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Versuch über den Begriff des Republikanismus

veranlaßt durch die Kantische Schrift »Zum ewigen Frieden«

Der Geist, den die Kantische Schrift »Zum ewigen Frieden« atmet, muß jedem Freunde der Gerechtigkeit wohltun, und noch die späteste Nachwelt wird auch in diesem Denkmale die erhabene Gesinnung des ehrwürdigen Weisen bewundern. Der kühne und würdige Vortrag ist unbefangen und treuherzig und wird durch treffenden Witz und geistreiche Laune angenehm gewürzt. Sie enthält eine reichliche Fülle fruchtbarer Gedanken und neuer Ansichten für die Politik, Moral und Geschichte der Menschheit. Mir war die Meinung des Verfassers über die Natur des Republikanismus und dessen Verhältnis zu andern Arten und Zuständen des Staats vorzüglich interessant. Die Prüfung derselben veranlaßte mich, diesen Gegenstand von neuem zu durchdenken. So entstanden folgende Bemerkungen.

 

» Die bürgerliche Verfassung«, sagt Kant S. 20, » in jedem Staate soll republikanisch sein. – Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung ist die republikanische.« Diese Erklärung scheint mir nicht befriedigend. Wenn die rechtliche Abhängigkeit schon im Begriffe der Staatsverfassung überhaupt liegt (S. 21, Anm.), so kann sie kein Merkmal des spezifischen Charakters der republikanischen Verfassung sein. Da kein Prinzip der Einteilung der Staatsverfassung überhaupt in ihre Arten angegeben ist, so fragt sich's, ob durch die Merkmale der Freiheit und Gleichheit der vollständige Begriff der republikanischen Verfassung erschöpft sei. Beide sind nichts Positives, sondern Negationen. Da nun jede Negation eine Position, jede Bedingung etwas Bedingtes voraussetzt, so muß ein Merkmal (und zwar das wichtigste, welches den Grund der beiden andern enthält) in der Definition fehlen. Die despotische Verfassung weiß von jenen negativen Merkmalen (Freiheit und Gleichheit) nichts: sie wird also auch durch ein positives Merkmal von der republikanischen Verfassung verschieden sein. Daß der Republikanismus und Despotismus nicht Arten des Staats, sondern der Staatsverfassung sein, wird ohne Beweis vorausgesetzt, und was Staatsverfassung sei, nicht erklärt. – Die angedeutete Deduktion des so definierten Republikanismus ist ebensowenig befriedigend als die Definition. Es scheint wenigstens, als würde S. 20 behauptet: die republikanische Verfassung sei darum praktisch notwendig, weil sie die einzige ist, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht. Aber worauf gründet sich denn diese Idee, als auf das Prinzip der Freiheit und Gleichheit? Ist das nicht ein Zirkel? – Alle Negationen sind die Schranken einer Position, und die Deduktion ihrer Gültigkeit ist der Beweis, daß die höhere Position, von welcher die durch sie limitierte Position abgeleitet ist, ohne diese Bedingung sich selbst aufheben würde. Die praktische Notwendigkeit der politischen Freiheit und Gleichheit muß also aus der höhern praktischen Position, von welcher das positive Merkmal des Republikanismus abgeleitet ist, deduziert werden.

Die Erklärung der rechtlichen Freiheit: sie sei die Befugnis, alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut, erklärt der Verfasser für leere Tautologie und erklärt sie dagegen als »die Befugnis, keinen äußern Gesetzen zu gehorchen, als zu denen das Individuum seine Beistimmung habe geben können.« – Mir scheinen beide Erklärungen richtig, aber nur bedingt richtig zu sein. Die bürgerliche Freiheit ist eine Idee, welche nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann. So wie es nun in jeder Progression ein erstes, letztes und mittlere Glieder gibt, so gibt es auch in der unendlichen Progression zu jener Idee ein Minimum, ein Medium und ein Maximum. Das Minimum der bürgerlichen Freiheit enthält die Kantische Erklärung. Das Medium der bürgerlichen Freiheit ist die Befugnis, keinen äußern Gesetzen zu gehorchen als solchen, welche die (repräsentierte) Mehrheit des Volks wirklich gewollt hat und die (gedachte) Allgemeinheit des Volks wollen könnte. Das (unerreichbare) Maximum der bürgerlichen Freiheit ist die getadelte Erklärung, welche nur dann eine Tautologie sein würde, wenn sie von der moralischen und nicht von der politischen Freiheit redete. Die höchste politische Freiheit würde der moralischen adäquat sein, welche, von allen äußern Zwangsgesetzen ganz unabhängig, nur durch das Sittengesetz beschränkt wird. Ebenso ist, was Kant für äußere rechtliche Gleichheit überhaupt erklärt, nur das Minimum in der unendlichen Progression zur unerreichbaren Idee der politischen Gleichheit. Das Medium besteht darin, daß keine andre Verschiedenheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Bürger stattfinde als eine solche, welche die Volksmehrheit wirklich gewollt hat und die Allheit des Volks wollen könnte. Das Maximum würde eine absolute Gleichheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Staatsbürger sein und also aller Herrschaft und Abhängigkeit ein Ende machen. – Aber sind diese Wechselbegriffe nicht wesentliche Merkmale des Staats überhaupt? – Die Voraussetzung, daß der Wille nicht aller einzelnen Staatsbürger mit dem allgemeinen Willen stets übereinstimmen werde, ist der einzige Grund der politischen Herrschaft und Abhängigkeit. So allgemein sie aber auch gelten mag, so ist ihr Gegenteil wenigstens denkbar. Sie ist überdem nur eine empirische Bedingung, welche den reinen Begriff des Staats zwar näher bestimmen, aber eben darum selbst kein Merkmal des reinen Begriffs sein kann. Der empirische Begriff setzt einen reinen, der bestimmtere einen unbestimmteren voraus, aus dem er erst abgeleitet wurde. Also nicht ein jeder Staat (S. 30) enthält das Verhältnis eines Oberen zu einem Unteren, sondern nur der durch jenes faktische Datum empirisch bedingte. Es läßt sich allerdings ein Völkerstaat ohne dies Verhältnis denken und ohne daß die verschiedenen Staaten in einen einzigen zusammenschmelzen müßten: eine nicht zu einer besondern Absicht bestimmte, sondern nach einem unbestimmten Ziel strebende (nicht hypothetisch, sondern thetisch zweckmäßige) Gesellschaft im Verhältnis der Freiheit der einzelnen und der Gleichheit aller unter einer Mehrheit oder Masse von politisch selbständigen Völkern. Die Idee einer Weltrepublik hat praktische Gültigkeit und charakteristische Wichtigkeit.

