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XIII.

Der Odem der Nacht ging in lautloser Schwere. Mary saß auf dem Sofa und bohrte die verzweiflungsstumpfen Augen in den Teppich. So saß sie seit Stunden. Steinern, unbeweglich, gramerstarrt.

Aus dem dunklen Winkel des Zimmers, in dem Byron auf dem Tabouret hockte, drohte ein verbissenes Schweigen. Worte hatte er nicht mehr. Er war mit der ganzen leidenschaftlichen Kraft seiner Beredsamkeit herangestürmt, die niedergebrochene Frau aufzurichten, zu trösten, sie zu überzeugen, daß sie sich beide nur das Recht ihrer Liebe genommen hätten, daß diese ertrotzte Freundschaft als ein Widersinn und eine Lüge zwischen ihnen gestanden habe. Und wieder hatte er versucht, sie herabzureißen von dem unnahbaren Felsen ihrer religiösen Starrheit und hatte ihr wieder ein sonnenumgoldetes Leben auf einer fernen jonischen Insel mit dem Schmelze seiner Phantasie vorgezaubert.

Doch sie hatte geschwiegen und die Augen verzweiflungsstumpf in den Teppich gebohrt. Da wurden ihm die Worte schwer und müde, und in seinem heftigen Sinne siedete ein erbitterter Groll auf, gegen den seine Liebe sich schmerzhaft stellte. Und eine Verachtung kroch in seine Seele gegen diese Frau, die so feig zusammenbrach unter den Folgen ihrer Liebe.

Wieder erhob er sich, trat auf sie zu und hob die Hände, mit Liebkosungen die Wände zu sprengen, die seinen Worten den Eingang in ihr Begreifen wehrten. Da bog sie sich zur Seite, ein Schauern zitterte wie ein Grauen vor seiner Berührung über ihre Schultern, die Augen blickten in irrer Qual zu ihm auf und ihr verzerrter Mund flüsterte: »Geh', geh'–«

Zorn, Wut und Verachtung trieb ihn zur Tür, doch die unbestimmte Ahnung durchbebte ihn, daß er jetzt das Kostbarste seines Lebens irgendwie verliere, daß die einzige Helle seiner Tage sich schwarz umhülle. Nichts Wertvolles hatte er je besessen, seit er mit Bewußtsein dachte, außer der Liebe zu dieser Frau. An der Tür zögerte er. Er hatte weh das Gefühl, daß er das Reinste seines Daseins vor der Erniedrigung bewahren müsse. Ganz leise sagte er: »Mary, wollen wir es nicht in Größe tragen?«

Da stand sie plötzlich steif da, stieß die Arme in die Luft und gellte ihm entgegen: »Geh', geh'. Ich kann deinen Anblick nicht ertragen!«

Und warf sich nieder an dem Sofa und rang die gefalteten Hände und schluchzte zur Decke empor: »Gott, Gott, du blickst hinein in die Herzen. Du weißt, es war nicht mein Wille. Ich will meine Schuld nicht vor dir verringern. Büßen will ich! Büßen!«

Sie preßte das Gesicht in die Polster, daß die Stimme sich dumpf klagend brach.

Da ging Byron still aus dem Zimmer. Verlorener und unseliger als er jemals gewesen war in seinem unseligen verlorenen Leben.

In dieser Nacht türmte sein Gemüt wilde gischtende Wogen des Hasses und blutigen Hohnes. Doch am nächsten Morgen, als die Sonne triumphierend aufstieg über die Dunkelheit, erstand aus Haß und Hohn die unversiegliche Kraft dieser großen Liebe, die der tragische Inhalt seines Lebens war.

Er gedachte wieder der Zeit, da sie als Mädel von Siebzehn neben ihm über die Felder gesprengt war. Nein, nein, das sollte nicht das Ende dieses Tugendwunders sein. Nicht durch das Recht seiner Liebe wollte er sie verlieren.

Er ließ satteln.

Die, die ihn gestern in Raserei von sich gestoßen hatte, war nicht seine Mary Chaworth. Er sah plötzlich ihre irr flackernden Augen. Sie war krank. Religiöser Wahn hatte sie umdämmert. Er stob hinüber nach Annesley.

Sie ließ sich nicht sprechen.

Auch am nächsten Tage nicht.

Als der Diener am dritten Tage den Bescheid erteilte, die gnädige Frau sei krank und empfange keinen Besuch, wallte das Blut in ihm auf. Er stieß den Diener zur Seite, stürmte in das Haus hinein, drang in das blaue Zimmer. Sie kniete im Gebet versunken auf dem weißen Teppich. Als die Tür aufsprang, warf sie den Kopf zurück, starrte mit mystisch erregten Augen auf den Eindringling, glitt empor und flüchtete in einen Winkel des Gemaches. Das Gesicht abgewandt, streckte sie die Arme gegen ihn vor und stöhnte mit wahnwitz-entstellter Stimme: »Geh', geh'! Du bist der Versucher – du bist der Versucher!« Im Türrahmen stand wie eine drohende Schildwache der Diener, der erstaunt dem ungestümen Lord gefolgt war.

Tiefgebeugt schleppte sich Byron hinaus. Jetzt hatte er die Gewißheit, daß ihre Geisteskraft unter seiner Tat niedergebrochen war. Tagelang raste er seinen tobenden Schmerz in vernichtenden Selbstanklagen aus und spielte mit dem Selbstmorde.

Die wilde Melancholie seines Schlosses griff nach seinem wilden Schmerze. Wenn er in langen schlaflosen Nächten durch die gewölbten hallenden Gänge schritt, unter deren Fließen die Mönche moderten, schleifte er das Bewußtsein seiner Schuld hinter sich her, wie gespenstisch klirrende Ketten. In den mondhellen Septembernächten schritt er hinein in die Ruine der alten Kapelle und stand stundenlang bebenden Herzens unter den Bäumen, in deren welkenden Ästen die Krähen im Schlafe surrten. Das graue Gestein der Bogenfenster glänzte unheimlich silbern, die Vergangenheit erwachte rings um den geängstigt lauschenden Mann. Es war ihm, als atme er den süßen Duft von Weihrauch, der seit Jahrhunderten hier verschwelt war. Seine überreizten Sinne vernahmen das Raunen der Miserere, die vor Jahrhunderten gegen diese weißen Wände geflüstert worden, und in den Blättern säuselten bleiche Beichten von Frevel und schwarzer Tat.

