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XIV.

Byron saß in Annabellas Mädchenstübchen an dem weitgeöffneten Schiebefenster, durch das die kalte Luft des knisternden Februartages hereinwehte und des jungen Ehemannes Hals umspielte, der aus dem breiten weißen Umlegekragen abgehärtet herauswuchs. Er blickte hinaus mit ärgerlich umwölkter Stirn, und lauschte auf das Branden der See. Er konnte sie von seinem Fensterplatz aus nicht sehen, doch hörte er die Wogen in winterlicher Erregung dort unten gegen die hohen weißen Kreideklippen anstürmen und kostete ihren salzigen Odem auf den Lippen.

Dann riß er die Augen von der Ferne und durchlas noch einmal den Brief, den er geschrieben hatte.

»Seaham, Stockton-on-Tee, 2. Februar 1815.

Mein lieber Moore!

Am 2. Januar war meine Hochzeit. Der Pastor hat es proklamiert, und die »Morning Post« hat es annonciert unter der Überschrift »Lord Byrons Hochzeit«, wie die Reklame eines neuen Schnürleibfabrikanten.

Wir waren zuerst auf Halnaby, einem Landsitz meines Schwiegervaters, und sind jetzt hier in Seaham bei meinen Schwiegereltern zu Besuch. Der Sirupmond ist vorbei, ich wache auf – und bin verheiratet.

Meine Frau und ich vertragen uns wundervoll. Swift sagt zwar »kein Weiser hat je geheiratet«. Aber für einen Narren halte ich die Ehe noch immer für die ambrosischste aller Zukunftsmöglichkeiten. Indessen bin ich doch der Ansicht, man sollte nur auf Probe heiraten, obwohl ich sicher bin, ich würde, selbst nach 99 Jahren, noch einmal die Probe mit meiner Frau machen.

Antworte mir bald, denn hier bin ich von Gott und Welt verlassen. Wir haben an dieser langweiligen Küste nichts als Kreisversammlungen und Schiffbrüche. Und zum Lunch aß ich Fische. Diese hatten vermutlich von den Mannschaften mehrerer Kohlenschiffe gefuttert, die beim letzten Sturm untergingen. – Aber das Meer habe ich auch wieder einmal in all der Glorie seines Schaumes und seiner Brandung gesehen, fast wie die Bai von Biscaya war es und wie die weißen Windstöße und Wellen von Archipelusgus' Erinnerungen. Mein Schwiegervater, Sir Ralpho, hat unlängst bei einer Steuerversammlung eine Rede gehalten in Durham, und zwar nicht nur in Durham, sondern auch verschiedene Male hier bei Tisch, und augenblicklich hält er sie, glaube ich, sich selbst und einigen Bordeauxflaschen, die ihn weder unterbrechen noch einschlafen können, wie seine lebendigen Zuhörer es sicher täten. Immer der Deine.

Byron.

P.S. Ich muß zum Diner. Verdammtes Diner! Ich habe seit meiner Heirat viel von meiner Blässe und (horresco referens, Ich schaudere, während ich es berichte! denn ich hasse selbst mäßiges Fett) jener glücklichen Schlankheit verloren, die ich bei unserer ersten Bekanntschaft besaß.«

Hier öffnete sich die Tür und Annabella trat herein in einem zarten weißen Musselinkleide. Sie sah frischer und doch zarter aus als ehedem, und um ihre braunen Augen lächelte ein Hauch jungen verklärten Weibtums. Sie kam rasch auf Byron zu, trat hinter ihn, legte die Hände auf seine Schultern und sagte:

»Ach, du schreibst? Einen Brief?«

Und sie beugte sich an seinem Gesicht vorbei zu dem Bogen.

Hastig bedeckte er das Papier mit der Hand.

»Aber George,« lachte sie, in dem Glauben, er scherze, und versuchte, seine Hand vom Blatte zu heben. »Ich soll wohl nicht lesen, was du deinen Freunden von unserem Honigmond vorschwärmst?«

Da sagte er: »Nicht, Annabella, du sollst nicht lesen.«

An dem schroffen Klang seiner Stimme erkannte sie den Ernst.

Zögernd zog sie die Hand zurück.

»Wie? Ich soll den Brief nicht lesen?«

»Nein,« beharrte er und wandte das Blatt um.

Da sprangen ihr Tränen in die Augen. Doch sie beherrschte sich mit ihrer starken Willenskraft und preßte hervor: »Ich habe dich in dem Glauben geheiratet, daß wir alles miteinander teilen wollen.«

Er zwang die Lippen zusammen und schwieg.

»Bedenke,« sprach sie, »schon in der Heiligen Schrift steht geschrieben –«

Er schnellte empor.

»Um alles in der Welt laß die Heilige Schrift! Hast du denn immer noch nicht begriffen, daß du mich krank machst mit deiner stetsbereiten Heiligen Schrift!«

Da ließ sie die Hände schlaff an den Schenkeln herabfallen.

»Ich glaube, George, du würdest ein glücklicherer Mensch sein, wenn du mehr Religion hättest.«

Er lachte zynisch auf.

»Das sagst du, – du, die mit mir alles teilen will! So geringe Ahnung hast du von meinem innersten Wesen, daß du glaubst, eure Religion könnte mir irgend etwas sein?«

Sie empfand jedes Wort seines Hohnes wie Schläge. Und da verlor sie die Herrschaft über sich und weinte, weinte, ohne das Gesicht in den Händen zu bergen, daß die Tränen in Bächen über ihre Wangen stürzten. So stand sie vor ihm wie ein erschütterndes Standbild des Schmerzes.

Ihre rührende Klage sänftigte seinen Groll. Er umfaßte sie mit beiden Armen, und plötzlich lag sie auf seinen Knieen und preßte das feuchte Gesicht an seine Brust. Er sprach auf sie ein: »Aber lieber dummer Pipin, Byron nannte Annabella stets »Pipin«. nimm es dir doch nicht so zu Herzen. Du weißt, daß ich im Grunde ein ganz verträglicher Bursche bin. Weißt du das?«

»Ja,« schluchzte sie kindlich durch die rinnenden Tränen hindurch.

»Es wird sich alles einrenken,« tröstete er. »Du sollst einmal sehen. Ich hab' dich doch lieb. Weißt du das nicht?«

»Ja,« sagte sie wieder und suchte ihr Tuch, die Tränen zu trocknen.

Da lächelte er scherzend.

»Ja, weißt du das so genau?«

Sie richtete sich auf und sagte mit nassen strahlenden Augen:

»Ja, das weiß ich.«

»Woher weißt du das so genau?« fragte er mit etwas mehr Ernst.

Da wurde ihr Gesicht hell.

»Ich habe doch deinen »Gjaur« gelesen und die »Braut von Abydos« und den »Korsaren«.

»Und daher weißt du es?«

»Ja,« lächelte sie und strich das braune Haar an den Schläfen zurück, »ja, daher.« Und mit warmer Innigkeit fügte sie hinzu: »Ich weiß, wem all die Liebe darin gilt und all der Schmerz und all die Verzweiflung.«

Byron fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gehirn wich.

»Das weißt du?«

»Ja,« sagte sie, und der Adel ihrer Stirn leuchtete in Glück.

»Ich weiß, daß all die Liebe in jenen Versen mir gilt, und all der Schmerz und die Verzweiflung zu mir heraufschreit.«

Er lehnte sich fest gegen die Lehne des Stuhles.

»Als ich diese Dichtungen las, hat mir der Schmerz das Herz zusammengedrückt, daß ich dich durch meine Abweisung habe so leiden lassen. Doch ich habe gewußt, daß es zu deinem Segen war. Der Schmerz hat dich geläutert, du bist ein anderer geworden seit damals, da ich dich in London kennen lernte.«

Er schwieg noch immer.

Sie preßte sich an ihn, hingebend und verlangend.

Um etwas zu entgegnen, sagte er:

»Auch du bist anders geworden. Damals, weißt du noch, als wir nach Bath fuhren, Herschels neues Teleskop zu betrachten?«

»Ich weiß, ich weiß,« flüsterte sie mit rauschgeschlossenen Lidern.

»Damals schienst du mir so herb und unnahbar.«

»So bin ich auch im Grunde,« sprach sie mit leise singender Stimme, »nur jetzt –, ich bin doch ein junges Weib.« Das sprach sie so kindlich und hold, daß die Rührung seinen Mund zu ihr niederzwang.

Sie umschlang seinen Nacken und lag an seiner Brust wie ein Teil von ihm. Er liebkoste ihre Glieder und blickte an ihr vorbei und hatte das Empfinden häßlichsten Verrates. Gewiß, er hatte sie lieb, lieb, wie er hundert Frauen lieb gehabt hatte. Nein, inniger wohl und vertrauter, selbstloser vielleicht, aber es war keine Auflösung in ihr Leben hinein, kein Sichhingeben mit jedem Gedanken, mit jedem Gefühl, mit jeder Ahnung, jedem Bewußtsein. Es war nicht die Liebe, die er einmal in beiden Händen Mary Chaworth entgegengetragen hatte, die er noch heute –. Er blickte zu ihr nieder. Sie hatte sich ganz klein zusammengezogen auf seinen Knieen. Er fühlte ihr Leben warm durch ihre Gewänder. Da plötzlich zwang irgend etwas Satanisches in ihm die Worte aus ihm heraus:

»Also, weil du in meinen Dichtungen meine Liebe zu dir pulsen fühltest, hast du mich geheiratet?«

Sie richtete sich auf, daß ihre Augen den seinen gerade gegenüberstanden und sagte von Ehrlichkeit und Hingebung bebend: »Nein, deswegen habe ich dich nicht geheiratet. Ich habe dich geheiratet, weil ich dich liebe. Und jetzt will ich es dir sagen: Schon damals, in dem Wagen der Lady Melbourne, hatte ich dich sehr gern. Aber ich habe deinen Antrag abgelehnt, weil ich nicht wußte, ob du mich liebst, und weil ich nicht das Vertrauen zu dir hatte, auf dem ich eine Ehe aufbauen konnte.«

»Hm,« machte er.

Erregt fuhr sie fort: »Doch immer habe ich an dich gedacht. Hier in diesem Zimmer habe ich die langen Stunden gesessen und an dich und deine Not gedacht. Dann habe ich dir geschrieben und habe dich in deinen Briefen erst kennen gelernt. Ich habe umhergehorcht, wenn von dir die Rede war, und habe gehört von deinen Wohltaten an jedem Armen und Bedrückten. Ich weiß, daß du deinem Freund Hodgson mit einer größeren Geldsumme geholfen hast, ich weiß, daß du Sheridan unterstütztest, obwohl,« sie lächelte, »du doch selbst nicht so viel hast. Ich habe gehört, wie du jungen Schriftstellern, die sich an dich wandten, beigesprungen bist, und da, George, ist der Mut über mich gekommen, es zu versuchen. Ich habe immer gewußt, daß du im Grunde ein edler Mensch bist und daß alles dieses andere – vergiß nicht, ich habe dich mitten in dieser Affäre« – sie zögerte und sprach dann mutig weiter – »mit Lady Caroline kennen gelernt, daß all dieses nur etwas Äußeres, nicht zu dir Gehörendes war. Und da habe ich geglaubt, wenn ein innerlich fester Mensch, und das bin ich doch, an deiner Seite stünde, als eine Art Wehr gegen alles dies, das sich an dich drängt und die bösen Instinkte in dir lockt, daß das ein Segen für dich sein könnte. Ich habe darin eine beglückende Lebensaufgabe gesehen.« Da fühlte sie, wie sein Körper unter ihr starr und abweisend wurde. Er machte eine Bewegung, daß sie auf die Füße kam.

Dann stand er auf und stellte sich vor sie hin.

»So,« knurrte er, »also deine Ehe mit mir hast du als eine Art Samariterwerk angesehen!«

»Aber George,« flehte sie, »hast du gar nicht verstanden, wie ich es meine?!«

»Doch doch,« höhnte er, »ich habe es verstanden. Aber ich habe immer eine Abscheu gegen Ärzte gehabt. Die stammt noch aus meiner Kinderzeit, als meine wackere Mutter meinen kranken Fuß von hundert Kurpfuschern zerquälen ließ.«

Wieder stiegen ihr die Tränen erstickend in die Kehle. »George,« schluchzte sie, »wie sprichst du heute mit mir?

»Gott,« sagte er hart, »wir müssen doch auch einmal über andere Dinge sprechen. Man kann nicht immer nur tändeln.«

»George,« sie suchte sein Begreifen zu erzwingen, »das darf nicht so zwischen uns stehen bleiben. Du mußt mich verstehen. Ich habe nie etwas Edleres in meinem Leben getan als in dem Augenblick, da ich mich entschloß, dein Weib zu werden.«

»Ich verlange keine Wohltaten,« wies er schroff zurück.

»Das sind doch keine Wohltaten.«

»Wir wollen das Thema abbrechen,« wehrte er nervös. »Und um auf diesen Brief zurückzukommen,« er hob das Blatt.

»Ich will ihn nicht mehr lesen.« Sie zog sich stolz in sich zurück.

»Desto besser,« sagte er obenhin. Doch als er ihr bleiches entseeltes Gesicht sah, packte ihn wieder das Mitleid. Er nahm ihre Hand und sprach beherrscht:

»Pipin, begreife doch. Solche Briefe schreibt man an ganz bestimmte Personen, auf die die ganze Äußerung eingestellt ist. Nun spricht man doch zu jedem Menschen anders.«

»Anders?« fragte sie erstaunt.

»Ja anders,« nickte er eifrig. »Zumal ein Dichter, der so wandelbar ist, der daran gewöhnt ist, beim Schreiben fortwährend in eine andere Hülle zu schlüpfen. Bald muß er fühlen wie der Held seiner Dichtung, der ein König, bald wie eine Nebenperson, die der Hofnarr, bald wie ein Weib, das die Geliebte des Königs ist. Kurzum, seine Seele muß eine Beweglichkeit ohne gleichen besitzen. So ist es auch beim Briefschreiben. Man wird sofort der passende Gegenpol des Empfängers, und deshalb ist es so peinlich, wenn andere als der Empfänger solche Briefe lesen. Verstehst du das?«

Da sprach sie ernst: »Ich verstehe sehr wohl, was du sagst. Aber ich finde, das ist entsetzlich. Bei der Arbeit des Dichtens mag es anders sein. Aber im Leben, wenn man an einen Freund schreibt, sollte auch ein Mensch wie du ein scharf umrissener Charakter sein, unwandelbar, ohne Maske, gerade und fest. So sollte ein Mann sein.«

Er lachte höhnisch auf. »Was du da redest, meine Liebe, ist Mathematik. Mit der bleibe mir vom Leibe. Ich bin keine mathematische Formel. Ich bin eine irrationale Größe.« Sie wollte etwas erwidern, doch da hallte der Gong durch das Haus und rief zum Diner.

Annabella trat zum Spiegel und ordnete mit ruhigen Griffen ihr gelöstes Haar.

Byron ging auf und nieder. Ohne sie anzublicken, sagte er: »Ich habe noch etwas auf dem Herzen, Pipin. Es tut mir leid, daß alles gerade heute zusammenkommt, als begänne heute, da auf den Tag der Honigmonat abgelaufen ist, die Bitterkeit des Ehelebens. Es ist aber wirklich nur ein Zufall.«

Sie blickte ihn in dem Spiegel an und fragte gelassen: »Was hast du noch?«

»Wir wollen abreisen!« stieß er hervor.

Sie wandte sich um, daß die Röcke flogen. »Abreisen? George? Wir sind doch erst drei Tage hier!«

»Ich halte es nicht mehr aus!« rief er. »Ich halte es in diesem Hause nicht mehr aus!«

»Im Hause meiner Eltern?«

»Ja, im Hause deiner Eltern. Ich werde krank. Ich fühle, wie ich schlecht zu dir werde, wenn wir länger hier bleiben.«

»Aber George, meine Eltern sind doch so gut.

Er schwieg grimmig.

Sie starrte ihn an. »Hast du etwas gegen sie?«

»Hm, die Art, wie deine Mutter einem mit der liebenswürdigsten Miene die saftigsten Grobheiten ins Gesicht wirft. Hörst du das denn nicht?«

»Nein,« staunte sie, »das redest du dir sicher nur ein.«

»Vielleicht,« höhnte er, »und dein Vater –«

»Gegen Vater hast du auch etwas? Er ist doch die Güte selbst.«

»Ja, aber ich fürchte, ich entschlafe für Zeit und Ewigkeit, wenn er mir zum 2000. Male die Rede hält, die er neulich in Durham vom Stapel gelassen hat.«

Sie stand ganz hilflos an ihrem Toilettentisch. »Das ist – das ist doch furchtbar,« lallte sie verzweifelt.

Da zog er sie an sich.

»Aber Pipin, was ist daran furchtbar? Ich habe doch dich geheiratet, nicht deine Eltern. Es war überhaupt eine ganz törichte Idee, hierher zurückzukehren.«

»Wohin sollen wir denn?« fragte sie hoffnungslos, »unser Haus in London ist noch nicht eingerichtet.«

»Wir reisen zu meiner Schwester,« entschied er bündig. »Sie hat ein Anrecht darauf, dich endlich kennen zu lernen, da ich doch keine große Hochzeit wollte, zu der wir sie hätten einladen können.«

»Meine Eltern werden außer sich sein,« grübelte sie schmerzlich vor sich hin. – Es klopfte.

Das Mädchen meldete: Lady Milbanke ließe Lord und Lady Byron bitten, endlich bei Tisch zu erscheinen.

Mit bösem Auflachen folgte Byron der Mahnung. Er hörte ordentlich den pikierten Ton der lieben Schwiegermutter.

Als das junge Paar in das Eßzimmer trat, war das Milbankesche Ehepaar bereits zu Tisch gegangen. Sir Ralph saß am oberen Ende der Tafel, die Serviette um den kurzen Hals geknotet, daß sich sein rotes angeschwemmtes Gesicht von ihrer Weiße abhob, wie eine Hummer von der Porzellanschüssel. Lady Milbanke thronte am anderen Ende in steifer beleidigter Würde. Sie war eine stattliche Dame, die selbstbewußt die Spuren einstiger Schönheit zur Schau trägt. Ihre falschen blauen Augen, die lichtgrün schillerten, wenn sie mit freundlichem Munde ihre Bosheit verspritzte, gaben dem Gesicht etwas unangenehm Hinterhältiges.

»Ihr laßt uns ja recht lange warten,« zürnte sie mit süßem Lächeln, als die jungen Eheleute hereintraten und schoß einen giftigen Blitz auf Byron ab.

»Nun, nun,« dröhnte Sir Ralphs trunkfeuchter Baß, »solche jungen Eheleute haben sich allerhand zu sagen, das dauert 'ne Weile.« Er lachte breiig. »Als wir jung waren, meine Liebe, da hatten wir uns auch noch allerhand zu sagen, wie?« Ein vernichtender Blick traf Herrn Ralph vom anderen Ende des Tisches.

»Nun, nun,« hauchte er vor sich hin und verkroch sich ängstlich hinein in die Falten seiner Serviette. Er kannte diese unheildrohenden Blicke zu genau.

Unterdessen hatte sich das junge Paar an der einen Breitseite des Tisches niedergelassen. Unter unheilgeladenem Schweinen servierte das Mädchen das Roastbeef. Als sie das Zimmer verlassen hatte, sagte Byron:

»Ich danke sehr, ich werde nicht essen.«

»Aber George,« die junge Frau wandte sich besorgt ihm zu.

»Sie wollen nicht essen?« fragte Lady Milbanke und öffnete weit ihre blauen Lichter.

»Aber!« staunte Sir Ralph.

»Nein,« erwiderte Byron, »ich werde zu fett. Ich will wieder zu meiner Junggesellendiät von Biskuit und Sodawasser zurückkehren.«

Lady Milbanke lächelte holdselig und ihre Augen glänzten wie die Schneiden alter Dolche, auf deren grünem Stahl die Sonne spielt. »Aber lieber Byron, wir sind doch hier unter uns, da brauchen Sie doch so etwas nicht zu tun,« ermunterte sie.

»Wie meinen Sie das?« fragte Byron und überbot ihre Liebenswürdigkeit.

Das Gesicht der Dame wurde immer holder.

»Wir wissen doch, daß Sie ihre seltsame Diät und Ihre anderen hübschen Exzentrizitäten nur des Publikums wegen üben. Sie haben ganz recht, daß Sie das tun, wenn es für Ihr Geschäft vorteilhaft ist.«

»Mama!« entsetzte sich Annabella.

