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X.

Bis zur Mündung des Aripuanan in den Madeira ging die Reise langsam und beschwerlich. Oft stürzte der Fluß über tiefe Katarakte, die man an Land umgehen mußte. Dann keuchten die Gauchos unter der Last des Bootes.

Dort, wo der Aripuanan seine braunen Wasser in den Madeira ergoß, lag eine große Gummiplantage. Der Besitzer, ein chevaleresker alter Herr, war einer der reichsten Männer Brasiliens. Gastfreundlich nahm er Renate auf und sandte sie – nach einigen Tagen der Erholung – auf seinem kleinen Dampfer in vierstündiger Fahrt nach Sao Joao. Von dort führte sie der Postdampfer in zwei Tagen nach Manaos.

Zum ersten Male nach einem schweren, düsteren Jahre schritt Renate wieder durch die Straßen einer Stadt. Sah wieder Menschen und Geschäfte. Sah wieder Zivilisation. Doch sie sah nur optisch. Sie war zu zerrissen und zermürbt und ihr Sinn allen Eindrücken verschlossen. Sie blieb nur wenige Tage, ihre Garderobe zu vervollständigen. Dann trug der große Dampfer des Amazonenstromes sie in langer Fahrt nach Osten.

Die Ruhe tat ihr gut. Ihre Nerven besänftigten sich. Ganz allmählich wurde sie wieder sie selbst in der großen grünen Einsamkeit des Stromes, verwöhnt und sanft gewiegt von der Behaglichkeit des gewaltigen Schiffes. Sie kam nach Para. Von dort brachte der Küstendampfer sie südwärts nach Rio de Janeiro.

Ihre kleine Barschaft war erschöpft. Sie stieg in einem billigen, verwahrlosten Gasthause ab. Ihr erster Gang war zum deutschen Konsul. Das Vorzimmer war überfüllt. Der Sturm der Revolution warf Tausende von Gestrandeten an dieses ersehnte, Rettung verheißende Ufer. Doch der ungeheuren Not gegenüber war die Hilfe der Heimat machtlos.

Viele Stunden mußte Renate warten, bis endlich die Tür des Sprechzimmers sich für sie öffnete. Viele erschütternde Erzählungen hörte sie ringsum. Ihr Schicksal war nur eines von hunderten. Dann saß sie auf dem Stuhle vor einem liebenswürdigen, teilnehmenden Manne. Sie berichtete ihr Los. Der Konsul wurde ernst.

»Wissen Sie, gnädige Frau, ob das Land am Castanho Ihrem verstorbenen Gatten von der Regierung zugeteilt worden ist?«

Renate blickte ihn verwundert an.

»Ich weiß wirklich nicht«, entgegnete sie zaghaft.

Der Konsul zog in Bedenken die Stirn in Falten.

»Ich fürchte sehr«, bedachte er, »die Regierung weiß von dieser Niederlassung nichts. Ich habe schon mehrere ähnliche Fälle gehabt. Die Brasilianische Regierung sieht es natürlich gern, wenn tüchtige und kühne Menschen sich in der fernsten Wildnis niederlassen und sie urbar machen. Sie läßt ihnen das Land. Sie sieht in ihnen die wahren Pioniere und Wildnisgewinner. Aber sie läßt diese Verwegenen ihr Risiko allein tragen.«

Renate beugte sich ängstlich vor.

»Wie, Herr Konsul,« fragte sie, »Sie meinen, ich werde für all die Mühe und Arbeit meines Mannes, die von den Aufständischen vernichtet worden ist, keine Entschädigung erhalten? Das ist doch nicht möglich!«

Der Konsul zuckte bedauernd die Achseln.

»Die Regierung vergütet Schäden, die durch die Revolution verursacht sind, im allgemeinen nur, wenn sie staatliches Siedlungsland getroffen haben. Ihr Gatte hat sich mit gutem Recht und unter stillschweigender Genehmigung der Regierung dort oben am Castanho niedergelassen. Ob die Regierung da eine Entschädigungspflicht anerkennt –?!«

Er breitete die Arme in einer hoffnungslosen Geste.

»Das wäre ja entsetzlich!« stieß Renate hervor. »Ich bin ohne jede Mittel – –!«

Der Mann betrachtete sie voll reger Teilnahme.

»Es ist mir leider vollkommen unmöglich, Ihnen zu helfen, gnädige Frau«, sagte er leise. »Der Ansturm auf unsere Kasse war zu gewaltig. Sie ist bis zum letzten Pfennig erschöpft.«

Dann machte er eine kleine Pause.