In diesen belebten Nächten überkam ihn die Gewißheit, daß seine Liebe zu Mary Chaworth voll Schuld und Sünde sei. Seine erregbare Phantasie verankerte sich in diesem Glauben, und seine Gestaltungskraft fiel über diesen Fanatismus her. In diesen phantastisch überreizten Nächten schuf er die Meisterwerke, die seinen Namen hintragen über die Zeiten. Jetzt erwarb er sich den Ruhm, den sein Volk ihm auf Vorschuß verliehen hatte. Er schweißte den »Gjaur« um, er goß die »Braut von Abydos« in ekstatischen Gluten hervor, er schleuderte den »Korsaren« hinein in das leidenschaftsschwüle Dunkel. Erinnerungen an die Orientfahrt lebten auf. Mit dem Zauber des Ostens umzauberte er diese Dichtungen der Reue. Die Qual der Schuld stieß ihn vorwärts. Verstand und Kritik ertrank in dem reißenden Strom des leidenschaftlichen Sündebewußtseins. Immer wieder variierte er das Thema der frevelnden Liebe. Immer wieder marterte er sich selbst in dem Helden, der mit der Welt gebrochen hat und innerlich zerstört zugrunde geht. Und neben ihm leidet die schuldig unschuldige Geliebte. Nie ist Liebesschmerz und Liebesverzweiflung ergreifender geschildert worden als in den Versen, die er dem »Gjaur« anfügte. Nicht Menschen schuf er, sondern lodernde Leidenschaften. Er sprudelte seinen gigantischen Schmerz in Worten, wie sie bisher in England nicht gesprochen waren. Er blies in seine Verse einen sengenden Wüstenwind, wie er bisher in dem kühlen England nicht geweht hatte.

Er sandte die Gedichte an Murray. Der Erfolg war beispiellos. Von dem »Korsaren«, den er dem Freunde Moore widmete, wurde am Tage des Erscheinens im Januar 1814 1300 Exemplare verkauft. Jetzt war Byron zu Recht nicht nur der größte lebende Poet Englands geworden, er wurde der bekannteste Dichter ganz Europas. Bis nach Java drang sein Ruhm, und in Deutschland hielt Goethe ihm das Banner. Er wurde Mode.

Die Jeunesse dorée kleidete sich à la Byron mit weißem Umlegekragen und wehender Krawatte. Man wurde leidenschaftlich und sentimental, Piraten wurden bei elegischen Damen romantische Helden des Tages und sehnsuchtsvolle Träume der Nacht. Man empfand, man litt, man sprach, man liebte à la Byron.

Während er so die Gemüter ganz Europas bannte, schritt er durch die düsteren Hallen seines Schlosses, unselig und sündebeladen. Und grübelte über eine neue Dichtung, die er »Lara« nannte.

Doch schon war ihm das Schuldgefühl zur Pose geworden. Er hatte dieses Fremde, das ihn jäh überkommen, kraftvoll, poetisch verklärt, aus seinem Gemüt herausgeschwemmt und seine Jugend der Fünfundzwanzig verlangten ihr Recht. Er stürmte nach London und stürzte sich wieder in den Strudel. Mit Begeisterung wurde der »berühmteste Mann seiner Zeit« aufgenommen bei den Melbournes, bei den Devonshires, bei den Jerseys, bei Samuel Rogers. Er verdunkelte den Stern der Madame de Staël, die vor den Verfolgungen Napoleons in London Zuflucht gesucht hatte und ihren sprühenden Geist am Himmel des Highlife glitzern ließ. Er wurde wieder ein ständiger Gast in Holland House. Mit der alten Begeisterung griff er hinein in die Gespräche, die in diesem Winter nur einen Gegenstand kannten: Napoleon. Der Kanonendonner von Leipzig war lange verhallt, mit Jubel sah das englische Volk die Alliierten auf des Kaisers Spur. Erst jetzt, da Bryon aus seiner mystischen Versunkenheit wie aus tiefem Schlaf erwachte, war seine Furcht und sein Hoffen wieder bei seinem Abgott. Er lächelte spöttisch zu allen Prophezeiungen Madame de Staëls, die den baldigen Sturz des Kaisers weissagten.

Ein festes Band knüpfte sich zwischen ihm und der Herrin von Holland House, die in Liebe und Verehrung, allen Schmähungen ihrer Landsleute zum Trotz, an dem großen Imperator hing.

»Jetzt erst wird der » poor dear man« ihnen zeigen, wer er ist,« rief sie gläubig. Mit einer gebietenden Geste fegte sie alle Einwände zur Seite.

Die Liebe dieser starken Frau blieb dem Kaiser auch treu, als die tragischen Tage von St. Helena über ihn hereinbrachen. Sie sandte ihm Bücher, Zeitungen und Delikatessen, sie schrieb an seinen Wächter Hudson Lowe und bat für den Gestürzten um Milde. Der Gefangene zeigte sich erkenntlich. Er schickte ihr die Schnupftabaksdose, die er im Jahre 1797 in Tolentino von Papst Pius VI. erhalten hatte, mit der Widmung:

» L'Empereur Napoléon à Lady Holland
Témoignage de satisfaction et d'estime.
«

Und die » Pruneaux de Madame Holland« waren die letzte Nahrung des unter grausamsten Qualen verdämmernden kranken Kaisers.– –

Eines Abends, als Byron spät von einem Balle heimkehrte, fiel der blaue Schein des Feuerzeuges auf einen Brief. Er krallte ihn vom Tische auf, die Handschrift hatte er sofort erkannt. Furcht und Hoffnung balgten sich in seiner Brust. Dieses Lebenszeichen von ihr hatte ihn sofort mit allen Wurzeln herausgerissen aus dem Taumel seines Londoner Lebens, in dem er sie und ihr Leid zu vergessen gesucht hatte.

Aber wie eine dunkle Wolke hatte ihr Geschick am Horizont seines Lebens gedräut.