»Laß deine Mama nur ruhig ihre freundlichen Ansichten äußern,« bat Byron in höhnischer Höflichkeit, und sich zu Lady Milbanke wendend, forderte er sie heraus: »Bitte, wollen Sie sich etwas deutlicher erklären, Lady Milbanke. Ich habe noch nicht ganz verstanden.«

Annabella gab der Mutter mit den Augen Zeichen, doch sie sprach mit lächelnder Zuvorkommenheit weiter:

»Lord Byron braucht sich keinen Zwang aufzuerlegen, wir kaufen seine Bücher ja doch nicht, da wir gewiß den Vorzug haben werden, sie von ihm zum Geschenk Zu erhalten. Neulich, Ihr wart schon in Halnaby, besuchte uns der Herausgeber der Bezirkszeitung. Weißt du, Annabella, der, der dir vorigen Winter so stark den Hof gemacht hat. Das Gespräch kam natürlich auf dich und Lord Byron. Da sagte der Verleger, diese Seltsamkeiten deines Mannes, die mir solche Sorge machten, seinen im Grunde sehr harmlos. Sie wären nur Pose, durch die Lord Byron sich seinen Lesern interessant machen wolle. Das hat er gesagt, lieber Byron, und dann sagte er noch –« hier flitzte ein prächtiger giftgrüner Blick hinüber – »denn Ihr Herr Schwiegersohn weint für die Presse und wischt sich seine Tränen am Publikum ab.«

Byron lächelte herzerquickend.

»Welch ein charmanter Causeur muß dieser Bezirkszeitungsmann sein. Schade, daß ich auf das Vergnügen seiner persönlichen Bekanntschaft verzichten muß!« Doch Annabella rief: »Mama, wie kannst du solches Geklatsch weiter erzählen!«

Da sprach Lady Milbanke voll Hoheit und Strenge: »Seit wann, liebes Kind, sprichst du so zu deiner Mutter. Ich möchte dich doch bitten, den Ton deinen Eltern gegenüber beizubehalten, den du bei uns« – sie legte auf das Wort »uns« Zentnergewichte – »gewöhnt gewesen bist.«

Sir Ralph mochte dunkel empfinden, daß das Gespräch irgendwie heikel geworden war. Es lag in seiner behaglichen Natur, Konflikten die Spitze abzubrechen. So ermutigte er: »Essen Sie nur, essen Sie nur, lieber Byron. Ein Mann muß tüchtig essen. Zumal, wenn er eine junge Frau hat.«

Er lachte tief in der Kehle, zuckte aber angstvoll zusammen unter dem zermalmenden Blick, der vom anderen Ende des Tisches herüberdrohte. Und um die Lage zu retten, fügte er hinzu: »Wenn Sie richtig arbeiten würden, lieber Byron, würden Sie schon mehr essen. Aber Dichten, was ist denn das? Ist das überhaupt eine Beschäftigung für einen ausgewachsenen Mann? Sehen Sie mal, lieber Schwiegersohn, wenn Annabella ihre Gedichte macht, na ja, oder irgendein armer Schlucker. Aber ein Lord wie Sie! Sie sollten wieder in die Politik hinein. Haben doch so schöne Reden im Oberhause gehalten. Das ist 'ne Tätigkeit für einen vornehmen Mann. Sehen Sie z. B. mich an. Ich bin immer, wenn man so sagen darf, eine Löwe in der Politik gewesen. Und erst vorige Woche, da habe ich eine Rede gehalten bei einer Steuerversammlung in Durham. Ich sage Ihnen. Ein Erfolg! Wie ich da loslegte: »Meine Herren! Ich sage Ihnen, was die Steuer auf mobiles Kapital anbelangt – –«

Byron begleitete jedes Wort mit interessiert zustimmendem Kopfnicken.

Doch schnell sprang Annabella ein: »Aber Papa, die Rede hast du doch Byron nun schon zehnmal gehalten!«

Herrn Ralphs feiste Lippen schlossen sich mit hörbarem Knall, so baff war er. Lady Milbanke aber sprach mit ernster Verweisung: »Welch ein Ton ist das, Annabella?! Bisher war es in diesem Hause nicht Sitte, daß die Tochter dem Vater Vorschriften darüber machte, was er zu reden habe.«

Als Sir Ralph die wackeren Sekundantendienste seiner Frau erhorchte, wuchs ihm gewaltig der Mut, und er ließ sich mit gekränkter Würde dahin vernehmen: »Ich kann ja die nächsten Wochen, die Ihr noch hier seid, schweigen.«

»Das ist durchaus nicht nötig,« erklärte Byron zuvorkommend, »denn wir werden morgen abreisen.«

Jetzt legte Herr Ralph endgültig Messer und Gabel nieder.

Lady Milbanke aber fragte mit süßer Miene: »Behagt es Ihnen nicht bei uns, Mylord?«

Ihre Augen funkelten wie Türkisen.

»O«,« Byron stellte ihre Liebenswürdigkeit weit in den Schatten, »es gefällt mir ganz ausgezeichnet. Sir Ralph ist einer der interessantesten Gesellschafter, die mir begegnet sind –«

»Na ja,« brummte Sir Ralph geschmeichelt, »zu etwas muß der Mensch doch gut sein.«

»Und Sie,« fuhr Byron fort mit einer chevaleresken Verbeugung gegen die Dame des Hauses, »Sie haben eine so liebenswürdige Art, einen über die Vorzüge seines Charakters aufzuklären.«

Lady Milbanke war so verdutzt, daß sie im Augenblick keine Worte fand, nur ein herrliches bengalisches Feuerwerk in Grün leuchtete über den Tisch. Annabella aber stieß den Spötter verzweifelt unter dem Tische an und unterstützte dies unterirdische Gebaren mit flehenden Blicken. Doch schon hatte Lady Milbanke sich und ihre lächelnde Giftmischerei wieder in der Gewalt.

»Es erscheint mir doch sehr fraglich, ob Annabella sich schon von uns trennen wird.«

Da rückte Byron seinen Stuhl mit hartem Geknarr zurück, stand auf und sagte: »Annabella wird tun, was ihr als ihre Pflicht erscheint.«

Dann ging er hinaus und knallte die Tür ins Schloß.

Nein, so etwas hatte das ehrbare Eßzimmer von Seaham allerdings noch nicht erlebt. Annabella war aufgesprungen, Byron zu folgen, zu begütigen, zurückzuführen. Doch an der Tür bannte sie das strenge Wort der Mutter.

»Annabella!« rief die Dame in höchster Entrüstung, denn jetzt brauchte sie nicht mehr Liebenswürdigkeit zu heucheln. »Setz' dich sofort auf deinen Platz!«

Und als die junge Frau bleich und zögernd gewohnheitsmäßig gehorchte und wieder vor ihrem Teller saß, brach die gerechte Empörung der Dame los.

»So was ist mir denn doch noch nicht vorgekommen!«

Sir Ralph nickte heldenmäßig zum Zeichen seiner innersten Zustimmung.

»Was habe ich damals gesagt? Dein Vater und ich, wir haben uns nicht umsonst gegen diese Heirat gestemmt. Wir haben gewußt, was über den Mann gesprochen wird. Aber du hast es ja gewollt. Du hast nicht geruht, bis wir unsere Einwilligung gegeben haben. Da siehst du es nun!«

»Er ist doch ein Künstler,« entschuldigte Annabella matt, »und Künstler sind solch reizbare Naturen.«

»Komm mir nicht damit.« Die Mutter stellte beide Hände wie eine Wehr gegen diese Entlastung. »Larifari! Und das rate ich dir, laß das nicht als Entschuldigung gelten für alle seine Ungehörigkeiten, sonst wirst du sehr traurige Erfahrungen in deiner Ehe machen. Sehr traurige. Der Mann hat sich wie ein Gentleman zu benehmen und damit basta. Ob er nun Künstler ist oder nicht. Auch Künstler können Gentlemen sein.«

»Ja, ja,« brummte Sir Ralph, »das war eben nicht gehandelt wie ein Gentleman.«

Und Lady Milbanke schlug die Augen groß zur Decke auf und sagte mit inbrünstigem Tone:

»Möge Gott geben, daß du nicht zu viel Schmerzliches in dieser Ehe erlebst.«

Dann griff sie zur der silbernen Klingel, schellte und befahl dem eintretenden Mädchen:

»Bringen Sie den Pudding!« – – –

Am nächsten Morgen reiste das junge Paar nach Six Mile Bottom. Der Abschied in Seaham war äußerlich freundlich, in den Tiefen voll Haß und Bitterkeit.

Die Februartage im Hause des Oberst Leigh verrannen lind und freundlich. Die beiden Frauen wurden gute Freunde. Ihre Charaktere waren verwandt in ihrer Geradheit und schlichten Erfüllung der Pflichten ihres Lebens. Und die Abenteuerlust, die Augusta von ihrer korrekten Schwägerin schied, lag tief im Grunde ihres Gemüts verscharrt, funkelte nur in erregten Momenten aus ihren braunen Augen und brach nur zum Leben hervor in seltenen Augenblicken der Leidenschaft.

Lind und freundlich verrannen die Februartage im Hause des Oberst Leigh, dessen biedere Mannesart das trauliche Zusammensein würzte. Augusta wurde nicht müde, der jungen Schwägerin immer wieder zu beteuern, welch Adel der Gesinnung und welche Güte in dem Bruder webe, daß nur die unsinnige Erziehung der Mutter und die Anlagen, die er vom Vater ererbt, seinem Wesen dieses unsichere Schillern verliehen.

»Aber,« versicherte Augusta immer wieder, »dessen bin ich gewiß, daß eine Frau, die so fest in sich gefügt und von so starker Vornehmheit ist wie du, ihn zu dem machen wird, was England von ihm erhofft.«

Dann nickte Annabella so eifrig, daß sie blinkende Tränen aus den Augen schüttelte.

»Gerade deshalb bin ich sein Weib geworden,« bekannte sie und errötete unter der Wucht ihres Willens zum Guten. Und eines Tages, als der Frühling über die kleine Stadt hintobte, wurde es auch in der Seele der jungen Frau heller keimender Lenz.

Ganz leise war sie über den Korridor geschlichen, die kleine Medora in ihrem Kinderschlafe nicht zu stören. Die Tür zu dem Zimmer, in dem sie lag, war halb geöffnet. Als sie vorüberhuschte, gewahrte sie einen Schatten an der Wiege des Kindes. In jungmütterlicher Besorgnis schaute sie hinein. Da erblickte sie Byron über die Wiege des schlafenden Kindes gebeugt; sein Gesicht war verklärt von Innigkeit, Zartheit und behütender Güte. Leise, leise schlüpfte die junge Frau in das Gastzimmer, riß das Fenster auf und sang mit heller Stimme hinaus in das Stürmen des Frühlings. Und nun wollte sie auch den Brief der Mutter beantworten, der heute früh gekommen war. Diesen Brief, in dem die Mutter ihr wieder und immer wieder einschärfte, keine Laune und keine Seltsamkeit ihres Mannes zu dulden und seine Ungehörigkeiten mit aller Strenge im Keim zu ersticken. Denn ihre Pflicht sei es, ihn zu einem ordentlichen Menschen und Gentleman zu erziehen, denn bisher habe er doch leider keine Erziehung genossen. Ja, jetzt wollte sie den Brief der Mutter beantworten. Und mit tanzendem Gänsekiel warf sie ihre beglückende Kunde hin, daß sie den besten, edelsten und gütigsten Menschen zum Manne erkoren habe. Denn soeben habe sie ihn beobachtet, wie er sich über die Wiege des jüngsten Kindes ihrer Schwägerin beugte, und sein Gesicht habe geleuchtet von Liebe und Zärtlichkeit. Ein Mann, der ein fremdes Kind so bewegt anschaue, sei im Kern ein guter Mensch. Denn die Mutter wisse doch selbst am besten, daß die meisten jungen Männer solch kleinen Kindern Abscheu, oder im besten Falle lieblose Gleichgültigkeit entgegenbrächten. Und als ganz zarter Unterton klang in ihren Zeilen eine leise Melodie von dem Glück, das kommen würde, wenn er sich erst über eine Wiege beugen würde, in der ein Unterpfand ihrer Liebe treu behütet schlummerte.

Mit den ersten schüchternen Knospen zogen sie in ihr Heim in London ein. – –

An einem schimmernden Märzmorgen schritt die junge Frau durch die prunkenden Gemächer des Palais der Herzogin von Devonshire, das Byron gemietet hatte.

Annabella trat an eines der hochbogigen Fenster und blickte hinaus auf das junge Keimen der Sträucher in Piccadilly Terrace. Dann löste sie sich langsam von der Frühlingsherrlichkeit und ging mit leisen Schritten von einem Raum in den anderen. Sie fühlte sich noch nicht recht heimisch in diesen Sälen, die Byron unter dem Beistände seines Freundes Rogers mit verschwenderischer Pracht und künstlerischer Wahl ausgestattet hatte. Noch waren ihr all diese Gemälde und Stiche, die persischen Teppiche und indischen Seidenschals und alle diese französischen und östlichen Bizarrheiten fremd. Aber da war doch schon manches, mit dem sie auf trautem Fuße stand. Hier, dieser Gainsborough war ihr schon gut Freund, und über das seidige Glänzen dieses uralten Gebetteppichs hatte sie schon in zärtlicher Zugehörigkeit gestreichelt. Und dieser wundervolle indische Kasten mit seinen heiligen Schnitzereien, der gehörte auch schon ein wenig zu ihrem Leben. Sie kam in das Arbeitszimmer. Das war ihr Lieblingsraum, und hier war sie schon ganz zu Hause. Es war doch sein Arbeitszimmer, und auch ein wenig das ihre. Der große Schreibtisch in der Mitte des Gemaches lud auf beiden Längsseiten zur Arbeit. An der einen Buchtung schuf er seine »Hebräischen Melodien«, und an der anderen, da versenkte sie sich in ihr astronomisches und mathematisches Grübeln. Es war so traut all diese Abende gewesen, wenn sie sich hier gegenüber saßen, jeder in sein Wirken vertieft, jeder in Welten, die fern von denen des anderen dämmerten, und jeder doch nur den Kopf zu heben brauchte, um eine Brücke hinüberzuschlagen zu dem anderen, auf der alles Gute und Liebe, das jeder zu geben hatte, den Weg zu dem anderen hinüberfand.

Und dort an den Wänden stand in dunklen Mahagonischränken die Bibliothek, seine, und doch auch die ihre. Sie ging zu den Schränken hinüber und liebkoste mit zärtlichen Fingern seine Bücher. Und plötzlich, ganz plötzlich kam ihr der Gedanke, wie anders sie geworden, seitdem sie sein Weib war. Sie empfand plötzlich, wie weich und frauenhaft zart sie fühlte, wie all das Herbe, Zurückgezogene, Scheue ihres Mädchentums in eine weiche Kindheit versunken war. Und sie empfand, daß es gut so war, so sehr gut.

Sie trat an den Schreibtisch und stöberte unter der eingegangenen Post. Da fand sie eine Broschüre, die ihr der Buchhändler unter anderen Neuigkeiten zugesandt hatte. Der Titel lockte ihren wissenschaftlichen Eifer. Es war die kleine Schrift eines Gelehrten in Bologna und lautete: »Der lenkbare Luftballon.« Sie setzte sich in ihren Sessel und begann zu lesen, und ihre Züge hatten sich verändert. Die Mildheit war gewichen, die Backenknochen und das Kinn traten scharf hervor. Plötzlich war sie wieder der ernste wissenschaftliche Mensch geworden, der einst in dem Blockhaus Sir Herschels über die Erfindung des Teleskops wissensglühend doziert hatte. Sie las und las. Und das Forscherglück zündete rothelle Lichter auf ihren Wangen. Der Bologneser Gelehrte – sie las fließend italienisch – gab hier seine Erfindung den Mathematikern der Welt zur Nachprüfung hin.

Er führte aus, daß er einen Luftballon erfunden habe, der mittels eines Ruders gelenkt werden könne. Da waren Zeichnungen, statistische Berechnungen und tiefgründige Betrachtungen über Windrichtungen und Luftmessungen und Abhandlungen über die Dampfmaschine, mit der der Gelehrte seinen Ballon fortbewegen wollte. Aber leider, führte er aus, trotzdem alle Berechnungen bis auf den letzten Punkt stimmten, wären seine praktischen Versuche bisher mißlungen. Er wende sich daher an die Gelehrten aller Länder mit der Bitte, den Fehler zu entdecken.

Und Annabella prüfte und las und griff mit zitternden Fingern nach einem Bogen Papier und rechnete, und ein hitziges Verlangen packte sie, den Fehler zu finden. Und eine Sekunde lang dachte sie daran, was wohl Byron sagen würde, wenn sie den Fehler fände, wenn sie den Weg zeigte, der den Menschen von der Erde löste und ihm die Macht gab, dem Vogel gleich durch die Lüfte zu gleiten. Sie rechnete und prüfte und sann und suchte, und ihr Gesicht wurde immer herber und verschlossener und die Stunden rannen. Sie hatte jedes Bewußtsein der Zeit verloren.

Erst als der sonore Klang der Standuhr aus dem Nebenzimmer die zwölfte Stunde herüberläutete, horchte sie jählings auf. Sie blickte empor und mußte sich erst besinnen, wo sie war, und sich erst zurückfinden aus den Reichen des abstrakten Denkens in ihre Wirklichkeitswelt.

Hastig warf sie den Stift auf den Tisch und eilte ins Nebenzimmer. Ja, wirklich, es war schon 12 Uhr. Gleich war es Zeit zum Lunch und Byron – schlief er wirklich noch? Leise huschte sie zum Schlafzimmer hinüber, öffnete geräuschlos die Tür. Ja, er schlief. Instinktiv schloß sie wieder die Tür. Dann ging sie mit gebeugtem Haupt zurück in das Bibliothekszimmer. Unter dem Lüster mit seinen hundert leblosen steifen Kerzen blieb sie sinnend stehen. Nein, sie durfte das nicht gestatten, sie durfte es nicht hingehen lassen, daß er, wie in seiner Junggesellenzeit, den Tag verschlief. Dann konnte er abends nicht zur Ruhe finden und wanderte die Nächte hindurch in den Zimmern umher. Und immer wieder packte ihn dann dieser vage, wesenlose Weltschmerz. Kam sie, die auch keinen Schlaf finden konnte, zu ihm hinüber, so wurde er grausam und bitter zynisch. Nein, nein, sie durfte ihn nicht gewähren lassen, sie hatte darauf zu halten, daß er das Leben eines ordentlichen Menschen führte, daß er der Nacht ihr Recht und dem Tag seine Pflicht gab. Gewiß, gewiß, das waren nur Äußerlichkeiten, doch an solchen Äußerlichkeiten hing ja so viel von dem anderen, von all diesem Ausschweifenden und Sinnlosen, das in ihm tobte. Nein, sie durfte es nicht hingehen lassen. Die Mutter hatte ganz recht, sie mußte ihn erziehen, in diesen Dingen, wie in den anderen.

Leisen Schrittes schlüpfte sie wieder hinüber zum Schlafzimmer. Er lag auf dem Rücken, die Arme auf das Kopfkissen zurückgeworfen, und atmete unruhig und kurz. Sie blieb am Bette stehen, hingerissen von der Schönheit seines schlafgeröteten Antlitzes. Und dann beugte sie sich zart zu ihm nieder und küßte ihn auf den Mund. Er bewegte sich und flüsterte: »Mary.« Da wurde die Frau fahl wie das Leinen des Bettes. Ihre Finger krallten sich um seinen nackten Arm und zerrten und zerrten. Er taumelte auf, öffnete die Augen und blickte schlafumfangen umher.

»Steh' auf!« befahl sie rauh, daß sie ihre Stimme selbst nicht erkannte. »Wie?« fragte er traumwirr.

»Steh' auf!« wiederholte sie. Klirrend, wie ein fallender Dolch auf Granit, hallten ihre Worte durch das Gemach. Ihre Finger umkrallten noch immer seinen Arm, daß es ihn schmerzte.

»Bist du toll geworden?« Er fuhr verblüfft empor.

»Nein,« stieß sie hervor, »ich dulde es nicht, daß du den Tag verschläfst, ich wünsche nicht, jede Nacht von dir gestört zu werden.«

Er blickte sie mit verständnislosem langen Blick an. Und da plötzlich schien es ihm, als gleiche sie irgendwie ihrer Mutter, dieser Frau, die er haßte mit dem Haß, der so leicht, gerecht oder ungerecht, in ihm aufschoß.