Das Personale der Staatsgewalt (S. 25), die Zahl der Herrscher, kann nur dann ein Prinzip der Einteilung sein, wenn nicht der allgemeine, sondern ein einzelner Wille der Grund der bürgerlichen Gesetze ist (im Despotismus). – Wie stimmt die Behauptung, »der Republikanismus sei das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt von der gesetzgebenden«, mit der zuerst gegebnen Definition und mit dem Satz, »daß der Republikanismus nur durch Repräsentation möglich sei« (S. 29), zusammen? – Wäre die gesamte Staatsgewalt nicht in den Händen von Volksrepräsentanten, aber zwischen einem erblichen Regenten und einem erblichen Adel so geteilt, daß der erste die ausübende, der letzte die gesetzgebende Macht besäße, so würde, der Trennung ungeachtet, die Verfassung nicht repräsentativ, also (nach des Verfassers eigner Erklärung) despotisch sein, da ohnehin die Erblichkeit der Staatsämter (S. 22, 23. Anm.) mit dem Republikanismus unvereinbar ist. – Der Gesetzgeber, Vollzieher (und Richter) sind zwar durchaus verschiedene politische Personen (S. 26), aber es ist physisch möglich, daß eine physische Person diese verschiedenen politischen Personen in sich vereinigen könne. Es ist auch politisch möglich, d. h., es ist nicht widersprechend, daß der allgemeine Volkswille beschlösse, auf eine bestimmte Zeit Einem alle Staatsgewalt zu übertragen (nicht abzutreten). Unstreitig ist die Trennung der Gewalten die Regel des republikanischen Staats; aber die Ausnahme von der Regel, die Diktatur, scheint mir wenigstens möglich. (Ihre treffliche Brauchbarkeit wird vorzüglich aus der alten Geschichte offenbar. Das menschliche Geschlecht verdankt dieser scharfsinnigen griechischen Erfindung viele der herrlichsten Produkte, welche das politische Genie je hervorgebracht hat). Die Diktatur ist aber notwendig ein transitorischer Zustand: denn wenn alle Gewalt auf unbestimmte Zeit übertragen würde, so wäre das keine Repräsentation, sondern eine Zession der politischen Macht. Eine Zession der Souveränität ist aber politisch unmöglich: denn der allgemeine Wille kann sich nicht durch einen Akt des allgemeinen Willens selbst vernichten. Der Begriff einer dictatura perpetua ist daher so widersprechend wie der eines viereckigen Zirkels. – Die transitorische Diktatur aber ist eine politisch mögliche Repräsentation – also eine republikanische, vom Despotismus wesentlich verschiedne Form.

Überhaupt ist vom Verfasser kein Prinzip seiner Einteilung der Arten und Bestandteile des Staats auch nur angedeutet. – Folgender provisorische Versuch einer Deduktion des Republikanismus und einer politischen Klassifikation a priori scheint mir der Prüfung des Lesers nicht ganz unwürdig zu sein.