Renate starrte mit ratlosen, angstvollen Augen um sich. Ganz bestimmt hatte sie mit einer Entschädigung gerechnet. Sie sank in sich zusammen. Was sollte jetzt aus ihr werden? Ohne Geld in dieser fremden, heißen, großen Stadt?!

Da sagte der Konsul:

»Wenn ich mir gestatten darf, gnädige Frau, Ihnen privatim –«

Rasch sprang Renate auf. »Nein, nein, danke sehr«, stammelte sie. »Das kann ich nicht annehmen. Unter keinen Umständen – –!«

»Aber, gnädige Frau – –«, versuchte der Konsul wieder.

Doch sie unterbrach sofort mit einer hastigen Abwehrbewegung.

»Nein, nein, ich danke Ihnen vielmals, Herr Konsul. Draußen sind Unglückliche mit Kindern. Ich bin jung und kann arbeiten. Nur eines sagen Sie mir, bitte. Habe ich gar keine Aussichten?«

Der Konsul konnte ihr wenig Hoffnungen machen, versprach aber, alles zu tun, was in seiner Macht läge.

»Wie lange kann es dauern, bis ich eine Entscheidung habe?«

Ihre Stimme war heiser vor Enttäuschung.

Wieder machte der Konsul eine hoffnungslose Bewegung.

»Sie wissen, gnädige Frau, das häufigste Wort hier zu Lande ist: manana! manana! Morgen! Morgen! Man hat hier sehr viel Zeit. Ich kann Ihnen nichts versprechen, als die Sache so energisch als möglich zu beschleunigen.«

Sie wollte noch vieles sagen, noch vieles fragen. Sie fühlte trotz aller Verneinung, zu der er gezwungen war, eine Geborgenheit in diesem Zimmer, in der Nähe dieses deutschen Mannes, des Vertreters der Heimat. Aber die drängende Kenntnis seiner Überlastung und das Bewußtsein, daß draußen im Vorzimmer noch viele, viele Unglückliche harrten, die auch zu Worte kommen wollten, nahm ihr den Mut. Sie verabschiedete sich überstürzt und eilte hinaus.

Wieder stand sie in der verwirrenden Glut und Grelle des Tages.

Was jetzt? Sie hatte gerade genug Geld, ihr schäbiges Zimmer in dem elenden Hotel für zwei Tage zu bezahlen. Und dann? Was dann? In der brütenden Hitze schlich sie an den hohen Fassaden der weißen Häuser hin. Die Sonne stach schmerzend und Schwindel erregend. Im Schatten einer Palme blieb sie stehen, Atem zu schöpfen. Die stille, feuchte, dampfende Luft war erstickend. Die Kleider klebten ihr am Leibe. Und plötzlich packte sie ein Grauen, ein panisches Entsetzen vor dieser großen, fremden, exotischen Stadt, vor diesem heißen, vergifteten Lande. Ein Heimweh wallte in ihr auf, das ihr die Tränen in die Augen trieb.

Da überkam sie ein verzweifelter Gedanke: Sie wollte zu den großen Schiffahrtsgesellschaften gehen und um eine Freifahrt nach Deutschland, eine Stelle als Stewardeß flehen. Betäubt von der Hitze, mit gelösten Gliedern schleppte sie sich durch die engen, steilen Häuserschluchten mit ihrem atemraubenden, übelriechenden, dunstigen Brodem, fragte sich hindurch. Sie wanderte von Büro zu Büro. Fand nichts als Ablehnung. Man staunte nicht über ihre Zumutung. Die Stadt war überschwemmt von unglücklichen deutschen Auswanderern, denen tausend Hoffnungen verdorrt waren in der brünstigen Sonne des Äquators. In allen diesen Verstörten brannte nur der eine Gedanke: zurück in die Heimat um jeden Preis. Die Revolution trug an dieser angstvollen Flucht den geringsten Anteil. Enttäuschung peitschte sie heim, die der deutschen Not hatten entrinnen wollen. Denn nur den allerwenigsten waren die Blütenträume ihrer Erwartungen gereift.

Man wies Renate ab, wie man die tausend anderen abwies. Die Schiffe waren überfüllt von den Zahlenden. Freiplätze gab es nicht. Man deutete an, daß die Schiffahrtsgesellschaften schließlich keine Wohltätigkeitsanstalten seien. Und Stewardeß? Hm, auf Monate hinaus waren die Einstellungslisten geschlossen.