Mary Chaworth schrieb: »Komm sofort nach Annesley, ich muß dich dringend sprechen.«

Mit der Extrapost fuhr er in die Nacht hinaus, und sehnsüchtige Hoffnungen eilten vor ihm her mit den weißen Wolken, die über den Mond zogen. In dem runden historischen Zimmer, das die zweifelhafte Reliquie Robin Hoods barg, harrte sie seiner. Starr aufgerichtet stand sie in dem Dämmerlicht, das durch die Efeugitter des Fensters fiel. Sie erschien ihm groß und gespenstisch in dem schwarz, in schweren Falten herabfließenden Gewande. Die Wangen waren eingesunken, die Stirn glänzte weiß wie Alabaster. Ein dumpfer Schmerz erwürgte die Freude seiner hoffnungsfiebernden Nacht, als ihr entstelltes Antlitz ihm entgegenstarrte. Er trat auf sie zu und streckte ihre beide Hände entgegen. Doch in ihren Augen glomm so irr die Verzweiflung, daß er stutzte und die Arme sinken ließ.

»Mary,« flüsterte er, »du hast mich gerufen.«

»Ja,« ihre Worte waren ein hohles, klangloses Raunen, »ich habe dich gerufen. Ich sterbe vor Angst. »Was soll aus dem Kinde werden?« »Aus dem Kinde?« Er beugte verständnislos den Kopf vor.

»Ja,« nickte sie, »aus dem Kinde.«

»Welchem Kinde?« fragte er. Grauen umkrallte seinen Schädel.

Da war es, als platze die Leblosigkeit, die sie umschloß. »Dein Kind!« schrie sie und fiel schwer und dumpf zu Boden.

Wie ein Blitz schlug das Begreifen in sein Hirn ein. Er war bei ihr, beugte sich zu ihr herab, hob sie mit stahlharten Armen empor und bettete sie zart und behutsam in einen Sessel. Und fiel vor ihr auf die Knie, küßte ihre Hände und streichelte ihre Arme. Und sprudelte wirre Worte und Tränen sprangen ihm aus den Augen, und er liebkoste ihren Körper und fühlte mit tastenden Händen die Wahrheit, die sie gesprochen hatte. Ja, ja, nur die weiten Falten ihres schwarzen Gewandes hatten sie verhüllt, diese unfaßbar beglückende Wahrheit. Er beugte sich nieder und küßte inbrünstig ihren geheiligten Schoß.

Dann sprach er, sprach und sprach: »Warum hast du es mir so lange verborgen, dieses unausdenkbare Glück? Aber nein, nein, ich will nicht schelten. In dieser schönsten Stunde meines Lebens will ich nicht schelten. Jetzt weiß ich, warum du mich gerufen hast. Wozu alle meine Worte dich nicht zu überreden vermochten, dazu hat die bebende Stimme dieses kleinen Lebens unter deinem Herzen dich verlockt. Noch heute gehen wir fort. Weit draußen im Ionischen Meer, da weiß ich eine Insel mit einem schimmernden weißen Hause, ganz flach ist das Dach. Dort werden wir sitzen in den kühlen glitzernden Nächten und hinaufblicken zu den abertausend Sternen, und ringsum wird Stille sein und das atmende Meer. Dort wird es aufwachsen. Ein Knabe wird es sein. Nein, lieber ein Mädchen mit schimmerndem blonden Haar wie du. Ein Engel wird es scheinen, wenn es unter den schwarzlockigen Griechenkindern spielt. Mary, freue dich doch mit mir. Sei nicht so starr! Schließ' nicht die Lider! Ich will doch das Glück in deinen Augen funkeln sehen!«

Er nahm ihre Schläfen in beide Hände und küßte scheu ihre zuckenden violetten Lider. Da öffnete sie die Augen. Der irre Glanz, der ihn schon früher geschreckt hatte, zitterte in den geweiteten Pupillen. Ihre blauen Lippen keuchten:

»Das Kind darf nicht zur Welt kommen!« Wie ein Stoß in die Stirn traf es ihn. Er taumelte empor. »Wie ... wie?« fragte er mit verzerrtem Munde, Da hastete sie, sich überstürzend, hervor: »Das Kind darf nicht zur Welt kommen. Es darf nicht... es darf nicht... hörst du, es darf nicht! Als ich es zuerst fühlte, da habe ich versucht, es im Keim zu morden. Und als es nicht gelang, habe ich lange Stunden der Nacht am Weiher gestanden, aber ich hatte nicht den Mut, auf die alte Sünde die furchtbare neue Schuld zu häufen. Dann habe ich mich in meine Zimmer verkrochen vor der Dienerschaft, habe mir weite Kleider fertigen lassen, keiner hat etwas gemerkt. Sie dürfen es nicht merken!! Ich bin in meinem Zimmer umhergerannt und bin wahnsinnig geworden vor Furcht, mein Mann könne zurückkehren. Ganz deutlich habe ich die Szene gesehen. Dort steht er in der Tür –« in ihren Augen flackerte der Wahnsinn der Todesangst – »reuevoll tritt er herein, verklärt von seiner Sühne, die Hände streckt er mir entgegen und steht und stutzt und lacht grell auf. Das Gotteswerk an ihm ist zerschlagen. Das kann ich nicht überleben – das kann ich nicht überleben.«

Wieder glitt sie zu Boden und wimmerte: »Hilf mir, hilf mir.« Der Mann schwankte sacht hin und her auf den Sohlen. Eine eisige Kälte war um die Stirn und im Rücken. Als die Lähmung von ihm wich, zuckten hundert Gedanken wie Irrlichter durch das Dunkel, das sein Denken umfing. Alles Gute und Schlimme, das er seit seinen Knabentagen mit der Frau dort durchlebt hatte, jagte in wilder Hast an ihm vorüber. Und ein blutiger Hohn quoll in ihm auf, daß diese Frau, die dort am Boden lag, jammervoll niedergebrochen unter seiner Liebe, und diese furchtbaren Worte stammelte, die Lichtgestalt war, an die er alles gehängt hatte, was in ihm gut war und wacker und edel. Doch schon vertrieb diesen erstickenden Grimm ein anderes Empfinden, das heiß emporsiedete aus seiner wunden Bitterkeit. Er stand und starrte auf diese Zusammengesunkene winselnde Hilflosigkeit, die sich in Qualen am Boden wand. Und ein Mitleid schüttelte ihn, wie er es nie bisher gekannt hatte in seinem wilden Abenteuerleben. Alle Liebe, aller Schmerz, alle Qual, jede Empfindung, die in ihm dieser unseligen Frau entgegenpochte, ward Erbarmen und hilfsbereite Güte. Er hob sie wieder vom Boden und bettete sie wieder auf den Sessel und sprach sanft auf sie ein.

