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Zwischen Christophorus und den Kindern hatte sich ein freundschaftlicher Verkehr entwickelt. Der Minister hielt es nicht für unter seiner Würde, gelegentlich auch ein politisches Gespräch mit ihnen zu führen, und seine Freude, sie während der Übersetzungspause im Vorzimmer wiederzufinden, zeigte sich unverhohlen. Hier wurden alle Sprachen durcheinandergeschrien und alle Kräuter der Welt geraucht, hier durfte ein bevorzugtes Publikum die großen Männer aus der Nähe betrachten, darunter sechs Ministerpräsidenten und achtzehn Minister des Äußern. Journalisten, Zeichner, Spitzel, Photographen lauerten einem Wort, einem Gesichtsausdruck der Mächtigen auf, in einem Raum, der nicht größer war als der Salon eines Privathauses. Maxime-Simon zündete eine Zigarette an und trieb die Kinder langsam vor sich her bis in einen Winkel des überfüllten Raumes, wo er, mit dem Rücken gegen das Publikum, stehenblieb.
Schien die Sonne, nahm der Minister die jungen Leute mit sich ins Freie und schlenderte zwischen ihnen auf und ab. Die Hände hielt er im Rücken, sie öffneten, schlossen sich, blieben in ständiger Bewegung, die übrige Gestalt war die Ruhe selbst. Da er ihnen gerade über die Schultern reichte, hatten sie immer seinen Kopf vor sich, er bewegte ihn mit der trägen Anmut eines Bären.
Bald waren die »Völkerbundskinder« ebenso bekannte Figuren wie die andern Fremden, die alljährlich zum Kongreß in Genf eintrafen und die fliegende »society« des Völkerbunds bildeten. Der Völkerbundsgesellschaft räumten die eingesessenen Genfer ohne weiteres das Feld, weshalb man von ihnen wie von einer frömmlerischen und scheuen Völkerschaft sprach, die sich beim Herannahen der sechs Ministerpräsidenten, achtzehn Minister des Äußeren und ihrer buntscheckigen Zirkustruppe in die Tiefen des Urwalds zurückgezogen hatte. Und wie jene Fremden fanden Jacquot und Gabriele ihren Spaß am »Drum und Dran« der Versammlung, mehr als an der Tagesordnung, die wie ein Güterzug vorbeirollte und alle Augenblicke in einem Tunnel verschwand – das waren die Pausen, während deren die Reden entweder ins Französische oder Englische oder, wenn der Redner sich keiner der beiden Verhandlungssprachen bedient hatte, nacheinander in beide übersetzt wurden. Vom Gegenstand der Verhandlungen begriffen Jacquot und Gabriele so gut wie nichts. Um so leichter verstanden sie, was Christophorus ihnen sagte. Alles hier, sagte er, ist noch immer der Krieg! Es kam kaum eine Frage zur Verhandlung, die nicht, von nah oder fern, mit dem Krieg zusammenhing, der ganze Völkerbund ruhte auf der Drehscheibe der sogenannten Friedensverträge. Und jede Nation schob daran, wie der Eigennutz ihr befahl. Der Völkerbund war noch ebensowenig der Friede, wie die Friedensverträge den Krieg tatsächlich beendet hatten. Verstanden, meinte Jacquot kühn: durch die Verträge war die Kriegshandlung abgebrochen, das Ergebnis des Krieges an einem bestimmten Punkt festgelegt worden. Bravo! Christophorus tippte ihm mit zwei Fingern auf die Schulter ... Und so hatte man es bisher immer gehalten! Nun aber sah man den Völkerbund damit beschäftigt, an diesem Frieden, an einer Sachlage also, die sonst nur mit Waffengewalt zu ändern war, wie in einer Nähstube herumzuflicken, wobei freilich jede Mamsell laut erklärte, sie bestehe und bestehe auf ihrem Schein. Man mußte sie entweder mit Vernunft zum Schweigen bringen oder überlisten. Man hatte es bei diesen Rechthabern mit einer alten Gewohnheit zu tun, denn in der Vergangenheit, nicht zu vergessen, war der Friede eben nur eine mehr oder minder lange Unterbrechung des Krieges gewesen. Jetzt galt es, jetzt, wo der Krieg technisch und moralisch den Menschen über den Kopf wuchs, jetzt war es an der Zeit, den Krieg als Mittel der Politik auszuschalten, das Schiedsgericht an die Stelle des Faustrechts zu setzen. Jede Zivilisation, die Kinder der ganzen Welt lernten es in der Schule, hatte damit begonnen, daß sie den streitenden Parteien innerhalb des Stammes, des Volkes, der Nation die Waffen wegnahm und dafür dem Richter das eine Schwert in die Hand gab, das Richtschwert, vor dem alle Parteien sich beugten. Die Staaten mußten zugunsten einer überstaatlichen Gerichtsbarkeit auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten, nämlich auf ihr unbedingtes Selbstbestimmungsrecht gegenüber den andern Staaten, – so wie zwei Bauern, die in Streit gerieten, vor den gemeinsamen Richter gingen, statt aus eigener Machtfülle mit ihren Söhnen und Knechten gegen den Nachbarn ins Feld zu ziehn.
»Klar wie die Sonne«, meinte Gabriele.
»Klar wie die Sonne ... Gewiß ... Aber – allerdings ... Allerdings«, sagte Christophorus, dabei klopfte er die Asche von der Zigarette, und seine Stimme wurde bescheiden und hinterhältig, »allerdings gleicht unser Unternehmen vorläufig noch mehr einem Zirkus als einem Konzil. Dies, liebe Kinder, vertraulich! ... Wir haben Kunstreiter, Degen- und Feuerschlucker, Trapezkünstler, Clowns und natürlich auch einige erfahrene Tierbändiger.« Die Kinder, ganz steif von dem geschenkten Vertrauen, das fast ein Staatsgeheimnis betraf, wagten nicht zu lächeln. Der hielt an und blickte ihnen ins Gesicht:
»Es fehlt uns der Glanz von Mord und Glorie, der Schauer der Hingerissenheit zu blinder Wut und Greueln, wie er jene Menschenschlächterei umgibt, deren Religion ebenfalls in allen Schulen der Welt gelehrt wird, wir kommen nicht mit dem Funkeln von Helmen und Bajonetten.«
Von hier an hörte Jacquot nur noch undeutlich, was der große Freund weiter sprach. Wie auf ein Stichwort sah er mit eins die Treppe des Rheinweilener Schlößchens. Der herrliche Tag ging auf, den sein Vater ihm an eben einem solchen Morgen geschildert hatte, als sie ein Stück rheinaufwärts geritten waren – der Kaiser trat aus der Tür und unterhielt sich mit Ulricus. Vor ihnen im Hof wartete ein Trupp Offiziere, frische Indianer im Kriegsschmuck, die Pferde hinter ihnen wieherten den Kaiser an, indes die Offiziere salutierten, und da begannen die Kirchenglocken zu beiden Seiten des Stroms das Angelus zu läuten, als sei der Herr selbst aus der Nacht getreten ...
Breit und leuchtend, wie auf der Rückseite des Schlosses der Rhein, so zog auf der Basler Landstraße die Armee vorbei. Der Kaiser, ein kleiner, unscheinbar gekleideter Mann, schwang sich in den Sattel, hinter ihm tänzelte und bläffte die Meute der Menschenjäger. Alle Gottseibeiuns im Sattel. Die Marschälle vor den Generälen, die Generäle vor den Stabsoffizieren, zwischen Stall und Scheune das Fähnlein der Leibwache. Der ganze Hof blitzte und bebte, schäumte rosig und funkelte vor Ungeduld. Draußen zogen jetzt Dragoner vorbei. Ihre Helme vergoldeten hastig das Hofgitter ... Das Tor wurde geöffnet, die Glocken schwiegen. Auf ein Wort des Kaisers sprengte ein Offizier hinaus, ein Trompetensignal erklang, pflanzte sich weiter, die Straße hinauf und hinunter, und schmolz langsam an der Sonne, die Heeressäule stand still. Jeder Mann im Glied spürte an seiner Seite den Kaiser.
Als die Armee vorbeimarschiert war, schaute Ulricus in den Himmel und glaubte, obwohl das Föhnlicht den Schwarzwald trügerisch naherückte, glaubte inbrünstig festgehaltene Minuten lang an gutes Wetter und an den Scharfblick und an das Glück des Vogels mit dem der kleine Korse nach Europa hinein auf die Beize ritt.