Durch die Verknüpfung der höchsten praktischen Thesis (welche das Objekt der praktischen Grundwissenschaft ist) mit dem theoretischen Datum des Umfangs und der Arten des menschlichen Vermögens erhält der reine praktische Imperativ so viel spezifisch verschiedene Modifikationen, als das gesamte menschliche Vermögen spezifisch verschiedne Vermögen in sich enthält; und jede dieser Modifikationen ist das Fundament und das Objekt einer besonderen praktischen Wissenschaft. Durch das theoretische Datum, daß dem Menschen, außer den Vermögen, die das rein isolierte Individuum als solches besitzt, auch noch im Verhältnis zu andern Individuen seiner Gattung das Vermögen der Mitteilung (der Tätigkeiten aller übrigen Vermögen) zukomme; daß die menschlichen Individuen durchgängig im Verhältnis des gegenseitigen natürlichen Einflusses wirklich stehen oder doch stehen können – erhält der reine praktische Imperativ eine neue spezifisch verschiedne Modifikation, welche das Fundament und Objekt einer neuen Wissenschaft wird. Der Satz: das Ich soll sein, lautet in dieser besondern Bestimmung: Gemeinschaft der Menschheit soll sein, oder das Ich soll mitgeteilt werden. Diese abgeleitete praktische Thesis ist das Fundament und Objekt der Politik, worunter ich nicht die Kunst verstehe, den Mechanism der Natur zur Regierung der Menschen zu nutzen (S. 71), sondern (wie die griechischen Philosophen) eine praktische Wissenschaft, im Kantischen Sinne dieses Wortes, deren Objekt die Relation der praktischen Individuen und Arten ist. Eine jede menschliche Gesellschaft, deren Zweck Gemeinschaft der Menschheit ist (die Zweck an sich oder deren Zweck menschliche Gesellschaft ist), heißt Staat. Da aber das Ich nicht bloß im Verhältnis aller Individuen, sondern auch in jedem einzelnen Individuo sein soll und nur unter der Bedingung absoluter Unabhängigkeit des Willens sein kann, so ist politische Freiheit eine notwendige Bedingung des politischen Imperativs und ein wesentliches Merkmal zum Begriff des Staats: denn sonst würde der reine praktische Imperativ, aus dem sowohl der ethische als der politische abgeleitet ist, sich selbst aufheben. Der ethische und der politische Imperativ gelten nicht bloß für dies und jenes Individuum, sondern für jedes; daher ist auch politische Gleichheit eine notwendige Bedingung des politischen Imperativs und ein wesentliches Merkmal zum Begriff des Staats. Der politische Imperativ gilt für alle Individuen; daher umfaßt der Staat eine ununterbrochne Masse, ein koexistentes und sukzessives Kontinuum von Menschen, die Totalität derer, die im Verhältnis des physischen Einflusses stehn, z. B. aller Bewohner eines Landes oder Abkömmlinge eines Stammes. Dies Merkmal ist das äußere Kriterium, wodurch der Staat sich von politischen Orden und Assoziationen, welche besondre Zwecke haben, also auch nur gewisse besonders modifizierte Individuen angehn, unterscheidet. Alle diese Gesellschaften umfassen keine Masse, kein totales Kontinuum, sondern verknüpfen nur einzelne zerstreute Mitglieder. – Die Gleichheit und Freiheit erfordert, daß der allgemeine Wille der Grund aller besondern politischen Tätigkeiten sei (nicht bloß der Gesetze, sondern auch der anwendenden Urteile und der Vollziehung). Dies ist aber eben der Charakter des Republikanismus. Der ihm entgegengesetzte Despotismus, wo der Privatwille den Grund der politischen Tätigkeit enthält, würde also eigentlich gar kein wahrer Staat sein? So ist es auch in der Tat, im strengsten Sinne des Worts. Da aber alle politische Bildung von einem besondern Zwecke, von Gewalt (vgl. die treffliche Entwicklung S. 69) und von einem Privatwillen – von Despotismus – ihren Anfang nehmen und also jede provisorische Regierung notwendig despotisch sein muß; da der Despotismus den Schein des allgemeinen Willens usurpiert und wenigstens für einige ihm interessante Zivil- und Kriminalfälle die Gerechtigkeit toleriert; da er sich von allen andern Gesellschaften durch das dem Staat eigne Merkmal der Kontinuität der Mitglieder unterscheidet; da er neben seinem besondern Zwecke Jeder Staat, der einen besondern Zweck hat, ist despotisch, mag dieser Zweck auch anfänglich noch so unschuldig scheinen. Wie viele Despoten sind nicht vom Zweck der physischen Erhaltung ausgegangen? Er ist aber allemal bei glücklichem Erfolg in den der Unterdrückung ausgeartet. Den praktischen Philosophen können die schrecklichen Folgen jeder auch gutgemeinten Verwechslung des Bedingten und Unbedingten nicht befremden. Das Endliche darf die Rechte des Unendlichen nicht ungestraft usurpieren. das heilige Interesse der Gemeinschaft wenigstens nebenbei befördert und wider sein Wissen und Wollen den Keim eines echten Staats in sich trägt und den Republikanismus allmählich zur Reife bringt: so könnte man ihn als einen Quasistaat, nicht als eine echte Art, aber doch als eine Abart des Staats gelten lassen.