»Geh'!« sagte er, und seine Augen sahen sie eisig an.

»Geh' hinaus!«

»Steh' auf!« wiederholte sie.

»Geh' hinaus!« Er wies mit dem Finger zur Tür.

»Ich stehe auf, wenn es mir paßt.«

Da wandte er sich zur Seite und schloß die Augen.

Sie stand unschlüssig am Bette. Da zog er die Decke um die Schultern, als wäre sie nicht mehr anwesend. Einige Augenblicke zögerte sie noch, dann ging sie hinaus.

Die Glieder saßen wie eingerostet in den Gelenken. Sie setzte sich in ihren Sessel an den Schreibtisch. Sie weinte nicht. Ihr Leid war zu tief für Tränen.

Da klopfte es. William Fletcher, der Diener, meldete, eine Dame wünsche Lady Byron zu sprechen.

»Eine Dame?« fragte sie, aus ihrem Kummer aufgescheucht. Doch da stand die Dame auch schon in der Tür.

»Charlemont, du!« schrie Annabella und lag schluchzend an der Brust der Frau.

Der Diener zog sich diskret zurück.

»Mein Kindchen, mein liebes Kindchen,« schluchzte Frau Charlemont.

Eine Weile herrschte tränenvolle Rührung ob des unerwarteten Wiedersehens. Dann stürmten Annabellas Fragen hervor.

»Woher kommst du? Wie kommst du plötzlich daher? Wirst du auch so bald nicht wieder fortgehen?«

Es tat ihr wohl, in ihrem Schmerze die Nähe eines vertrauten, altbekannten Menschen zu fühlen.

Die Charlemont berichtete: »Du weißt doch, mein liebes Kindchen, daß ich bei meiner Schwester gewesen bin.«

»Ja, richtig!« rief Annabella. »Wie geht es ihr?«

»O, danke, danke, gut. Der Herr hat sie ja noch einmal gerettet.« Ihre Augen wurden kreisrund vor Dankbarkeit gegen den Herrn.

»Und wie ich nun nach Seaham zurückkam, da bat mich deine liebe Mutter, zu dir zu kommen.«

»Wie gut von Mama!« Annabellas Augen wurden feucht. In ihrem jungen Weh war ihr die mütterliche Fürsorge wie eine Heimat. Die Charlemont beugte sich zu Annabellas Ohr, legte die Hand vertraulich auf ihre Knie und flüsterte: »Sie hat mir manches erzählt von ihm und hat gemeint, es wäre ganz gut, wenn ich zu dir käme und bei dir bleiben könnte, mein Kindchen. Du würdest es nicht leicht haben mit ihm, und da wäre es ganz vorteilhaft, wenn jemand, der es gut mit dir meint, dir zur Seite stünde.«

Annabella wich vor dem vertraulichen Flüstern steif zurück. Und doch, und doch! Trotz aller Gegenwehr fühlte sie sich mit dieser Frau irgendwie verbunden gegen den Wann, der dort drinnen in dem breiten Bett tief in den Tag hineinschlief.

»Es ist sehr wacker von dir,« sagte sie zurückhaltend, »daß du zu mir gekommen bist.«

Da beugte sich die Charlemont noch näher zu ihr heran und raunte: »Mir scheint, ich bin gerade recht gekommen. Du sahst nicht sehr glücklich aus, als ich da hereintrat, mein Kindchen. Ich war nie sehr für ihn. Man erzählt ganz abscheuliche Dinge von ihm, na, lassen wir die lieber. Aber wenn ich bei dir bin, bist du ihm nicht wehrlos preisgegeben. Dann wird Gott alles zum Guten lenken.«

Sie machte wieder kreisrunde Augen, und ihre Stirn, die immer gleißte, als wäre sie in Öl getränkt, glänzte vor Gottergebenheit und Demut. Jetzt erhob sich Annabella und sagte:

»Komm, ich werde dir dein Zimmer anweisen.«

Die Charlemont tätschelte sie auf die Wange und zwinkerte ihr zu: »Laß nur, es wird alles gut werden, wo ich wieder bei dir bin. Freust du dich auch ein bißchen, mein Kindchen, daß die alte Charlemont wieder bei dir ist?«

»Ja,« gestand Annabella ehrlich. Es schien ihr doch gut, diesen lebendigen Hauch des Elternhauses in ihrer Nähe zu spüren. Denn ein Stück des Heimes von Seaham war diese Frau, die bei ihrer Mutter als Kindermädchen in Dienst getreten war, als sie selbst ein Säugling von wenigen Wochen gewesen. Und dann hatte sie ganz allmählich Karriere gemacht. Sie war ihr die Gespielin ihrer einsamen Kindertage in Seaham geworden, dann die Hüterin ihrer Backfischgeheimnisse und endlich die Vertraute ihrer Mädchenträume. Sie hatte sich mit großem Geschick hineingefunden in diese Zwitterstellung des Dienstbotens und der Gesellschafterin. Mit spürender Schlauheit hatte sie es verstanden, die Schwächen Lady Milbankes auszubeuten, hatte schließlich am Tische der Herrschaft gesessen und emsig nickend Lady Milbankes Hoheit sekundiert und war zu eisiger Mißbilligung erstarrt, wenn sie erkannte, daß eine Äußerung des biederen Sir Ralph den strengen Tadel der Herrin verdiente.

Und Annabella war ihr gegenüber immer ein wenig das Kind geblieben, zu dessen Welt die Charlemont gehörte, wie ihre Eltern, wie das alte Haus in Seaham, wie das Meer, dessen Branden man von dem Fenster aus hörte, wie der blaue Himmel und all die Dinge, die ihr erstes kindliches Begreifen ringsum erschaut hatte. –

Es ging auf 2 Uhr. Byron hatte das Schlafzimmer noch nicht verlassen. Annabella saß mit der Charlemont in der Bibliothek und wartete. Trotz aller Anstrengung konnte sie ihr entnervendes, gespanntes Lauschen auf seinen Schritt nicht verbergen. Die Charlemont schüttelte bedächtig das glänzende Haupt.

»Kindchen, ich würde nicht auf ihn warten, das ist nicht richtig. Wenn er nicht pünktlich zu den Mahlzeiten erscheint, mußt du sie ohne ihn einnehmen. Nur so kannst du ihn erziehen.«

»Ich habe noch nie ohne ihn gegessen,« wandte die junge Frau zaghaft ein.

Die Charlemont erwiderte nichts, wiegte aber bedenklich das Haupt. Und plötzlich erhob Annabella sich, läutete und befahl Fletcher, den Lunch zu servieren.

Sie hatte sich kaum mit der Charlemont an den Tisch gesetzt, da erschien Byron, knurrig und mißgestimmt ob der Störung seines Schlummers. Er war nicht wieder eingeschlafen. Er blinzelte mit den Augen und glaubte, nicht recht zu sehen, als er die Frau an Annabellas Seite fand.

»Nanu!« rief er verwundert.

Da war die Charlemont eilfertig von ihrem Sessel aufgesprungen, stand vor ihm, bot ihm die Hand und schmeichelte devot: »Guten Tag, Eure Lordschaft, Lady Milbanke hat mich hergeschickt, Annabella ein wenig zu unterstützen. Die Herrschaften lassen sehr herzlich grüßen. Solch junge Frau in solcher großen Wirtschaft, nicht wahr, Eure Lordschaft, die braucht eine kleine Hilfe?«

Byron übersah die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Er hätte nicht um alles in der Welt diese rote, abgearbeitete Hand berührt, der man es immer noch ansah, daß sie einst Windeln gewaschen hatte. Er war, trotz aller Hilfsbereitschaft für jeden Armen, im Grunde seines Gemüts hochmütig und adelsstolz, wie es nur ein Emporkömmling sein kann, dem plötzlich wider Erwarten eine Peerskrone aufs Haupt gesunken ist.

Und dann war diese Frau da und ihre bescheiden kriecherische, dünkelhafte Art ihm widerwärtig gewesen, von dem Augenblick an, da er sie bei seinem ersten Besuche als Bräutigam in Seaham kennen lernte. Er übersah die dargebotene Hand und die ganze Person und sagte gelassen zu seinem Weibe: »Weiß deine Mutter nicht, daß ich dir hinreichend Dienstboten halte?«

Da ergoß sich in die blanken Züge der Charlemont ein heißer Blutstrom der Wut. Nichts konnte sie in ihrer unklaren gesellschaftlichen Stellung so grimmig beleidigen, als ein Hinweis auf ihre ruhmlose Anfangsbetätigung.

Annabella aber sagte: »Die liebe Charlemont soll mir Gesellschafterin, keine Hilfe sein.«

Byron lächelte spöttisch: »Da du schon Gesellschaft hast, werde ich auswärts speisen.«

Und er ging zur Tür.

Im Entree holte Annabella ihn ein.

»Das darfst du mir nicht antun,« flüsterte sie und umfaßte seinen Arm.

Er zog sein hochmütigstes Gesicht und sagte: »Ich bin es nicht gewöhnt, mit Dienstboten zu Tische zu sitzen.«

Da gab Annabella die Charlemont um ihres Eheglückes willen preis.

»Sie kann in ihrem Zimmer essen,« schlug sie hastig vor.

»Gut,« sagte er, »dann bleibe ich.«

Annabella eilte zurück ins Eßzimmer. Doch ahnungsvoll kam die schlaue Person ihr zuvor. Sie setzte eine hoheitsvolle Miene auf (kopierte dabei trefflich Lady Milbanke) und schmollte: »Wenn Seine Lordschaft nicht mit mir an einem Tische sitzen will, obwohl ich meine, daß das längst für ihn gut ist, was für Lady Milbanke und Sir Ralph gut war, so kann ich ja gehen.«

»Iß in deinem Zimmer, liebe Charlemont,« begütigte Annabella und streichelte ihr das Kinn, »es ist ja im Grunde gleich, nicht wahr? Byron ist nun einmal in manchen Dingen sonderbar.«

»Er ist sehr sonderbar,« erhärtete die brüskierte Frau, »und du wirst dein blaues Wunder davon erleben, mein Kindchen.« Und sie stolzierte zur Tür hinaus und ließ ihre gesteiften Röcke würdevoll knattern.

Von diesem Augenblick an haßte sie den Mann, der sie vor dem ganzen Hause bloßgestellt hatte. Das Grinsen Fletchers, der Kutscher und der Mägde entging ihren scharfen Augen nicht. Sie sah, wie das Dienstpersonal sich ob ihrer Niederlage belustigte. Man hatte in der Küche allerlei bissige Bemerkungen geknurrt, als Fletcher meldete, daß für die »Dame« im Speisezimmer gedeckt werden sollte. Dienstboten haben einen feinen Instinkt dafür, wer »Herrschaft« und wer ihresgleichen ist. Sie hatten sofort erspürt, daß die Charlemont zu ihnen gehörte, und die Schadenfreude über ihre Ausweisung aus dem Speisezimmer war nicht gering. Sie haßte von diesem Augenblick an ihren Brotherrn mit der ganzen Niedrigkeit ihrer Dienstbotenseele. Die »Herrschaft« aber saß an dem runden Tisch und Byron fragte: »Bist du schon des Alleinseins mit mir müde?«

»Nein!« rief sie frohlächelnd, »nein, nein. Es ging nur nicht an, da sie doch bei uns zu Hause am Tische mitgesessen hat.«

»Bei euch zu Hause in den primitiven ländlichen Verhältnissen ist das etwas anderes,« entgegnete er. »Aber nun genug davon. Und nun sag' mir, Pipin, was war das heute morgen mit dir?«

Da erzählte sie ihm, daß er »Mary« geflüstert hatte, als sie ihn küßte.

Er horchte auf, errötete, dann reichte er ihr die Hand über den Tisch und sagte: »Das war ein Schatten aus meiner Vergangenheit, er soll tot sein. Die ganze Vergangenheit soll tot sein, Pipin, und nur du und die Gegenwart sollen leben.«

Sie fühlte den ehrlichen Druck seiner Hand. Die schwarzen Wolken schwanden von ihrem Ehehimmel, die Sonne leuchtete wieder hernieder und es war wie in allen jungen Ehen: Regen und Sonnenschein, himmelhohes Jauchzen, tötliche Betrübnis! Dann wanderten sie in das Bibliothekszimmer hinüber. Und er sagte mit freudigem Zittern in der Stimme: »Jetzt wollen wir wieder arbeiten, du dort drüben und ich hier.«

»Ich schreibe dir wieder deine Gedichte ab,« rief sie eifervoll, »aber erst möchte ich noch eine kleine Berechnung beendigen.«

»Schön,« lachte er, spazierte auf und nieder und sann. Und ab und zu eilte er zum Schreibtisch und warf die Strophen eines neuen Gedichtes der »Hebräischen Melodien« mit kritzelndem kleinen Rabenkiel auf das Papier.

»An den Wassern von Babylon saßen
Wir weinend und dachten der Zeiten,
Da die Räuber Jerusalems Straßen
Mit dem Blute der Schlachten entweihten. –«

Und jeder von ihnen war tief und fern versunken in seine Welt. Als das Gedicht beendet war, hob er den Kopf und rief:

»Hör mal, Bella, was ich –«

Da erst bemerkte er ihre Entrücktheit. »Pipin,« lachte er, »was rechnest du da? Deine Backen brennen ja.«

»Das ist etwas ganz Seltsames,« berichtete sie erregt, »denk' dir, da hat in Bologna ein Gelehrter einen Ballon konstruiert, der mit einem Ruder gelenkt werden soll. Alle Berechnungen stimmen, und doch hat der Versuch ein Fiasko ergeben. Und nun rechne ich und rechne und möchte den Fehler finden. Stelle dir vor, George, wenn ich den Fehler fände, wenn ich es wäre, die die Menschheit von der Erde löst!«

Er horchte interessiert auf.

»Das ist ja herrlich!« rief er, und seine großen Augen wurden golden vor Begeisterung. Er blickte an ihr vorüber in die Weite. Mit der Seherkraft des Genies sprach er vor sich hin: »Du wirst es wohl nicht finden, Annabella, und der Gelehrte in Bologna auch nicht. Historische Worte Byrons.. O, wenn man doch zwei oder drei Jahrhunderte später geboren wäre. Ich weiß, man wird einmal in Luftschiffen fahren, Luftreisen statt Seereisen machen, und endlich den Weg nach dem Monde finden, trotz des Mangels an Atmosphäre.«

»Glaubst du das auch?« fragte sie, »hingerissen von seiner prophetischen Kraft.

»Ja,« sprach er gläubig, »es ist durchaus nicht so albern, wie viele Leute heute glauben, und es liegt so viel Poesie in dem Gedanken. Wie wollen wir heute der Gewalt der Dämpfe Grenzen setzen! Wer kann sagen: »nur bis dahin sollst du gehen und nicht weiter?« Heute steckt unser Wissen von der Dampfkraft noch in den Kinderschuhen. Glaubst du, daß in früheren Perioden unseres Planeten keine klügeren Geschöpfe als wir gelebt haben? Alle unsere gerühmten Erfindungen sind vielleicht nur Schatten von dem, was gewesen ist, dunkle Bilder des Vergangenen, Träume anderer Stufen des Daseins. Wer weiß, ob nicht, wenn ein Komet sich dem Erdball nähert und ihn zu zerstören droht, wie er oft zerstört worden ist und noch zerstört werden wird, die Menschen durch Dämpfe Felsen aus ihren Gründen sprengen und Berge gegen die flammende Masse schleudern werden, wie die Giganten es getan haben sollen? Dann werden wir wieder Sagen von Titanen und vom Krieg mit dem Himmel haben.«

Annabella lauschte in staunender Hingerissenheit. Dann kam sie zu ihm, legte die Hände auf seine Schultern und flüsterte: »Welch ein großer Dichter und Mensch schlummert in dir. »Ich wünschte –«

Ein Klopfen unterbrach ihren Enthusiasmus.

Fletcher meldete Herrn Fiddlestick.

Sie waren beide noch so im Bann ihres Rausches, daß Byron verwirrt fragte: »Welcher Fiddlestick?«

Da zwinkerte Fletcher vertraulich mit dem linken Auge und flüsterte, im unbestimmten Gefühl, daß der Besuch besser vor Lady Byron verborgen bliebe, bedeutungsvoll:

»Mr. Fiddlestick aus Nottingham.«

»Ach so,« Byron begriff, »herein mit ihm!«

Und als der gute Fletcher zögerte, ermunterte er: »Laß ihn nur kommen. Es wird Lady Byron belustigen, die Bekanntschaft dieses interessanten Merkurjüngers zu machen.«

Herein spazierte der kleine feiste Handelsherr aus Nottingham. An der Tür zerbog er dienernd seinen kurzen Rumpf, schwenkte untertänigst einen struppigen Seidenhut und entbot seinen Gruß:

»Eurer Lordschaft ergebener Diener, Eurer Ladyschaft gehorsamer Sklave. Verzeihen Eure Lordschaft, wenn ich mir gestatte, meine Aufwartung zu machen.«

»Sehr freundlich, sehr freundlich!« rief Byron heiter.

Annabella beugte erstaunt und zurückhaltend den Kopf.

»Wenn Eure Lordschaft mir gestatten wollten, einige Worte privatim zu sprechen?« er machte eine galante Verbeugung gegen Lady Byron und flötete diskret:

»Eine rein geschäftliche Angelegenheit, Ew. Ladyschaft, rein geschäftlich.«

»Wir können sie ruhig vor Lady Byron verhandeln,« gebot Byron.

»Desto besser,« sprach erfreut Herr Fiddlestick und schwenkte abermals seinen Zylinder in die Richtung, in der Annabella saß. Dann klemmte er ihn zwischen die Knie, fuhr in die Brusttasche und brachte ein umfangreiches rotes Portefeuille hervor. Flugs hatte er ihm einen Schein entnommen.

»Wenn ich bitten darf, Eure Lordschaft. Eure Lordschaft wissen, die Schuld ist nun schon über sieben Jahre alt. Ich würde mir niemals erlauben, Eure Lordschaft etwa zu drängen. Nur, die Geschäfte gehen leider recht schlecht, ich bin doch nur ein armer Mann.«

»Schon gut, schon gut,« winkte Byron, »geben Sie her.«

Der Handelsherr knickte zu einem tiefen Bückling zusammen und überreichte den Schein.

»Ich habe mir erlaubt, gleich die Quittung auszustellen,« bemerkte er entschuldigend. Byron blickte auf die Summe und stutzte.

»Hören Sie mal,« staunte er, »Sie müssen sich irren, so groß war meine Schuld bei Ihnen niemals.«

»Ursprünglich nicht, ursprünglich natürlich nicht, Eure Lordschaft haben vollkommen recht. Aber Eure Lordschaft werden sich entsinnen, daß Sie mir einen Schein gegeben haben, wonach Eure Lordschaft die Schuld mit zwanzig Prozent verzinsen wollten. Das wächst dann ein wenig an, nicht bedeutend, wie Eure Lordschaft sehen, aber es wächst doch an.«

»Zwanzig Prozent?« fragte Annabella streng.

Herr Fiddlestick verbeugte sich so tief gegen sie, daß seine Kniee sich öffneten und der Zylinder zu Boden torkelte und über den Teppich rollte. Wie ein Grashüpfer sprang Herr Fiddlestick ihm nach.

»Jawohl, Eure Ladyschaft, nur zwanzig Prozent. Ich bin ein ehrlicher Kaufmann und weiß die Gunst zu schätzen, Seine Lordschaft als Kunden zu besitzen.«

Annabella kniff die Lippen zusammen.

»Also,« machte Byron dem Gespräch ein Ende, »ich werde Ihnen eine Anweisung geben.«

Herrn Fiddlesticks rundes Gesicht strahlte rot wie der Vollmond durch Londoner Nebel. Flugs öffnete er seinem frohen Staunen in einer längeren Rede ein Ventil, während Byron am Schreibtisch ein Formular ausfüllte.

»Ich habe es ja gewußt, Eure Lordschaft, daß ich heute nicht vergebens kommen würde. Ich habe es mir ja gleich gedacht, daß Eure Lordschaft die kleine Summe mit Leichtigkeit werden zahlen können. In einer jungen Ehe pflegt ja immer Geld zu sein.« Er verbeugte sich galant gegen Annabella und zwinkerte ihr bedeutungsvoll freundlich zu.

»Also hier,« Byron durchschnitt den freudeverklärten Wortschwall und hielt ihm den Schein hin.

