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Lord Berricks Erzählung

Wir saßen nach dem Abendessen in der Halle des Hotels und sprachen von dem, wovon unsre Generation bis zum Tode wie ein Besessener sprechen wird, vom Krieg – vom Krieg und dem roten und weißen Schrecken des Bürgerkriegs, der in manchen Ländern auf den Krieg gefolgt war und noch immer andauerte und in fast allen übrigen Ländern der Erde als ein drohendes Gespenst umging.

Es fiel, von Pias schaudernden Lippen, das Wort »Dumdumgeschoß«. Eine Zeitung hatte die lügnerische Meldung gebracht, die Russen verwendeten bei ihren Hinrichtungen Dumdumgeschosse.

»Was ist das eigentlich?« fragte Pia! ...

Ursprünglich nur ein Halbmantelgeschoß, erklärte Berrick, lächelnd über Pias Entsetzen vor dem Unbekannten – später aber die Bezeichnung für jedes »verräterische«, nämlich von einzelnen Soldaten künstlich zurechtgestutzte Geschoß, das große, schwer verheilende Wunden verursachte ... Bei einer Hinrichtung aber, meinte er, habe man Muße genug, gut zu zielen und beliebig oft zu schießen.

Nun wollte Jacquot wissen, woher das Wort stammte.

»Von einem Ort, mit dem mich Familienerinnerungen verknüpfen«, erwiderte Berrick. »Gerade dachte ich im Hinblick auf diesen Ort, wie es doch immer das gleiche bleibt, solange man in der Auseinandersetzung zwischen Völkern und Klassen das Prinzip der rohen Gewalt nicht verläßt: Unterdrückung ruft die Rachegeister wach, der Rache folgt die Vergeltung, der Vergeltung ein Zustand, den man Friede zu nennen beliebt, obwohl auch er fast immer eine Gewalttat ist und deshalb nur eine Atempause zwischen zwei Kriegen. Jacquot! Gabriele! Ich will euch eine Geschichte erzählen, eine wilde, böse Geschichte. Ich war kaum so alt wie ihr, als ich sie zum erstenmal hörte, und, Pia wird mir verzeihen, wenn ich sie quäle – es ist eine wilde, böse, aber lehrreiche Geschichte. Ich habe sie von meinem Großvater gehört, nicht einmal, nein, mindestens ein dutzendmal. Da ich schon als Kind zum Diplomaten bestimmt war, sollte sie mir, mit den Worten meines Großvaters zu reden, den blutigen Ernst der Politik vorführen, an den nicht nur Diplomaten, sondern auch andre kräftigere Leute entweder gar nicht oder zu spät glauben. Übrigens spielt der alte Herr in der Geschichte eine bedeutende und, wie er annahm, blamable Rolle. Die Blamage bestand darin, daß ein gewisser Hauptmann, von dem (natürlich sehr diskret) gleich die Rede sein wird und der einen Leutnant wegen einer dienstlichen Meldung auslachte, niemand anders als mein Großvater war ... ›Dum-Dum‹ – wer hätte gedacht, daß der Name so bekannt, ja ein Begriff würde!

›Dum-Dum‹, liebe Freunde, ist ein Instruktionsplatz für indische Rekruten im Kalkuttaer Bezirk. Dort trat zu Anfang des Jahres 1857 an einen Sepoy oder eingeborenen Soldaten, der, wie die meisten Sepoys, Brahmane war, ein Arsenalarbeiter von niederer Kaste heran und bat ihn um einen Trunk aus der Feldflasche.

›Ich habe meine Flasche gereinigt‹, sagte der Sepoy, ›du würdest sie wieder verunreinigen.‹ Worauf der Mann: ›Du bist so stolz auf deine Kaste, aber warte nur! Bald wird der Offizier dich Patronen abbeißen lassen, die mit Kuhfett gearbeitet sind. Wo wird dann dein Kastenstolz bleiben?‹ Und im Fortgehen warf er hin: ›Oder hast wohl schon gar die neuen Patronen gebissen?‹

Gemeint waren die Patronen zum Enfieldgewehr, das damals in der bengalischen Armee eingeführt wurde, und die eine Mischung aus Kuh- und Schweinefett enthielten. Die Hindusoldaten liefen demnach Gefahr, ihr Höchstes, die Kaste, und die Mohammedaner nicht weniger, nämlich die ewige Seligkeit zu verlieren.