Aber wie ist der Republikanismus möglich, da der allgemeine Wille seine notwendige Bedingung ist, der absolut allgemeine (und also auch absolut beharrliche) Wille aber im Gebiete der Erfahrung nicht vorkommen kann und nur in der Welt der reinen Gedanken existiert. Das Einzelne und das Allgemeine ist überhaupt durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden, über welche man nur durch einen Salto mortale hinübergelangen kann. Es bleibt hier nichts übrig, als durch eine Fiktion einen empirischen Willen als Surrogat des a priori gedachten absolut allgemeinen Willens gelten zu lassen und, da die reine Auflösung des politischen Problems unmöglich ist, sich mit der Approximation dieses praktischen x zu begnügen. Da nun der politische Imperativ kategorisch ist und nur auf diese Weise (in einer endlosen Annäherung) wirklich gemacht werden kann: so ist diese höchste fictio juris nicht nur gerechtfertiget, sondern auch praktisch notwendig, jedoch nur in dem Fall gültig, wenn sie dem politischen Imperativ (der das Fundament ihrer Ansprüche ist) und dessen wesentlichen Bedingungen nicht widerspricht. – Da jeder empirische Wille (nach Heraklits Ausdrucke) in stetem Flusse ist, absolute Allgemeinheit in keinem angetroffen wird, so ist die despotische Arroganz, seinen (väterlichen oder göttlichen) Privatwillen zum allgemeinen Willen selbst, als demselben völlig adäquat, zu sanktionieren, nicht nur ein wahres Maximum der Ungerechtigkeit, sondern auch barer Unsinn. Aber auch die Fiktion, daß der individuelle Privatwille z. B. einer gewissen Familie für alle künftige Generationen als Surrogat des allgemeinen Willens gelten solle, ist widersprechend und ungültig: denn sie würde dem politischen Imperativ (dessen wesentliche Bedingung die Gleichheit ist) ihr eignes Fundament und also sich selbst aufheben. Die einzig gültige politische Fiktion ist die auf das Gesetz der Gleichheit gegründete: Der Wille der Mehrheit soll als Surrogat des allgemeinen Willens gelten. Der Republikanismus ist also notwendig demokratisch, und das unerwiesne Paradoxon (S. 26), daß der Demokratismus notwendig despotisch sei, kann nicht richtig sein. Zwar gibt es einen rechtmäßigen Aristokratismus, ein echtes und von dem abgeschmackten Erbadel, dessen absolute Unrechtmäßigkeit Kant (S. 22, 23. Anm.) so befriedigend dargetan hat, völlig verschiednes Patriziat: sie sind aber nur in einer demokratischen Republik möglich. Das Prinzip nämlich, die Geltung der Stimmen nicht nach der Zahl, sondern auch nach dem Gewicht (nach dem Grade der Approximation jedes Individuums zur absoluten Allgemeinheit des Willens) zu bestimmen, ist mit dem Gesetz der Gleichheit recht wohl vereinbar. Es darf aber nicht vorausgesetzt, sondern es muß authentisch bewiesen werden, daß ein Individuum gar keinen freien Willen oder sein Wille gar keine Allgemeinheit habe, wie der Mangel der Freiheit durch Kindheit und Raserei, der Mangel der Allgemeinheit durch ein Verbrechen oder einen direkten Widerspruch wider den allgemeinen Willen. (Armut und vermutliche Bestechbarkeit, Weiblichkeit und vermutliche Schwäche sind wohl keine rechtmäßige Gründe, um vom Stimmrecht ganz auszuschließen.) Wenn die politische Fiktion ein Individuum für eine politische Null, eine Person für eine Sache gelten ließe, so würde sie eben dadurch das Gegenteil der willkürlichen Voraussetzung hindern und also mit dem ethischen Imperativ streiten, welches unmöglich ist, weil sich beide auf den reinen praktischen Imperativ gründen. Der allgemeine Volkswille kann auch nie beschließen, daß die Individuen über den Grad der Allgemeinheit ihres eigenen Privatwillens selbst kompetente Richter sein und das Recht haben sollen, sich selbst eigenmächtig zu Patriziern zu konstituieren. Die Volksmehrheit muß das Patriziat gewollt, die Vorrechte desselben und die Personen bestimmt haben, welche als politische Edle (solche, deren Privatwille sich dem präsumtiven allgemeinen Willen vorzüglich nähert) gelten sollen. Sie könnte vielleicht den gewählten Edlen einigen Anteil an der Wahl der künftigen überlassen, doch mit dem Vorbehalt, in der letzten Instanz darüber zu entscheiden: denn die Souveränität kann nicht zediert werden.

Daß aber die Volksmehrheit in Person politisch wirke, ist in vielen Fällen unmöglich und fast in allen äußerst nachteilig. Es kann auch sehr füglich durch Deputierte und Kommissarien geschehen. Daher ist die politische Repräsentation allerdings ein unentbehrliches Organ des Republikanismus. – Wenn man die Repräsentation von der politischen Fiktion trennt, so kann es auch ohne Repräsentation einen (wenngleich technisch äußerst unvollkommnen) Republikanismus geben; wenn man unter der Repräsentation auch die Fiktion begreift, so tut man unrecht, sie den alten Republiken abzusprechen. Ihre technische Unvollkommenheit ist notorisch. Desto verworrener sind die allgemein herrschenden Begriffe von ihrem innern Prinzip unvermeidlicher Korruption, desto schiefer die Urteile über den politischen Wert dieser bewundernswürdigen, nicht bloß sogenannten, sondern echten, auf die gültige Fiktion der Allheit durch die Mehrheit des Willens gegründeten Republiken. An Gemeinschaft der Sitten ist die politische Kultur der Modernen noch im Stande der Kindheit gegen die der Alten, und kein Staat hat noch ein größeres Quantum von Freiheit und Gleichheit erreicht als der attische. Die Unkenntnis der politischen Bildung der Griechen und Römer ist die Quelle unsäglicher Verwirrung in der Geschichte der Menschheit und auch der politischen Philosophie der Modernen sehr nachteilig, welche von den Alten in diesem Stücke noch viel zu lernen haben. – Auch ist der behauptete Mangel der Repräsentation nicht uneingeschränkt wahr. Die exekutive Macht konnte auch das attische Volk nicht in Person ausüben; zu Rom ward sogar wenigstens ein Teil der gesetzgebenden und richterlichen Macht durch Volksrepräsentanten (Prätoren, Tribunen, Zensoren, Konsuln) gehandhabt.