In diesem Augenblick, Ulricus stieg gesenkten Hauptes die Treppe hinauf, er schien nachdenklich, vielleicht ahnte er, welches Ende all der Glanz und die schöne Wildheit nehmen sollte, in diesem Augenblick hörte Jacquot jemand neben sich ausrufen:
»Mir scheint, davon haben wir genug!«
Sicher, seufzte der Junge ... Davon haben wir genug ... Und nun lauschte er auf den Tritt der neuen Armee, die zur Eroberung Europas aufbrach, leise, unscheinbar gekleidet ...
Der Völkerbund war noch lange nicht, sprach der Freund, war nicht im entferntesten mächtig genug, das eine Schwert an sich zu nehmen und die Völker darunter zu beugen. Er konnte nur durch Beispiel und Überzeugung wirken, durch Beschwichtigung der Kriegsangst, an der die meisten Regierungen litten, durch Einschüchterung der andern, die offen oder geheim Eroberungsgelüste zeigten, und schließlich durch unermüdliche Aufklärung der Völker in der Hoffnung – in der Hoffnung, die Völker selbst würden eines Tages das Schwert der Gesittung in die Hände des Völkerbundes legen.
Jacquot nickte in den verblaßten, aber immer noch kaiserlichen Tag und billigte jedes Wort Maxime-Simons, wenn er sich auch fragen mußte (eine deutliche Frage war es nicht, nur Abkehr von einem glänzenden Bild und Enttäuschung), ob die Genfer Polizisten, die den Gehsteig absperrten, ebenso unbedingt an Christophorus glaubten wie jene Dragoner an ihren Kaiser.
»Ja, Kinder«, brummte der Minister, »da ist die Welt mit Brettern vernagelt! Gelingt es uns nicht, hinüberzuklettern, werden bald andre kommen, die sie einschlagen – mit Bomben und Granaten ... Lieber ein Dieb an der Souveränität der Staaten als ein Mörder an ihren Untertanen.«
Jacquot, in einer Erregung, die hauptsächlich wohl noch dem Bilde des Eroberers galt, rief wie ein leibhaftiger, kleiner Gottseibeiuns:
»Los! Und seien wir klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben ...«
Maxime-Simon wiegte den mächtigen Kopf zwischen den Schultern:
»Ah ça! – Was die Tauben anlangt«, meinte er, und in seiner Kehle rasselte es komisch von Quetschtönen, »was die Tauben anlangt, so stehe ich für nichts.«
Das Klingelzeichen, das die Beendigung der Übersetzung verkündete, rief sie in den Saal.
Oft wiederholte Christophorus mit diesen und ähnlichen Worten: »Es hängt vom Geist der Völker ab, ob wir schnell oder langsam vom Fleck kommen, von dem, was das dunkle Labyrinth ihrer Brust bevölkert, davon, was sich als stärker erweist, der nachträgerische, unsolide Verstand oder ein kluges Vertrauen.
Jede große Epoche in der Geschichte wurde von der Jugend geschaffen und lebte von ihr. Vorwärts, ihr Jungen! Wir können euch nur ermuntern, denn unser Handwerk ist verdammt nüchtern. Und leider geht es noch nicht ohne uns ... Deshalb bleibt auch ungefähr alles beim alten. Ja, ungefähr, alles ... Vorwärts mit euch! Die Welt hat lange genug den Kriegsrausch gekannt, sie braucht einen Friedensrausch. Eilt uns zu Hilfe!«
»Lord Berrick sagt fast wörtlich dasselbe«, bemerkte Jacquot erfreut, als führte er damit der Armee des Friedens ein Hilfskorps zu.
»Und Lady Pia?« fragte Christophorus beiläufig.
»O die!« riefen sie beide ... »Großartig in Form!« erläuterte Gabriele ...
Doch gewöhnlich erzählten sie sich ganz andere Geschichten. Da war vor allem Maxime-Simons kleines Landgut. Die Kinder lernten es bis in die Ecke des Gemüsegartens kennen, wohin nicht einmal der Gärtner vordringen durfte, weil die Haushälterin des Ministers dort den Blumenkohl nach eigenem Verfahren »zu gigantischen Formen anwachsen ließ«. Nicht weit davon hauste ein mondsüchtiger Hahn mit dem nur im engsten Kreise bekannten Spitznamen »Sarcarot«. Der Arme fand in Mondnächten keinen Schlaf und krähte, als stecke er lebendig am Spieß (für den er schon viel zu alt war!), worüber wiederum der Spitz im Hausgang in Raserei geriet. Deshalb hieß der Spitz: le français moyen, der Durchschnittsfranzose. Dem Christophorus, der kein Durchschnittsfranzose war, raubte weder der Hahn noch der Spitz den Schlaf ... Es wurde Morgen, da trottete ein Mann in alten Kleidern durch die Gartentür und schlug sich in die Wiesen. Mit der einen Hand schulterte er eine Fischgerte, in der andern trug er einen Klappstuhl. Und nun saß er am Bach. Der Bach strudelte vorbei. Die Sonne brannte. Der Mann hatte sich einen Platz im Schatten eines Erlengebüschs ausgesucht, da hockte er stundenlang. Obwohl er einen breiten Gärtnerhut aufhatte, rückte er immer ein bißchen dem Schatten nach (»um sich Bewegung zu schaffen«), und auf dem Wasser trieb der rote Kork der Angelschnur. Hatte der Kork das Ende seines Weges erreicht, hob die Schnur ihn vorsichtig aus dem Wasser und ließ ihn am andern Ende vorsichtig wieder auf das Wasser hinab. Zuweilen schwebte er auch zwischen den beiden Stationen ans Land, und dann knurrte der Fischer, und der Angelhaken bekam einen frischen Wurm. Der Fischer aber wischte sich die Finger im Gras ab, klemmte die Gerte zwischen die Knie und zündete sich eine Zigarette an.
»Dann, Herr Präsident«, sagte Gabriele, »spielt der Weltfriede hinter Ihnen im Gras.«
»Vermutlich mit Heuschrecken«, meinte er.
Jacquot fand, der Bach des Ministers gleiche der Breusch, die hinter Breuschheim vorbeifloß, während Christophorus zwischen seiner Haushälterin und der Breuschheimer Kathrin erstaunliche Ähnlichkeiten feststellte. Ihm selbst machte es nicht die geringste Mühe, durch den Park an die Ufer der Breusch zu gelangen und, die Vogesen zur Linken, die Ebene zur Rechten und die Sonne im Rücken, gemächlich die Richtung nach Straßburg einzuschlagen. In die kleine Annette, die lange Zeit unbeweglich im Garten stehn und durch die Ritzen der Finger in die Sonne gucken konnte, war er verliebt. Er schickte ihr Ansichtskarten, auf denen die bedeutendsten Männer des Völkerbundes unterschreiben mußten, und ließ durch seine Herren ein schwarzes Glas auftreiben, wie man es benutzt, um eine Sonnenfinsternis zu beobachten. Auch das bekam Annette geschickt.
Das Vertrauen der jungen Leute kannte keine Grenze. Eines Tages beichteten sie ihm ihre Unternehmungen gegen die Kriegerdenkmäler auf beiden Seiten des Rheins. Maxime-Simon machte halt und hörte gespannt zu. Mit einer leisen raschen Bewegung, die sie gut an ihm kannten, drehte er den Kopf, und als er sah, daß niemand in der Nähe stand, hüpfte sein Auge in blauem Übermut hin und her.