Herr Fiddlestick dienerte zweimal, griff nach dem Papier und schob es zärtlich in seine rote Brieftasche, barg sie an seinem Busen und sprach noch viele Worte von Dank und davon, daß Seine Lordschaft und Ihre Ladyschaft ihn doch nicht vergessen möchten, denn in einem neuen Haushalt fehle ja immer noch allerhand, er würde die Frachtkosten von Nottingham nach London sehr billig berechnen. Er schwenkte noch mehrere Male den Zylinder und war schließlich draußen.

Da lachte Byron herzlich. Annabella aber forschte ernst:

»George, wie konntest du nur zwanzig Prozent Zinsen zusagen?«

»Zwanzig Prozent?« fragte er erstaunt, »das ist doch nicht viel. Bei meinen hiesigen Wucherern zahle ich gegen sechzig.«

»Wie?« staunte sie. »Bei Wucherern hast du Schulden?«

»Aber natürlich,« gab er sorglos zu, »wovon glaubst du denn, hab ich all die Zeit über gelebt? Newstead bringt mir doch nichts ein, und über mein Gut in Lancashire schwebt fast seit zehn Jahren ein Prozeß, der mich schon Unsummen gekostet hat.«

»Aber George,« sagte sie ganz verdutzt, »wie hoch sind denn deine Schulden?«

»Ich weiß es nicht so genau,« gestand er unsicher.

»Das geht doch aber nicht so weiter!« wandte sie bestürzt ein. »Schulden sind etwas Furchtbares.«

»Ach nein,« scherzte er, »so furchtbar sind sie nicht. Und dann, Pipin, so reich, wie jetzt, war ich ja noch nie. »Ich habe doch jetzt deine Mitgift.«

»Die wird nicht sehr weit reichen,« bangte sie, noch ganz fassungslos, »bedenke doch, was die Miete hier kostet, und die prunkhafte Einrichtung und der Haushalt mit der Equipage für dich und eine für mich und den zahlreichen Dienstboten, das kostet doch Unsummen, da werden meine armseligen 10 000 Pfund nicht weit reichen.«

»Ach,« er machte eine fortwerfende Bewegung durch die Luft, »vorläufig reichen sie doch noch. Kommt Zeit, kommt Rat. Ich verdiene doch auch mit meinen Arbeiten. Und dann, Pipin, braucht man kein Geld zum Leben, sondern Kredit. Und nun wollen wir uns lieber wieder dem Gedanken zuwenden, daß unsere Enkel auf dem Mars Kolonien gründen werden.«

Da versargte sie ihre Bedenken und zog Hand in Hand mit ihm hinauf in die Regionen der Ewigkeiten. Doch ein peinigendes Gefühl der Sorge blieb in ihr haften. –

Und die Tage verrannen mit Sonnenschein und Regenschauern. Sie führten kein großes Haus, gingen wenig in Gesellschaften; nur ab und zu kamen einige Freunde Byrons, Moore, Hobhouse und die anderen.

Am liebsten hatte Annabella den sonnigen, allezeit heiteren Dichter, bis er sich ihre Gunst eines Tages bitter verscherzte. Schweißperlen auf der genial gebuckelten Stirn, stürmte er mit der Nachricht herein, Napoleon sei in Cannes gelandet und auf dem Marsche nach Paris.

»O,« rief Annabella, »welch ein Unglück für unser geliebtes Land!«

Byron warf ihr einen verächtlich staunenden Blick zu und jubelte: »Ein Unglück?« und schloß erschüttert den Freund in die Arme. »Moore, alter Junge, welch ein Stolz, sich nicht mehr schämen zu müssen, Mensch zu sein.«

»George,« fragte Annabella verständnislos, »und wir, bedenkst du denn nicht, daß er der grimmigste Feind unseres Vaterlandes ist?«

»Nein,« lachte Byron, vor Begeisterung siedend, »an solche Banalitäten denke ich in diesem gewaltigen Momente wahrhaftig nicht. Ich denke an die Menschheit und an die Größe des Menschentums. Weißt du, Moore, ich kann es dem Hallunken sogar verzeihen, daß er mir durch seine Rückkehr jede Zeile meiner Ode verdorben hat.«

Er klatschte ausgelassen in die Hände und lachte:

»Das ist doch wahrhaftig die äußerste Grenze menschlichen Edelsinns. Moore, erinnerst du dich der Geschichte von dem Abbé, der eine Abhandlung über die schwedische Verfassung geschrieben und deren Unauflöslichkeit und Ewigkeit bewiesen hatte? Und gerade, als er die letzten Druckbogen durchsah, kam die Nachricht, daß Gustav der Dritte diese unsterbliche Staatsform umgestoßen hätte. Worauf der Abbé gelassen sagte: »Der König von Schweden mag die Verfassung umstoßen, aber mein Buch bleibt bestehen.«

»Annabella, begreifst du denn nicht, wie unmöglich es ist, sich diesem überwältigenden Charakter und dieser Laufbahn zu entziehen? Nichts hat mich je so enttäuscht, wie seine Abdankung. Und nichts hat mich so vor ihm in die Knie gezwungen wie seine Auferstehung.«

»Ja, ja,« rief Moore, der mutige Sänger der Freiheit, der einen Haß gegen alle ererbte Herrschermacht im Herzen trug: »Recht hast du, Recht hast du!«

Und lachte und weinte im berauschenden Banne der Tat des Einen, der sich wieder trotzig erhob gegen Europa. Annabella, in so vielen Dingen Vollblutengländerin, stand stumm und begriffsbar zwischen den beiden überschäumenden Dichtern.

Als man dann bei Tische saß, sprang das Gespräch nach uralter Literatengewohnheit hinüber zur Literatur. Byron sprach von dem Dichter Pope, den er verehrte.

»Der größte Fleck, der England anhaftet,« trauerte er, »ist der, daß Pope keinen Platz im Poetenwinkel der Westminster-Abtei hat. Ich habe schon oft daran gedacht, ihm auf meine Kosten dort ein Monument zu errichten.«

Da hemmte Annabella kühl und besorgt seine Begeisterung: »Dazu dürfte dein Vermögen doch nicht reichen, George.« Er blickte sie eine Sekunde lang starr an, dann lächelte er spöttisch: »Nein, nein, beruhige dich nur. Ich werde es ja nicht tun, du brave Seele.«

Rasch ablenkend sprang der behende Moore dazwischen: »Ja, Pope war katholisch, und, was noch schlimmer ist, er ging den Geistlichen zu Leibe, deshalb hat er kein Nationaldenkmal.«

»Und wir beide, meine lieber Moore,« erhitzte sich Byron, »die wir doch wahrhaftig prächtige Kerle sind, auf die England stolz sein sollte, wir werden dereinst auch nicht in der Kühle von Westminster liegen.«

»Nein,« bestätigte Moore gelassen.

»Weshalb nicht?« fragte Annabella wissenseifrig.

»Weil,« Byron lächelte anzüglich, »weil wir beide gottlose Heiden sind, weil in unserem geliebten Land die Pfaffen herrschen und Pietismus und widerliche Frömmelei, darum, meine liebe Annabella.«

Es schien ihr, als stände zwischen ihr und den beiden Männern am Tische irgend etwas Fremdes, das aufwuchs wie eine trennende Mauer. Und herb entgegnete sie: »Was du Frömmelei und Pietismus nennst, das ist der edle puritanische Sinn, der unser Volk groß gemacht hat.«

Da lachte Byron herzhaft heraus, und auch Moore konnte ein geheimes Schmunzeln nicht verbergen.

Annabella blickte verlegen und gekränkt drein, und die Wand zwischen ihr und den beiden Männern wuchs immer höher. Sie fühlte sich irgendwie ausgeschlossen aus ihrem Interessenkreise, verbannt aus dem Bezirk ihres Liebens und Hassens. Und in ihren Kummer hinein spottete Byron: »Siehst du, mein lieber Moore, man kann ein großer Dichter sein und von den Besten seines Volkes geachtet werden, und zu Hause ist man doch nur ein dummer Junge, dem die Frau weise Lehren erteilt. Das ist das allgemeine Los der großen Männer.« »Ich erteile keine weisen Lehren,« verteidigte sich Annabella mit zäher Heftigkeit. »Ich finde es auch nicht recht von dir, daß du so über deine Ehe sprichst.«

»Ach,« rief Byron, »vor Moore darf ich so sprechen, Tom ist verheiratet, das sagt alles.«

Moore lächelte.

»Ich bin überzeugt,« rief Annabella, »Herr Moore wird keinen Stein auf die Ehe werfen. Es ist bekannt, wie glücklich er mit seinem Weibe lebt.«

»Hm,« lachte Byron, »ob dir gerade diese glückliche Ehe behagen würde? Seine Frau wohnt in dem Neste Sloperton, und Moore vergnügt sich in London. Und wenn er müde und verbummelt zu ihr zurückkommt, empfängt sie ihn mit offenen, bergenden Armen. Ob du wohl solch eine bequeme Frau wärest, meine kleine Annabella?«

Da entfuhr es Moore unbedacht: »Anders kann ich mir die Ehe eines Künstlers auch gar nicht vorstellen.«

Annabella reckte sich straff auf und fragte kraß heraus: »So meinen Sie, Herr Moore, daß eine Ehe, die anders ist, nicht glücklich sei?«

»Doch, doch,« murmelte Moore betreten.

Byron lachte, stieß mit dem Freunde an und triumphierte: »Da hast du aber schön ins Wespennest gestochen!«

»Durchaus nicht,« wehrte Annabella, »ich bin sehr gespannt, Herrn Moores Meinung von der »richtigen Ehe des Künstlers« zu hören.«

»Ich habe nichts mehr zu sagen,« wich Moore aus.

Doch Annabella bedrängte ihn, bis er zögernd sprach:

»Nach meiner Weinung, wenn ich sie denn ehrlich sagen soll, ist die Kunst ein Hindernis für eine glückliche Ehe im landläufigen Sinne, wenn die Frau nicht eine Heldin der Resignation ist. Der Genius, der nur in der Idealwelt lebt, ist nicht geeignet, sich in die Alltäglichkeit des wirklichen Lebens zu finden und sich mit seinen Mängeln und Widerwärtigkeiten zu vertragen. Da dem Poeten, so oft er kommt, Jovis Himmel offensteht, vermag er keinen Bund mit der Prosa des Alltagslebens einzugehen, die ihm immer wieder eine Fessel und ein Hemmnis in seinem göttlichen Aufschwung sein muß. Das Genie zieht sich naturgemäß auf sich selbst und sein eigenes innerstes Dasein zurück.« Er strich mit den Fingern über den sinnenfrohen Mund und fuhr fort: »Im allgemeinen muß man wohl sagen, die Phantasie des Dichters oder Künstlers ist ein viel zu lockeres Fundament für ein so schweres Gebäude wie die Ehe. Und Pegasus, selbst im Joche, wird nimmermehr ein brauchbares Ackerpferd. Alle großen Dichter und Künstler haben ein mehr oder weniger unglückliches Familienleben geführt. Es ist ein bekannter Erfahrungssatz, daß noch nie eine Frau mit einem genialen Mann glücklich und umgekehrt noch keine mit einem beschränkten unglücklich geworden ist. Dante, Petrarka, Pope sind warnende Beispiele, Shakespeare, Milton, Dryden, Burns, Mozart und hundert andere.«

»O je,« warnte Byron lächelnd, »jetzt hat deine Offenheit es für alle Zeiten mit Annabella verdorben.«

»Keineswegs,« sagte sie und erzwang ein armes Lächeln. »Du solltest mich vor deinem Freunde nicht als kleinlich hinstellen, George.«

Doch schon leuchtete Moores leichter Sinn wieder aus seinen brennenden Genieaugen. Er hob sein Glas und rief: »Auf die Ausnahme, Lady Byron, die die Regel bestätigt.« »Ja, auf die Ausnahme!« Sie nahm seinen Toast eifrig und ernst entgegen. Doch als sie mit ihrem Kelch dem seinigen begegnete, gab es einen schrillen, bösen Klang. Sie hörten es alle und schwiegen betroffen. Doch Bangen war nicht nach des großen Lyrikers Sinn. Sofort begann er eine Schnurre aus seinem Vagabundenleben zu berichten. –

Als sie später zu Bett gingen, war eine unausgesprochene Entfremdung zwischen dem jungen Paare. Endlich begann Byron:

»Haben dich Moores Worte verletzt, Pipin?«

Da barst die angstvolle Spannung, die sie umklammert hielt, und von Kummer geschüttelt, schluchzte sie: »Nein, Moore nicht, – du! Ich kann das nicht ertragen, wenn an allem gerüttelt wird, was mir heilig ist. Erst habt ihr gejauchzt darüber, daß der grimmigste Feind unseres Landes wiederkehrt, dann habt ihr den frommen Sinn unseres Volkes verhöhnt, und dann muß ich lächelnd anhören, wie ihr gemeinsam die Ehe lästert. Das kann ich nicht ertragen. Das ist ungehörig und frivol.«

Da lächelte Byron mit bösem Spott. »Dichter machen oft den Fehler, daß sie in die Frauen, die sie lieben, zu viel Größe hineinlegen und sich dann wundern, wenn diese Seifenblase ihrer Phantasie zerspringt.«

»O«, mein lieber George,« dämmte sie sein Hochgefühl ein, »ein so hohles Gefäß für das Geträufel deiner Phantasie bin ich denn doch nicht. Ich habe immer unter sehr, sehr gelehrten Männern für mich allein bestanden.«

»Ja doch, ja doch,« schnitt er die peinliche Erörterung kurz ab und sprang ins Bett.

Bald hörte sie sein regelmäßiges Atmen. Sie aber lag noch lange wach und starrte mit heißen Augen in das Dunkel der Nacht. Der Mann an ihrer Seite war ihr so fremd. –

Am nächsten Tage, als er gegen zwei Uhr das Schlafzimmer verließ, – sie hatte es längst aufgegeben, ihn zum »ordentlichen Menschen« zu erziehen – sagte er: »Heute werde ich meine Tätigkeit im Drury-Lane-Theater wieder aufnehmen.«

In ihrem ländlich engen Familienkreise war Theater und alles, was damit zusammenhing, etwas Fremdes, Verdächtiges, fast Unsauberes gewesen. Doch sie unterdrückte ihr Mißbehagen. Nur eine leise Unruhe und uneingestandene Eifersucht – Lady Milbanke hatte so schreckliche Dinge von diesen Rampendamen gewußt – sprach aus ihr, als sie bat: »Darf ich dich begleiten?«

»Nein,« lehnte er ab, »das geht nicht. Du kannst doch nicht mit in das Theaterbüro kommen.«

»Dann werde ich dich abholen,« schlug ihre Angst vor.

»Es ist sehr unbestimmt, wann ich komme,« bedachte er, »du müßtest vielleicht sehr lange warten. Laß es lieber, Pipin. Zum Diner bin ich ja wieder da.«

Damit ging er.

Sie schritt ruhelos durch die Zimmer. Ihre Phantasie zeigte ihr törichte Bilder.

»Ich werde ihn doch abholen,« flüsterte sie endlich zwischen den Zähnen, »und wenn ich stundenlang warten sollte.« Nach einer Weile ließ sie den Wagen anspannen und fuhr nach Drury Lane. Sie ließ den Kutscher in eine Seitengasse einfahren, so daß sie vom Fenster des Wagens aus gerade noch den Eingang des Theaters im Auge behielt. Dort saß sie und wartete. Dann sah sie, wie Byrons Wagen vorfuhr. Das Herz schlug ihr im Halse, sie hatte die Gründe vergessen, aus denen sie hier fast zwei Stunden geharrt. Nur die Freude des Wiedersehens pochte fiebernd in ihren Adern. Jetzt würde er gleich kommen. Dann würde sie aus dem Wagen springen, Hinübereilen und zu ihm in sein Coupe steigen und all die Schatten des gestrigen Abends aus der Welt küssen. Sie wartete und wartete, bis endlich die Tür sich öffnete. Byron kam heraus, umschwirrt von einem Schwarm lebhafter Frauen. Er stand oben auf der Schwelle des Hauses und sprach auf den Kreis der Schauspielerinnen ein. Es schien Annabella, als habe noch nie ein solch froher Anmut sein Antlitz verschönt. Scherzworte flogen her und hin und kecke Neckereien. Dann gab er burschikos allen die Hand, und der Schwarm zerstob. Annabella faßte den Griff der Wagentür. Jetzt mußte sie gleich hinausspringen. Doch nein, sie hatten sich nicht alle verlaufen, eine Dame war zurückgeblieben. Es war die schönste von allen. Sie lächelte ihm verführerisch zu, und sie sah, wie Byron einen Augenblick zögerte. Annabella las die Worte von ihren frischen Lippen. Das Lächeln wurde bestrickender. Dann sprang Byron die Stufen hinab, öffnete den Schlag seines Wagens, schob die Schauspielerin hinein, die Tür schlug zu, das Coups federte davon.

Einige Minuten rang die junge Frau nach Fassung.

Dann rief sie durch das offene Fenster dem Kutscher zu: »Nach Hause!« Es war ihr, als müßten die Stimmbänder zerreißen. Lange saß sie in ihrem Sessel und konnte an nichts mit Bewußtsein denken. In ihrem Kopfe war eine schmerzende Wirre. Dann trat die Charlemont ein. »Was ist dir, Kindchen?« rief sie schon in der Tür und flog auf Annabella zu.

»Nichts,« wich sie aus, »nichts.« Doch die Frau hatte ihre Ahnungen. Sie wußte, wohin ihr Schützling vor einigen Stunden gefahren war. Sie ging hinunter in den Stall und verhörte den Kutscher. Der hatte natürlich alles gemerkt. Dann kam sie zurück, kauerte sich still zu Annabellas Füßen nieder und schwieg eine geraume Weile. »Kindchen,« begann sie endlich behutsam ihr Gift zu träufeln, »du solltest es nicht gestatten, daß Lord Byron wieder in dieses Theater geht. Man erzählt ja entsetzliche Geschichten, wie er es dort früher getrieben hat.«

Annabella bewegte sich nicht.«

»Mit allen Schauspielerinnen soll er Liebschaften gehabt haben. Das ist ja kein Wunder, man weiß ja, was für Frauenzimmer das sind, beim Theater. Von denen kann man nichts Besseres erwarten. Ich bin nur froh, daß ich nicht an einem Tisch mit ihm zu sitzen brauche, wenn er aus dieser Gesellschaft nach Hause kommt.«

»Schweig!« bat Annabella unter Qualen.

Die Frau gehorchte, saß stumm neben ihr und nickte nur ab und zu bedeutungsvoll vor sich hin. Die Zeit verrann. Die Standuhr schlug sechs. Im Nebenzimmer wurde der Tisch zum Diner gedeckt. Die Uhr schlug halb sieben. Dinerzeit war längst vorbei. Da erhob Lady Byron sich, bleich, mit bitteren Linien um den Mund sagte sie: »Ich werde essen. Laß auftragen, Charlemont!«

Die Speisen wurden aufgetragen und wieder hinausgenommen, sie hatte sie nicht berührt. Dann saß sie in ihrem Sessel am Schreibtisch und wartete und wartete.

Endlich, als es längst Abend geworden war, kam er herein. Arglos, noch im Banne des Geplauders, rief er: »Verzeih', Pipin, es ist ein bißchen später geworden.« Sie antwortete nicht.

»Weshalb sitzt du im Dunkeln?« fragte er verwundert und ließ die Kerzen anzünden. Als Fletcher das Zimmer verlassen hatte, bemerkte er ihre bleiche Erstarrung. »Was hast du, Bella? Weil ich mich ein wenig verspätet habe! Du hast doch nicht etwa mit dem Essen auf mich gewartet?«

»Nein,« sagte sie herb.

»Aber wie siehst du mich denn an?«

Ihm wurde unbehaglich.

»Annabella, mach' mir nur keine Szene, wenn ich einmal ein bißchen später komme, das ertrage ich nicht. Als ich aus dem Theater kam, bat Mrs. Mardeyn mich, bei ihr zu dinieren.« Sie schwieg beharrlich.

Da sprang die heiße Wildheit der Byrons in ihm auf. »Zieh' nicht solch tragisches Gesicht!« herrschte er sie an. »Das ist ja furchtbar, weil ich einmal auswärts speise. Ich will nicht fortwährend die Fessel klirren hören.« Der Zorn riß ihn fort über alle Ufer der Besonnenheit. Sein Grimm übertrieb. »Du willst mich von aller Welt absperren,« wütete er, »aber hüte dich! Ich ertrage das nicht. Ich ertrage das nicht! Begreifst du denn nicht, daß ich einmal etwas anderes sein muß als dein Mann!«

»Was mußt du sein?« fragte sie regungslos.