Die Kraft der Volksmehrheit, als Proximum der Allheit und Surrogat des allgemeinen Willens, ist die politische Macht. Die höchste Klassifikation der politischen Erscheinungen (aller Kraftäußerungen dieser Macht) wie aller Erscheinungen ist die nach dem Unterschiede des Beharrlichen und des Veränderlichen. Die Konstitution ist der Inbegriff der permanenten Verhältnisse der politischen Macht und ihrer wesentlichen Bestandteile. Die Regierung hingegen ist der Inbegriff aller transitorischen Kraftäußerungen der politischen Macht. Die Bestandteile der politischen Macht verhalten sich untereinander und zu ihrem Ganzen wie die verschiedenen Bestandteile des Erkenntnisvermögens untereinander und zu ihrem Ganzen. Die konstitutive Macht entspricht der Vernunft, die legislative dem Verstande, die richterliche der Urteilskraft und die exekutive der Sinnlichkeit, dem Vermögen der Anschauung. Die konstitutive Macht ist notwendig diktatorisch; denn es wäre widersprechend, das Vermögen der politischen Prinzipien, welche erst die Grundlage aller übrigen politischen Bestimmungen und Vermögen enthalten sollen, dennoch von diesen abhängig machen zu wollen, und eben deswegen nur transitorisch. Ohne den Akt der Akzeptation würde nämlich die politische Macht nicht repräsentiert, sondern zediert werden, welches unmöglich ist. – Die Konstitution betrifft die Form der Fiktion und die Form der Repräsentation. Im Republikanismus gibt es zwar nur ein Prinzip der politischen Fiktion, aber zweiverschiedene Direktionendes einen Prinzips und in ihrer größten möglichen Divergenz nicht sowohl zwei reine Arten als zwei entgegengesetzte Extremeder republikanischen Konstitution: die aristokratische und die demokratische. Es gibt unendlich viele verschiedene Formen der Repräsentation (wie Mischungen des Demokratismus und Aristokratismus), aber keine reine Arten und kein Prinzip der Einteilung a priori. Die Konstitution ist der Inbegriff alles politisch Permanenten; da man nun ein Phänomen nach seinen permanenten Attributen, nicht nach seinen transitorischen Modifikationen klassifiziert, so würde es widersinnig sein, den echten (republikanischen) Staat nach der Form der Regierung einzuteilen. – Im Despotismus kann es eigentlich keine politische, sondern nur eine physische Konstitution geben: nicht Verhältnisse der politischen Macht und ihrer wesentlichen Bestandteile, welche absolut beharrlich sein sollen, aber wohl solche, die relativ beharrlich sind. Wo es keine politische Konstitution gibt, kann man nur die Form der Regierung dynamisch klassifizieren; denn die physischen Modifikationen geben keine reine Klassen. Die einzige reine Klassifikation gewährt das mathematische Prinzip der numerischen Quantität des despotischen Personale.

Die einzige (physisch) permanente Qualität des Despotismus bestimmt die dynamische (nicht politische) Form der despotischen Regierung. Sie ist entweder tyrannisch, oligarchisch oder ochlokratisch, je nachdem ein Individuum, ein Stand (Orden, Korps, Kaste) oder eine Masse herrscht. Wenn alle herrschen (S. 25,16), wer wird dann beherrscht? – Im übrigen scheint der von Kant gegebne Begriff der Demokratie der Ochlokratie angemessen zu sein. Die Ochlokratie ist der Despotismus der Mehrheit über die Minorität. Ihr Kriterium ist ein offenbarer Widerspruch der Mehrheit in der Funktion des politischen Fingenten mit dem allgemeinen Willen, dessen Surrogat sie sein soll. Sie ist – jedoch nebst der Tyrannei: denn die Neronen können dem Sansculottismus den Preis recht wohl streitig machen – unter allen politischen Unformen das größte physische Übel (S. 29). Wenn es hier der Ort wäre, so würde es nicht schwer sein, zu erklären, warum bei den Alten die Ochlokratie immer in Tyrannei überging, und bis zur höchsten Evidenz zu beweisen, daß sie bei den Modernen in Demokratismus übergehn muß, der Menschheit also weniger gefährlich ist als die Oligarchie. Die Oligarchie hingegen – der orientalische Kastendespotismus, das europäische Feudalsystem – ist der Humanität ungleich gefährlicher: denn eben die Schwerfälligkeit des künstlichen Mechanismus, welche ihre physische Schädlichkeit lähmt, gibt ihr eine kolossale Solidität. Die Konzentration der durch gleiches Interesse Zusammengebundnen isoliert die Kaste vom übrigen menschlichen Geschlecht und erzeugt einen hartnäckigen esprit de corps. Die geistige Friktion der Menge bringt die höllische Kunst, die Veredlung der Menschheit unmöglich zu machen, zu einer frühen Reife.