»Wirklich?« fragte er. »Ein Kinderkreuzzug? ... In seiner Art großartig und sinnlos wie der geschichtliche – was?« Er lächelte verschmitzt:
»Unter uns, meine Laufbahn hat ähnlich begonnen! Ein Freund war auf die Idee verfallen, die Trikolore gehöre von Rechts wegen, entschuldigen Sie, schönes Fräulein, in einen Misthaufen gepflanzt. Entsetzlich! Furchtbar! Was sollte ich tun? Er nahm mich zum Anwalt, ich verteidigte ihn und machte seine betrübliche Ansicht laut zu der meinen. Eine Unverschämtheit! ... Er wurde freigesprochen ... Wenn wir heute so etwas wagten! ... Kinder, wie schön, wie herrlich ist es doch, jung und waghalsig zu sein! Ich kann mir denken, der Olymp bewahrt sein Lächeln nur, weil es immer wieder Jugend gibt. Die Jugend erhält das Lächeln der Götter. Die Jugend – halt, da klingeln die Alten!«
Sooft das Klingelzeichen ertönte, warf Maxime-Simon die Zigarette fort und begab sich auf seinen Platz. Mit stillem Gesicht saß er im Sessel, manchmal faltete er die Hände über dem Bauch. Gabriele stieß Jacquot an: »Achtung! Gleich träumt er von seinem Bach und der Angelrute.« Denn kaum hatten die Hände Ruhe gefunden, da nickte er ein. Aus einem Schleier von Haaren hing die kräftige Nase. Sie war weiß. Nie im Leben hatte Jacquot einen Menschen mit so hungrigen Augen betrachtet, rundum und immer von neuem. Es war aber auch das Bild des Weltfriedens, das er studierte – einen kleinen, unscheinbar gekleideten Mann, der Europa einigen wollte und die Welt befrieden! Den Kaiser des Friedens, als Schmuggler, als Hoteldieb verkleidet! Und Jacquot fand es in der Ordnung, daß die Genfer Polizisten wie verkleidete Zivilisten aussahen, das war die einzige, erwünschte Erinnerung an das Militär, die einzige Uniform der Zukunft, die zum Waffentragen berechtigte. Und er konnte sich nichts andres unter der seit langem angekündigten Rede seines Helden vorstellen, als daß er mit ihr zu der Millionenarmee stoßen werde, die in allen Ländern auf das Signal wartete, um von ihren Gewalthabern den Frieden zu erzwingen ...
Inzwischen hatte sich in den Kreisen des Völkerbundes das Rätselraten, ob und wann Maxime-Simon öffentlich das Wort ergreifen werde, zum Gesellschaftsspiel entwickelt, es verpfuschte das Bridge und würzte den Poker. Man wartete darauf wie auf die große Szene des Tenors in der Oper, und dementsprechend zeigten sich am ungeduldigsten die Damen. Gerüchte von unbeschreiblichen Intrigen gingen um. Die einen dieser Ränke, hieß es, verfolgten den Zweck, dem Minister den Mund zu verschließen, die andern, das Wunder der Pfingstzungen auf ihn herabzurufen. Die Rolle des Wundergläubigen wurde Lord Berrick und seinem Anhang zugewiesen, vom Ministerpräsidenten Sarcarot dagegen behauptet, er telephoniere zweimal täglich von Paris, um seinem Minister des Äußern das Reden zu verleiden. Schließlich sollte eine dritte Gruppe darauf hinwirken, daß Maxime-Simon »seinen Vorteil wahrnehme« und der deutschen Delegation den Standpunkt klarmache. Seitdem sie im Völkerbundsrat saßen, schienen die Deutschen ihre Kriegserklärung an Frankreich und ihre Niederlage und den Krieg selbst vergessen zu haben! Sie gehörten ein bißchen geduckt.
Die deutsche Delegation wurde zum erstenmal von einem sozialistischen Kanzler geführt. Jedermann wußte, daß er sich bei seinen französischen Parteigenossen wegen seiner Haltung unmittelbar vor und nach dem Krieg (von der Kriegszeit zu schweigen) keiner Beliebtheit erfreute. Dies war der Vorteil, den Maxime-Simon wahrnehmen sollte. Noch aber hatte der Reichskanzler nicht gesprochen. Auch er schien zu zögern. Endlich ging der Vorhang über dem Schauspiel auf. Der Deutsche meldete sich zum Wort.
Es war ein Zufall, daß Jacquot und Gabriele die Rede mit anhörten. Sie hatten auf gut Glück in den Sitzungssaal hineingeschaut, einen öden, scheunenartigen Raum und ehemaligen kalvinistischen Gebetsaal, dessen Armseligkeit sie mit der Erinnerung an die Katakomben entschuldigten. Leider ging es heute bei den Genfer Urchristen langweilig genug zu. Die Übersetzung der Reden verhinderte jede unmittelbare Zuspitzung der Debatte, ja, sie bildete wahre Kugelfänger. Jacquot kam es vor, als müßten die Herren, bevor sie ihrerseits zum Schuß kamen, die Argumente des Vorredners einzeln aus der Matratze der Übersetzung herausziehn. Der Deutsche, ein großer, kräftig gebauter Mann, las seine Rede ab, und die Kinder bemerkten sofort, daß auf der Bank der deutschen Delegation einer saß, dessen Bleistift auf einem vor ihm liegenden Blatt die Rede Zeile um Zeile verfolgte. Der Mann mit dem Bleistift sah ungeheuer wichtig aus. Er brachte den Kindern die Vermutung nahe, daß die Deutschen den Stenographen, den offiziellen sowohl wie den zahllosen andern, nicht über den Weg zur Schreibmaschine und zur Telephonzelle trauten. »Sie werden wissen, warum«, meinte Gabriele. – »Unsinn«, stieß Jacquot hervor, »Verzeihung, Gabriele«, verbesserte er sich sofort, »ich wollte sagen: der Deutsche bringt lauter Dinge vor, wie wir sie oft von Christophorus gehört haben. Warum sollte er da mißtrauisch sein? Er will, daß endlich Ernst gemacht wird mit dem Programm, das wir kennen, und du weißt doch, daß die Widerstände von ganz andrer Seite kommen! Christophorus muß entzückt sein, wie der da den Hasen aushebt. Du, am Ende ist das zwischen ihnen abgekartet?« Zum Schluß schlug der Redner scheinbar freihändig auf das Pult. Und dies mißfiel, hauptsächlich, weil man annahm, der unvorhergesehene Temperamentausbruch habe ebenfalls auf dem Blatt gestanden.
Der Beifall war gering.
»Da hast du's!« Gabriele puffte Jacquot in die Seite. »Gedämpftes Bravo bei den kleinen Völkerschaften. Ich glaube, Pia sagte, der dort sei von Labrador.«
»Um so besser!« trotzte Jacquot.
Ihm gefiel die gediegene Vorlesung des Deutschen, und an dem Schlag auf das Pult fand er nur auszusetzen, daß er nicht kräftig genug war.
»Ach was«, sagte Gabriele, »diese Deutschen benehmen sich, als kämen sie aus der Gesindestube.« Jacquot, erbost, schluckte die Frage hinunter, ob ihre gute Stube in Schloß Breisach besser gewesen sei. Mehr denn je war er überzeugt, der Deutsche und der Franzose spielten sich in die Hände. Eigensinnig und schnell fertig mit dem Urteil, hielt er sich bereits für einen Diplomaten – darin glich er zweifellos seiner Tante Pia.
»Schau deinen Onkel!« meldete Gabriele.
Berrick sah zu ihnen hinauf und schüttelte bedenklich den Kopf.
»Da hast du's«, wiederholte das Mädchen, diesmal fest, beinahe ingrimmig.
Da fiel ihm auf, daß auch die Leute um sie herum, offenbar Sachverständige, nach der Sicherheit ihres Gehabens zu schließen, allerhand weitläufige Grimassen schnitten und eifrig zusammen flüsterten. Als er die Ohren spitzte, konnte er feststellen: die Bedenklichkeiten dieser Damen und Herren galten vornehmlich dem Schlag auf das Pult, wobei die einen behaupteten, der Deutsche habe mit der Faust geschlagen, die andern, mit der flachen Hand. Alle aber waren Augenzeugen! Jacquot, der bereits den Stenographen mißtraute, begann an der Zuverlässigkeit der menschlichen Sinne zu zweifeln, was wiederum den Deutschen entlastete.
Nach Beendigung der Sitzung fuhren sie mit Pia in ihr Hotel. Die Diplomatenfrau ließ sich durch das widerspruchsvolle Gerede der Kinder nicht aus der Fassung bringen. Sie prophezeite, dem Deutschen werde leicht auf die unartige Hand geklopft werden, nur so nebenbei – immerhin deutlich genug, um die Empfindlichkeit gewisser Herren zu befriedigen, von denen man zum erstenmal höre, wieviel Wert sie auf gute Manieren legten.