»Du mußt dich schonen. Du mußt acht geben auf deine Bewegungen. Du mußt –«

»Wirst du mir helfen?« bebte sie zu ihm empor.

Und das Mitleid in ihm antwortete: »Ja, ja, ich werde, ja – ja.« Da fiel ihr Kopf mit dem schweren blonden Haar gegen die Polster des Sessels – ein tiefer Seufzer hauchte aus ihrem Munde.

Sie lag da, bleich und matt und erlöst. Er stand vor ihr und wagte die Stille nicht zu stören. Endlich flüsterte sie mit geschlossenen Augen ganz kindlich: »Ich habe es gewußt, du würdest mir helfen. Ich wollte dich nicht rufen. Ich wollte dich nicht in meiner Nähe dulden. Doch ich mußte dich rufen, ich fand keinen Ausweg, trotz meines Grübelns bei Tag und bei Nacht.«

Und sie streckte die Glieder in wohliger Müdigkeit, preßte die gefalteten Hände an das Herz, als berge sie an ihrem Busen die trostreiche Gewißheit seiner Hilfe, und flüsterte vor sich hin: »Jetzt ist alles gut – jetzt ist alles gut.« Er stand ohne sich zu regen. Lange lag sie so, die weiße Stirn von Rast und Frieden umkrönt. Er hielt sich steif aufrecht und wußte nicht, was nun geschehen sollte. Als er eine unschlüssige Bewegung machte, öffnete sie die Augen und fragte: »Was wirst du tun?«

»Ich weiß es noch nicht,« gestand er.

Sie aber sagte in ihrer ruhigen Gewißheit: »Du wirst es finden, ich weiß es, du wirst es schon finden.«

Sie richtete sich auf und reichte ihm die Hand: »Ich danke dir. Wenn du einen Weg gefunden hast, dann komm wieder. Ich warte ohne Ungeduld, und heute,« sie lächelte matt, »heute werde ich wieder einmal schlafen. Ich konnte es nicht seit Monaten.« Er nahm ihre Hand, und dann ging er hinaus. Etwas Ungewolltes, Traumhaftes lag in seinen Bewegungen.

Erst draußen im Sattel, als die kühle Nachtluft um seine Stirn strich, vermochte er wieder klar zu denken.

»Sie ist krank,« bangte seine gemarterte Liebe, »vielleicht ist es ihr Zustand.« Und da bedrängte ihn sein Versprechen. Und Reue packte ihn und Zorn über das unbedachte Wort, das sein Mitleid gegeben hatte.

Er schlug der Stute die Sporen in die Flanken. Es war ja Wahnsinn. Was hieß denn helfen? Was sollte denn geschehen? Es war doch sein Kind. Er hatte über sein Geschick zu bestimmen. Er wollte es besitzen. Er wollte sein Kind nicht feige aufgeben wegen der Laune eines kranken Weibes. Er wollte – – – Mitten auf dem Felde zügelte er das Tier und hing all sein Denken an die Sehnsucht, mit dieser Frau und seinem Kinde ein neues Leben auf einer jonischen Insel zu beginnen. Dort in der neuen Umgebung würde sie wieder die Mary Chaworth werden, die er einst als Knabe angebetet, der er als Jüngling Altäre gebaut, die er heute liebte wie einst – wie einst – trotz allem. Die er lieben würde bis zum letzten Atemzuge.

Langsam trottete die Stute weiter, den altbekannten Weg. Er merkte es nicht. Er weinte bitterlich. Aber später, als er im Studierzimmer saß, am Schreibtisch, und zu den Totenschädeln hinüberstarrte, reckten die Zweifel wieder ihre Gorgonenhäupter.

Da wußte er plötzlich, wie er wußte, daß die Erde sich dreht, daß es keiner Beredsamkeit der Welt gelingen würde, sie zu bestimmen, mit ihm zu fliehen. Und das Wort, das er gegeben hatte, ragte schwarz und fordernd aus dem Dunkel der Nacht.

Er begann nach einer Rettung zu grübeln und fand keinen Weg. Er hob sich und wanderte durch das Gemach. Und plötzlich dachte er: das ist Frauensache. Ob er sich an Lady Holland um Rat wandte? Er schüttelte den Kopf. Diese kernige kluge Frau würde den verstiegenen Pietismus Marys nicht verstehen. Nein, ihrem gesunden geraden Sinne war die Lage zu verwickelt, zu verworren. Er wandelte die Reihe der vornehmen Damen ab, die ihn in London umschwärmt hatten. Nein, da war keine, die in dieser Not helfen konnte. Und plötzlich war er auf dem Wege zur Gesindehalle. Vielleicht wußte die bündige Lebenserfahrung der braven Wirtschafterin Nanny Smith einen Rat. Doch an der Tür zauderte er. Nein, nein, er durfte Marys Geheimnis nicht verraten. Die gute Nanny bot keine Gewähr der Geheimhaltung. Er schritt wieder in sein Zimmer zurück; und plötzlich schrie er auf in jäher Erleuchtung. Wenige Minuten später ging ein reitender Bote ab an seine Stiefschwester Augusta Leigh.

Zwei Tage später traf Augusta in Newstead ein. Ihre schöne Frauenmilde hörte mit verständiger Klugheit seinen trostlosen Bericht.

»Es muß sofort etwas geschehen,« sprach sie, als er geendet hatte, »denn aus allem, was du sagst, geht hervor, daß die Sinne der Frau von Verzweiflung, religiösem Wahn und Angst zerrieben sind.«

»Ja,« nickte Byron grambeschwert. »Keiner, der sie früher gekannt hat, würde sie in ihrer jetzigen Zerstörung wiedererkennen.«

»Darum,« grübelte Augusta, »müssen wir ihr helfen, ganz abgesehen davon, daß du ihr dein Wort gegeben hast. Denn ich fürchte, sie könnte sonst in ihrer umnachteten Verzweiflung dem Kinde nach der Geburt ein Leid zufügen.«

Byron schwieg. Ein Frösteln rieselte an seinen Gliedern entlang.