Mit argwöhnischem Blicke wittert die Oligarchie jede aufstrebende Regung der Menschheit und zerknickt sie schon im Keime. Die Tyrannei hingegen ist ein sorgloses Ungeheuer, welches im einzelnen oft die höchste Freiheit, ja sogar vollkommene Gerechtigkeit übersieht. Die ganze lockre Maschine hängt an einem einzigen Ressort; und wenn dieser schwach ist, zerfällt sie bei dem ersten kräftigen Stoß. – Wenn die Form der Regierung despotisch, der Geist aber repräsentativ oder republikanisch ist (siehe die treffliche Bemerkung S. 26), so entsteht die Monarchie. (In der Ochlokratie kann der Geist der Regierung nicht republikanisch sein, sonst würde es notwendig auch die Form des Staats sein. In der reinen Oligarchie muß der Geist des Standes despotisch sein, wenn die Form nicht in einen rechtmäßigen demokratischen Aristokratismus übergehn soll; der republikanische Geist einzelner Glieder hilft nichts, denn der Stand als solcher herrscht.) Der Zufall kann einem gerechten Monarchen despotische Gewalt überliefern. Er kann republikanisch regieren und doch die despotische Staatsform beibehalten, wenn nämlich die Stufe der politischen Kultur oder die politische Lage eines Staats eine provisorische (also despotische) Regierung durchaus notwendig macht und der allgemeine Wille selbst sie billigen könnte. Das Kriterium der Monarchie (wodurch sie sich vom Despotismus unterscheidet) ist die größtmöglichste Beförderung des Republikanismus. Der Grad der Approximation des Privatwillens des Monarchen zur absoluten Allgemeinheit des Willens bestimmt den Grad ihrer Vollkommenheit. Die monarchische Form ist einigen Stufen der politischen Kultur, da das republikanische Prinzip entweder noch in der Kindheit (wie in der heroischen Vorzeit) oder wieder gänzlich erstorben ist (wie zur Zeit der römischen Cäsare), so völlig angemessen; sie gewährt in dem seltnen, aber doch vorhandnen Fall der Friedriche und Marc-Aurele so offenbare und große Vorteile, daß es sich begreifen läßt, warum sie der Liebling so vieler politischen Philosophen gewesen und noch ist. – Aber nach Kants trefflicher Erinnerung (S. 28, Anm.) muß man den Geist der Regierung der schlechten (und unrechtmäßigen; S. 22, 23, Anm.) Staatsform nicht zurechnen.

Heilig ist, was nur unendlich verletzt werden kann, wie die Freiheit und Gleichheit: der allgemeine Wille. Wie Kant also den Begriff der Volksmajestät ungereimt finden kann, begreife ich nicht. Die Volksmehrheit, als das einzige gültige Surrogat des allgemeinen Willens, ist in dieser Funktion des politischen Fingenten ebenfalls heilig, und jede andre politische Würde und Majestät ist nur ein Ausfluß der Volksheiligkeit. Der hochheilige Tribun zum Beispiel war es nur im Namen des Volks, nicht in seinem eignen; er stellt die heilige Idee der Freiheit nur mittelbar dar; er ist kein Surrogat, sondern nur ein Repräsentant des heiligen allgemeinen Willens. –

Der Staat soll sein, und soll republikanisch sein. Republikanische Staaten haben schon um deswillen einen absoluten Wert, weil sie nach dem rechten und schlechthin gebotenen Zwecke streben. In dieser Rücksicht ist ihr Wert gleich. Sehr verschieden aber kann er nach den Graden der Annäherung zum unerreichbaren Zwecke sein. In dieser Rücksicht kann ihr Wert auf zwiefache Weise bestimmt werden.

Die technische Vollkommenheit des republikanischen Staats teilt sich in die Vollkommenheit der Konstitution und der Regierung. Die technische Vollkommenheit der Konstitution wird bestimmt durch den Grad der Approximation ihrer individuellen Form der Fiktion und der Repräsentation zur absoluten (aber unmöglichen) Adäquatheit des Fingenten und Fingierten, des Repräsentanten und Repräsentierten. (Damit stimmt die scharfsinnige Bemerkung S. 27 überein, wenn der Verfasser unter der Repräsentation auch die Fiktion begreift. Möchte doch ein pragmatischer Politiker durch eine Theorie der Mittel, die Fiktion und Repräsentation sowohl extensiv als intensiv zu vergrößern, eine wichtige Lücke der Wissenschaft ausfüllen! – Die Kantische Bemerkung über das Personale der Staatsgewalt, S. 27, dürfte wohl nur für die exekutive und unter gewissen Umständen vielleicht auch für die konstitutive Macht gelten; für die legislative und richterliche Macht hingegen scheint die Erfahrung die Form der Kollegien und Jurys als die beste bewährt zu haben.) Die negative technische Vollkommenheit der Regierung wird bestimmt durch den Grad der Harmonie mit der Konstitution, die positive durch den Grad der positiven Kraft, mit der die Konstitution wirklich ausgeführt wird.

Der politische Wert eines republikanischen Staats wird bestimmt durch das extensive und intensive Quantum der wirklich erreichten Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit. Zwar ist die gute moralische Bildung des Volks nicht möglich, ehe der Staat nicht republikanisch organisiert ist und wenigstens einen gewissen Grad technischer Vollkommenheit erreicht hat (S. 61), aber auf der andern Seite ist herrschende Moralität die notwendige Bedingung der absoluten Vollkommenheit (des Maximums der Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit) des Staats, ja sogar jeder höhern Stufe politischer Trefflichkeit.