Durch die Arsenalarbeiter kam es also ans Licht und verbreitete sich mit unheimlicher Schnelligkeit, daß ein neuer, diesmal gegen die Eingeborenenarmee gerichteter Anschlag auf den Glauben der Inder in Ausführung begriffen sei, die, gewissermaßen hintenherum, zu Christen gemacht werden sollten. Ich weiß nicht, ob die Leute meinten, wer Kaste und Seligkeit einbüße, sinke von selbst zu einem Christen herab, oder ob sie sich fürchteten, vor die peinliche Wahl zwischen dem einträglichen Soldatenberuf und ihrem Glauben gestellt zu werden. Vorangegangen waren die Entthronung eingeborener Fürsten und die Einführung von Telegraph und Eisenbahn, die Annexion von Provinzen und die Einsetzung ordentlicher Gerichte, Erhebung ungewohnter Steuern und ebenso neumodische Vorkehrungen gegen Pest und Cholera und, nicht zuletzt, das Verbot der Witwenverbrennung sowie die Einrichtung von Volksschulen, kurz, ein großangelegter Raubzug mit humanitären Nebenerscheinungen. All das hatte Empörung, Furcht und Haß gesät. Wie bei allen Revolutionen kam es nur noch darauf an, die Armee zu gewinnen, dann konnten die alten Herren Indiens wieder das Haupt erheben. Überdies waren die Engländer durchaus nicht unbesieglich, auch das wußte man, seitdem die Afghanen ein englisches Heer aus dem Lande geschlagen hatten ...

Im Februar und im März gab es Aufstände von Sepoys in zwei Garnisonen des Kalkuttaer Bezirks. Der erste verlief unblutig, beim zweiten wurden zwei Offiziere verletzt. Die Regierung ließ die neuen Patronen einziehen, und die Unruhen schienen beendet.

Inzwischen aber war von der Grenze des kürzlich annektierten Königreichs Oudh eine sonderbare Bewegung ausgegangen. Indische Läufer, zumeist Polizeiwächter, eilten mit zwei Chupathies, das sind kleine, ungesäuerte Brotkuchen, nach den nächstgelegenen Dörfern, wo sie ihren Kollegen aufgaben, ebenfalls Chupathies zu bereiten und davon je zwei den eingeborenen Polizeiwächtern der fünf nächsten Dörfer zu überbringen, was diese wiederum genauso wiederholen sollten. Überall tauchten die Läufer mit den Brötchen auf. Die Behörden vermochten den unheimlichen Lauf über Indien nicht aufzuhalten. Bald stiegen die Boten oben im Punjab, der nördlichsten Provinz aus dem Boden.

Dann kam Meerut. Ende April begannen in Meerut die Brandpfeile zu fliegen. Jede Nacht brachen Feuer aus. Ein eingeborenes Kavallerieregiment weigerte sich, bei der Parade Patronen anzunehmen. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, an der nur eingeborene Offiziere teilnahmen, darunter drei von dem aufsässigen Regiment. Die Kommission entschied und gab bekannt, die Patronen seien die alten und enthielten keinerlei Stoffe, die ein Hindu oder Muselmann nicht berühren dürfe. Der Untersuchung folgte ein gerichtliches Verfahren. Das Gericht bestand wiederum ausschließlich aus Eingeborenen, sechs Mohammedanern und neun Hindus. Sechs von diesen Offizieren waren von Delhi herangezogen worden. Das Gericht fand fünfundzwanzig Soldaten schuldig und verurteilte sie einstimmig zu je zehn Jahren Gefängnis. Am nächsten Morgen, dem 9. Mai, wurden die Verurteilten vor der gesamten Meeruter Garnison ihrer Uniform beraubt und in Ketten gelegt. Sie beschworen ihre Kameraden, sie zu retten. Vergeblich ... Vergeblich, denn es war verabredet worden, erst am Abend des nächsten Tages, einem Sonntag, loszuschlagen, wenn die Europäer, wie gewöhnlich ohne Waffen, in der Kirche versammelt wären.

Am Samstagnachmittag begab sich einer unsrer Leutnants zum Gefängnis, um Leuten seines Regiments die Löhnung auszuzahlen. Auf dem Heimweg folgte ihm ein Hinduoffizier und teilte ihm mit, die Sepoys hätten beschlossen, ihre Kameraden aus dem Gefängnis zu befreien, und die Gefängniswache sei für den Plan gewonnen. Der Leutnant eilte zu seinem Hauptmann, um ihm von der Unterredung Kenntnis zu geben, und erntete damit einen Heiterkeitserfolg, dem sich das Verbot anschloß, den beunruhigenden Unsinn weiterzuverbreiten.«

Hier räusperte sich Berrick und ließ eine kleine Pause eintreten, und wir verstanden, daß wir bei der Blamage des alten Herrn angelangt waren. Darauf fuhr er in seiner gemächlich dahingleitenden Redeweise fort, ein wenig zögernd und mit langen Blicken auf Pia, als fürchtete er, zu rasch auf das Wesentliche zu kommen.