»Ja,« sagte er endlich in das Schweigen hinein, »was soll geschehen? Du als Frau, glaubte ich – –«

»Das Kind muß fern von hier untergebracht werden,« unterbrach Augusta, »soviel ist sicher. Sie muß fort aus dieser Gegend, muß an einem verborgenen Ort –«

»Das geht nicht!« rief Byron dazwischen. »Wir können die kranke Frau nicht unter fremde Leute geben, das ist unmöglich. Und das Kind überlasse ich nicht Fremden. Augusta sann. »Sie könnte ja,« sprach sie sinnend, »zu mir nach Six Mile Bottom kommen, und ich müßte dann das Kind erziehen.«

»Das wäre vielleicht ein Gedanke,« prüfte Byron. Doch schon schüttelte die schöne Frau den dunklen Kopf.

»Es geht nicht,« lehnte sie ihren Vorschlag ab.

»Unsere Stadt ist klein. Die Leute würden fragen, wessen Kind es ist. Man würde bald wissen, daß es dein Kind ist. Man würde weiter nachforschen –, nein, nein, das geht nicht.«

Noch viele Pläne ersannen und zerrissen sie wieder an diesem ersten Abend. Endlich sagte Augusta: »Ich fürchte, wir werden heute nichts finden. Ich bin auch zu ermüdet von der Reise. Morgen wollen wir weiter suchen.«

Doch als sie dann allein war in dem geräumigen Gastzimmer mit seinen dunklen Paneelen und grotesken Schnitzereien und dem figurenreichen Kamine fand sie keine Ruhe. Halbentkleidet stand sie am Fenster und blickte hinaus auf die Rasenflächen des Parkes, auf denen weiße Winternebel phantastische Reigen schlangen. Und sann und sann.

Da plötzlich preßte ein aufkeimender Gedanke ihr die Stirn an die Scheiben des Fensters, daß sie leise ächzten. Dann riß sie sich jäh los, raffte einen Schlafrock über die Schultern und eilte hinaus. Sie pochte an die Tür seines Schlafzimmers. Keine Antwort kam. Als sie öffnete, war das Gemach leer. Da stürmte sie hinüber in sein Arbeitszimmer. Am Schreibtisch fand sie ihn.

»George!« jubelte sie in der Tür. »Ich habe es gefunden!« »Du hast?« er schnellte zu ihr herum.

Da stand sie neben ihm. Ihre Brust arbeitete heftig, und hastig stieß sie hervor: »Ich werde das Kind zur Welt bringen.«

Er federte in den Sessel zurück. Entsetzen spannte seine blauen Augen. »Du!« Er hob die Sand und zeigte mit zitternden Fingern auf ihre Stirn.

»Ja, ich,« bestätigte sie vom Eifer geschüttelt.

Er hatte verwirrend das Empfinden, daß sie im Schlafe wandle.

Ein Grauen lähmte ihn.

Doch, sie sprach weiter:

»Sie muß zu uns kommen. Ich werde aussprengen, sie sei eine Gefährtin von mir aus dem französischen Kloster, in dem ich erzogen wurde. Das wird keinen Verdacht erregen. Dann werde ich einigen guten Freundinnen andeuten, daß ich Mutterfreuden entgegengehe. Auch das wird keinen überraschen. Ich habe, wie du weißt, in jedem Jahre meiner Ehe ein Kind geboren. Man kann da ein wenig nachhelfen, Kleidung macht viel. Man kann das schon machen. Sie wird dann in meinem Hause niederkommen. Unser alter Arzt ist verschwiegen. Und das Kind werde ich dann als mein Kind erziehen, und es selbst und meine sechs anderen Kinder sollen nie erfahren, wer seine wahren Eltern sind.«

Benommen strich Byron mit den Fingern beider Hände über die Stirn.

»Aber – aber –« stammelte er, »und dein Mann?«

Augusta lächelte zuversichtlich.

»Mein lieber John wird sich keinem ernstlichen Wunsch, den ich äußere, entgegenstellen.«

»Aber,« zauderte Byron, »es scheint mir ein seltsamer unredlicher Weg.«

»Unredlich?« lachte die schöne Frau. »Scheust du vor großen Mitteln zurück?«

Er schwieg und kämpfte. Plötzlich stand er vor ihr, umklammerte ihre Schultern und rang hervor:

»Augusta, was du für mich tun willst – ich kenne dein gerades Wesen – wenn du trotzdem das für mich tun willst, das ist ein Opfer von antiker Erhabenheit, ich bin erschüttert von deiner Größe.«

Da warf sie den Kopf zurück, das Licht der Kerzen brach sich in ihren Augen, die plötzlich in leidenschaftlicher Wildheit aufglühten, und stieß hervor: »Es ist kein Opfer. Ich habe dir zu danken, daß ich diese Tat tun darf.«

»Du mir?«

»Ja!« rief sie in flammender Ekstase, »das Leben das ich führe – es ist gut und es ist mild in dem Sorgen für meinen Mann und für die Kinder. Aber doch habe ich Stunden, in denen mein Blut aufwallt und meine Hände sich zu Fäusten ballen und hineingreifen ins Leere, und mir alles klein und nichtig erscheint, und ich nach einer Tat dürste, die mein Leben zum wahren Leben umzaubert. Als du damals nach dem Erscheinen des »Childe Harold« berühmt wurdest und als dein Ruhm immer höher stieg wie eine flackernde Flamme, da bin ich in meinem engen Kreise umhergeschlichen und habe nur den einen Wunsch gehabt, mittun zu dürfen an deinem Ruhm, dir irgendwie helfen zu können, für dich eine Tat zu tun. Deshalb bin ich so unsagbar glücklich, daß du mir jetzt die Gelegenheit gibst. Darum scheint es mir, als sei die Tat, die ich jetzt für dich tun kann, mein wahrstes Leben.«

Sie schwieg. Ihr Körper bebte. Die hohe klare Stirn umstrahlte ein heißer Glanz.

Stumm verwundert betrachtete Byron die Schwester. Sein Blick glitt hinüber zu dem Bilde des Ahnherrn der Byrons, Sir John, des Kleinen mit dem großen Barte, aus dem im zuckenden Kerzenschein nur die wilden Augen gespenstisch hervorglühten. Es waren Augustas Augen. Und leise sagte er:

»Du bist eine echte Tochter unseres wilden abenteuerfrohen Wikingergeschlechtes.« – Am nächsten Morgen fuhren sie hinüber nach Annesley.

