit angehört. »Gott im Himmel,« dachte sie, indem sie von der Rasenbank aufstand, »das ist ja meine Geschichte; was er von seinem Vater, von seiner Mutter und seinem kleinen Bruder erzählt, trifft alles genau zu. Ich kann beinahe nicht mehr zweifeln – dieser junge Kriegsheld sei mein Sohn, mein geliebter Agapius.« Mit wankenden Knien trat sie etwas näher und horchte mit klopfendem Herzen auf jedes Wort, das er weiter vorbringen würde.

Der Hauptmann fuhr fort zu erzählen: »Das Schiff, auf dem sich unsere Mutter befand, wandte sich und fuhr eilends wieder hinaus in das weite Meer. Wir zwei Knaben schrien und jammerten laut um unsere liebe Mutter und sahen dem Schiffe nach, bis es am fernen Himmel aus unsern Augen verschwunden war. Auch unser Vater weinte schmerzlich. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen, und es ging mir deshalb um so mehr zu Herzen, wie er, indem ihm die hellen Tränen über seine Wangen herabflossen, öfter zum Himmel blickte und betete und mehrmals sehr nachdrücklich zu uns sagte: O Kinder, betet, betet doch für eure Mutter! Wir übernachteten unter freiem Himmel und zogen mit anbrechendem Morgen weiter. Wir armen Kinder verschmachteten beinahe vor Hitze, Hunger und Durst. Endlich kamen wir an einen Fluß, wo einige schattige Bäume standen. Der Vater ging und brachte uns Eier und einen Helm voll Wasser; sonst wären wir vor Hunger und Durst gestorben. Er trug nun zuerst meinen kleinen Bruder über den Fluß. Mit Herzensangst sah ich zu, wie der Vater durch den mächtig reißenden Fluß watete, endlich nach großer Anstrengung das andere Ufer erreichte und mein Brüderchen in den Schatten eines Baumes niedersetzte. Er stieg nun wieder in das brausende, hochaufschäumende Wasser, um mich abzuholen. Ich freute mich sehr, als er mir immer näher kam. Allein plötzlich hörte ich zu Lande etwas auf mich zukommen. Ich sah mich um und erblickte ein furchtbares Tier mit weit aufgesperrtem Rachen. Ich wußte damals noch nicht, daß es ein Löwe war. Ich fing an, aus allen Kräften zu schreien, und wollte dem grausamen Tiere entlaufen. Allein augenblicklich fühlte ich mich von dem Löwen ergriffen, und er trug mich in seinem Rachen eilends fort in den Wald.«

Ein anderer junger Offizier, eben derjenige, der die andere Hälfte des Lorbeerkranzes erhalten und sich erst vor einigen Minuten bei der Gesellschaft eingefunden hatte, schrie jetzt plötzlich laut auf: »Bruder!« stürzte mit weit offenen Armen auf den Hauptmann zu, schloß ihn in die Arme und rief mit herzdurchdringender Stimme: »Bruder! Liebster, bester Bruder! Du, mein teurer Agapius! O glaube mir, ich bin wahrhaftig dein Bruder, dein Theopistus! Ich war jenes Knäblein, das unser Vater über den Fluß trug. Ich sah es mit Augen, wie jener Löwe dich ergriff und schneller als ein Pfeil mit dir in den Wald sprang. Auch ich wurde sogleich darauf von einem Wolfe fortgeschleppt. O welche wunderbare Fügung Gottes, daß wir beide errettet wurden! Welch ein unaussprechliches Glück, daß wir, die wir einander schon lange von Angesicht kannten, einander schätzten und liebten, uns nun auf einmal als Brüder erkennen!«

Agapius, der andere Bruder, war ebenso erstaunt und entzückt. Er konnte nicht zweifeln, seinen jüngeren Bruder, seinen geliebten Theopistus, wiedergefunden zu haben. Er schloß ihn fest in seine Arme, drückte ihn an seine Brust, benetzte sein Angesicht mit Tränen, rief mehrmals: »Bruder! Liebster Bruder!« und konnte vor innigster Rührung lange kein anderes Wort hervorbringen.

Theopista aber, die höchst erstaunte Mutter, sank vor freudiger Aufregung ohnmächtig auf die nahe Rasenbank. Die Freude, in dem einen schönen, blühenden römischen Hauptmanne ihren geliebten Sohn Agapius zu erkennen, hatte sie schon so ergriffen, daß Herz und Glieder ihr heftig bebten. Allein da sie plötzlich den Schrei: »Bruder!« aus dem Munde des andern Hauptmannes vernahm – da sie nun in diesem ebenso schönen, blühenden Kriegshelden ihren zweiten Sohn, ihren Liebling Theopistus erkannte – so war dieses dem mütterlichen Herzen zu viel. Es ward ihr dunkel vor den Augen, und nur wie aus weiter Ferne und wie im Traume vernahm sie noch die Worte der Redenden.

Allein in diesem Augenblicke achtete niemand auf sie. Die beiden Brüder hatten sich vieles zu fragen und zu sagen und vergingen fast vor Freude und Wehmut. »Was macht unser Vater?« fragte Agapius, »und hast du unsere geliebte Mutter nicht mehr gefunden?«

»Ach Gott,« sprach Theopistus, »ich habe, seit der Wolf mich geraubt, nicht das geringste mehr von dem Vater gehört, und von unserer geliebten Mutter ebensowenig.«

»Guter Gott,« sagten beide fast mit einem Munde, »ach vielleicht sind unsere guten Eltern schon tot! O wenn sie je noch leben – welche Freude wäre das für sie, wenn sie jetzt in diesem Augenblicke hier zugegen sein und an unserem Glücke teilnehmen könnten!«

Die Offiziere, die umher standen, bezeigten über das glückliche Wiedererkennen der beiden Brüder die lebhafteste Freude. »O herrlich, herrlich!« rief der eine, in die Hände klatschend; »so etwas kommt in dem menschlichen Leben nicht alle Tage vor.« Ein anderer rief mit den Worten des römischen Dichters: »Nun laßt uns trinken und mit unbändigem Fuße den Boden stampfen!« und dabei sprang er vor Freude hoch auf. Die laute Freude teilte sich den Soldaten mit, die unter den Bäumen gelagert waren. Alle kamen in Bewegung und eilten herbei, um zu sehen und zu hören, was es Lustiges gebe. Viele jauchzten vor Freude, als sie vernahmen, was vorgegangen war. Diejenigen aber, die zu den Scharen der beiden Hauptleute gehörten, riefen mit frohem Jubel: »Heil unsern Anführern! Heute morgen teilte der Feldherr seinen Lorbeerkranz unter sie; und diesen Abend erkennen sie sich als Brüder! Heil den tapferen Helden und glücklichen Brüdern!«


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