»Mensch!« schrie er auf, »Mensch, der das Leben ohne Grenzen umklammert.«

Und plötzlich erschien er sich grausam umschnürt. »Ich hasse dieses Leben!« erboste er sich, »diese erstickende Enge, diese ewigen Vorwürfe, diese –«

»Ich mache dir keine Vorwürfe,« bedeutete sie gelassen.

Je hitziger er wurde, desto kühler wurde ihr Weh.

»Nein, aber du sitzt da, wie das beleidigte Recht.« Und er sprudelte grausame Verwünschungen hervor und krallte sich immer tiefer in sein schmerzlich empfundenes Elend hinein. Und plötzlich griff er nach einer kostbaren Uhr auf dem Kamin und schleuderte sie auf den Boden, daß sie in tausend Scherben zersplitterte.

Annabella blickte mit kühlen verächtlichen Augen auf diese tobsüchtige Tat. Als das kleine Kunstwerk zersprang, kam er zur Besinnung. Sekundenlang stand er betroffen da, dann packte ihn die Scham und das Verlangen, sich vor ihren strengen, unnachsichtigen Augen zu verbergen. Er rannte hinaus in die Nacht, immer weiter die Straßen entlang, bis er in die Wirrnisse der City kam.

Annabella saß in dem Stuhle und bewegte sich lange nicht. Sie empfand eine gespannte Ruhe und winterklare Kälte in der Brust. Dieser haltlose Mann, der hatte da vor ihr getobt und das Kunstwerk zerschellt, gehörte nicht zu ihrem Dasein, hatte nichts mit ihrem Leben zu schaffen, das tief wurzelte in der Stille und in dem kühlen Anstande ihres elterlichen Hauses. Fremd war er ihr, ganz fremd, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit ihm war zerrissen. Es schmerzte sie nicht, gar nicht mehr. Etwas war herausgezerrt aus ihrem Leben, und die Wunde hatte sich geschlossen und schmerzte kaum noch, nein, sie schmerzte kaum noch. Nur nach innen blutete sie heiß und zuckend. Blutete in die Leere hinein, die in ihrer Brust geblieben war. Stunde um Stunde saß sie unbeweglich in ihrem Sessel und fühlte diese weite, einsame Leere, in die sich das Blut sammelte zu einem tiefen, tiefen, trostlosen See.

Byron aber war an die Stätten seines wüsten Junggesellenlebens zurückgekehrt, saß an dem grünen Tisch einer Spielhölle am Strand und verlor Unsummen.

Durch den steigenden Maimorgen führte ihn die polternde Hackney-coach heim. Die schimmernde, graublaue Dämmerung, in die das zuckende Licht der Öllaternen gelbe, von Regenbogenkreisen umzitterte Flecke malte, hatte etwas sehnsüchtig Melancholisches. Der Mann blickte hinaus in die wundersame Stille des werdenden Tages. Und die Stimmung von draußen strömte herein durch das offene Wagenfenster und kroch ihm zu Herzen. Da umklammerte ihn plötzlich wieder der alte Weltschmerz, und alle die bösen Einbildungen seiner Jünglingstage lebten wieder in ihm auf. Er wußte wieder, daß ihm alles im Leben mißlungen war; der Vater, die Mutter, die Geliebte und das Weib. Immer brennender wurden die Augen dem übernächtigten Mann. Wie eine dumme Schicksalsriesin wuchs die Gestalt seines Weibes erdrückend vor ihm auf. Ja, sie war das letzte Unheil seines unseligen Lebens. Und er nickte vor sich hin und wiederholte es sich immer wieder, daß sie das letzte und größte Unheil seines unseligen Lebens war. Und plötzlich suchte er nach einem Grunde, weshalb er sie geheiratet hatte, und fand keinen.

Er fühlte die Müdigkeit der durchwachten Nacht in allen Gliedern und sein Zorn gegen die Frau fletschte immer bissiger die Zähne. Sie trug die Schuld daran, daß er die Nächte durchschwärmte, sie trug die Schuld daran, daß er Unsummen im Spiel verlieren mußte, nur sie, nur sie. Da umkreisten ihn die Sorgen seiner materiellen Lage. Die Mitgift war längst zerronnen. Die alten Gläubiger waren über ihn hereingestürzt in dem Glauben, er habe eine reiche Heirat gemacht. Und er hatte gezahlt und immer wieder gezahlt, solange noch die letzte Guinea im Säckel klang. Und nun war längst Ebbe eingetreten, und neue Schulden häuften sich dräuend auf. Wie sollte das werden, wie sollte das alles werden –!!

Da hielt die Droschke vor seinem Hause in Piccadilly Terrace. Gebeugt und verloren wie in seinen weltschmerzlichen Jünglingstagen schlich er ins Haus. Annabella kleidete sich bereits an, als er ins Schlafzimmer trat.

»Guten Morgen,« sagte er leise.

»Guten Morgen,« erwiderte sie gelassen und sprach kein Wort mehr. Der Mann dort, mit der zerdrückten Wäsche und dem nachtwirren Haar, der sich bis zum frühen Tage umhertrieb, hatte mit der Keuschheit und Sauberkeit ihres Lebens nichts gemein. Das war ein Fremder, der dort in der Tür stand. Und sie kleidete sich an mit ihren ruhigen, schönen Bewegungen, als wäre der Mann nicht im Zimmer. Da flammte aus seinem Jammer wieder der Zorn empor. Warum schrie sie nicht, warum tobte sie nicht, warum machte sie ihm nicht gellende Vorwürfe? Warum hatte sie nicht Blut in den Adern, rotes, aufglühendes Blut, statt dieser bleichen Milch der Duldung! Dann hätte er sich ihr zu Füßen geworfen, hätte ihre Knie umklammert und ihr ehrlich geschworen, mit ihr ein besseres Leben zu beginnen. Er lechzte ja nur danach, daß sie sich ihm näherte, daß sie ihn herausriß aus seinem Elend, daß sie ihn heraufzog zu ihrer Reinheit. Doch sie kleidete sich an mit ihren ruhigen schönen Bewegungen und wandte sich nicht einmal nach ihm um.

Da riß er sich die Kleider vom Leibe und schleuderte sie zur Erde und fühlte sich klein und erbärmlich und bangte nach einem Zeichen der Liebe aus ihren warmen braunen Augen. Doch ihre Augen waren still und eisig und blieben nicht an ihm hängen. Er zögerte, ging unschlüssig durchs Zimmer und hoffte, daß sie endlich beginnen würde, ihm Vorwürfe zu machen. Doch sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging hinaus, ohne an ihn ein Aufschauen zu verschwenden. Da stieß er mit dem Fuß gegen einen Stuhl, daß er schmetternd umschlug und warf sich aufs Bett und lag dort und wälzte sich ruhelos umher, bis die Maisonne durchs Fenster glitt. Endlich übermannte ihn die Müdigkeit, er schlief ein und schlief wieder bis tief in den Tag hinein.

Als er nachmittags ins Eßzimmer kam und der aufgewärmte Lunch aufgetragen wurde, kam sie herein und sagte gemessen und kühl: »Nachher kommen mein Onkel Noël Wentworth und Tante Bessy zum Tee.«

Sie sagte es so fremd und sachlich, daß sein Trotz sich wieder aufbäumte.

»Was kümmert mich das?« antwortete er.

»Ich möchte dich bitten, zu Hause zu bleiben,« erwiderte sie. »Du weißt, Onkel Noël ist der einzige Bruder meiner Mutter und Tante Bessy ist die Lieblingsschwester meines Vaters. Sie sind nach London gekommen, dich kennen zu lernen.«

»Sehr freundlich,« höhnte er, »ich habe einen wichtigen Gang.«

»Ich bitte dich,« sagte sie, immer mit derselben eisernen Ruhe, »diesen Gang zu verschieben. Es wäre sehr peinlich für mich, wenn sie dich nicht träfen. Sie haben die anstrengende Reise nach London gemacht, um, wie sie schreiben, »den berühmtesten Mann seiner Zeit als ihren Neffen zu begrüßen.«

Ihre Ruhe erhitzte ihn. »Ich bin kein Wundertier, das man anstarren darf,« fuhr er auf, »ich kann den Gang unmöglich verschieben.«

»Ich bitte dich, zu bleiben,« sagte sie sehr ernst, »du würdest mich in eine sehr unangenehme Lage bringen.« Damit ging sie hinaus. Byron aber sprang vom Tische auf, eilte ins Entree, griff nach dem Hute und verließ das Haus.

Tante Bessy kam und Onkel Noël. Schon an der Tür des Salons machten sie ihrer Freude Luft und ihrer Neugier, den berühmten Mann ihrer Lieblingsnichte nun endlich von Angesicht zu schauen. Doch Annabella mußte berichten, daß Byron augenblicklich leider nicht zugegen sei, da er einen unaufschiebbaren Besuch zu machen hätte, daß er aber wohl bald zurückkehren würde. Und sie nahm alle Kraft zusammen und war heiter und sprühend, den Verwandten ihr Leid zu verbergen. Doch als man den Tee genommen hatte und Onkel Noël von ungefähr ans Fenster trat, da rief er entgeistert:

»Ja aber, wenn mich nicht alles täuscht – ich habe einige Bilder von ihm gesehen!« – –

Der staunende Schreckensruf lockte Tante Bessy und Annabella an seine Seite. Da sah die junge Frau ihren Mann in seinem offenen Wagen vor dem Hause langsam auf und nieder fahren, auf und nieder, und mit hochmütig geschürzten Brauen ohne Gruß zu ihnen hineinblicken.

Da knickte sie doch ganz jäh in den Kniegelenken ein, und Onkel Noël mußte sie zu einem Sessel tragen, und dort saß sie und schluchzte haltlos in die Hände. Und Tante Bessy blickte Onkel Noël an, und Onkel Noël sah Tante Bessy an, und beide schüttelten ihre grauen Köpfe und verstanden manches und ahnten vieles. Doch nach einer kleinen Weile raffte Annabella sich auf und versuchte mit verzerrten Lippen zu lächeln und sagte: »Ihr müßt ihn entschuldigen, er hat solch seltsame Launen, er ist unberechenbar.«

»Ja, ja,« lachte Onkel Noël krampfhaft, »das weiß man ja, wie die Herren Künstler sind.«

Tante Bessy aber starrte fassungslos im Zimmer umher. Dann bat Annabella sie inbrünstig, den Eltern nichts von dieser neuen Laune Byrons zu erzählen, denn sie sei ja doch nur vorübergehend, sie selbst habe sich niemals über ihn zu beklagen, er sei gut und zartfühlend zu ihr. Aber die Eltern in der Ferne könnten vielleicht andere Schlüsse ziehen. Und Tante Bessy und Onkel Noël versprachen feierlich, zu schweigen. Sie verließen das Haus und saßen in ihrem Wagen und fuhren zur Poststation und blickten sich immer wieder an und schüttelten immer wieder die grauen Köpfe.

Aber als Annabella dann allein blieb, versteinerten sich ihre sanften Züge. Sie stand unter dem Lüster, die Fäuste ballten sich und die Brust reckte sich fest gegen das seidene Gewand. Und alles, was ihn noch geliebt hatte, was sich ihm noch zugeneigt hatte trotz aller Auflehnung des Verstandes, das riß sich los von ihrem Herzen und fiel wie ein schwerer Mühlstein in dunkle nächtliche Tiefen. Und die Leere in ihr ummauerte sich mit festen undurchdringlichen Quadern. Sie streckte die jungen Glieder und fühlte eine unbiegsame Härte Seele und Leib wie mit Stahl umschmieden. Nein, sie wollte nicht klagen und sich nicht niederbeugen. Sie wollte nicht jammern und nicht fliehen und sich nicht an den schützenden Herd der Eltern bergen. Sie hatte diese Ehe gewollt trotz ihrer Warnungen, jetzt harrte sie aus. War die Liebe auch tot, ihr Stolz lebte. Mit allen Kräften ihrer Energie wollte sie sich die Stellung in diesem unseligen Hause erzwingen, die der Lady Byron zukam. Sie wollte ihm zeigen, daß sie seine schmachvolle Behandlung nicht duldete. Sie wollte ihm zeigen, daß sie sich behauptete gegen seine Tobsucht, gegen seine Entwürdigung, gegen seine nachtdunkle Bosheit. Aber da griff sie doch wieder mit beiden Händen an die Stirn, und die Frage bohrte sich in ihr Hirn, warum er ihr diesen blutigen Schimpf angetan hatte, dort vor dem Fenster auf und nieder zu fahren. Sie grübelte und grübelte und fand keinen Grund, weil ihr kluges Gehirn wohl auf logisches Denken gerichtet war, ihr klares Gemüt aber die unlogischen, bebenden Wirrnisse dieser Genialität nicht zu erahnen vermochte. Und darum sah sie und konnte sie in dieser Tat nichts sehen als zermalmende Niedertracht und wahnwitzigen Hohn. Sie ballte wieder die Fäuste, daß die Nägel sich in die Handflächen eingruben, und biß die Zähne aufeinander. Und die Not dieser Stunde schmiedete sie zu Stahl, an dem seine Frevel in Zukunft abprallen sollten. Dann setzte sie sich an »ihre Seite« des Schreibtisches und schrieb an die Eltern. Einen heiteren unbesorgten Brief schrieb sie, die Lieben in Seaham zu täuschen, für den Fall, daß Tante Bessy ihr Versprechen doch nicht hielt. Dann würde ihr Brief sie daheim irreführen, denn sie würden wohl doch nicht ahnen, daß ihre Heiterkeit und Sorglosigkeit aus der Scham darüber geboren war, daß sie aus den zahllosen Bewerbern um ihre Hand gerade diesen Unhold erkoren hatte.

Dann lebten sie eine Zeitlang nebeneinander hin. Sie mit frostiger Gerechtigkeit den Pflichten ihres Tages gerecht werdend, er in knurrender Verbissenheit. Doch dann sprang sein Gemüt wieder um in die entgegengesetzte Richtung. Ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, die er geben und empfangen wollte, packte ihn. Und je abweisender Annabella ihn mied, je zurückhaltender sie ihm begegnete, desto begehrenswerter dünkte sie ihm. Er umwarb sie wie eine fremde Geliebte, doch sie blickte ihn kalt an mit ruhigen beherrschten Augen. Sie hatte das Vertrauen zu ihm verloren, und ihre Liebe lag gefällt in ihrer Brust. Da wurde er eines Abends maßlos im Zorn des Verschmähten.

»Du treibst mich aus dem Hause!« schrie er sie an, »du, die einst hochtönend gesagt hat, sie wolle sich als ein Wehr gegen meine bösen Instinkte stellen. Du stachelst alles Böse in mir auf.«

»Ich bin nur gerecht,« verwies sie.

»Ja,« rief er in bleicher Qual, »ich weiß es, du bist nur gerecht. Aber: qui n'est que juste, est dur«.

»Du hast es so gewollt,« entgegnete sie mit herber Entschiedenheit, »nur du, jetzt kann ich nicht mehr anders.«

»Gut,« erwiderte er, »dann werde ich die Liebe bei anderen suchen. Gute Nacht, du meine moralische Klytämnestra.«

Und er stürmte hinaus und sprang mit beiden Füßen hinein in den Morast der Londoner Nächte.

Die Zeit schwand dahin. Längst war es Sommer geworden. Die Kanonen von Waterloo hatten Napoleons Glück unwiederbringlich niedergedonnert. And immer dunkler und trüber wurden die Tage in dem prunkenden Palais der Piccadilly Terrace. Doch einmal noch blühte in Annabellas vereistem Gemüt eine blaue Hoffnungsblume auf. Einen Tag noch ging sie umher mit einem Lächeln auf den Lippen, mit einem kleinen, glücklichen Lächeln, das die hohen Spiegel an den Wänden seit Monaten nicht mehr kannten. Heute wollte sie es ihm sagen. Sie dachte an die Zärtlichkeit, die ihn in Augustas Heim über die Wiege des fremden Kindes gebeugt hatte, und die Härte in ihr zerschmolz in der mild tauenden Wärme der Hoffnung. Als er abends kam, sagte sie es ihm. Ganz zart und leise sagte sie ihm von dem Glück, das in ihrem Schoße pochte. Eine Helle flackerte über seine Stirn, er eilte auf sie zu. Aber plötzlich stand zwischen der jungen Frau im Stuhle und ihm die Erinnerung an jenen Tag, da Mary ihm ihr Geschick gebeichtet hatte. Und da erschien ihm das, was er heut empfand, bleich und schal neben dem stürmischen Jubel von damals. Doch zugleich empfand er blitzartig, daß er Glücksworte stammeln, daß er Zärtlichkeit heucheln müsse. Er zwang sich vorwärts und beugte sich zu ihr nieder und küßte ihre weiße, kluge, mütterlich verklärte Stirn. Er suchte Worte zu erzwingen, doch die Kehle war verdorrt. Die Kraft der Verstellung versagte. So sank er vor ihr nieder auf die Knie und küßte stumm ihre Hände. Aber sie fühlte das Gewollte. Die Arme sanken von seinen Lippen hernieder wie eine stumme Wehklage. Und wenn er auch lange bei ihr saß und endlich Laute fand, und von dem Kinde sprach, wie es sie umspielen, wie sich nun alles zum Guten wenden würde, sie hörte doch den unechten Klang.

Und sie wußte heute, daß sie ihn auf immer verloren hatte. Und in dieser Stunde verlor er sie für alle Zeiten.

Äußerlich aber gestaltete sich ihr Leben friedevoller. Er blieb mehr zu Hause, mühte sich, ihr Leid zu ersparen und sie äußerlich zu umhegen.

Doch eines Nachmittags, als sie die ernste Stirn über die alte Mondkarte von Cherubim d'Orleans aus dem Jahre 1671 beugte, trat Fletcher ein und meldete scheu: »Der Gerichtsvollzieher ist da.«

»Wie?« fragte sie. Ihr Begreifen war weit, weit drüben bei den Kratergebirgen der fernen Gestade.

»Der Gerichtsvollzieher,« wiederholte Fletcher.

»Der Gerichtsvollzieher?« echote sie. Aus unbestimmten dunklen Ahnungen flammte die blutige Scham in ihre Schläfen.

»Ja,« nickte Fletcher betreten, »er ist unten im Stall.«

»Was will der Gerichtsvollzieher in unserem Hause?« stieß sie hervor, »das kann nur ein Irrtum sein,« eilte hinaus, lief die Treppe hinab und fühlte, wie die Kraft aus den Beinen entwich, und rannte über den Hof und sah die Gesichter der Mägde und des Hauswarts aus den Fenstern glotzen. Sie kam in den Stall. Hier trat ihr der Gerichtsvollzieher mit der Hoheit entgegen, die diesen Leuten eignete, zu deren täglichen Pflichten es gehörte, armselige Schuldner aus ihren Betten zu reißen, sie aus der Umfriedigung ihres Hauses fortzuschleppen in den Kerker und den Jammer des Schuldturms.

»Was tun Sie hier?« fragte Annabella und raffte ihre letzte furchtbleiche Würde zusammen.

»Was ich tue?« entgegnete der Patron grob, »ich pfände.«

»Das kann nur ein Irrtum sein,« wiederholte Annabella und wagte nicht, die Kutscher anzusehen, die mit gespannter Neugier in der Box bei den Pferden standen.

»Irrtum,« lachte der Bursche, »jawoll, das sagen die Leutchen immer, zu denen ich komme. Die Ausrede kennen wir.«

»Es kann nicht möglich sein,« flüsterte die junge Frau.

»Nicht möglich?« der Mann schwenkte etliche Urkunden, »na, dann sehen Sie sich mal das hier an. Halten Sie das für'n Gerichtssiegel und das für die Unterschrift des Lord Oberrichters? He?« Und er hielt ihr die Papiere vor die Augen.

»Wie groß ist die Summe?« fragte sie und umklammerte die Leiste der Box.

»Hm,« machte der Mann, »es sind im ganzen so tausend Pfund. Wollen Sie die bezahlen? Dann kann ich ja wieder gehen.«

Annabella dachte sekundenlang an ihren Schmuck, der kaum dreihundert Pfund wert war, sie dachte an ihre Sparbüchse, die kaum sechzig Pfund enthielt.

Sie schüttelte trostlos den Kopf.