Mary Chaworth willigte sofort in den romantischen Plan. Sie war so verängstigt und willenlos geworden, daß jeder Weg ihr der rechte schien, der zur Rettung führte.

Noch am selben Tage führte Augusta Leigh sie und die kleine Tochter Ann nach Six Mile Bottom.

Byron aber kehrte nach London zurück. Er tauchte wieder, Vergessen suchend, unter in die Vergnügungen der Hauptstadt. Er gab sich wieder, wie in früheren Zeiten, dem Sport hin, boxte, focht und schoß nach der Scheibe. Er sammelte wieder um sich die Freunde seiner Jugend, die jetzt in Amt und Würden hineingerückt waren: Hobhouse, den Geistlichen Hodgson und den feinen Scrope Davies. Er durchzechte lange Nächte mit dem weinfrohen Moore und dem trinkfesten alten Sheridan. Er wurde Mitglied des Direktoriums des aus dem Brande neuentstandenen Drury-Lane-Theaters. Manch frohe Stunde verscherzte er dort im Konversationszimmer, in der alt-historischen »Green Rom« mit den hübschen Damen der Bühne: Miß Pool, Miß Kells und der wundervollen Miß O'Neil, die oft als Gast von Convent Gardens hereinhuschte. Und manch ernstes Gespräch flammte auf zwischen dem Dichter und dem leuchtenden Stern dieser Bühne, dem Schauspieler Edmund Kean, dem kleinen Manne mit dem rabenschwarzen lockigen Haar und den erregbaren Glutaugen.

Die Nächte, die der Lord nicht mit den Freunden vertrank und verdiskutierte, durchschwärmte er wieder in den Häusern des hohen Adels. Wohl traf er oftmals Lady Caroline Lamb, doch erfolgreich wich er jeder Annäherung aus. Und als sie vergeblich versucht hatte, ihre Gefolgschaft junger Herren aufzustacheln, den früheren Geliebten zum Duell zu fordern, entschloß sie sich zu einer anderen »blutigen« Rache: Sie setzte sich an ihren Empireschreibtisch und schrieb den Roman »Glenarvon«, in dem sie mit ihrer krankhaften Schamlosigkeit jede Phase ihrer Liebe entschleierte. Byron aber segnete sie darin mit der Rolle eines Ritter Blaubart und gräulichen Ungetüms.– –

Und wieder kam der Frühling.

An einem Apriltage des Jahres 1814 saß Byron im Alfred-Club in Albemarle Street in lebhaftem Gespräch mit den Freunden Zusammen.

»Es ist Gottes Gericht.« sprach feierlich Hodgson.

»Ich glaub es nicht!« rief Byron heftig.

»Das Gerücht war sehr bestimmt,« meinte Hobhouse, »man erzählte es heute nachmittag auf allen Straßen.«

»Welche furchtbaren Stürme müssen in der Brust dieses großen Mannes rasen!« sann Davies.

»Das kann nicht sein,« wiederholte Byron und schlug hitzig auf die Mahagoniplatte des Tisches.

»Verlaß dich darauf, es ist so,« lächelte Hobhouse spöttisch, »dein Leibheld hat abgedankt.«

Byron schleuderte ihm einen Blick zu, zornig und zündend wie ein Blitz aus Jovis Auge.

»Aber du brauchst es nicht als persönliche Beleidigung zu nehmen,« fügte der Freund sarkastisch hinzu.

Dann schwiegen sie alle bedrückt.

Endlich sprach Byron wehmütig vor sich hin: »Ich würde allen Glauben an die Größe des Schicksals verlieren, wenn Napoleon wie ein armer kleiner Pagode von seinem Sockel herabsteigen sollte. Und« – er empörte sich wieder und ballte die Fäuste – »ich kann diesen jammervollen Zusammenbruch nicht ertragen!«

»Er ist gut für unser Vaterland,« bedachte Hodgson milde. »Es hat etwas Erschütterndes, diese Heldentragödie mitzuerleben,« trauerte Davies.

Da lächelte Byron schmerzlich und sagte: »Ich muß mich wohl wieder an meinen alten Leibhelden Sulla halten, denn mit dem von heute habe ich kein Glück. Ah, welch ein anderer Kerl war Sulla! Auf der Höhe seiner Macht, rot vom Blut seiner Feinde, dankte er ab. Das schönste Beispiel glorreicher Verachtung dieser Jammerseelen. Auch Diokletian machte es gut. Amurath nicht schlecht, doch hätte er nachher nicht Derwisch werden sollen. Karl der Fünfte nur so – so. Aber Napoleon hat es, wenn er wirklich abgedankt hat, am schlechtesten gemacht. Ich kann es mir nicht denken, daß er erst gewartet haben sollte, bis die Feinde in seiner Hauptstadt waren, und dann auf das verzichtet hat, was er nicht mehr besaß. Donnerwetter! Dagegen war Dyonisius zu Korinth noch ein König!«

Sie schwiegen. Nach einer Weile fuhr Byron fort:

»Ich bin ganz irre an mir geworden und fühle mich sehr niedergedrückt. Seht mal, ich weiß es nicht recht, aber ich, der mit ihm verglichen doch nur ein Insekt bin, ich würde für den millionsten Teil dessen, was er zu verlieren hatte, mein Leben aufs Spiel gesetzt haben. Eine Krone mag ja am Ende nicht wert sein, daß man für sie stirbt. Aber Lodi so schmachvoll zu überleben!!« Tränen stürzten ihm in die Augen.

Da klang plötzlich von der Straße wildes Geschrei und wirrer Lärm herauf. Sie sprangen empor und eilten zu den Fenstern. In der engen Albermarlestraße wälzte sich eine erregte Volksmenge. Und gellend schnitt durch das Getümmel der Ruf der Zeitungsjungen, die Extrablätter hoch in den Händen flattern ließen, wie Fahnen des Aufruhrs. Eine Sekunde später waren die Freunde auf der Straße. Byron riß dem nächsten Jungen das Extrablatt der »London Gazette« aus der Hand.