Nachher bei Tisch erklärte Berrick: »Hätte der Reichskanzler frei gesprochen, wäre nie die Rede von einer Provokation gewesen. Aber so –«
»Provokation?« rief Jacquot entsetzt. Pia beruhigte ihn:
»Ach, was nennen Polen und Tschechen nicht alles Provokation!«
Sie fand den Deutschen »Mittelklasse«, aber sympathisch. Wenn ihr Gedächtnis nicht täuschte, waren die Genossen jetzt besser angezogen als vor dem Krieg.
Gabriele, die dem Frieden mit Jacquot nicht traute, blieb stumm. Sie hielt sich aufrecht, hauptsächlich im Nacken. Und hatte schon wieder ein neues Kleid an ...
Spät abends teilte Berrick mit, das Gestirn des Kongresses werde morgen tönen und die Nebel Teutoniens zerstreuen.
»Ich hoffe, seine Musik wird an den Waldzauber in ›Siegfried‹ erinnern.«
An diesem Morgen schritt Christophorus wie gewöhnlich langsam die Hallentreppe hinunter, den steifen Hut auf dem Kopf, in der Hand den Spazierstock mit der silbernen Krücke, die er ungern benutzte, weil er gewöhnlich keine Handschuhe trug und das Silber die Handfläche schwärzte. Darum faßte er auch den Stock unter dem Griff und beförderte ihn vom Zimmer ins Auto, vom Auto in die Garderobe und wieder zurück. Es sei sein Marschallstab, sagten die Völkerbundskinder.
Während er die Treppe herabstieg, kramten seine Finger in einer Schachtel orientalischer Zigaretten. Vor der letzten Stufe erwarteten ihn seine beiden Herren. Der eine hielt ihm ein brennendes Streichholz unter die Zigarette, der andre durfte es ausblasen.
Gabriele und Jacquot eilten auf ihn zu, von Pia gefolgt, die schon am frühen Morgen echte rote Backen hatte vor Eifer.
»Ist es wahr?« rief Gabriele.
»Um wieviel Uhr?« fragte Jacquot.
»Ich denke gegen Mittag.« Oh, es handelte sich nur um ein paar kurze, schlichte Worte! Die Ausführungen des deutschen Ministers bedurften stellenweise der Berichtigung, einiger Randglossen, die wollte er, Maxime-Simon, heute anbringen, ohne viel Aufwand.
An der Tür drehte er sich um, hob lächelnd den Stock und sagte zu den Kindern:
»Damit ich so klar wie möglich spreche, will ich an Sie denken und mir bei jedem Satz überlegen, ob Sie ihn verstehen.«
Er gab ihnen die Hand, lüftete den Hut und grüßte Pia, die unverzüglich ihrem Gatten, der nun ebenfalls auf der Treppe erschien, entgegeneilte und ihm den Ausspruch Maxime-Simons mitteilte. Begeistert fügte sie hinzu:
»So sollte man immer in Genf sprechen – daß jedes Kind es versteht! Unser Mann scheint famos in Form. Nicht eine einzige Haarschuppe auf dem begnadeten Buckel, auch der Bambino, stelle ich mir vor, ist frisch gewaschen. Du hättest nur die Hose sehn sollen – tadellos gebügelt! Gib acht, Berrick, heute erleben wir etwas wie die Bergpredigt des Völkerbundes.«
Und sie warf einen Blick auf den großen Abreißkalender, der neben der Portierloge hing, um sich jetzt schon das denkwürdige Datum zu merken.
Der Sitzungssaal im Anbau des Hotels Viktoria glich einem überfüllten Theater zu Zeiten Shakespeares.
Es gab ein Parterre und einen ersten Rang. Im Parterre saßen die Delegierten und dahinter ein Teil des Publikums, im ersten Rang die Berichterstatter und, mit der Front zur Präsidialbühne, der andre Teil des gewählten Publikums. Pia und ich fanden Platz im Hintergrund des Saales, die Kinder waren von Berricks Sekretär nach langen Irrfahrten im »ersten Rang« untergebracht worden. Sie standen eingepfercht zwischen den Bänken der englischen Berichterstatter.
Der Aufbau, wo sonst das Präsidium in erhabener Einsamkeit thronte und nur die leeren Plätze anzeigten, wieviel leitende Beamte der Völkerbund annähernd zählte, verschwand unter einer wimmelnd belebten Pyramide von Stühlen. Dahinter schloß ein Tempelvorhang den Saal gegen ein Zimmer ab, dessen Vorhandensein die Zuschauer nicht erraten hätten, obwohl es einen Haufen Sekretärinnen und Stenotypistinnen beherbergte, wären nicht dauernd hübsche junge Damen ohne Hut und vereinzelte streng blickende Männer, vermutlich Aufsichtspersonen, durch den Spalt des Vorhangs geschlüpft. In frivolen Köpfen, deren es hier nicht wenige gab, entstand die Vorstellung eines in Aufruhr befindlichen Harems.
Die Saaltüren wurden geschlossen, Stille trat ein. Gleichzeitig brach der Aufstand der beamteten jungen Damen zusammen, und der Tempelvorhang kehrte zur Feierlichkeit seiner Bestimmung zurück. Droben auf der Journalistentribüne sagte ein Unbekannter zu Jacquot und Gabriele: »Große Völkerbundsparade!« Im Hintergrund des Saales reichte Pia mir ein Pfefferminzbonbon und flüsterte: »Noch nicht!« Denn es war ein eleganter, hübscher Herr, der die Rednertribüne bestieg. Er ließ ein anzügliches Lächeln über die Versammlung schweifen und versprach, sich kurz zu fassen. Der Saal besaß eine schlechte Akustik, sie wurde aber noch schlechter durch den Lautsprecher, der sie verbessern sollte. Das winzige Ungeheuer warf die Stimme des Redners kreuz und quer durch den Raum, und siehe da, unvermutet kehrte sie zum Redner zurück, das eine Mal taumelnd wie ein Betrunkener, das andre Mal mit dem drohenden Ton eines Polizisten. Der Redner wußte nie, auf was für eine Begegnung er sich gefaßt machen sollte. Vorläufig sprach immer noch der Herr, dessen Französisch den Bewohner des östlichen Europas verriet. Während der folgenden englischen Übertragung blieben nicht nur die Delegierten auf ihren Sitzen – in der Befürchtung, den mühsam eroberten Platz einzubüßen oder den Auftritt Maxime-Simons zu versäumen, verließ auch niemand aus dem Publikum den Saal. »Jetzt!« sagte Pia, und seine Exzellenz der Minister des Äußern, Herr Maxime-Simon, erhielt das Wort. Pia drückte noch schnell meine Hand, und ihre Augen begaben sich auf eine weite Reise ...
Es war das erstemal, daß ich ihn öffentlich sprechen hörte. Er hielt sich nicht anders als sonst, aber die Stimme war verändert, gleichsam groß und willkürlich in Musik gesetzt ... Wieviel Zeit verging, bis mir bewußt wurde, was der Mann dort oben tat? Bis ich aufnahm, was er sprach? Er machte Musik, wie ich, von allen Seiten vorbereitet, natürlich erwartet hatte, aber als die dennoch erfolgte Überraschung vorbei war, hörte ich nur noch, wie seine Musik leise, leise sein eigenes Werk in Stücke schlug ... Zur gleichen Zeit flüsterte oben auf der Journalistentribüne derselbe Unbekannte, ein Graubart, dessen Lippen zitterten, Jacquot ins Ohr: »Man könnte meinen, aus Paris hätten sie einen Doppelgänger Maxime-Simons hergeschickt, um den echten zu stürzen«, und dabei beugte er sich vor und blickte kopfschüttelnd auf den leeren Sessel des Ministers.
Was der Redner sagte, klang einfach und fast überzeugend, jedenfalls war es seit Jahr und Tag von allen Zeitungen wiederholt worden, die in ihrer Feindschaft gegen Deutschland beharrten.