»Nein, bezahlen kann ich es nicht. Aber Lord Byron wird es sicher sofort begleichen. Können Sie nicht abends noch einmal wiederkommen?«

»Nein,« lachte der Mann frech drein, »auf die Ausrede falle ich nicht rein. Die kennen wir, das sagen sie alle.«

»Na,« wandte er sich an die Kutscher, »dann kommen Sie mal raus, Gentleman! Die Pferde wollen wir gleich abführen. Kommt oft vor, daß solche beweglichen Viecher mit einem Male verduftet sind. Und die Remise da, die woll'n wir mal gleich abschließen und versiegeln.«

Und als er die Pferde in den Hof geführt und die Remise abgeschlossen hatte, rief er so laut, daß die Dienstboten und der Hauswart es hören mußten: »Nu woll'n wir mal ins Haus gehen und da ein bißchen kleben.«

Und er ging ins Haus und Annabella folgte ihm als weißer verängstigter Schatten und wagte nicht, die Stirn zu heben unter dem wissenden Blick der Dienstboten. Sie folgte dem Mann von einem Zimmer ins andere. Jedesmal, wenn er sein Siegel auf ein Stück der Einrichtung preßte, kämpfte sie mit aller Kraft gegen die verwirrende Leere, die ihr Gehirn aushöhlte. Er betastete mit seinen großen häßlichen Händen die Bibliothek, seine und ihre, und heftete das Siegel darauf. Jetzt nahm er ihren alten heiligen indischen Kasten mit seinen bizarren Schnitzereien und besudelte ihn mit seinem Stempel. Und nun nahm er den alten Gebetteppich mit seinem kosenden seidigen Glänze und ihren vielgeliebten Gainsborough, und fast alles entweihte und beklebte er, was ihr in diesen bitteren Monaten ihrer Ehe traut und wert geworden war. Nur einige Zimmer verschonte er. Und beim Weggehen, draußen im Korridor, in dem sie das leise surrende Geflüster der Dienstboten vernahm, rief er:

»Also, Eure Ladyschaft, übermorgen hole ich den ganzen Plunder ab, wenn bis dahin die Schuld nicht bezahlt ist.«

Als er gegangen war, fiel Annabella ganz lautlos in sich zusammen. Die Charlemont fand sie später auf dem Teppich, der nun nicht mehr ihr Eigentum war. Sie rief den Diener, und beide trugen die Herrin fürsorglich zum Bett. Als sie zu Bewußtsein kam und das Gesicht der Charlemont über sich gebeugt sah, wandte sie sich ab und barg den Kopf in die Kissen. Doch die Charlemont koste sie und sprach ihr zu. Sie brauche sich doch nicht zu schämen, sie doch wahrhaftig nicht. Am Ende wäre es ganz gut, daß es so gekommen sei, denn dann würde es wohl eher ein Ende nehmen. Dann dachte Annabella an ihre Eltern und überlegte, ob sie von ihnen Hilfe erbitten sollte. Denn sie hatte sofort gewußt, daß die Pfändung kein Irrtum sei. Doch sie beschloß, auf Byron zu warten.

Als er abends sorglos heimkam, flog sie auf ihn zu und schleuderte ihm entgegen: »Der Gerichtsvollzieher ist hier gewesen.«

»So,« sagte er und verzog bitter den Mund.

»Wegen tausend Pfund hat er gepfändet. Wenn du das Geld nicht bis übermorgen zahlst, werden die Möbel abgeholt und die Wagen. Die Pferde hat er schon heute fortgeführt.«

»Hm,« sagte Byron wieder und blickte verlegen im Zimmer umher.

»Du mußt das Geld auftreiben,« drängte sie atemlos, »du mußt es sofort auftreiben.«

»Ja doch, ja doch,« begütigte er. »Ich werde es ja auftreiben.«

Sie sah im forschend in die Augen.

»Wirst du es sicher auftreiben? Sonst werde ich lieber gleich an meine Eltern schreiben.«

Er blickte sie hilflos an. Und da, als sie ihn so ratlos und schwach vor sich stehen sah, empfand sie plötzlich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit ihm. Mild sagte sie: »Ich will gern an meine Eltern schreiben, sie werden uns helfen.«

»Nein, nein,« rief er, »unter keinen Umständen dulde ich das. Ich werde das Geld schon auftreiben.«

Da atmete sie wieder leicht und frei. So zuversichtlich hatte er gesprochen.

Am nächsten Morgen lief sie unruhig zwischen dem Schlafzimmer und der Bibliothek auf und nieder und legte immer wieder die Hand an den Drücker der Tür, hinter der er sorglos schlief, und wagte nicht einzutreten, aus Furcht ihn zu wecken und zu reizen, und schlich wieder zurück in das Arbeitszimmer und hastete ruhelos durch alle Räume und dachte: »Ich muß ihn doch wecken, er muß doch das Geld auftreiben, ich muß ihn doch wecken.«

Und als sie es endlich in ihrer angstgehetzten Scham tat, fuhr er sie heftig an: »Herrgott, das hat bis Nachmittag Zeit. So dringend ist das doch nicht. Uns kann doch nichts passieren. Mich als Peer dürfen sie nicht in den Schuldturm stecken. Das schlimmste ist, daß sie uns die Möbel wegnehmen.« Damit drehte er sich wieder zur Wand und ließ sie bebend an seinem Bette stehen.

Doch am Nachmittag ging er, nahm eine Hackney-coatch und fuhr zunächst nach Drury Lane, wo er zu einer wichtigen Direktoriumssitzung erwartet wurde. Beim Fortgehen traf er den Schauspieler Kean. Der nahm ihn mit zu einem Trunke. Auch einige Damen fanden sich ein. Man sprach und lachte und scherzte. Und Byron vergaß, daß er das Geld hatte auftreiben wollen, und saß unter den fröhlichen Kumpanen und ausgelassenen Damen und war der Fröhlichste und Ausgelassenste von allen. Spät in der Nacht kehrte er heim und gewahrte mit Erstaunen Licht in seinem Zimmer. Verwundert trat er ein. Da fand er Annabella, harrensbleich und furchtentstellt. Sie hatte Stunde um Stunde auf ihn und seine beruhigende Nachricht gewartet. Erst ihre angstvolle Frage brachte ihm die Erinnerung an den Zweck seines Ausgehens. Verlegen stand er vor ihr.

»Hm, Annabella, ich hatte heute nicht recht Zeit. Da war eine sehr wichtige Sitzung im Theater, und nachher, da war es eigentlich schon zu spät. Aber morgen gehe ich bestimmt.«

Am nächsten Tage ging er wieder. Zu allen Wucherern lief er, bei denen er je Schulden gemacht hatte. Aber sie lachten ihn aus, und alle wiederholten dasselbe: »Nein, Eure Lordschaft, Ihr Kredit ist hin. Sehr dumm von Ihnen, wenn Sie eine arme Dame geheiratet haben.«

»Sie hat einmal sehr viel zu erwarten,« hielt Byron ihnen verlockend vor.

»Das ist ein zu unsicherer Wechsel auf die Zukunft,« lehnten sie ab, »nein, Eure Lordschaft, so leid es uns tut, nicht einen Farthing.«

Das hörte er wohl zehnmal an diesem Nachmittag. Und als der Sommerabend niederblaute und die Büros sich schlossen, stand er hoffnungsbar auf der Straße und wagte sich nicht heim unter die bekümmerten forschenden Augen seines Weibes. Er hinkte mühselig durch die Straßen der City und überlegte, an welchen seiner Freunde er sich wenden könnte. Rogers war verreist, in Italien. Vielleicht Lord Holland, doch der würde ihn an Lady Holland weisen, denn sie führte die Verwaltung des Vermögens. Aber Lady Holland würde ihm nicht einen Pfennig geben, sie würde kurz und schroff sagen: »Mein lieber Byron, es gibt Bedürftigere, für die ich zu sorgen habe.«

Und die anderen, all die anderen, bei denen er als Zierde der Salons ein- und ausgegangen war, standen ihm zu fern. Nein, bei denen durfte er es nicht wagen. Und wenn er es auch wagte, wer würde ihm die ungeheure Summe anvertrauen, deren er bedurfte? Die tausend Pfund waren nur ein kleiner Anfang. Die wilde Horde der Gläubiger war ihm jetzt auf den Fersen. Unzählige Prozesse schwebten. In kurzer Zeit mußten neue Pfändungen hereinbrechen. Es hatte keinen Zweck, jetzt noch tausend Pfund in das brandende Meer zu schleudern, es verschlang ihn ja doch.

Mutlos hinkte er dahin und fürchtete sich, nach Hause zu gehen. Da schleppte er sich zu Hobhouse, und im Kreise der Freunde verblieb er, bis der Morgen graute.

Annabella aber wanderte zermürbt durch die Gemächer des weiten Palais der Piccadilly Terrace. So fand Byron sie, als er am Morgen hereinschlich. Sie fragte nicht, sie blickte ihn nur an mit weiten übernächtigten Angstaugen. Dann schleppte sie sich in das Arbeitszimmer und überlegte. Die Verachtung über die Herzlosigkeit, mit der er sie diese furchtbare Nacht allein hatte durchwachen lassen, lag ganz tief auf dem Grunde ihres Gemütes. Daran konnte sie jetzt nicht denken. Sie wollte die letzten Kräfte ihres Verstandes zusammenraffen, auf Hilfe zu sinnen. Aber sie fand nichts, nichts. Jetzt war es zu spät, an die Eltern zu schreiben. Sie stand am Fenster und starrte hinaus auf die Straße. Und wenn das Rattern eines Wagens hereinschallte, grub sie die Nägel in das Fensterbrett und glaubte, daß jetzt der Leichenwagen ihres bürgerlichen Ansehens nahe. Sie dachte daran, in welchen Ausdrücken man in dem lauteren Hause zu Seaham von den Leuten gesprochen hatte, bei denen der Gerichtsvollzieher einkehrte. Man hatte sie dort zusammengeworfen mit Dieben und nachtscheuem Gelichter, das man an den Galgen knüpfte. Und jetzt gehörte sie und ihr Haus zu diesem Gesindel, dessen Berührung man mied wie die Gemeinschaft mit Mördern und Räubern.

Der Sommertag stieg zur Höhe. Und der Zorn und der Haß und die Verachtung stöhnten in ihr, wenn sie daran dachte, daß er sorglos im Bette lag und schlief, während sie hier stand und auf den Wagen des Gerichtsvollziehers wartete.

Und der Wagen fuhr vor. und sie stand am Fenster und sah zu, wie ein Stück ihrer jungen Habe nach dem anderen hinausgeschleppt wurde und in dem dunklen Wagen verschwand. Und als alles vorüber war, da hallten durch die verödeten Räume die Tritte der Dienstboten, die vor der Herrin erschienen und ihre Entlassung forderten. »Denn,« beteuerte der Hauswart mit geschwollener Würde, »unsere Reputation duldet es nicht, daß wir in einem solchen Hause länger dienen.«

Sie öffnete mit zitternden Händen ihre Kassette und entnahm ihr letztes Geld und zahlte den Dienstboten den Lohn.

Dann saß sie stumm auf einem der wenigen Sessel, die ihr gelassen waren, und dachte an das Kind, das sich in ihrem Schoße heftig regte. Die Augen brannten und fanden keine lindernden Tränen. Und die Charlemont, die allein mit Fletcher geblieben war, setzte sich zu ihr, sagte kein Wort und nickte nur immerzu mit dem öligen Schädel. – –

Das war nur der Anfang. Noch neunmal mußte die junge Frau die Grobheiten des Gerichtsvollziehers über sich hinwettern lassen. Noch neunmal mußte sie sich in Scham und Erniedrigung zu den Parias der »honetten Gesellschaft« werfen lassen. Auf jedes Stück ihrer Habe, selbst auf das wuchtige, kronengeschmückte Ehelager, legte das Gesetz seine unerbittliche Faust. Nur durch Murrays hilfsbereites Dazwischentreten blieb ihnen das zum Leben Notwendigste erhalten. Müde schritt Annabella umher zwischen den nackten Wänden ihres geplünderten Palais. Doch sie verzagte nicht. Jetzt, in der äußeren Not ihres Lebens, war ihre alte Tatkraft erwacht. An die Eltern hatte sie sich aus Scham nicht gewandt. Doch sie beriet oft und lange mit Hobhouse, und beide betrieben jetzt emsig den Verkauf von Newstead. »Wir müssen es selbst in die Hand nehmen,« hatte der Freund ihres Mannes gesagt, und die mächtige Nase wie einen Enterhaken in die Luft gestoßen, »denn Byron versteht von Geschäften weniger als ein neugeborenes Kind. Und dann müssen Sie, Lady Byron, den Erlös verwalten, denn wenn Byron auch eine Million jedes Jahr ausgeben könnte, er würde doch immer tausend Pfund mehr ausgeben, als er hat.«

Byron war in dieser Zeit still und gedrückt; er schämte sich des Leides, das er über die Frau gebracht hatte, die aus der gutbürgerlichen Geborgenheit ihres Elternhauses gekommen, ihr Leben an das seine zu ketten, und von ihm hineingestoßen worden war in die Schande faulen Schuldnertums. Er blieb viel daheim und wenn sie sich zu ihren Büchern setzte, tröstete er:

»Ich werde Rat schaffen, Bella, und vor dem Äußersten schützt uns Murray. Ich werde ein neues Gedicht schreiben, das uns viel einbringen soll.«

Und er ging umher und sann über die »Belagerung von Korinth«.

Da fiel ein Lichtstrahl in die dunkle öde des ängstlichen Harrens auf einen Erfolg der Verhandlungen über Newstead. Annabella erhielt einen Brief der Mutter. Klopfenden Herzens eilte sie zu Byron. Jetzt sah sie wieder einen Weg in geordnete sichere Verhältnisse und vielleicht – ach, vielleicht auch zu einem neuen, aus den Trümmern aufblühenden Glück. Denn eine Frau ist trotz alles Wollens innerlich doch nie ganz losgerissen von dem Manne, der zuerst ihre junge Liebe besessen hat.

»Meine Mutter hat geschrieben,« sagte sie und verlor zum erstenmal die verstandesklare Beherrschung, die bisher ihre Gespräche vereist hatte. »Du weißt, daß Onkel Noël, der neulich so plötzlich gestorben ist, sie zur alleinigen Erbin eingesetzt hat. Meine Eltern sind jetzt nach seinem Schloß in Leicestershire, Kirkby Mallory gezogen, und nun stellt meine Mutter uns Seaham zur Verfügung.«

Sie wartete auf eine Antwort, doch als Byron schwieg, fuhr sie eifrig fort: »Das ist ein Weg, um in Ehren,« – sie lächelte fast – »aus dem Ungemach hier herauszukommen. Du weißt, daß die Herzogin von Devonshire uns jeden Tag hier vertreiben kann, da wir die Miete nicht bezahlt haben. Jetzt haben wir ein Heim. Nach Newstead könnten wir ja doch nicht gehen, da auch dort alles gepfändet ist. Aber in Seaham sind wir sicher, es gehört meinen Eltern, auch die Einrichtung. Dort kann kein Gerichtsvollzieher uns bedrängen, und dort werden wir Ruhe haben und Frieden und die See, die du so sehr liebst.«

Sie trat ganz nahe an ihn heran und fragte leise und innig:

»Freust du dich nicht?«

Er sann eine Weile, dann sagte er sanft:

»Nein, Annabella, ich freue mich nicht. Ich kann es nicht annehmen. Mir graut davor, mich auf dem Lande zu vergraben. Ich habe nicht das Zeug zum Landedelmann. Ich muß Leben um mich haben und Gewühl und Erregung und das Brausen der Londoner Straßen.«

Da warf sie ein: »Du hast doch früher oft in Newstead gelebt.« – Er schüttelte den Kopf.

»Das ist etwas anderes. Annabella. In Newstead, sieh mal, Newstead, das ist ein Stück von mir. Dort haben meine Ahnen seit Jahrhunderten gelebt, dort spricht jeder Stein von Überlieferungen, die mir verwandt sind, dort steckt die Romantik meiner Kindheit, dort leben die Erinnerungen meiner traurigen Jünglingstage,« er blickte an ihr vorbei ins Leere, »die mir jetzt so glücklich und reich erscheinen ... Nein, nein, mit Newstead darfst du das nicht vergleichen. Und dann, auch dort habe ich es nie lange ausgehalten. Nein, Annabella, ich kann mich nicht in Seaham lebendig einsargen.« Sie setzte sich traurig nieder und sagte mit stockender Stimme: »Überlegen solltest du es dir doch.«

Er sprang auf: »Da ist für mich nichts zu überlegen. Nein, Annabella, das kannst du nicht von mir verlangen. In dieser Einöde würde ich geistig verkrüppeln. Ich kann es nicht.«

Ganz leise sagte sie: »Auch mit mir nicht? Wir sind doch bald zu Dritt.«

Das sprach sie so traurig und innig, daß es lind in ihm aufquoll. Er zog einen Stuhl dicht neben sie, nahm ihre beiden Hände, wie er es seit Monaten nicht mehr getan hatte, und sagte:

»Wir wollen einmal sprechen, Annabella, wie gute Freunde wollen wir einmal miteinander sprechen. Ich weiß, ich bin schlecht gewesen all diese Zeit über. Ich habe es selbst empfunden und habe mich selbst dabei gequält und geschämt. Ich habe mich wie einen Tollhäusler im Zimmer umhertoben gesehen und habe doch nicht dagegen ankämpfen können. Mich hat die grausige Angst geschüttelt, lebenslänglich eingekerkert zu sein, mir war, als könnte ich nicht mehr atmen, und ein wahnwitziges Entsetzen trieb mich umher, als ich fühlte, wie die Umstrickung immer enger wurde und mich erdrückte. Da kam dieser Haß gegen dich über mich. Ich sah in dir meinen Kerkermeister, der mich gefühl- und verständnislos abschloß von der Welt da draußen, und da mußte ich mich wehren und dich bis aufs Blut peinigen und wollte es doch nicht und mußte es immer wieder tun.«

»Ich verstehe,« sagte sie und nickte mehrere Male schwer mit dem Kopfe.

Er strich mit beiden Händen über das Gesicht und mit einem leisen Seufzer fuhr er fort: »Die Furcht ist jetzt vorüber, ich habe mich darein gefunden. Wenn es jetzt einmal gar zu schlimm wird, dann nehme ich meine Sehnsucht und hülle sie mir uns Haupt wie eine kühle beruhigende Binde.«

»Welche Sehnsucht?« fragte sie still.

Da hob er die Hände, blickte zur Decke, als sähe er durch sie hindurch in blaue Fernen, und rief:

»Die Sehnsucht nach dem Leben, das draußen rollt, die Hoffnung, daß ich doch noch einmal hinauskommen werde in das richtige Leben, daß der Orient mit seiner Pracht und seinem Schimmer auch noch einmal für mich da sein wird. Und daß ich doch noch einmal die Griechen anfeuern werde zu ihrem Befreiungskämpfe gegen das türkische Joch, und daß ich doch noch einmal, trotz allem, an der Spitze meiner Suliotenschar den Tod eines Helden werde sterben können. Trotz all dieser Enge, in der ich jetzt verdorre, trotz der blutleeren Tatenlosigkeit, die mich jetzt erwürgt.«

Das Kinn sank ihm schwer auf die Brust herab, die Arme hingen kraftlos zur Erde nieder.

Sie schwieg lange. Endlich sagte sie: »Wenn du die Ehe wie ein Gefängnis empfindest, hättest du nicht das Leben eines Weibes an dein Schicksal ketten dürfen.«

Er warf den Kopf zurück.

»Nein, nein,« rief er, »ich weiß, ich hätte es nicht tun dürfen. Aber habe ich es denn gewußt? Ebenso kann ich sagen: Du hättest dein Leben nicht an mich binden sollen, aber, hast du es gewußt? Wir glauben doch immer, auch wenn wir von tausend anderen hören, wie elend sie geworden sind, gerade wir, gerade wir würden es besser machen. Das hast du geglaubt, trotzdem du wußtest, wie ich gelebt habe, und das habe ich geglaubt, und das glauben wir alle, weil wir alle Schmerzen und alles Erdenleid an uns selbst erleben müssen, und alle Erfahrungen, die andere gemacht haben, uns tote Schatten bleiben.«

Sie sagte vor sich hin: »Vielleicht hast du recht. Auch ich habe geglaubt, ich hätte übermenschliche Kräfte.«

Dann schwiegen sie beide in ihr großes Leid hinein.