Doch er brauchte nicht erst zu lesen. Von allen Seiten schrie und jubelte es: »Napoleon hat in Fontainebleau abgedankt!« Wie ein Fieber schüttelte es die große Stadt. Die engen Gassen hallten das Gebrüll der Zeitungsjungen, das jubelnde Gekreisch der Weiber, das freudensatte Lachen der Männer wieder. In wenigen Minuten änderte sich das äußere Bild der City. Alles war vorbereitet. Man hatte nur der letzten Bestätigung vom Kontinent geharrt. Die Öllampen an ihren Eisenketten umwanden sich wie durch Zauberschlag mit Lorbeergirlanden. Freudenschüsse knatterten aus allen Fenstern, die Glocken von St. Pauls sangen ihr Halleluja dröhnend jauchzend in den Nachthimmel hinein. An jeder Straßenecke loderten Pechfeuer auf, das Bild des gestürzten Kaisers wurde unter Flüchen, grausigen Verwünschungen und brutaler Verhöhnung tausender in der Lohe verbrannt. Still löste Byron sich aus dem Kreise der Freunde und schlich an den Häusern entlang zu seinem Hotel. Ein Leid, als hätte ihn der beste Freund seines Lebens betrogen, beugte ihm die Stirn. Und am nächsten Tage, dem 10. April, schuf sein zorniger Schmerz seine unsterbliche

»Ode an Napoleon Buonaparte.«
»'s ist aus – ein König gestern noch,
Dem Könige gebebt,
Und nun so klein! – gebückt ins Joch
So jämmerlich – und lebt!
Ist das der Mann, der Welten stürmt,
Der Berge toter Feinde türmt
Und so am Dasein klebt?
Nie fiel, seit jedem Lucifer,
Teufel noch Mensch so tief wie er.«

 

Acht Tage später hielt er den Brief Augustas in Händen, in dem sie ihm mitteilte, daß Mary Chaworth einem Mädchen das Leben gegeben habe. Zugleich bat sie ihn, das Verlangen, das ihn zu Mutter und Kind treibe, zu zügeln, damit kein Verdacht erregt werde. Er solle schriftlich die Wahl des Namens für das Kind treffen.

Byron erkannte die Klugheit ihres Rates und blieb. Doch Brief auf Brief sandte er an die junge Mutter. Als Namen wählte er den Namen der Geliebten des »Korsaren«. »Niemand,« schrieb er, »wird aus diesem Namen Verdacht schöpfen, denn es ist seit einem Jahre in England üblich geworden, die neugeborenen Kinder mit den Namen der Helden meiner Dichtungen zu schmücken.« So wurde sein Kind auf den Namen »Medora Leigh« getauft.

Doch am zehnten Tage siegte die Sehnsucht. Hals über Kopf reiste er nach Six Mile Bottom.

Als ihm das Dienstmädchen die Tür öffnete, fragte er in atemloser Hast: »Wo ist Frau Leigh?«

»Oben, bei dem Kinde,« antwortete die erstaunte Magd. Da stürmte er an ihr vorüber, die Treppen hinauf und öffnete die nächste Tür. Im Zimmer saß Augusta, die kleine Medora auf dem Schoße. »George, du,« staunte sie.

Stumm trat er näher und blickte lange nieder auf sein Kind.

»Wie schön es ist,« sagte er endlich mit bebender Stimme, »schön wie die Mutter.«

Augusta lächelte gewährend. »Sie sieht aus wie alle neugeborenen Kinder. Da fragte Byron: »Wo ist Mary? Liegt sie noch zu Bett?«

»Nein,« gab die Schwester Bescheid und barg das Kind in der Wiege, »sie ist vor drei Tagen abgereist.«

Byron starrte drein.

»Wir konnten sie nicht halten,« erzählte die Schwester traurig. »Eine quälende Unruhe war über sie gekommen, gleich nach der Geburt. Schon am dritten Tage wollte sie das Bett verlassen trotz ihrer großen Entkräftung. Die Geburt ist sehr schwer gewesen. Immer wieder flehte sie mich an, sie aufstehen zu lassen. Sie müsse nach Hause, sie habe das bestimmte Gefühl, ihr Mann warte dort auf sie. Ich habe immer wieder versucht, es ihr auszureden, doch nach acht Tagen ließ sie sich nicht mehr halten. Am Tage, nachdem sie zum ersten Male aufgestanden war, ist sie abgereist. Es war so traurig, wie sie bleich und schlotternd in die Postkutsche stieg. Nein, George, du darfst nicht vorwurfsvolle Augen machen. Mein Mann und ich, wir haben wirklich alles getan, was in unserer Macht stand, sie zurückzuhalten. Und heut morgen, da ist dieser Brief gekommen.«

Sie entnahm ihrer Tasche das Schreiben und bot es ihm dar. Er las:

»Meine gute, liebe Augusta!

Mittwoch abend bin ich wohlbehalten, wenn auch etwas erschöpft, mit Ann in Annesley angelangt. Und Donnerstag mittag ist mein Mann hier eingetroffen! Alles ist gekommen, wie ich es immer erwartet habe. Er ist zu mir getreten und hat für alle seine Vergehungen meine Vergebung erfleht. Meine Vergebung! – Wenn er ahnte!! – Ich will nun versuchen, meine schwere Sünde dadurch zu sühnen, daß ich ihn für den Rest meines Lebens auf Gottes Wegen führe. Küß mein armes Kind, das ich wohlgeborgen in Deiner Hut weiß. Danke Deinem Mann nochmals für seine Güte. Dich, meine liebe Augusta, der ich nächst Gott es verdanke, daß all dieses Furchtbare einen Weg genommen hat, der es mir erlaubt, meinen Pflichten zu leben, schließe ich täglich in meine Gebete ein.

Deine treuergebene Mary Chaworth.« Byron sank auf einen Stuhl. Die Hand mit dem Blatte hing müde und verzweifelt herab. Greis und schlaff saß er da, mit weiten Augen voll Schmerz und Jammer.

»Ein merkwürdiger Zufall,« sagte Augusta, »daß der Mann nun doch gerade jetzt gekommen ist.« Byron antwortete nicht.

Da trat die Frau auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und ermahnte:

»Du mußt dich losreißen, George, das kann so nicht weiter gehen. Die Liebe zu dieser Frau vernichtet dein ganzes Leben. Du mußt dich aufraffen. Du mußt dir andere Ziele suchen, Mary ist dir doch für immer verloren.«

Er schwieg und starrte vor sich hin.