Bisher war nur vom partiellen Republikanismus eines einzelnen Staats und Volks die Rede. Aber nur durch einen universellen Republikanismus kann der politische Imperativ vollendet werden. Dieser Begriff ist also kein Hirngespinst träumender Schwärmer, sondern praktisch notwendig, wie der politische Imperativ selbst. Seine Bestandteile sind:

1) Polizierung aller Nationen;

2) Republikanismus aller Polizierten;

3) Fraternität aller Republikaner;

4) die Autonomie jedes einzelnen Staats und die Isonomie aller.

Nur universeller und vollkommener Republikanismus würde ein gültiger, aber auch allein hinlänglicher Definitivartikel zum ewigen Frieden sein. – Solange die Konstitution und Regierung nicht durchaus vollkommen wäre, würde, selbst in republikanischen Staaten, deren friedliche Tendenz Kant so treffend gezeigt hat, sogar ein ungerechter und überflüssiger Krieg wenigstens möglich bleiben. Der erste Kantische Definitivartikel zum ewigen Frieden verlangt zwar Republikanismus aller Staaten, allein der Föderalismus, dessen Ausführbarkeit S. 35 so bündig bewiesen wird, kann schon seinem Begriffe nach nicht alle Staaten umfassen, sonst würde er gegen Kants Meinung (S. 36-38) ein universeller Völkerstaat sein. Die Absicht des Friedensbundes, die Freiheit der republikanischen Staaten zu sichern (S. 35), setzt eine Gefahr derselben, also Staaten von kriegerischer Tendenz, d. h. despotische Staaten voraus. Die kosmopolitische Hospitalität, deren Ursprung und Veranlassung durch den Handelsgeist Kant (S. 64) so geistreich entwickelt, scheint aber sogar unpolizierte Nationen vorauszusetzen. Solange es aber noch despotische Staaten und unpolizierte Nationen gäbe, würde auch noch Kriegsstoff übrigbleiben.

1) Der Republikanismus der kultivierten Nationen,

2) der Föderalismus der republikanischen Staaten,

3) die kosmopolitische Hospitalität der Föderierten

würden also nur gültige Definitivartikel zum ersten echten und permanenten, wenngleich nur partiellen Frieden, statt der bisherigen fälschlich sogenannten Friedensschlüsse, eigentlich Waffenstillstände (S. 104), sein.

Man kann sie auch als Präliminarartikel zum ewigen Frieden ansehn, den sie beabsichtigen und an den vor dem ersten echten Frieden gar nicht zu denken ist. – Der universelle und vollkommene Republikanismus und der ewige Friede sind unzertrennliche Wechselbegriffe. Der letzte ist ebenso politisch notwendig wie der erste. Aber wie steht es mit seiner historischen Notwendigkeit oder Möglichkeit? Welches ist die Garantie des ewigen Friedens?

»Das, was diese Gewähr leistet, ist nichts Geringeres als die große Künstlerin Natur«, sagt Kant S. 47. So geistreich die Ausführung dieses trefflichen Gedankens ist, so will ich doch freimütig gestehn, was ich daran vermisse. Es ist nicht genug, daß die Mittel der Möglichkeit, die äußern Veranlassungen des Schicksals zur wirklichen allmählichen Herbeiführung des ewigen Friedens gezeigt werden. Man erwartet eine Antwort auf die Frage: ob die innere Entwicklung der Menschheit dahin führe? Die (gedachte) Zweckmäßigkeit der Natur (so schön, ja notwendig diese Ansicht in andrer Beziehung sein mag) ist hier völlig gleichgültig: nur die (wirklichen) notwendigen Gesetze der Erfahrung können für einen künftigen Erfolg Gewähr leisten. Die Gesetze der politischen Geschichte und die Prinzipien der politischen Bildung sind die einzigen Data, aus denen sich erweisen läßt, »daß der ewige Friede keine leere Idee sei, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziel beständig näher kommt« (S. 104), nach denen sich die künftige Wirklichkeit desselben und sogar die Art der Annäherung zwar nicht weissagen (S. 65) – thetisch und nach allen Umständen der Zeit und des Orts –, aber doch vielleicht theoretisch (wenngleich nur hypothetisch) mit Sicherheit vorherbestimmen lassen würde. – Kant macht zwar hier sonst (wie sich erwarten läßt) keinen transzendenten Gebrauch von dem teleologischen Prinzip in der Geschichte der Menschheit (welches sogar kritische Philosophen sich erlaubt haben): jedoch in einem Stücke scheint mir der praktische Begriff der unbedingten Willensfreiheit mit Unrecht in das theoretische Gebiet der Geschichte der Menschheit herübergezogen zu sein. – Wenn die Moraltheologie die Frage aufwerfen kann und muß: welches der intelligible Grund der Immoralität sei – ob sie es kann und muß, lasse ich hier an seinen Ort gestellt sein –, so weiß ich auch keine andre Antwort als die Erbsünde im Kantischen Sinne. Aber die Geschichte der Menschheit hat es nur mit den empirischen Ursachen des Phänomens der Immoralität zu tun; der intelligible Begriff der ursprünglichen Bösartigkeit ist im Gebiete der Erfahrung leer und ohne allen Sinn. – Das behauptete Faktum (S. 80, Anm.), daß es durchaus keinen Glauben an menschliche Tugend gebe, ist unerwiesen; und wie kann die offenbare Bösartigkeit im äußern Verhältnis der Staaten (S. 79, Anm.) – die Immoralität einer kleinen Menschenklasse, welche aus leichtbegreiflichen Ursachen im Durchschnitt aus dem Abschaum des menschlichen Geschlechts besteht – ein Argument wider die menschliche Natur überhaupt sein?