Nach einer kurzen Stille, in die die Leere der Zimmer hörbar hineinsummte, rückte er wieder näher zu ihr heran, nahm wieder ihre Hände und tröstete: »Wir wollen uns aus den Trümmern unseres guten Glaubens etwas neues aufbauen. Eine prunkende Burg mit lustigen bunten Wimpeln wird es ja wohl nicht mehr werden, aber vielleicht ein Haus, das uns vor Regen und Kälte schützt.«

Sie saß unbeweglich. Dann stand sie auf und ging zu ihren Büchern. Noch einmal hob sie den Kopf und sagte: »Ich werde bald das Kind haben, für das ich leben kann.« –

Wenige Tage später schritt Augusta Leighs Frauenherrlichkeit durch die leeren Räume. Ganz plötzlich hatte die Sehnsucht und das Verlangen sie hergetrieben, einmal mit eigenen Augen in die junge Ehe hineinzuschauen. Sie blickte mit Bangen in die Augen der beiden Entsagenden, sie sah mit Entsetzen die Verwüstung des Haushalts.

Eifrig beriet sie mit der Schwägerin die Aussicht des Verkaufs von Newstead. Annabella lebte auf unter dem trostreichen Zuspruch dieser Frau. Ach, es war so gut, sich anzulehnen, wenn auch nur auf Stunden. Und Byron ging umher, froh und gutgelaunt, wie seit Monaten nicht mehr.

Doch Augusta konnte nur wenige Tage weilen, ihre Kinder riefen sie zurück in ihr eigenes Heim. – Annabella hatte die Geschwister in dem Zimmer, das einst die Bibliothek umschlossen hatte, feinfühlig sich überlassen. Sie wußte, wie zärtlich sie aneinander hingen. Als sie jetzt durch den Korridor kam, fand sie die Charlemont am Schlüsselloch der Tür.

»Was tust du da?« flüsterte sie.

Doch die Charlemont bedeutete ihr durch Zeichen zu schweigen.

»Aber Charlemont,« raunte Annabella, »was fällt dir ein, »es ist doch Lord Byrons Schwester!«

»Ja,« knurrte die Charlemont, »eben deshalb.«

Da zog Annabella sie fort, doch die Frau sagte mit verbissenen Lippen: »Komm einmal ins Schlafzimmer, mein Kindchen.«

Nachdem sie die Tür fürsorglich geschlossen hatte, gebot sie: »Setz dich nieder, Kindchen, du mußt es ertragen.«

»Was denn?« fragte Annabella erstaunt. »Was hast du?«

»Setz dich nur,« drängte die Charlemont, »du mußt es hören, so furchtbar es auch ist. Denn dann wirst du wohl endlich die Kraft finden, dich von ihm loszureißen.«

»Aber Charlemont,« rief Annabella in aufkeimender Angst, »was ist denn nun schon wieder?«

»Setz dich,« wiederholte sie entschlossen.

Und als Annabella sich zögernd niederließ, berichtete die Frau hastig:

»Gestern abend, du warst schon schlafen gegangen, mein Kindchen, da waren sie noch in seinem Zimmer. Ich war nebenan, und da hörte ich zufällig, wie sie sagte: »Ich habe dir ein Bild von Medora mitgebracht,« und das Papier knisterte.«

Annabella schüttelte mißmutig den Kopf: »Was soll die Geheimtuerei. Medora ist Augustas jüngstes Kind!«

»Ich weiß, ich weiß,« nickte die Charlemont und grinste häßlich. »Und wie ich nun durchs Schlüsselloch blickte, da hielt er das Bild in der Hand und sah darauf nieder mit ganz großen feuchten Augen.«

»Ja doch,« sagte Annabella ungeduldig, »Byron liebt kleine Kinder sehr.«

Doch unbeirrt fuhr die Charlemont fort:

»Da sagte Augusta, ich habe es so deutlich gehört, wie ich mich jetzt sprechen höre, »du darfst nicht mehr zu uns kommen, denn wenn die Leute Medora neben dir sehen, ist unser Geheimnis verraten. Sie hat deine Augen, deinen Wund, deine Haare. Jeder würde sofort erkennen, daß du ihr Vater bist.«

Die Charlemont schwieg, kniff die Lippen wieder grimmig zusammen und blickte bedeutungsvoll in Annabellas Gesicht. Annabella saß regungslos und starrte die Frau an.

»Wie?« fragte sie mit hohler Stimme, »du meinst – – – du meinst – – –??«

»Ja,« sagte die Frau fest, »ich meine, daß Medora seine Tochter ist.«

»Charlemont!« Annabella schrie gellend auf. Doch die Charlemont legte ihr die Hand auf den Wund.

»Psch! Psch! Du mußt es ertragen, mein armes Kindchen.«

Annabella riß die Hand von ihren Lippen und ächzte:

»Du bist wahnsinnig geworden, Charlemont, Medora soll – – Medora – soll –?? Dann wäre doch, Charlemont, dann wäre doch – –!«

Die Charlemont nickte: »Dann wäre Augusta seine Geliebte gewesen.«

Da stand Annabella.

»Charlemont!« schrie sie. »du bist – – du bist –« Aber dann fiel sie mit ihrem unförmlichen Mutterleib in den Sessel zurück und flüsterte vor sich hin:

»Nein, nein, das ist Wahnsinn. Charlemont, du bist krank, du kannst das nicht gehört haben. Dein Gehör hat dich genarrt, das ist nicht möglich. Byron mit Augusta! Nein, nein, das tut kein Mensch in England. Das kann irgendwo fern in wilden Ländern vorkommen, das kann im Altertum einmal geschehen sein, heute – nein – nein – diese große, reine, ehrliche Frau, – – das kann nicht zu Ende gedacht werden. Charlemont, nein, nein – nein!«

Die Charlemont stand da mit ihrem ruhigen, öligen Gesicht, drehte die Augen zur Decke und sprach:

»Gäbe der Herr, daß du recht hättest, Kindchen! Aber du brauchst es noch nicht zu glauben. Ich habe den Schlosser bestellt. Sobald sie nachher fort sind, wenn sie zur Poststation fahren, dann laß ich seinen Schreibtisch öffnen. Ich habe gesehen, wie er das Bild da hineinlegte, und dann wird man ja sehen.«

»Nein,« Annabella bäumte sich auf, »das tu ich nicht, das wirst du nicht tun. Bist du toll, Charlemont?!«

»Ja, ja,« seufzte die Charlemont, »es ist schwer zu glauben, daß so etwas in einem englischen Herrenhause geschehen kann. Ich habe mir aber sagen lassen, von den Byrons kann man alles erwarten.«

Da öffnete sich die Tür und Augusta kam mit Byron herein. Er hatte den Arm um ihre Schulter geschlungen. So traten sie eng verbunden herein. Die Charlemont warf Annabella einen bedeutsamen Blick zu und schlich hinaus.

»Hier finden wir dich endlich,« lächelte Augusta innig.

Da gewahrte sie Annabellas wächserne Fahlheit. Schon war sie neben ihr niedergekniet, streichelte ihr Gesicht und fragte besorgt: »Aber, Annabella, was ist dir?« und liebkoste sie mit ihren guten warmen Händen.

»Mein Armes, es ist nun bald vorüber. In wenigen Wochen bist du erlöst, und dann sollst du sehen, wie schön das Leben wird. Wenn du erst das Kind auf dem Arm hältst, das ist dann doch eine neue Welt, die du umschlingst. Und vor dem anderen, da brauchst du dich auch nicht zu fürchten. Ich komme in wenigen Tagen zurück. Ich werde bei dir stehen. Bella, wir beide, wir zwei strammen Frauenzimmer werden doch solchen kleinen Balg glücklich in die Welt setzen können! Was!«

Doch Annabella war der Schwägerin Nähe, in der sie sich vorher so geborgen gefühlt hatte, peinigend und qualvoll. Sie löste sich aus ihrer Liebkosung und sagte hastig:

»Nein, nein, Augusta, ich bitte dich, komm nicht.«

Augusta aber nahm sie wieder in die Arme, bettete das angstgespannte Gesicht sanft an ihre Brust und tröstete:

»Doch, doch, ich komme, Annabella, du wirst sehen, wie froh du bist, wenn ich dann bei dir bin.«

Wieder löste die junge Frau sich aus Augustas Armen.

»Laß mich, bitte,« sie drängte sie von sich, »laß mich!«

Augusta erhob sich, lächelte milde und blickte besänftigend zu Byron hinüber. Die Augen der Geschwister begegneten sich. Annabella entging dieser Blick nicht, sie deutete ihn trotz aller Gegenwehr, die sich noch in ihr gegen die Einflüsterung der Charlemont stemmte, bös und gehässig. Byron aber murrte vor sich hin: »Ja, ja, bisweilen ist es nicht leicht, mit ihr auszukommen.«

Doch Augusta lächelte noch immer und flüsterte liebreich: »Das macht doch ihr Zustand, George. Da sind wir Frauen oft ein wenig wunderlich.«

»Wie sie zusammen tuscheln,« dachte Annabella und fiel leblos in ihren Stuhl zurück. Als Augusta sich über sie beugte, raunte sie: »Laßt mich bitte allein, ich fühle mich nicht gut. Ruft die Charlemont.«

Und Augustas Zureden fruchtete nichts. Die junge Frau flehte immer wieder: »Geht, geht! Laßt mich, laßt mich!« bis sie die Charlemont riefen und zurückgingen in Byrons Zimmer.

Als Byron später die Schwester zur Poststation begleitete, schlüpfte die Charlemont mit dem Schlosser in sein Zimmer. Nagende böse schmachbleiche Zweifel trieben auch Annabella hinzu. Sie stand dabei und sah den Schlosser mit dem Dietrich hantieren und empfand schwindelnd die Niedertracht ihres Tuns und krampfte sich zusammen in Scham und sah doch zu, wie der Mann die Lade des Tisches öffnete.

»Warten Sie im Korridor, bis wir Sie rufen!« gebot die Charlemont.

Kaum war der Wann hinausgegangen, stürzte sie, wie ein Geier über das Aas, über den Tisch her und riß das Bild Medoras hervor. Rasch prüfte sie es und reichte es Annabella. »Na,« sagte sie und kniff die Lippen verdammend ein, »wenn das nicht sein Kind ist!« Annabella nahm das Bild mit tastenden Fingern. Ja, das war sein Kind, das waren seine Augen, das war sein Mund. Ja, das war Byrons Kind. Sie brach in den Knien zusammen, kauerte auf der Erde, hielt das Bild Medoras mit beiden Händen umklammert, und ihre Stirn sank schwer nieder auf das kleine Pastell. Die Charlemont aber wühlte in Byrons Briefen. Es waren viele da von Augusta, und in allen sprach sie von Medora. Plötzlich lachte das Weib triumphierend auf:

»Jetzt haben wir ihn, jetzt haben wir den Beweis!« Laut las sie: »Es ist gut, daß die Leute hier dich nicht so genau kennen. Ich habe auch alle deine Bilder fortgeräumt, denn die Ähnlichkeit mit deinem Kinde ist zu groß. Ich fürchte sehr, daß Medoras Ähnlichkeit mit dir eines Tages unser Geheimnis verraten wird.«

Da gurgelte es in Annabellas Kehle auf. Dann lag sie zerkrümmt in tiefer Bewußtlosigkeit auf dem nackten Boden. Die Charlemont zerknitterte den Brief flugs in die Tasche, ordnete mit schnellen Fingern die übrigen Schriftstücke in die Schublade hinein, legte das Bild dazu, rief Fletcher, trug mit ihm Annabella in das Schlafzimmer hinüber und ließ den Tisch dann wieder von dem Schlosser verschließen. –

Da schallte ein langgezogenes Klagestöhnen aus dem Schlafzimmer durch die Korridore herüber. Als die Charlemont hinüberflog, fand sie Annabella in Wehen sich windend. Die seelische Erschütterung hatte die Geburt verfrüht. Unter unsäglichen Qualen, die zwei Tage währten, gebar sie ein Mädchen.

In den langen Stunden ihres Wochenbettes lag sie und überdachte immer wieder die grauenvolle Enthüllung, die ihr geworden war. Und immer wieder kam sie zu dem Ergebnis, daß sie auch ohne den untrüglichen Beweis, den sie in dem Brief Augustas in Händen hielt, das Entsetzliche glauben müsse. Sie bäumte sich im Bette auf, daß der Schmerz durch ihren wunden Körper riß, wenn sie daran dachte, daß sie einst aus dem liebevollen Blick, mit dem er Medora betrachtet, Hoffnungen gesogen hatte für ihr eigenes Glück. Ach, jetzt wußte sie, weshalb er sich so liebevoll über die Wiege des Kindes gebeugt hatte! Jede Stunde ihrer unseligen Ehe durchlitt sie noch einmal in den langen Stunden ihres Wochenbettes. Und alles, was er ihr je angetan, wuchs unter dem Banne ihres Grauens vor diesem Letzten ins Ungeheuerliche. Wie ein Untier erschien ihr der Mann, mit dem sie nun ein Jahr lang zusammengelebt hatte. Der Abscheu nahm ihr den Atem, wenn er ins Zimmer trat. Und als sie einmal sah, wie er seine kleine Tochter lachend in den Armen wiegte, war es ihr, als besudele seine Berührung ihr Kind.

»Faß es nicht an!« schrie aus ihr die Wildheit des Muttertieres, das ihr Junges verteidigt.

Er blickte erstaunt zu ihr hinüber und lachte: »Hast du Angst, ich lasse sie fallen? O, ich kann mit kleinen Kindern umgehen.« Und er wiegte sie fröhlich in seinen Armen.

Als er bestimmte, daß die Kleine den Namen Augusta erhalten sollte, widersetzte sie sich mit aller Kraft. Doch er sagte: »Sie soll Augusta heißen, denn meine Schwester,« er lächelte galant und spöttisch, »ist, außer dir natürlich, das Liebste und Teuerste, das ich auf der Welt habe.«

Da biß sie in die Kissen und lag da, erschöpft und vernichtet. Das Kind aber wurde auf den Namen Augusta Ada getauft.

Kaum hatte Annabella das Bett verlassen, da handelte sie. Handelte schlau und verschlagen, umstrickt von der treibenden törichten Furcht, aus diesem Mann, der so Furchtbares getan hatte, könne jeden Augenblick ein vernichtender Wahnsinn über sie und ihr Kind hereinbrechen. Ein äußerer Anlaß bot ihr die Handhabe zur Ausführung ihres Vorhabens. Das Bett war ihr am Tage nach der Geburt unter dem Leibe fortgepfändet worden. Das griff sie auf.

»Byron,« schlug sie vor, »ich werde mit dem Kind nach Kirkby Mallory zu meinen Eltern reisen. Ich ertrage diese Aufregung der Pfändungen jetzt nicht in meinem ermatteten Zustand.«

Er willigte sofort ein. »Gut, Pipin. das ist vielleicht das beste. Ich kann dir diese Pein wirklich nicht länger zumuten. Inzwischen verkaufe ich Newstead, und dann richte ich uns ein kleines behagliches Haus hier ein und du kommst zurück, gekräftigt und blühend, wie du einst warst, als ich dich von Seaham fortführte.«

Nach einem äußerlich innigen Abschied fuhr sie mit dem Kinde davon. Und noch von unterwegs schrieb sie ihm einen zärtlichen Brief im Banne der Angst, das Ungeheuer könne noch immer über sie herfallen, solange sie sich nicht im Schutz des Elternhauses geborgen hatte.

Doch in Kirkby Mallory brach sie zusammen. Die Willenskraft, die sie mühsam aufrecht erhalten hatte, fiel von ihr ab. Wie ein armes Vögelchen duckte sie sich unter die Schwingen der Mutter. Und alles erzählte sie, alles, wie er sie mit anderen Frauen betrogen, und wie er sie die Nächte hatte harren lassen, als er gegangen war, das Geld aufzutreiben, wie er vor dem Fenster auf und nieder gefahren war und wie er die Uhr zertrümmert hatte und dieses Letzte, alles erzählte sie. Lady Milbanke fiel aus den Wolken, d. h., sie fiel nicht aus den Wolken. Denn sie gehörte zu jenen Frauen, denen nichts überraschend kommt, die immer alles »längst« gewußt haben. Ja, sie hatte auch alles dieses längst gewußt. Sie hatte von diesem Manne nichts anderes erwartet, sie nicht.

Sie stürmte zu Herrn Ralph, der beschaulich vor seinen Bordeauxflaschen saß, hetzte ihn an den Schreibtisch und diktierte ihm einen Brief. Der brave Sir Ralph war von Byrons Schuld zwar keineswegs überzeugt, doch unter den grünen Blitzsalven seiner Frau schrieb er.

Byron las den Brief, las ihn wieder und las ihn zum dritten Male.

 

»Hochverehrter Herr!

Ganz kürzlich sind uns Tatsachen zu Ohren gekommen, die es nötig erscheinen lassen, meine Tochter nicht länger der Behandlung auszusetzen, die sie in Ihrem Hause erfahren hat. Sie ist fest entschlossen, sich von Ihnen scheiden zu lassen, und ersuche ich Sie daher, in die private Scheidung zu willigen, da meine Tochter es vermieden sehen will, daß, was bei einer gerichtlichen Scheidung nicht zu vermeiden wäre, die Schande ihres Familienlebens an die Öffentlichkeit gezerrt wird.«

Doch auch beim dritten Male verstand er den Brief nicht. Sie waren doch in aller Zärtlichkeit voneinander gegangen! Er saß und starrte vor sich hin. Plötzlich pfiff er hell auf. »Aha,« begriff er, »sie hat der alten Hexe erzählt, wie ich mich manchmal benommen habe, und da hat diese liebe Frau Annabella aufgehetzt oder aber, natürlich, der brave Sir Ralph hat diesen Brief auf Befehl seiner Frau ohne Annabellas Kenntnis geschrieben, und sie meinen, sie mit der Zeit schon gefügig zu machen.«

Er antwortete, daß er Herrn Ralph zwar gewaltig schätze, daß eine so wichtige Mitteilung aber nur seine Beachtung finden könne, wenn sie von seiner Frau persönlich herrühre. Umgehend kam Annabellas Bestätigung. Da stand Byron vor einem unlöslichen Rätsel. Er verlangte Gründe. Doch keine Antwort erfolgte. Aber Hobhouse erzählte, er habe gehört, Lady Milbanke sei in London und habe Sir Romilly die Vertretung ihrer Tochter übertragen, und riet Byron, ebenfalls einen hervorragenden Anwalt zu betrauen. Doch Byron rief: »Sir Romilly, o, den kenne ich ja sehr gut von Holland House her. Ein sehr ehrenwerter, vornehmer Mann, mit dem werde ich sprechen.«

Er ging zu dem Anwalt. Sir Romilly empfing ihn steif und gemessen.

»Eine sehr heikle Angelegenheit, Ew. Lordschaft,« sagte er mit Zurückhaltung. »Ich würde es sehr bedauern, wenn Sie nicht in die Privatscheidung willigten, denn wenn wir diese Dinge vor Gericht erörtern müßten, so wäre das eine Schande für ganz England.«

»Ich verstehe Sie durchaus nicht,« entgegnete Byron. »Ich habe Sie, Sir Romilly, als einen Mann kennen gelernt, der sich immer bemüht hat, die Härten unserer Gesetze zu mildern. Und ein so weitsichtiger Wann wird sich doch nicht durch das Gerede einer erregten Frau, wie meine Schwiegermutter ist, täuschen lassen.«

»Ich lasse mich nicht täuschen,« erwiderte Sir Romilly, »wir haben untrügliche Beweise.«

»Vorläufig weiß ich überhaupt noch nicht, was mir zur Last gelegt wird,« lächelte Byron arglos. »Ich gebe zu, ich habe mich manchmal nicht ganz einwandfrei benommen, aber meine Frau hat mir verziehen, wir haben die letzte Zeit in ungetrübter Eintracht gelebt, wir haben zärtlich voneinander Abschied genommen. Da plötzlich ist der Brief Sir Ralphs hereingeplatzt.«

»Lady Byron,« sagte der Anwalt gemessen, »hat sich zum Schluß verstellt, sie hat sich vor Ihnen gefürchtet.«

»Gefürchtet? Weshalb hat sie sich gefürchtet?«

»Weil sie von einem Mann, der so Furchtbares auf sich geladen hat, das Schlimmste erwarten mußte.«

Da riß Byrons Geduld. Er sprang auf, schlug auf den Tisch und rief heftig: »Zum Donnerwetter, nun sagen Sie mir endlich, was ich Furchtbares begangen haben soll. Ich bin nicht hier, um Rätsel zu raten.«

Sir Romilly verschloß sich noch steifer vor dem zornigen Manne und sagte: »Sollte Ihnen das wirklich ein Rätsel sein?«

»Sollte es wirklich notwendig sein, daß ich dieses Schmachvolle erst mit Namen nenne, das zu sagen sich eines Engländers Zunge sträubt?«

»Ich bitte dringend darum.«

»Nun denn, so will ich mich der Notwendigkeit fügen. Lady Byron beschuldigt Sie –« er machte eine Pause, Byron sah, wie er den Abscheu in sich niederkämpfte – »eines unlauteren Verkehrs mit Ihrer Schwester Augusta.«

Da taumelte Byron zurück in den Stuhl.