»So blieb dem Leutnant nichts übrig, als am andern Tag zu Hause zu bleiben und auf die Revolte zu warten. Sie kam, am Abend, in Gestalt des Hinduoffiziers und zweier Soldaten, die ihm schon von der Straße zuriefen, daß der Aufruhr begonnen habe. Unser Leutnant bestieg sein Pferd und ritt in Begleitung der drei Eingeborenen nach dem Exerzierplatz. Die Kasernen brannten, Sepoys, die einen in Uniform, andre in Nationaltracht, liefen unter Geschrei von Haus zu Haus, warfen das Mobiliar aus den Fenstern, feuerten Salven ab, viele tanzten wie Derwische und schwangen die Gewehre. Der Leutnant sah, wie ein weißhaariger Oberst mit hochgehobenen Armen Leute seines Regiments aufzuhalten suchte. Sie schüttelten den Kopf, taten ihm aber nichts. Gleich darauf warf eine Salve, die Soldaten eines anderen Regiments auf ihn abgaben, den alten Offizier zu Boden. Seine Leute rannten schreiend über ihn weg, in der Richtung nach der Stadt. Einige von ihnen erkannten den Leutnant und riefen seinen Begleitern zu, Platz zu machen, sie wollten den Sahib niederschießen (›Sahib‹, Gabriele, heißt ›Herr‹, und in Indien ist jeder Weiße ein Sahib, auch der Lump, von den Eingeborenen aber nur der Vornehme), und als diese der Aufforderung nicht folgten, schossen sie mitten in die Gruppe hinein. Die Begleiter blieben ruhig, offenbar war auch keiner getroffen, nur: ›Sahib‹, sagten sie, ›du mußt eilen, hier ist nichts mehr zu machen.‹

Nun sprengte der Leutnant zu seinen eigenen Leuten, die eben ihre Pferde sattelten, nachdem sie die Munitionsmagazine erbrochen und die Munition verteilt hatten. Sie ließen ihn herankommen, und abgesehn von einigen Rekruten, die blindlings ihre Gewehre auf ihn abfeuerten, schienen sie ihm nicht feindlich gesinnt. Einer lief sogar zu ihm hin und sagte, während der den Hals des Pferdes streichelte: »Sahib, von uns hast du nichts zu befürchten, aber die andern werden dich töten, wenn du nicht fliehst.« Und damit versetzte er dem Pferd einen Klaps, drehte es schnell um und schlug es noch einmal, damit es laufe. Zugleich nahmen seine Begleiter den Leutnant in die Mitte und sprengten mit ihm davon, und als sie in eine dichte Menschenmenge gerieten, die, mit Stöcken, Säbeln und allen möglichen Dingen bewaffnet, vorwärtsstürmte, zogen sie blank und bahnten ihm einen Weg. Am britischen Artilleriekasino angelangt, machten sie halt und sagten ihm Lebewohl. Er versuchte, seine Retter zurückzuhalten, jedoch sie erwiderten, daß sie ihre Kameraden unmöglich im Stich lassen könnten, machten einen tiefen Salaam und ritten zurück. Er hörte nie wieder etwas von ihnen, obwohl er sich später sehr bemühte, sie ausfindig zu machen.

In der Stadt waren die Häuser der Europäer zerstört und alle Weißen, Männer, Frauen und Kinder, ermordet, soweit sie sich nicht in die britische Kaserne hatten retten können. Das bewaffnete Volk war bei den ersten Flintenschüssen losgebrochen. Vierzehnhundert Gefangene hatten sich sofort, mit bereitgehaltenen Waffen versehn, unter die Menge gemischt, der tobende Haufen vereinigte sich mit den Sepoys, und dann setzte sich alles in Marsch:

›Nach Delhi! Nach Delhi!‹

Der Ruf drang bis zu den Europäern, die, Gewehr bei Fuß, auf ihrem Paradeplatz standen und unschlüssig auf die brennende Stadt blickten.