Wieder stand Renate auf der Straße. Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Diese feuchte Schwitzbad-Atmosphäre der schmalen Straßen war weit unerträglicher als der heiße Odem des Urwaldes.

Sie taumelte auf die Bank einer Anlage. Saß dort lange mit geschlossenen Augen und verschwimmenden Sinnen. – Dann raffte sie sich auf. Etwas von jener alten Kraft und Energie, die sie durch die Wildnis geführt hatte, stand in ihr auf. Sie wollte hier nicht untergehen. Nicht elend in diesen versengten Straßen verrecken. Das Schicksal, das ihrer harrte, sah sie an allen Straßenecken, auf allen Plätzen. Zerlumpte, verwahrloste, hohläugige, von Hunger und Krankheit zerfressene Bettler. Nein, nein, so wollte sie nicht enden!

Eine törichte kleine Hoffnung schwelte in ihr empor und trieb sie vorwärts. Sie schlich an den Wänden der Häuser entlang zum Hafen. Vielleicht nahm sie doch einer mit. Ein Kapitän, ein Steuermann. Wußte selbst nicht recht, was sie sich dachte. Sie stieg die breiten Stufen zum leise gurgelnden Wasser hinab. Sie brannten wie glühende Roste durch die Sohlen. Über die Laufplanken balancierte sie hinüber auf die Dampfer. Sie bat wieder um einen Freiplatz, um eine Stelle als Stewardeß. Doch auch hier war sie nicht die erste, die sich bewarb. Hunderte hatten vor ihr diesen Verzweiflungsschritt getan. Sie traf nur auf Abwehr und Kopfschütteln.

Vernichtet schlich sie mit marklosen Schritten zur Stadt zurück. Ihr kaum genesener Körper versagte. Man geht nicht ungestraft Stunde um Stunde durch die Mittagsglut von Rio de Janeiro. Sie taumelte wie im Rausche.

Da plötzlich schlugen ihr die grellen Farben eines Plakates ins Hirn. Unwillkürlich öffnete sie die halbgeschlossenen Lider. Betäubt, trunken von der Hitze und Schwüle, stand sie vor dem Plakat und starrte es an. Und begriff nichts. Und ahnte doch tief und verschwommen im Unterbewußtsein, daß dieses Plakat mit den schreienden Farben sie irgendwie berühre. Sie wußte nur nicht, weshalb, noch wie. Wieder wich ihre Fassungskraft ihr aus, wie damals im Urwald. Es war ihr unmöglich, sich zu konzentrieren.

Lange stand sie in einem seltsamen wachen Halbschlafe vor dem Plakate und schwankte leise vor Ermattung auf den Sohlen hin und her. Endlich gelang es ihr, die Betäubung abzuschütteln, ihr Denken unter ihren Willen zu zwingen. Und da erkannte sie, was sie gleich zu Anfang irgendwie instinktiv, ganz fern, durch Nebelwolken gewahrt hatte, daß sie vor der Anzeige eines Variétés stand.

Sie las mit Aufmerksamkeit. Wurde wach. Sah dicht neben sich die Tür des Variétés. Da war ja nicht nur ein Plakat. Die ganze Hausfront lohte in Farben.

Renate war wieder bei vollem Bewußtsein. Ihre Energie erstarkte. Menschen gingen durch das Tor in das Haus. Sie erkannte den unverkennbaren Typ Artisten, der gleich ist in der ganzen Welt. Sie folgte zwei Mädchen, die hinein gingen, und kam in ein kleines, dunkles Wartezimmer, dessen Luft sie beinahe niederwarf. Ab und zu öffnete sich eine Tür im Hintergrunde. Dann fiel Licht in die Finsternis, in dessen Kegel jemand aus dem Hinterzimmer kam, meist bleich und verzerrt. Ein anderer ging hinein.

Allmählich gewöhnte ihr Auge sich an das Dunkel. Da sah sie lauter Schicksalsgefährten, Menschen, die um ein Engagement gierten. Es war kurz vor dem ersten.

Endlich kam die Reihe an sie. Sie trat in den hellen Raum. Auch hier war die Luft stickig und verfault. An einem Schreibtische saß der Direktor. Ein großer, dicker Mensch, dessen schwammige Formen über den Bund der Hose herausquollen und das schmierige, verschwitzte Hemd fast sprengten. Ohne sich umzudrehen, rief er auf portugiesisch:

»Schluß! Ich habe nichts mehr! Bin voll!«

Renate verstand wohl. Doch jetzt war in ihr die Kraft der Todesangst. Sie trat an den Tisch vor.