»Was? – was?!«

Dann lachte er laut und befreit heraus.

»Aber Sir Romilly, wie konnte ein solch erleuchteter Mann auf diesen Humbug hereinfallen!«

Sir Romilly verzog keine Miene.

»Ich habe Eurer Lordschaft bereits einmal bemerkt, daß wir untrügliche Beweise haben.«

Byron lachte noch immer.

»Sir Romilly, blamieren Sie sich nicht vor ganz England mit Ihren untrüglichen Beweisen. Sie haben Ansehen zu verlieren. Sie könnten ebensogut behaupten, ich hätte den Mars gestohlen.«

»Ich bedaure,« sagte der Anwalt traurig, »daß der Mann, der die glänzendste Stellung in unserer zeitgenössischen Literatur einnimmt, sich nicht nur durch die grauenvolle Tat, sondern auch noch durch die Lüge entwürdigt.«

Da stand Byron vor ihm, seine Augen funkelten. Die boxgeübten Hände ballten sich zu Fäusten, und drohend flüsterte er:

»Das nehmen Sie zurück, das nehmen Sie sofort zurück!«

Sir Romilly bewegte sich nicht.

»Ich beklage es, keine Silbe zurücknehmen zu können. Ich kann nichts, als Ihnen vorstellen, daß es in Ihrem eigensten Interesse liegt, es nicht auf den gerichtlichen Beweis ankommen zu lassen.«

»Aber Sir Romilly,« Byron griff mit beiden Händen in das lockige Haar, »Sir Romilly, hat dieses Weib Sie denn behext?! Trauen Sie mir zu, mit meiner Schwester – Mann, nehmen Sie doch Vernunft an.«

»Ich bedaure Ihre Hartnäckigkeit,« Sir Romilly schüttelte den seinen Kopf, »doch auf eines möchte ich Sie hinweisen. Lady Milbanke hat auf meinen Rat mit Frau Augusta Leigh gesprochen. Sie ist in Six Mile Bottom gewesen. Ihre Frau Schwester hat ihr selbst zugestanden, daß sie mit Ihnen in einem Verkehr gestanden hat, dem ein Kind entsprungen ist.«

Byron taumelte wieder.

»Das hat meine Schwester –?«

»Ja,« sagte der Anwalt und hob ein Schriftstück vom Tische auf. »Ich habe soeben diesen Brief erhalten.«

Einige Sekunden war es nachtstill im Zimmer.

Der Anwalt blickte nieder auf das Schreiben, die Wirkung seiner Worte nicht zu stören. Dann hob er den Kopf. Da stand Byron am Tisch, die Stirn umleuchtet, seinen Mund verschönte ein heiliges Lächeln.

Verdutzt sah es der Anwalt. Byron fühlte seinen forschenden Blick.

»Sir Romilly,« sagte er, in seiner Stimme läutete die Freude, »ich kann mich jetzt nicht entscheiden, ich werde es mir überlegen. Morgen früh spätestens werden Sie meinen Entschluß in Händen haben.« Er ging hinaus und lief durch die Straßen und lächelte vor sich hin, und seine Augen strahlten wie goldene Freudenfeuer. Hellseherisch hatte er sofort alles durchschaut. Er wußte plötzlich, daß die Charlemont seinen Schreibtisch erbrochen hatte, Augustas Briefe, die sie entwendet hatte, das waren die untrüglichen Beweise. Und nun hatte Augusta es zugegeben. O, er wußte warum. Und seine Augen leuchteten immer stolzer, und seine Lippen flüsterten: »Sie ist eine Heldin, sie hat Heldengröße. Um Mary nicht zu verraten, hat sie die Schuld der Blutschande auf sich und ihre Familie genommen. Sie ist eine Heldin und eine echte abenteuertolle Byron.«

Er kam nach Hause und fand Augustas Brief, in dem sie ihm alles berichtete. Und zum Schluß stand die rührende schlichte Frage:

»Bist du mit mir zufrieden?«

Ja, er war zufrieden. Und er schrieb ihr einen Brief, in dem seine brüderliche Liebe und Verehrung lohte. Und dann schrieb er an Sir Romilly und gab seine Einwilligung. Er wollte nicht kleiner und nicht feiger sein als seine Schwester, nein, er wollte Mary Chaworth nicht verraten. –

Jetzt brach der Sturm los. Das Gerücht sickerte durch und jagte von Stadt zu Stadt. Mit abscheufahlen Lippen flüsterte man es in den Kreisen des Highlife, als pikante Neuigkeit erzählte man es sich an der Börse, mit unflätigen Worten riefen es sich die Kutscher auf der Straße Zu. Die Liebe des Volkes, die ihn einst über Nacht hinausgehoben hatte über alle Zeitgenossen, rächte sich blutig und gemein, wie Volksliebe immer sich rächt. Wie er eines Morgens erwacht war und seinen Ruhm fand, so erwachte er jetzt und fand seine Verfemung. Alle die Feinde und Neider, die bisher nicht gewagt hatten, gegen den Mann empor zu züngeln, den der Ruhm wie ein undurchdringlicher Panzer umgürtete, hoben jetzt ihre wutentstellten Häupter. Alle die Schriftsteller, denen er einst in seinen »Englischen Barden« die Peitsche um die Ohren geschlagen, die sich später nicht mit ihm ausgesöhnt hatten, gaben ihm jetzt hinterrücks den Fußtritt. Die Frommen und die Frömmler, die ihn haßten ob seiner kecken Angriffe gegen Pietismus und Heuchelei, stießen ihm tückisch den Dolch in den Rücken. Alle die Sittlichen und Moralisten und jene, die hinter der Maske des Biedertums ihren Lastern frönten, die ihn um sein frohes unbekümmertes Genießertum beneidet hatten, spien ihm jetzt ins Angesicht. Mißgunst, Neid, Haß und Heuchelei stürzten über ihn her, und die Presse, die gesamte englische Presse, die rechtsstehende, die ihn wegen seines Auftretens im Oberhause schon gehaßt hatte, brüllte mit hinein in den Orkan, der gegen ihn losbrach. Schimpfworte, Verleumdungen hagelten auf ihn nieder. Jedes erdenkliche Laster war sein Ideal, jede Widernatürlichkeit hatte er begangen. Man nannte ihn einen Nero, Caligula und Heinrich den Achten. Keine Grausamkeit wurde ersonnen, der er nicht gefrönt, keine Roheit, die er nicht verübt, keine unnatürliche Wollust, in der er nicht geschwelgt hatte. Er konnte das Haus nicht mehr verlassen. Auf der Straße schrien ihm die Gassenbuben nach, spie der Pöbel vor ihm aus, wichen die Vornehmen scheu zur Seite, wenn er daher kam.

Da packte ihn der Trotz. Er ging ins Theater, sich zu zeigen. Doch wie ein Mann erhob sich das Parkett, erhoben sich die Ränge, brauste die Galerie empor. Und sie schrien und tobten, und die Galerie schleuderte faule Äpfel, bis er gegangen war.

Er klopfte an die Türen, die sich einst so weit vor ihm geöffnet hatten. Doch sie blieben verschlossen. Alle die großen Häuser der englischen Aristokratie, die ihn einst in ihre glänzenden Räume gelockt, sperrten sich vor dem verfemten Manne. Die Gesellschaft Englands schüttelte ihn ab. Nur die Freunde seiner Jugend und Rogers und Moore standen bei ihm in dem Sturme, der ihn umtoste. Doch er brach nicht zusammen. Diese Tage, in denen er herabstürzte von der jähen Höhe, auf die sein junger Ruhm ihn erhoben hatte, schmiedeten ihn zum Manne. Alles Weltschmerzliche, das noch in ihm klagte, fiel von ihm nieder, und die Verachtung gegen sein Volk und der Hohn und der bittere Zynismus standen in ihm auf, die später das Meisterwerk seines Lebens, den »Don Juan« schaffen sollten.

Eines Abends, als Hobhouse, Davies und Hodgson bei ihm waren, sagte er: »Ich werde England verlassen. Wenn es auch wie eine Flucht aussieht, das schert mich nicht. Mir kommt es nur darauf an, wie ich es empfinde, und ich fühle, daß England meiner nicht wert ist.«

Die Freunde nickten schmerzlich. Sie wußten, in England war für ihn kein Raum. Und sie saßen beisammen und sprachen trübe über seine Reise. Da sagte Byron vor sich hinsinnend: »Und doch begreife ich den schnellen Umschwung nicht.«

Bitter lachte Hobhouse auf: »Ich habe mit einem jungen Bekannten, Macaulay, darüber gesprochen. Der meinte, es gibt kein so lächerliches Schauspiel wie das englische Publikum bei einem seiner periodischen Anfälle von Moralität. Für gewöhnlich nehmen Entführungen, Ehescheidungen, Familienzwiste ihren Verlauf, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Wir lesen von dem Skandal, sprechen einen Tag darüber und vergessen ihn. Allein einmal alle sechs oder sieben Jahre wird unser moralisches Gewissen wach. Wir können dann plötzlich nicht dulden, daß die Vorschriften der Sittlichkeit so verletzt werden. Wir müssen den Leichtfertigen zeigen, daß das englische Volk die Wichtigkeit der häuslichen Bande kennt. Dann wird dieser oder jener Mann, der durchaus nicht verderbter als all die anderen ist, deren Ausschreitungen mit großer Nachsicht behandelt worden sind, zum Sündenbock erkoren, hat er eine Lebensstellung, so wird er aus ihr herausgerissen, die besseren Kreise grüßen ihn nicht mehr, die niederen zischen und pfeifen ihn aus. Er wird eine Art Prügelknabe, durch dessen Strafen und Schmerzen man gleichzeitig alle Missetäter seiner Gattung straft. Wir denken dann mit innerem Wohlbehagen an unsere Strenge und vergleichen mit großem Stolze Englands moralisches Empfinden mit der Pariser Leichtfertigkeit. Alsdann ist unsere Entrüstung befriedigt. Unser Opfer ist ruiniert oder hat sich zu Tode gegrämt, und unsere Tugendliebe legt sich für die nächsten sieben Jahre wieder schlafen.«

Sie nickten alle zu diesen trostlosen, wahren Worten. Dann stand Byron auf und sagte: »Du hast recht, das ist unser geliebtes England. Aber,« er straffte den Körper, »mich sollen sie nicht niederreißen. Ich lache ihrer. Ungebeugt gehe ich fort und meine Peitsche sollen sie noch oft um ihre heuchlerischen Köpfe spüren.« –

Er traf seine Vorkehrungen zur Abreise. Aber eines nachts, als er durch die Zimmer ging, kam doch überwältigend die Erinnerung an Annabella über ihn. Es war der letzte Anfall von Weichheit auf Englands Boden. In einem jener seltsamen Impulse des Dichters schrieb er unter Tränen den Abschied an sein Weib, der dauern wird, wenn längst alle Wirrnisse dieser Ehe in Vergessenheit versunken sind.

»Fare thee well and if for ever –
Still for ever, fare thee well.«

Am Tage, ehe er in Dover das Schiff bestieg, fuhr er nach Newstead. Hier hatte er noch Abschied zu nehmen.

Er schritt durch die hallenden Bogengänge und wanderte durch die efeuverdunkelten Zimmer mit ihren grotesken Schnitzereien und ihren zeitgeschwärzten Gemälden. Lange stand er vor den Totenschädeln, die des Gerichtsvollziehers Hand verschont hatte, und dachte der Zeit, da junger Weltschmerz sie hierher gestellt hatte als ein memento mori. Er stand in dem schattigen Hain und hörte das Gehen und Kommen der Krähen. Alles war hier wie einst, unwandelbar, und nichts kündete den sonnenhellen Aufstieg und den nachtschwarzen Fall des Herrn dieser Stätte. Er strich durch den Park und stand wieder wie einst weit hinten an der Steinbalustrade, die ihn begrenzte, und blickte hinüber in die Gefilde, in denen einst der sagenumklungene Sherwood-Forst seine Wipfel im Winde gewiegt. Noch einmal umfaßte er das alte graue Gemäuer mit seinen Bastionen und Türmchen mit einem bitteren, abschiednehmenden Blick. Dann schwang er sich auf den Wagen, der ihn hinübertrug den altgewohnten, oft gewanderten Weg nach Annesley. Da war der Park, da war das alte efeuumrankte Torhaus mit dem wohlbekannten Widerhall der Pferdehufe unter der Wölbung, da war der Hof mit seinem wunderlichen alten Brunnen, und dort lagen die Ställe der Meute, nicht mehr so neu und unzugehörig zu diesem alten Landedelsitz wie damals, als er zuerst wieder die Geliebte seiner Knabenzeit besuchte. –

Der Diener, der ihn empfing, berichtete, daß Herr Musters hinter dem Fuchs sei. »Desto besser,« dachte Byron und ließ sich der Herrin melden. In der dunklen Halle kam sie ihm entgegen in schwarzem Gewande und führte ihn in ihr »blaues Zimmer«. Bleich war sie und gebeugt.

»George!« rief sie, sowie die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, gottlob, daß du gekommen bist. Ich habe dir schreiben wollen und habe es nicht gewagt. Was ist das, was sie da reden? Mein Mann las es in der Zeitung. Sie wissen, daß Medora dein Kind ist, sie haben es erfahren!« Sie rang die gefalteten Hände.

»Ja,« sagte er, »aber sie wissen nicht, wer ihre Mutter ist.«

»George, sie werden es bald erfahren! Dann ist alles umsonst gewesen, all diese Not und Qual und bittere Sühne.«

Er fing ihre irrenden Hände ein.

»Beruhige dich, Mary, komm, beruhige dich. Keiner wird je erfahren, wer ihre Mutter ist. Denn Augusta hat alle Schuld auf sich genommen.«

»Wie,« stutzte sie, »wie soll ich das verstehen?«

»Das sollst du so verstehen, Mary, daß sie sich zur Mutter des Kindes bekannt hat.«

»Dann –« sie schwankte hin und her und griff nach Byrons Arm – »dann muß man doch glauben, daß sie und du – –«

Byron nickte langsam.

»Nein, nein –« sie rang nach Atem, »das darf nicht sein, das darf nicht sein! Das kann ich nicht annehmen, dieses Opfer kann ich nicht auf mich nehmen. Ich werde alles bekennen. Noch heute werde ich Musters alles bekennen.« Sie irrte an der Wand des Zimmers entlang. Er fing sie ein.

»Aber höre doch,« suchte er sie zu trösten.

Sie achtete nicht seiner Worte. Sie starrte an ihm vorbei, nickte mit dem Kopf und flüsterte geistesabwesend vor sich hin: »Ich habe es gewußt, ich habe es ja gewußt, solche Schuld läßt sich nicht sühnen. Noch heute werde ich alles bekennen.«

»Aber nicht doch,« drang Byron in sie.

Da warf sie den Kopf auf und ein matter Abglanz ihrer einstigen Energie straffte ihre Glieder, als sie sagte:

»Ich werde ein solches Opfer von Augusta nicht annehmen.«

»Du täuschst dich,« sagte er. »Ich bin vor einigen Tagen bei Augusta gewesen. Sie trägt ihr Opfer wie einen Königsmantel um ihre Schultern geschlungen. And die Verachtung, die sich auf sie niederschüttet, wird ihr zu einer Krone auf ihrem Haupte. Ihre Tat ist ihr der Inhalt ihres Lebens geworden. Du kannst das nicht verstehen, Mary, nur das Blut der Byrons kann das fassen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich verstehe es nicht, ich werde bekennen.«

»Damit wirst du nichts bessern, Mary. Deine Stimme ist viel zu matt, den Orkan zu durchschreien, der mich umtobt. Der öffentliche Haß hat sich in den Köder der Blutschande verbissen und wird ihn nicht wieder aus den Zähnen lassen. Du wirst nur neues Unglück auf das alte häufen. Sie werden die Finger heben und auf dich zeigen und zischen: »Auch diese Ehe hat dieses Ungeheuer vernichtet,« und du wirst nichts damit erreichen, als daß du dein Leben und vielleicht das deines Mannes auch noch in den Abgrund ziehst.«

Sie schüttelte immer wieder den zermarterten Kopf.

»Ich kann das nicht auf mich nehmen, ich kann nicht zu allem anderen noch tragen, daß man von Augusta und dir denkt – –«

»Um Augusta mach' dir keine Sorgen,« tröstete er. »In ihrem engen Kreise weiß man, daß sie schuldlos ist. Und ich, ich gehe fort, ich habe keine Heimat mehr. Ich bin gekommen, von dir Abschied zu nehmen, auf immer. Ich werde nie wieder Englands Boden betreten.«

»Du willst fort?« sie fuhr tastend, an seinem Arme entlang.

»Du willst fortgehen für immer?«

Er nickte. So saßen sie eine kleine Weile und blickten sich weh in die Augen. Dann raffte er sich zusammen.

»Nun wollen wir nicht klagen, Mary, nun wollen wir die wenigen Stunden, die uns bleiben, noch einmal die Nähe des anderen mit allen Fibern empfinden.«

Er zwang sie auf das alte blaue Sofa nieder, auf dem sie so oft als Mädchen vor ihm gesessen hatte, zog sich einen Sessel heran und so saßen sie lange – lange. Keiner fand ein Wort. So saßen sie lange in dem blauen Zimmer, das einst so voll gewesen war von seinen blauen Jugendträumen. Und die Erinnerungen kamen herein durch das Fenster mit dem Duft der Blumen aus ihrem bunten Garten, mit dem würzigen Hauch von den Feldern. Aus allen Ecken blühten die Erinnerungen auf. Das Bild, das sie zeigte, wie sie einst gewesen, blickte flüsternd von der Wand zu ihnen nieder. So saßen sie lange von Gedenken und bleichen Gedanken umraunt. Einmal begann er leise: »Wie anders hätte alles werden können, wenn du damals – –«

Doch er brach ab. Was halfen jetzt Klagen und Verzweiflung! Dann erhob sie sich, öffnete das Spinett an der Wand und sang ihm die alte Ballade von Mary Ann, sang sie mit ihrer armen verdorrten Stimme und brach mitten darin ab, fiel mit der Stirn über die Tasten und weinte bitterlich. Da trat er zu ihr, hob ihren Kopf zu sich empor und küßte sie in wildem Schmerze auf den Mund. Dann eilte er hinaus, lief ohne sich umzublicken zum Wagen und befahl dem Kutscher zur Poststation zu fahren. Das Pferd zog an, der Wagen rollte, er blickte nicht zurück. Er biß auf die Lippen, daß das Blut das Kinn herniederrieselte, und nur das Zucken der Schultern verriet das gewaltsam niedergepreßte Schluchzen. –

In Dover traf er die Freunde. Mit der alten Verschwendungssucht hatte er sich zur Reise gerüstet. Als Leibarzt begleitete ihn der junge Polidori, als Diener der treue William Fletcher. Mit dem Honorar, das Murray ihm für die »Belagerung von Korinth« und die gleichzeitig vollendete »Parisina« zahlte, hatte er sich nach dem Modell der Reisekutsche Napoleons einen Reisewagen bauen lassen, der ein Bett, eine Bibliothek und Tafelzeug enthielt. Doch beinahe wäre diese Herrlichkeit ihm noch entrissen worden. Denn kaum war sie an Bord der Fregatte gebracht, kaum waren die Anker gelichtet, da eilte von London her der Gerichtsvollzieher herbei. Es war ein groteskes Symbol seines Lebens, daß er an der Seite seiner Freunde, die ihm mit tränenden Augen nachwinkten, der Mob von Dover hinter ihm drein pfiff und johlte, und der Gerichtsvollzieher zornig die Fäuste ballte. Byron aber stand kaltblütig an der Reeling des Schiffes und grüßte mit der Mütze den Freunden und der in der Morgensonne verblassenden Küste seiner Heimat zu.


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