Dem Deutschen, der verlangt hatte, es möge endlich Ernst gemacht werden mit der Abrüstung und dem Weltfrieden, hielt er nicht nur das Hunderttausendmannheer von Offizieren und Unteroffizieren entgegen, das der Friedensvertrag dem besiegten Reich aufgezwungen hatte, von dem der Sieger jetzt aber (zu Recht oder Unrecht) behauptete, es könne jederzeit den Rahmen für eine Millionenarmee abgeben, vielmehr betraf sein Hauptvorwurf die starke Industrie Deutschlands, seine Bevölkerungszahl, die Gesundheit des Nachwuchses, kurz, alles, was irgendein Volk, und wäre es das friedlichste der Erde, nur wünschen und anstreben könnte, ohne deshalb in den Verdacht kriegerischer Hintergedanken zu geraten. Wie, wenn nicht durch Ausrottung, sollte man ein gesundes, arbeitsames, erfinderisches Volk hindern, gesund, arbeitsam und erfinderisch zu sein? Aus Maxime-Simon sprach die Angst Frankreichs, und sie wog noch immer schwer wie der furchtbare Hochsommer 1914! Aber gerade diese, auf die Dauer unfruchtbare, unerträgliche und auch untragbare Angst hatte sich Maxime-Simon geschworen, in tätiges Vertrauen zu verwandeln! Seit Jahren kämpfte er gegen die Politik der Angst, die Sarcarot und die Seinen unter wechselnden Vorwänden vertraten. Hundertmal hatte er wiederholt, er bekämpfe sie allein schon aus dem Grund, weil sie ein Hindernis für jede Friedensarbeit bilde und den neuen Zielen und Verfahren einer Politik zuwiderlaufe, wie sie heute von der Mehrzahl der Großmächte befolgt werde und mit der schließlich der Völkerbund selbst stehe oder falle. Und nun? Mit seinen flinken, liebkosenden Fingern, diesen Putzmacherinnen, die sonst das Idealbild des Friedens schmückten, mit lauter kleinen, runden, wie verschwiegenen Bewegungen der Rede, worin zuweilen etwas wie grausame Freude aufblitzte, entkleidete er das Ideal vor unsern Augen, Stück um Stück. Nicht nur Deutschland fand er vertrauensunwürdig, nein, auch »ein andres großes Volk« (womit, allen verständlich, Sowjetrußland gemeint sein sollte), und mit diesem andern großen Volk drohte er den übrigen Mächten, drohte damit auch Deutschland, vielleicht Deutschland am meisten – wenn nicht die schwankenden Schatten, die er beschwor, als er die Möglichkeit eines Bündnisses zwischen Deutschland und Rußland andeutete, noch bedrohlicher wirken sollten, als die russische Gefahr für Deutschland gemeint war.
Doch darum und um alles andre, was zur Tagespolitik zu sagen gewesen wäre, ging es längst nicht mehr! Die Idee selbst war in Frage gestellt, der Völkerbund, die bisherige Politik Maxime-Simons, die Rede war längst über das Besondere hinausgeflogen! Wenn er recht hatte mit dem, was er tat, so war es seine eigene Maske, die er in der Hand hielt und herumzeigte wie die Gehilfen bei einer Versteigerung oder einem Ausverkauf ihre Ware.
Gepeinigt von dem Anblick beugte ich mich zu Pias Ohr:
»Begreifst du, warum er Selbstmord begeht?« – und im nächsten Augenblick schon fuhr ich in Gedanken fort: Das tun sie ja alle hier! Unsre ganze Gesellschaft begeht Selbstmord, sie ist zu dumm, zu feig, es ist keine Gemeinschaft mit ihr möglich ...
Pia war so weit fort, daß sie bei meinem Anruf zusammenfuhr.
»Wieso?« fragte sie, und als sie mir einen Augenblick das Gesicht zukehrte, sah ich, daß es mit winzigen Schweißperlen übersät war.
Sicher hatte sie mich nicht verstanden. Sie wandte sich ab und war wieder auf ihrer weiten Reise ...
Ich blickte zur Journalistentribüne hinauf. Gabriele lehnte sich über drei Reihen vor ihr sitzender Berichterstatter und hielt den ebenfalls vorgebeugten Jacquot umfaßt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren – ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen.
Als Maxime-Simon, der sich merklich dem Ende der Rede näherte, mit langsam aufsteigendem Gesang seinen Glauben an die neue Ordnung der Welt, seine Hoffnung, sein Vertrauen auf den Völkerbund in den Saal rief (im selben Augenblick begann der Kobold im Lautsprecher zu toben), neigten die Berichterstatter den Kopf zur Seite und blinzelten sich, die Bänke hinauf und hinunter, eindringlich zu ... Nach einer piratenhaften Kreuzfahrt war Maxime-Simon, alle Maste geflaggt, in den Hafen eingelaufen, und es begrüßte ihn endloser Beifall.
Der ganze Saal sprang auf wie ein Mann. Der Lärm der Tribüne übertönte den Beifall der Delegierten, die Türen wurden aufgerissen. Der Tumult fegte über Treppen und Vorzimmer, sauste mit dem Lift in die Höhe, kapselte sich in Telephonzellen ein, klapperte auf den zahllosen Schreibmaschinen des Hauses und stieß auf der Straße gegen die sture Mauer der Zaungäste, die, wie gewöhnlich, auf die Abfahrt der sechs Ministerpräsidenten und achtzehn Minister des Äußern, besonders aber auf die bunten Vertreter des Fernen Ostens warteten.
Da erwachte auch Pia. Sie sprang auf, um sich sofort wieder zu setzen. Mit zitternden Händen puderte sie Stirn, Wangen und Hals, und während sie, den kleinen Spiegel vor den Augen, mit dem Rotstift über die Lippen fuhr, sprudelte sie mir hastig ins Ohr:
»Es ist nicht, weil ich Deutsche bin ... Aber was für eine Lüge, so sprechen zu wollen, daß jedes Kind es versteht! Wir sind blamiert. Und ich, die allen erzählte, Maxime-Simon werde Handschuhe anziehen –! Hat er nun die Deutschen gestreichelt oder geohrfeigt? Glaubt er noch an seine Politik oder nicht? Mein Gott, man vergißt alles, wenn er spricht. Ich will ihn nie mehr anhören. Ich lese nachher, was er gesagt hat, dann weiß ich vielleicht Bescheid. Berrick, der unserm Premier versprach, es werde unter keinen Umständen zum Krach kommen, Berrick kann sich heimschicken lassen! Und dieser spanische Minister da vor uns, der gar nicht aufhören kann zu klatschen, vermutlich, weil seine ungebildete Frau mich nicht leiden kann ...«
Ihr Gesicht war in Ordnung, sie stand auf und blickte sich ruhig um. Ich zeigte ihr Jacquot und Gabriele, die sich still und verwundert von einem aufgeregten Haufen Journalisten zum Ausgang schieben ließen und dabei in den Saal spähten, wo Christophorus noch immer Glückwünsche entgegennahm. Sie winkte ihnen, und die Kinder winkten zurück, froh, einen hilfsbereiten Arm den unbegreiflichen Tumult überragen zu sehn. Im Gedränge übernahm Pia ein Lächeln von der Dame eines englischen Delegierten, die ihr unter begeistertem »magnific« Platz machte, und hielt es mit ihren frisch geschminkten Lippen fest. Wir verließen so eilig wie möglich den Saal.
Auf der Straße brach sie in Tränen aus.
Ich begleitete sie nach Hause und tröstete sie, wie man die Frau eines beschädigten Politikers tröstet, nämlich mit Argumenten, die um so sachlicher klingen müssen, je deutlicher sie auf die Person zielen.
»Liebliche Pia«, bat ich, »hör auf zu weinen! Deine Augen sind schon ganz rot. Sie waren so schön blank, als Maxime-Simon die Rednertribüne bestieg und du dich mit ihnen auf die große Reise begabst. Bitte, keine roten Augen!«
Sie schluchzte: »Das ist es ja gerade! Ich kann mir heute nicht oben servieren lassen, ich muß mich im Speisesaal zeigen.«
»Allerdings, das ist deine Pflicht«, versetzte ich ernst, »deine Standespflicht. Also Vorsicht mit den Augen!«
Ich setzte sie in den Lift und fuhr zum Hotel zurück, um die herausströmenden Delegierten zu beobachten. Nicht die geringste Spur jener Verbissenheit konnte ich an ihnen entdecken, die bei wirklichen oder vermeintlichen Umwälzungen in das Gesicht führender Menschen einkehrt, sei es, daß sie auf Sieg beißen oder auf Niederlage. Die Herren waren eher belustigt, wie über einen gelungenen Streich, dessen Zeugen sie gewesen, oder sie lächelten in sich hinein und schienen mit einer amüsanten Rechenaufgabe beschäftigt.