Die Sache hatte demnach geklappt, auch im zweiten Teil, dem Aufbruch nach Delhi. Dazu hatten die eingeborenen Offiziere geraten, die von Delhi gekommen waren, um am Kriegsgericht über die aufrührerischen Kavalleristen teilzunehmen, und die, wie wir uns erinnern, ihre Landsleute in aller Ruhe schuldig gesprochen hatten ... So, Kinder, wackeln immer die Dinge, bevor sie zusammenbrechen. Und um sie zusammenbrechen zu lassen, dafür genügt eine einzige, richtige Dummheit, wie wir ein bißchen weiter wieder sehn werden ...

In Delhi, der Hauptstadt eines unter den Großmoguln einst mächtigen Reiches, residierte ein alter Sultan nur noch zum Schein, er sollte, nach Englands Willen, der letzte König von Delhi sein. Ihn erkoren die Aufständischen zum Kaiser von Indien.

Am nächsten Morgen langten sie vor Delhi an. Die Schiffbrücke über die Jumna wurde von den Reitern im Galopp genommen, die Engländer, die sich blicken ließen, auf der Stelle niedergemacht. Sie ritten zum Palast des Königs und riefen, sie hätten die Engländer in Meerut erschlagen und seien gekommen, für den Glauben zu kämpfen. Während der König noch schwankte, denn er war ein alter und weiser Mann, der mannigfaches im Leben gesehn hatte, öffneten die Wachen auf Befehl seiner Söhne die Tore. Die Reiter stiegen von den Pferden, stürzten in die Wohnungen der weißen Palastbeamten und löschten, von Zimmer zu Zimmer, alles Leben. Zu gleicher Zeit marschierten die Sepoys aus ihren Kasernen, wo die Leichen der englischen Offiziere allein zurückblieben. Eine Explosion erschütterte die Stadt: die letzten lebenden Engländer hatten sich nach verzweifelter Gegenwehr mit dem Pulvermagazin in die Luft gesprengt. Es war noch nicht Mittag. Das Europäerviertel brannte, die Plünderung ging ihren Gang. In diesem Augenblick traten die Söhne des Königs unter die marmorne Vorhalle des Palasts und ließen sich huldigen. Die Gebetrufer auf den Minaretten dankten in jauchzenden Gesängen Allah für den Sieg.

In den übrigen Garnisonen Nordindiens wirkte die Nachricht von Meerut und Delhi beunruhigend, ohne jedoch das Vertrauen der Offiziere in die Leute zu erschüttern. Gewiß, einige Soldaten hatten versucht, mit den Waffen zu desertieren. Sie waren von ihren Kameraden festgenommen worden. In Aligarh zeigten die Sepoys sogar ihren eigenen Regimentspriester an, weil er sie aufzuwiegeln suchte. Er wurde von dem Kriegsgericht, das zur Hälfte aus Europäern, zur Hälfte aus Eingeborenen bestand, zum Tode durch den Strang verurteilt. Und das war eine kapitale Dummheit, denn der Mann war Priester, Brahmane, das heißt, er gehörte der höchsten Kaste an. Auch hier stimmten die Eingeborenen mit ›Schuldig‹.

Einer von ihnen, ein Major, diente seit vierzig Jahren im Regiment. Er hatte Meuterer, die durch Aligarh kamen, entwaffnen lassen. Er war mit den weißen Offizieren befreundet und besprach täglich mit ihnen die Lage. Ich kann nicht glauben, daß er ein Heuchler war. Nein. Er war es gewiß nicht. Sicher wollte er seiner Uniform treu bleiben und wurde nur plötzlich, als die Lawine losbrach, fortgerissen. Das kam so.

Das Regiment sollte der Hinrichtung des verurteilten Brahmanen beiwohnen, der Abmarsch zum Gefängnis verzögerte sich aber, und die Truppe kehrte auf den Paradeplatz zurück, wo man ihr klarmachte, warum sie ausgerückt war. Die Verzögerung hatte zweifellos etwas Beabsichtigtes, die Sepoys, selbst zum größten Teil Brahmanen, wollten nicht der gotteslästerlichen Hinrichtung eines Kastengenossen beiwohnen. Vielleicht bedeutete diese Verzögerung sogar einen Versuch der uns Wohlgesinnten, die Entscheidung hinauszuschieben. Kaum hatte der befehlführende Hauptmann, nebenbei der beliebteste Offizier des Regiments, seine Erklärung begonnen, als ein Mann seiner eigenen Kompanie ihm etwas zurief. Er verstand ihn nicht. Er ritt dicht an die Kompanie heran und befahl, die Worte zu wiederholen. Niemand gehorchte. Er preschte großartig vor die Front zurück und zog den Degen. So hielt er einen Augenblick und ließ den Blick die Reihen entlanggehn. Er war entschlossen, die Befolgung seines Befehls zu erzwingen. Da begegnete er dem Blick seines Freundes, des Majors, und stieß den Degen in die Scheide. Die angesetzte Übung konnte er noch zu Ende führen, dann ging es los.