»Ich habe eine Spezialität«, sagte sie, unbeirrt.

Der Mann sah auf. Sein Gesicht war gedunsen. Die Lappen der Backen hingen fettig herab über einen schmutzigen weichen Kragen. Ein glänzend geölter Schnurrbart schwang sich gerundet über die Lippen und stieg dann steil mit den Spitzen nach oben. Die Augen mühten sich, die Fettpolster der Lider zu durchdringen.

»He?« knurrte er und blickte zu Renate auf.

»Ich habe eine Spezialität«, wiederholte sie in ihrem gebrochenen Portugiesisch, »die in der Scala zu Berlin großen Erfolg gefunden hat.«

»Sprechen Sie Italienisch?« fragte der Direktor in dieser Sprache. Denn Signor Pascalato war Italiener und radebrechte selbst die Landessprache zum Erbarmen.

Renate schüttelte den Kopf. Mißbilligend kehrte Pascalato zum Portugiesisch zurück.

»Was ist das für eine Spezialität?« Er gähnte ungezogen.

» Der Tanz auf der Weltkugel«, gab Renate Bescheid, nach Worten suchend.

»Ah«, grunzte Pascalato gelangweilt.

»Ich tanze auf einer Weltkugel aus leichtem Holze, gerade stark genug, mich zu tragen.«

»Non capisco – verstehe ich nicht,« murrte er ärgerlich, feindlich und ablehnend.

Renate raffte alle Beharrlichkeit zusammen, deren sie fähig war. Sie mußte eine Stellung haben, Brot, ein Dach, sonst war sie verloren. Nicht nachgeben! Nicht sich verscheuchen lassen! Das bedeutete Tod und Untergang. Nicht ihrer feinfühligen Scheu weichen! Nicht sich ärgern über diesen Menschen, der ihr Leben in Händen hielt!

Mit heiserer Stimme, mühselig die Sprache meisternd, suchte sie zu erklären:

»Ich stehe auf dieser Weltkugel und tanze. Ich tanze als »Himmlische Liebe«, die über der Erde schwebt, als »Satan«, der die Erde mit Füßen tritt, als »Fröhlichkeit«, die über die Erde hintollt, als »Krieg«, der über die Erde braust ...«

Da geschah das Wunder. In die Fettmasse kam Leben. Erstaunlich behendes Leben. Der Italiener federte auf. Quoll aus dem Sessel. Stand vor Renate. Er war noch viel umfangreicher, als sie vermutet hatte.

»Senorita!« schrie er, »das ist ja eine Idee! Das ist ja eine fabelhafte Idee!« Er sprach in der Ekstase italienisch. »Das ist ja etwas Neues! Diabolo, das ist ja ein Schlager!«

Renate, die ihn verstand, nickte lebhaft zu jeder Behauptung.

Pascalato entzündete sich immer mehr an seiner Begeisterung.

»Die andern werden platzen! Die Herren großen Variétés! Aber zwei Monate müssen Sie sich verpflichten! Haben Sie die Kostüme und die Kugel?«

Renate verneinte. »Ich habe alles verloren.«

»Aha, begreife. Alles gepfändet! Immer leichtsinnig, die jungen Damen! Wenn sie zehn Milreis verdienen, geben sie zwölfe aus! Das kennen wir! Aber macht nichts, macht nichts! Ich werde alles anfertigen lassen. Und es Ihnen von der Gage abziehen. Was verlangen Sie?«

Diese einfache Frage überraschte Renate. Sie kannte nicht die Gagen in Rio und wußte vor allem nicht, was ein Variété dritten Ranges in der Hafengegend zahlte.

»Ich weiß nicht,« gestand sie verwirrt.

»Also, ich zahle – ich zahle Ihnen –«

Pascalato kniff die dickgepolsterten Augen noch mehr zusammen und musterte eine geraume Weile Renates zarte Gestalt mit Kennerblicken.

»Ich zahle Ihnen also –« schnell verminderte er die gedachte Summe um die Hälfte und nannte eine lächerliche Zahl.

»Davon kann ich nicht leben,« flüsterte Renate.

»I, das Leben in Rio ist billig. Aber die Damen müssen natürlich in ersten Hotels logieren! Mit Bad und Firlefanz! Kennen wir! Und in Seide daherrauschen. Und ich soll das alles bezahlen! Das gibt's bei mir nicht. Ich bin für Solidität.«

»Und davon wollen Sie mir auch noch die Kostüme abziehen?« unterbrach sie.

»Na, sagen wir, die Hälfte«, entschied Pascalato.


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