Anders verhielt es sich mit den gewohnheitsmäßigen Kongreßbesuchern, der ›Gesellschaft‹ des Völkerbunds. Die einen unterhielten wohl ihre Aufgeregtheit künstlich, um bei Stimmung zu bleiben, die andern aber glaubten, was ihr Wunsch ihnen eingab, wenn auch nur um des Ungewöhnlichen willen, daß es in der Welt wieder ein wenig nach Brand roch ... Die Hyänen des Friedens gehören zur gleichen Familie wie die Kriegshyänen.
Auf dem Rückweg zu unserm Hotel und Pias Fegefeuer hielt ich kleine Ansprachen an meinen Schatten, als schritte ich allein mit ihm hinter einem Sarg.
Deine Bartkoteletten sieht man nicht, sprach ich zu ihm, aber du trägst sie dennoch, du Scherenschnitt zu meiner Linken. Wie gut tatst du, sie niemals wegrasieren zu lassen! Es gibt dir etwas Biederes und berechtigt alle deine Bekannten, dich für einen Esel zu halten, gut genug, das Trauergefolge eines Selbstmörders abzugeben. Damit warst du im blutigen Krieg und nachher in der Weltetappe der Schweiz. Und was heute hier vorgeht, diesmal in Genf statt in Bern, erscheint mir, deinem aufrecht wandelnden Original, als ein ironischer Nachhall, ein Satyrspiel jener Tage. Auch damals redeten sie alle vom Frieden, alle wünschten für ihre Völker nichts als den Frieden, und in den Pausen des Roßtäuschergeschnatters vernahm man das Geschützfeuer aus dem Elsaß. Alle, mein Lieber, rüsten heute zum Krieg, indes sie dem Frieden Altäre errichten, alle ohne Ausnahme ... Selbst die Russen können ihn sich nicht anders vorstellen als auf dem Weg über die Weltrevolution. Die Weltrevolution – stell dir das Massaker vor! Und nun, mein Guter, erzähle du mir noch etwas vom Frieden! Kannst du mir bestreiten, daß wir ihm damals im Kriege näher waren als heute im Frieden? ... Recht so, verschwinde schamvoll hinter meinem Rücken! Wir beiden, wir bleiben einsam unser Leben lang. Und das ist auch das beste ...
Damit betrat ich das Hotel ...
»Gute Anzeichen, Herr Baron, sehr gute Anzeichen ... Wird alles wieder gut ... Soeben ist Lord Berrick mit Herrn Maxime-Simon zum englischen Premier gefahren.« Mit schicklichem Augenaufschlag fügte er hinzu: »Ein Höflichkeitsbesuch. Schon lange verabredet.«
Pia und die Kinder saßen bei Tisch. Sie empfingen mich mit derselben Nachricht wie der Portier, nur ohne die Feierlichkeit des altgedienten Diplomaten. Im übrigen verhielten wir uns ziemlich still, weil Pia, um ihre verweinten Augen besorgt, dauernd mit Puderquaste und Spiegelchen beschäftigt war. Bald mußte ich, bald eines der Kinder die Haltung bei Tisch ändern, um sie bei ihren Handhabungen den Blicken der Gäste zu entziehen. Sie befand sich immer noch auf der großen Reise, aber diesmal sichtlich auf der Heimfahrt.
Als sie in ihr Zimmer kam, hielt ihr die Zofe einen Strauß knospenhaft schlanker weißer Rosen entgegen, den hatte Maxime-Simon ihr geschickt. Wann? ... Vor fünf Minuten ... Ein Zauberkünstler! Er saß am andern Ende des Sees beim Premier, und durch die Luft kamen Rosen von ihm geflogen ... Daraufhin sank sie leicht aus einem englischen Roman in Schlaf ...
Ich war mit den Kindern in der Halle geblieben.
Gabriele, die trotz allem hoffte, ihre Mutter noch einmal zu sehn, bevor sie zu den vornehmen Töchtern in die Verbannung ging, hatte mich gebeten, nach Unterhügeln zu telephonieren. Wir warteten stundenlang, alle Drähte waren von den Journalisten besetzt. Endlich meldete sich Schloß Unterhügeln. Ich fragte nach Ada, hörte, wie umgeschaltet wurde, und reichte Gabriele den Hörer. In der nächsten Sekunde legte sie den Hörer hin und verließ die Zelle ... Statt Ada hatte sich Silvio gemeldet ... Ich sprach mit ihm. Er behauptete, Ada sei im Haus nicht aufzufinden, sie müsse im Park sein, aber auch von dorther sei auf alles Rufen keine Antwort erfolgt.
»Du kommst nicht?« fragte ich. Nein, er kam nicht nach Genf. Ada hatte keine Lust, jetzt, wo es auf dem Land am schönsten sei, in das heiße Genf zu fahren, und natürlich wollte er bei ihr bleiben. Ich unterließ es, nach Aggie zu fragen, und Silvio erwähnte sie nicht.
Schon wollte ich abhängen, da mischte sich mein Schatten ein. Er war nun einmal aufgeweckt und brannte darauf, seinerseits das Wort zu ergreifen, vielleicht um sich für die überhebliche Form meiner Ansprache zu rächen. Er zwickte mich in den Nacken, und ich hörte mich zu Silvio sagen: »Schade! Zehn Tage Genf hätten dich in deiner Laufbahn weiter gebracht als zwanzig Monate Unterhügeln plus Paris. Du hättest mit Maxime-Simon und Berrick Umgang gehabt und abwechselnd mit sechs Ministerpräsidenten und achtzehn Ministern des Äußern bei Tisch gesessen – von der Presse zu schweigen, die in ihren hervorragendsten Vertretern zur Stelle ist ... und, wie man behauptet, hungrig auf Interviews wie noch nie. Du hast einen geradezu legendären Start versäumt. Deine Brücke von Arcole, mein Lieber! Wirklich, sehr schade!« Mein Schatten reckte sich, mit Hilfe eines Knicks, bis quer über die Decke und log: »Dies ist auch die Meinung Lord Berricks!«
Ich hörte, wie Silvio mit der Antwort zögerte: den Blick unter den feuchten Wimpern auf die Wipfel der Parkbäume gerichtet saß er am Schreibtisch, wohin der Diener wohlberaten umgeschaltet hatte statt in Adas Zimmer, und machte, die Nase am Hörer, über Hunderte von Kilometern den Geruch meiner Worte aus.
Und mein Haß, traurig sonst und zur Ironie geneigt, einem Leichengaul gleich, der den Sarg eines Selbstmörders aus dem Dorf zieht und niemand hinter sich weiß als nur zwei alte, schimpfende Männer, von denen der eine eine Peitsche, der andre einen Spaten trägt, siehe da, mein Haß wechselte Rasse und Farbe. Es war ein Haß, der biß auf die silberne Kandare und schüttelte fröhlich den Federbusch auf dem Kopf, und der Federbusch war rotweiß wie bei den Hochzeiten der Breuschheim.
»Nein«, kam es schneidenden Tones zurück. »Das dort ist Politik für reiche Leute ... Und ihr hättet mir ja doch alles verdorben!« Und:
»Sonst noch was?« fragte er.
Ich antwortete nicht gleich. Seine Wut, die wie ein Köter gegen meine lustigen Hochzeitspferde ansprang, ohne einen Laut von sich zu geben, bot einen zu genußreichen Anblick, als daß ich gern hätte wegblicken mögen. Endlich sprach ich langsam: »Nicht daß ich wüßte.«
»Gut so, leb wohl«, sagte er, beide hängten wir gleichzeitig ein.
Gabriele, der ich in der Halle Bericht erstattete, hörte gespannt zu. Ihre Augen erinnerten an eine Möwe, die den Flug eines zugeworfenen Stückchen Brots verfolgt. Als ich schloß: »Ich kann – ich kann ihn nicht leiden!« stieß die Möwe zu: Gabriele nickte, kurz und heftig. Dann hob sie die Hände und schlenkerte von ihren zehn Fingern die Worte: »Danke schön, Claus. Was wollt ihr? So sind meine Papas! Reden wir von etwas anderm.«
Jacquot, als ein Mann, knirschte nur mit den Zähnen.