Da sagte die Schwester zaudernd: »Weißt du, was du tun müßtest?«

Er sah auf. »Ich werde wieder reisen,« sagte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Das solltest du nicht. Dann kommst du in einigen Jahren zurück und stehst wieder dort, wo du heute stehst. Dann folgt dir die Sehnsucht nach. Du solltest dich ganz von dieser Frau trennen, innerlich. Du solltest deine Gedanken auf eine andere Frau richten.«

Plötzlich legte sie die Hand unter sein Kinn, hob sein Gesicht zu sich empor und sagte resolut: »Heiraten solltest du.«

Trotz ihrer äußeren Festigkeit sprach sie es mit geheimem Zagen. Sie erwartete einen Ausbruch zorniger Entrüstung. Doch zu ihrem Erstaunen entgegnete er ergeben: »Vielleicht hast du recht.«

Da sprach sie froh und ermutigt hastig weiter:

»Du kennst doch so viele Damen der Gesellschaft, sicherlich auch viele schöne und reizende.«

»O ja,« sagte er, »ich kenne eine große Anzahl.«

Sie rückte einen Stuhl vertraulich neben ihn und forschte:

»Wen denn zum Beispiel?«

Mit fahler Stimme zählte er auf:

»Da ist Lady Annesley, die jüngste Schwester von Lady Webster, sehr schön und sehr sein.«

»Nimm die,« riet Augusta flink.

»Dann ist da Lady Adelaide Forbes, sehr klug und sehr pikant.«

»Nimm die,« riet Augusta wieder.

Da konnte Byron ein Lächeln nicht unterdrücken, und mit mehr Teilnahme sprach er:

»Dann ist da noch Miß Annabella Milbanke, hübsch, prachtvolle Figur, sehr klug, Mathematikerin und Astronomin, macht auch Gedichte, die gar nicht übel sind, und sehr edel.«

»Nun also,« rief die Schwester froh bewegt, »so nimm die, die ist doch eine Perle.«

Byron belächelte den schwesterlichen Eifer.

»Ich habe ihr schon einen Antrag gemacht,« erzählte er, »vor zwei Jahren, sie hat ihn abgelehnt.«

»Wie schade,« meinte Augusta, »gerade diese Dame scheint mir doch sehr passend für dich.«

»Nun,« meinte Byron spöttisch, »so aussichtslos ist die Sache immerhin noch nicht. Im September vorigen Jahres hat sie mir wieder geschrieben, ich vermute aus einem Drang heraus, mich zu bessern. Und daraus ist dann eine Korrespondenz erwachsen, keine sehr lebhafte, aber doch eine recht herzliche. Ich glaube, Hoffnung zu haben, daß sie einen zweiten Antrag nicht ablehnen würde.«

»Ist sie reich?« fragte Augusta.

»Ich glaube, ja.«

»Denn,« belehrte Augusta bedenklich, »du kannst nur eine reiche Frau heiraten.«

»Das weiß ich,« nickte er, »ich ertrage meine verzweifelte materielle Lage auch nicht mehr lange. Meine Arbeiten bringen mir ja jetzt ganz ansehnliche Summen, aber meine Schulden sind enorm und mein Verbrauch nicht gering. Ich habe sogar schon einmal versucht, Newstead zu verkaufen – –«

»Wie?«, die Schwester fuhr erschreckt auf.

»Ja,« bestätigte er. »Vor zwei Jahren, da sollte Newstead in Garroways Coffee-House versteigert werden. Mein Freund Hobhouse war dabei und bot mit, um die anderen Bieter hinauf zu treiben. Er selbst hatte an dem Tage gerade 1 Pfund, 1 Schilling und 6 Pence in der Tasche. Leider wollte es das Unglück, daß er mit dem Höchstgebot von 133 500 Guineas sitzen blieb. Dann hatten wir genug davon und ließen es.« Hier trat der Oberst Leigh ins Zimmer. Freudig überrascht begrüßte er den Schwager.

»Ich danke dir,« sagte Byron, »für deine liebevolle Hilfe in dieser Sache.« Er blickte auf das schlafende Kind.

»Hm,« machte der Oberst, »sehr angenehm war mir das Ganze ja nicht, aber Augusta wollte es so gern, und da – –«

Aber die Wiege hinweg reichte er der schönen vergötterten Frau die Hand.

Noch oft während seines Verweilens sprach die Schwester von seiner Heirat. Und als er wieder nach London zurückgekehrt war, flatterten oft Briefe von ihr herbei mit mahnenden Worten. Doch der Sommer kam und verblich in den Herbst, ehe Byron sich entschied. Er besprach mit Hobhouse sein Planen.

»Famose Idee,« ermunterte der. »Aber nach deiner Erzählung scheint mir Annabella Milbanke nicht das richtige Weib für dich zu sein. Zu gut und zu gelehrt. Nach einem Vierteljahr langweilst du dich bei ihr zu Tode, mein Lieber. Wie ich höre, hat sie auch nicht viel zu erwarten. Nimm lieber Adelaide Forbes.«

Da setzte Byron sich nieder und machte der schönen Adelaide einen solennen Antrag. Doch als nach wenigen Tagen ihre ablehnende Antwort eintraf, entwarf er einen neuen Brief, diesmal an Annabella Milbanke. Während er just das Schreiben unterzeichnete, trat Hobhouse ein.

»Adelaide hat abgelehnt,« rief Byron mit lustigem Spotte, »du siehst, daß es nach allem doch Annabella sein muß.«

Er reichte dem Freund den Werbebrief. Doch während Hobhouse mit verkniffenen Lippen las, wurde er wieder schwankend.

»Laß, du brauchst nicht zu lesen!« rief er plötzlich. »Es ist ja Unsinn. Ich mag nicht heiraten. Ich bin zur Ehe nicht geschaffen.

Doch Hobhouse ließ sich nicht stören.

»Hm,« räusperte er sich dann. »Ich will dir nicht zureden, das mußt du entscheiden. Aber es wäre wirklich schade, wenn dieser hübsche Brief nicht abgehen sollte. Das ist der charmanteste Brief, den ich gelesen habe.«

»Nun,« rief Byron geschmeichelt und faltete entschlossen das Schreiben zusammen, »dann soll er abgehen.« Und er schloß den Brief und siegelte ihn und besiegelte damit sein Geschick.


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