Es ist ein hier unfruchtbarer Gesichtspunkt, die vollkommene Verfassung nicht als ein Phänomen der politischen Erfahrung, sondern als ein Problem der politischen Kunst zu betrachten (S. 60), da wir nicht über ihre Möglichkeit, sondern über ihre künftige Wirklichkeit und über die Gesetze der Progression der politischen Bildung zu diesem Ziele belehrt sein wollen.

Nur aus den historischen Prinzipien der politischen Bildung, aus der Theorie der politischen Geschichte, läßt sich ein befriedigendes Resultat über das Verhältnis der politischen Vernunft und der politischen Erfahrung finden. Statt dessen hat Kant den nicht wesentlichen, sondern nur durch Ungeschicklichkeit zufällig entstandenen Grenzstreitigkeiten der Moral und der Politik nun einen eignen Anhang gewidmet. Er versteht nämlich unter Politik nicht die praktische Wissenschaft, deren Fundament und Objekt der politische Imperativ ist, auch nicht die eigentliche politische Kunst, d. h. die Fertigkeit, jenen Imperativ wirklich zu machen, sondern die despotische Geschicklichkeit, welche keine wahre Kunst, sondern eine politische Pfuscherei ist. Die beiden reinen Arten aller denkbaren politisch notwendigen oder möglichen Formen sind der Republikanismus und der Despotismus. Außerdem gibt es aber auch noch zwei, dem ersten Anscheine nach sehr analoge, dem Wesen nach aber durchaus verschiedene formlose politische Zustände, deren Begriff als ein Grenzbegriff bei der Zergliederung des Republikanismus nicht übergangen werden darf. Nur der eine ist politisch, der andre bloß historisch möglich.

Die Insurrektion ist nicht politisch unmöglich oder absolut unrechtmäßig (wie S. 94-97 behauptet wird); denn sie ist mit der Publizität nicht absolut unvereinbar. Von dem (vielleicht unrechtmäßigen) Herrscher (S. 96) gilt, was Kant S. 101 sagt: »Wer die entschiedene Obermacht hat, darf seiner Maximen nicht hehl haben.« – Eine Konstitution, welche jedem Individuum, wenn es ihm selbst rechtmäßig schiene, zu insurgieren erlaubte, würde allerdings sich selbst aufheben. Eine Konstitution hingegen, welche einen Artikel enthielte, der in gewissen vorkommenden Fällen die Insurrektion peremtorisch geböte, würde sich zwar nicht selbst aufheben, aber dieser einzige Artikel würde null sein: denn die Konstitution kann nichts gebieten, wenn sie gar nicht mehr existiert; die Insurrektion aber kann nur dann rechtmäßig sein, wenn die Konstitution vernichtet worden ist. Es läßt sich aber sehr wohl denken, daß ein Artikel in der Konstitution die Fälle bestimmt, in welchen die konstituierte Macht für de facto annulliert geachtet werden und die Insurrektion also jedem Individuum erlaubt sein soll. Solche Fälle sind z. B., wenn der Diktator seine Macht über die bestimmte Zeit behält; wenn die konstituierte Macht die Konstitution, das Fundament ihrer rechtlichen Existenz, und also sich selbst vernichtet usw. Da der allgemeine Wille eine solche Vernichtung des Republikanismus durch Usurpation nicht wollen kann und den Republikanismus notwendig will, so muß er auch die einzigen Mittel, die Usurpation zu vernichten (Insurrektion) und den Republikanismus von neuem zu organisieren (provisorische Regierung) zulassen können. Diejenige Insurrektion ist also rechtmäßig, deren Motiv die Vernichtung der Konstitution, deren Regierung bloß provisorisches Organ und deren Zweck die Organisation des Republikanismus ist. – Das zweite gültige Motiv der rechtmäßigen Insurrektion ist absoluter Despotismus, d. h. ein solcher, welcher nicht provisorisch ist und also bedingterweise erlaubt sein kann, sondern ein solcher, welcher das republikanische Bildungsprinzip (durch dessen freie Entwickelung allein der politische Imperativ allmählich wirklich gemacht werden kann) und dessen Tendenz selbst zu vernichten und zu zerstören strebt und also absolut unerlaubt ist, d. h. vom allgemeinen Willen nie zugelassen werden kann. Der absolute Despotismus ist nicht einmal ein Quasistaat, sondern vielmehr ein Antistaat und (wenn auch vielleicht physisch erträglicher) doch ein ungleich größeres politisches Übel als selbst Anarchie. Diese ist bloß eine Negation des politisch Positiven, jener eine Position des politisch Negativen. Die Anarchie ist entweder ein fließender Despotismus, in dem sowohl das Personale der herrschenden Macht als die Grenzen der beherrschten Masse stets wechseln, oder eine unechte und permanente Insurrektion; denn die echte und politisch mögliche ist notwendig transitorisch.


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