Seltsam befriedigt brachen wir zu einem Spaziergang auf. Da bemerkten wir zum erstenmal, so angefüllt war Genf mit allem möglichen Kram, wie aus den Hotels am Kai eine Menge Fahnen heraushingen, mit denen wir nichts anzufangen wüßten. Ihre Staatsangehörigkeit ließ sich nur durch direkte Anfrage beim Portier des Hauses feststellen – ein willkommenes Spiel für die Kinder, ein richtiges Genfer Spiel, nicht nur für Kinder, das zwar den Farbensinn bedroht, aber die geographischen Kenntnisse vermehrt. Indes Jacquot und Gabriele ernsthaft zwischen den Hotels und mir hin und her marschierten und neuere Geographie lernten, genoß die »Gesellschaft« des Völkerbundes die Milde des windlosen Tages. Ja, dieses eine Mal hatte der böse Genfer Wind, die »Bise«, ganz vergessen, sich seiner Residenz in Erinnerung zu bringen. Zwanzig Sprachen wogten gefallsüchtig zwischen Pont du Montblanc und Hafendamm, und schließlich wußten wir nicht mehr: hatten die Hotels zu einer Toilettenschau geflaggt, oder hatten sich umgekehrt die Leute so ausgesucht gekleidet, um ihren Fahnen die Ehren zu erweisen.
Beim Kasino begegneten wir dem Reichskanzler.
»Er hat sich verirrt«, sagte Gabriele. »Die Fahne seines Landes weht auf dem andern Ufer.« Mit düstrer Miene verbesserte Jacquot: »Er ist desertiert.«
Deshalb wollten wir auch taktvoll tun, als sähen wir ihn nicht. Er aber lächelte die Völkerbundskinder gutmütig an, und wären sie noch etwas kleiner gewesen, wir erkannten es an seinem Blick, er hätte ihnen bestimmt zwei dieser mechanischen Störche gekauft, wie ein Händler sie zwischen den Beinen der Spaziergänger über den Boden stelzen ließ. So mußte er sich mit einem unbezahlbaren Reichskanzlerlächeln begnügen. Die Kinder dankten beflissen.
»Im Grund hatte er recht mit dem, was er sagte«, verkündete Gabriele und blickte Jacquot keck ins Gesicht.
Er lehnte ab.
»Das sagst du jetzt.«
Sie reckte sich:
»Ich sage, was ich denke.«
Nun versuchte er es mit Ironie:
»Wenn ich mich nicht täusche, war er dir heute morgen nicht kavalierhaft genug?«
»Nun, wenn du das meinst«, versetzte sie gewissenlos: »mit Christophorus verglichen, ist er geradezu ein Gent – ein Gent von der Art des dicken Antonius in der Breuschheimer Kirche, zu dem die Schönen aus dem Dorf beten gehn, damit sie nicht vor der Zeit ein Kind kriegen.«
Jacquot heuchelte entrüstet:
»Ein Glück, daß Pia dich nicht hört!« Dabei zeigte er offen ein Lächeln, er war stolz auf die Lebenserfahrung seiner Freundin, was ihn aber leider nicht hinderte, bis in die Ohren zu erröten.
Um von dem peinlichen Ereignis abzulenken, machte er die Feststellung: »Übrigens hältst du dich miserabel.«
Gabriele sah es zu gern, wenn Jacquot errötete, es war ihr eine Augenlust, die sie auch jetzt sich nicht versagte. Die Ohren des Jungen waren flach und zart, und in der Muschel bewegte sich bei jedem Schritt etwas wie ein Tropfen rosig durchscheinenden Blutes. Errötete er aber, so wurde der Tropfen gleichsam zu einer aufbrechenden Wunde und überflutete das Ohr, und dieses flammte zu Gabrieles höherer Genugtuung wie eine Tomate. Sie genoß es mit weit geöffneten Augen und wandte den Kopf erst weg, nachdem er ihre Freude bemerkt hatte ...
An diesem Abend erschien Pia in einem bisher noch nicht gezeigten Kleid, bestellte, obwohl sie selbst nur Wasser trank, schon über der Suppe Champagner und schwatzte los.
»Denkt euch, um fünf Uhr schickte mir die Dame des spanischen Ministers die Einladung zu einer – ›surprise party‹! Die Dame befiehlt uns, sie Punkt acht Uhr zu überraschen! Habt ihr schon so was gehört? Von selbst käme freilich niemand auf den Gedanken, diesen Flamingo in seinem Käfig zu überraschen. Was meinst du, Claus, soll das nun etwas Neues und fabelhaft Originelles sein oder nur eine stotternd vorgebrachte Bosheit? Ich schrieb Ihrer Exzellenz, leider hätte ich gerade heute mein eigenes Überraschungstreffen und wartete stündlich auf die Rückkehr meines Mannes, der mit Herrn Maxime-Simon zum englischen Premier gefahren sei ... Das können Ihre Exzellenz nun auslegen, wir ihr beliebt.«
Mit einiger Mühe reimte ich mir folgendes zusammen. Ihre Exzellenz konnte unsre Pia nicht leiden, weil unsre Pia Deutsche war, und deshalb »vermutlich« hatte ihr Mann, der Minister, nach Maxime-Simons Rede so aufdringlich geklatscht. Und um die durch Maxime-Simon verursachte Überraschung voll zu machen, lud Ihre Exzellenz zu einem Überraschungstreffen ein, »vermutlich« zum Zweck, sich öffentlich an der Überraschung unsrer guten Pia zu laben. Dies alles schien mir zwar etwas kompliziert, aber schließlich bestand ja die Aufgabe der Diplomatie darin, die einfachsten Gerichte zu würzen.
Sie sprach längst von anderm, als ich überzeugten Tones bekanntgab:
»Da hast du gut getan abzusagen, Pia.«
Ihre Augen schauten ausgeruht und zuversichtlich wie die eines Sperbers, den die deutsche Gesetzgebung bekanntlich zu schonen befiehlt.
Wir warteten noch eine Stunde oder zwei auf die Heimkehr Berricks. Pia belehrte die Kinder teils über Politik, teils über gute Manieren.
Die guten Manieren ließ ich unangetastet vorbeigehn, das Gespräch über Politik gelang es mir gegen 11 Uhr mit der Bemerkung zu schließen: bei einem so kostspieligen Prozeß wie der Völkerbundsversammlung seien immer beide Anwälte im Recht, zumindest in den Augen ihrer Klienten. Es handle sich eben um die besten Anwälte, die ihre Sache zu führen verständen und ihren Klienten teuer seien. Der Gegenstand des Prozesses aber, nämlich der Friede, sei noch die Ungewißheit selbst, so daß immer die größere Geschicklichkeit entscheide, welche von den Parteien den Schein des Rechtes auf ihre Seite bringe. Heute diese, morgen jene. Schlössen sie wirklich Freundschaft und würden gar Bundesgenossen, so gäbe es zwischen Deutschland und Frankreich keinen Prozeß mehr um vergangene und zukünftige Kriege zu führen.
»Ja, aber England muß der Dritte im Bund sein«, befahl Pia.
Ich verneigte mich: »Um so mehr, als es das erstemal in seiner Geschichte wäre«, und wir gingen zu Bett.
Die Kinder und ich waren müde, wir freuten uns auf den Schlaf.
Pia dagegen schwor, heute müsse der Schlaf sie meiden.
Deshalb traf sie auch nicht die üblichen Vorbereitungen für die Nacht, die Tür zwischen den Schlafzimmern der Ehegatten blieb offen. Nach dem Bad unterließ sie es, das Gesicht einzusalben und das Haar unter die Netzhaube zu stecken, und bettete sich mit gelockerten Gliedern in das Licht der Nachttischlampe. Dies Licht war eine Liebkosung, ein Hauch, der Schein einer großen Blüte, die zauberhaft im Dunkel des Zimmers lebte, wie wenn man im Nebel vor einem blühenden Pfirsichbaum steht, ein Licht, worin Pia, wenn ihr daran lag, jederzeit ihre ungeschminkte Jugend wiederfand. Es lag auf dem Scheitel der reinen, blonden Haare, und auf die Bläue der Augen antwortete, bis in die Schatten ringsum flutend, die Bläue der Daunendecke, und ihre Haut unter dem rosigen Hauch war von makellosem Weiß. Sie las in einem Tauchnitz-Roman, der alle paar Minuten zugleich mit den Händen herabsank und nach einer Weile wieder mühsam in die Höhe gebracht wurde.
Als Berrick in das Zimmer trat, schrak sie auf.
»Nun?« rief sie überlaut.
»Wir haben nicht von Politik gesprochen«, antwortete er leise. Leise nahm er ihr das Buch aus den Händen, küßte sie, legte ihr sanft den Kopf auf die rechte Seite, wie sie es gewohnt war, und löschte das Licht.
»Schwöre«, lallte sie schlaftrunken. Ohne zu antworten, schloß er lautlos die Tür ...
»Nun?« sagte auch Christopherus bei der ersten Begegnung mit seinen Freunden.
Er befand sich auf einem Morgenspaziergang, ganz allein, ohne die Trabanten. Die Straße war leer, bis auf einen Briefträger und einen radelnden Bäckerjungen, die sich Begrüßungsworte zuriefen und gleich darauf wie in einem Loch verschwunden waren. Einige Möwen kreuzten vorsichtig, als fürchteten sie, über Nacht das Fliegen verlernt zu haben.
Jacquot und Gabriele waren bereits von Pia empfangen worden, und sie hatte sie, durch das Zimmer flatternd und ihre Blumen betreuend, mit dem Manna der neuesten Meldungen gespeist.
»Nun?« wiederholte Christophorus ...
Gabriele stieß Jacquot an, und dieser fragte kühn:
»Herr Präsident, darf ich offen reden?«
»Ich bitte darum«, sagte der Präsident.
»Mir scheint, Herr Präsident, Sie wollten den Deutschen eins auswischen, und Sie haben den Frieden getroffen.«
Christophorus hob den Stock, rieb mit komischer Nachdenklichkeit die Nase an der silbernen Krücke:
»Ah bah!« machte er ... »Wirklich? So schlimm?« Der Stock sank in die Haltung des Marschallstabes zurück. »Na, auch der Friede muß gelegentlich einen kleinen Stups vertragen, und mein sehr verehrter deutscher Kollege ist ja nicht gerade zart gebaut – wie? Morgen sitzen wir zusammen am Verhandlungstisch.«
»Siehst du, Jacquot«, jubelte Gabriele.
Christophorus fragte:
»Was soll man sehn, schönes Fräulein?«
»Wir waren gleich der Meinung, Sie hätten nur so mit der Peitsche geknallt.«
»Ah, Sie dachten an den Zirkus? Danke für das Kompliment!«
Mit einem freundlichen Kopfnicken trottete er weiter.
Unter dem »wir« war Pia zu verstehn, die nach gründlicher Aussprache mit Berrick zu der Überzeugung gelangt war, daß Maxime-Simon ausschließlich zur Beruhigung des mißtrauisch lauernden Sarcarot »mit der Peitsche geknallt« habe – und, ergänzte Berrick immer wieder, »und auch ein klein wenig für die Deutschen, weil die sich gar so ungestüm ins Geschirr legten ... Jetzt wird er ihnen wohl täglich Rosen schicken – ich nehme an von denselben wie die da.«
Er zeigte auf den Strauß Maxime-Simons, mit dem sie an sein Bett gekommen war, und Pia lächelte, als sähe sie dem Geheimnis der Diplomatie auf den Grund ...
Wir erlebten es noch, wie das Donnerwetter, das die Weltpresse mit ihren Genfer Berichten an den Himmel malte, allmählich in einen Frühlingsregen überging, dessen wachstumfördernde Wirkung bekannt ist. Die Tage waren vorbei, wo »man«, das heißt die Gesellschaft des Völkerbundes, die Federn der nationalistischen Zeitungshelden am Hute trug. Man nannte sie jetzt wieder altmodische Herren und sah den Frieden weiß und wuchtig im Himmel thronen. Denn der Himmel war wieder blau und der Montblanc tagelang zu sehn. Den vereinzelten Ruinen von Raubritterburgen in der Zeitungswelt blieb nichts übrig, als mit dem Efeu zu glänzen, der unaufhaltsam ihre romantischen Reste verschlang.
Und in den Hotels begann das Sterbeglöcklein der »départs« zu läuten. Und die Straßen änderten ihr Bild. Nachdem die Genfer lange Zeit in ihrem kalvinistischen Getto ausgeharrt hatten, konnte man jetzt beobachten, wie ihre Kundschafter, von der »Bise« geschüttelt, langsam über die Rhonebrücken vorfühlten.
Wir reisten alle am gleichen Tag. Berrick und seine Frau wollten im Salonwagen der französischen Delegation nach Paris und von dort gleich weiter nach London fahren, Jacquot und ich erst einmal heimkehren, um dann ebenfalls nach England aufzubrechen.
Beim Abschied hielt Maxime-Simon, einige Schritte von uns entfernt, den Völkerbundskindern eine vorsichtig gewürzte Abschiedspredigt. Pia merkte sich, daß Gabriele viel zu laut lache für eine Dame, ganz abgesehn von der Haltung, die gerade bei den offenbar ernsten Stellen der Rede zu wünschen ließ ... »Mut!« war das letzte Wort des Ministers, und er wiederholte es dreimal: »Mut, Mut. Sagen Sie es auch der kleinen Annette von mir, wenn sie versucht, in die Sonne zu gucken. Mut!«
Als die Kinder zu uns stießen, brachte Pia es angesichts ihrer heitern Zuversicht kaum über sich, ein Wort von der »Haltung« in das Ohr Gabrieles tröpfeln zu lassen. Sie tat es, unauffällig, unter ihrem schönsten Lächeln.
Ich hatte den Zug für Jacquot und mich so gewählt, daß uns zwischen dem »großen« und dem »kleinen Abschied«, wie die Kinder sich in Umkehrung des Verhältnisses ausdrückten, Zeit genug blieb, Gabriele im sagenhaften Pensionat außerhalb der Stadt abzusetzen. Aber sie verbat sich unsre Begleitung, obwohl Jacquot versicherte, ihr Auftreten mit zwei Gentlemen werde nicht verfehlen, den mutmaßlichen Hausdrachen auf Monate hinaus einzuschüchtern. Sie meinte, da ihre Schwester bei unserm wiederholten Anruf nicht einmal ans Telephon gekommen sei, müsse »da hinten« etwas nicht »ganz sauber« sein, und bat, sich auf ihre Nase verlassen zu dürfen.
Gutgelaunt brachte sie uns nach einer Rundfahrt durch die erkaltete Stadt zur Bahn. Die Vortruppen des Genfer Patriziats hatten inzwischen das Bahnhofsviertel erreicht. Kühn an der Straßenecke aufgepflanzt, zählten sie die Wagen, die zur Station fuhren, und sandten einem jeden triumphierende Blicke nach.
Die gebotene Gelegenheit, sich unter vier Augen zu verabschieden, nahmen die Kinder nicht wahr, sie wiesen sie im Gegenteil, wie auf Verabredung, mit einem Zucken ihrer vier Augenbrauen zurück, so daß ich mich so gut wie gerüffelt fühlte. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wurden sie lebhaft, alle möglichen füreinander bestimmten Dinge fielen ihnen ein, die sie jetzt nur noch mit hastigen Händen signalisieren konnten, und auch damit kamen sie nicht weit. In Voraussicht derartiger Gefühlsausbrüche waren die kalvinistischen Erbauer des Bahnhofes auf der Hut gewesen. Kaum in Fahrt, drehten die Wagen den Zurückgebliebenen und ihren Versuchungen den Rücken.
Und dann saß Gabriele wieder in dem plötzlich viel zu geräumigen Auto, allein zwischen Jacquots roten Nelken und einer Hutschachtel aus schwarzem Glanzleder ... Sie erinnerte sich, wie sie die Schachtel in einem Schaufenster erblickt hatte und, von dem Glanz angezogen, darauf losgeschossen war, als gälte es, eine schwarze Jungfrau aus den Händen von Sklavenhändlern zu befreien ... Obwohl sie jetzt, vereinsamt und bloßgestellt, in derselben Lage war wie damals die Hutschachtel, dazu blond noch und weiß und in drei Weltsprachen bewandert, zeigte sich in keinem der vorüberströmenden Menschen ein ähnliches, von Ritterlichkeit zeugendes Verlangen, und hinter dem vorgehaltenen Handschuh spuckte sie auf die Welt.
Sie nahm die Nelken auf den Schoß und fuhr steif aufgerichtet, auch im Nacken, woran man die Dame erkannte, zur Stadt hinaus, in die »Strafkolonie für vornehme Töchter«.
Wir werden sie lange nicht wiedersehn.
Lebe wohl, Gabriele!