Der Soldat, der vorher gerufen hatten, war beim Kommando ›Abtreten‹ stehengeblieben und hatte sich die Uniform vom Leibe gerissen und dabei seine Kameraden angeschrien, wie sie es wagen könnten, einer Regierung zu dienen, die einen Brahmanen hänge. Der inzwischen erschienene Oberst befahl einigen Sikhs, den Aufrührer festzunehmen. Sie gehorchten auch, als aber der Soldat sich zur Wehr setzte und niemand ihnen half, ließen sie ihn los. Nun wandte sich der Oberst an den eingeborenen Major und befahl ihm, den Rebellen zu packen. Der Alte zuckte die Achseln und ließ den Kopf sinken, ohne sich von der Stelle zu rühren. Und das ganze Regiment geriet außer Rand und Band. Die englischen Offiziere sprangen zwischen ihre Leute und versuchten, die Ordnung wiederherzustellen. Da begannen die jungen Soldaten die Gewehre zu laden, und die älteren gaben den Weißen den Rat, sich aus dem Staub zu machen. Ein Sepoy hatte den Paradeplatz heimlich verlassen, und rannte zu allen Zivilisten: ›Wir meutern‹, rief er, ›rettet euch, wir meutern.‹ Geld, das man ihm zur Belohnung anbot, schlug er aus, verschwand und ward nicht mehr gesehn. Brave Kerle! ... Das heißt: Ein Inder würde natürlich sagen: ›Feige Hunde‹, der Mann im Kreml: ›Sozialverräter!‹

Am Abend nach diesem Vorfall ritt einer unsrer Offiziere los, mit Depeschen an den Kommandanten von Delhi. Er brauchte nur acht Tage, um die weite Strecke zurückzulegen, und kam unversehrt an. Dabei wimmelten die Straßen von Aufständischen. Die englischen Beamten hatten ihre Posten verlassen oder waren ermordet. Die Eingeborenen, bei denen er abstieg, um das Pferd zu wechseln oder den Weg zu erfragen, taten ihm nichts. Nur weigerten sie sich, ihn zu beherbergen, wenn auch nur für eine Nacht, gaben schnell, was er verlangte, und schickten ihn fort ... Sie hatten neue Herren, vor denen sie sich um so mehr fürchteten, als es ihre alten Herren waren, und diese haßten die weißen Sahibs und jagten sie ... Was sie gesehn hatten, hatten sie gesehn ... Wer nicht selbst gejagt sein wollte, tat gut, sich von den weißen Sahibs fernzuhalten ...

Der Offizier bemerkte, wie die Landbewohner überall ihre Dörfer befestigten für die Zeit, wo der Sieger den Klingelbeutel an die Säbelspitze hängen und damit seinen Rundgang antreten werde. So war es immer gewesen, aber jetzt im Siegesrausch der neuen alten Herren würde es schlimmer sein denn je ...

Am 24. Juni, hatten die Priester gesagt, ließe Mutter Kali ihre hundert Schwerter auf den weißen Mann niedersausen. Am 24. Juni sollte nach Allahs Willen das Reich der Christenhunde sein Ende finden, genau hundert Jahre nach dem Tag, an dem die Schlacht von Plassey sie zu den Herren von Bengalen machte. Dieser Glaube war so fest eingewurzelt, daß die Aufständischen tatsächlich überall, wo sie englischen Truppen gegenüberstanden, am 24. Juni zu einem großen Schlag ausholten, nach ihrer Meinung dem letzten. Die Nacht davor fanden Gottesdienste statt, alle Tempel und Moscheen waren beleuchtet, tolle Umzüge betäubten die Angst und den Zweifel, peitschten die Menge auf, machten sie rasend, und so warfen sie sich in den Kampf.

Nach Delhi, meine Lieben, kam Cawnpore. Und jetzt, Pia, wäre es vielleicht gut, wenn du uns verließest ... Nein? Dann, bitte, nimm mir nicht übel, wenn ich die Dinge so erzähle, wie sie sich ereignet haben. Ich lasse viel Schreckliches weg und füge nichts hinzu ...

 

Der fünfundsiebzigjährige General, der in Cawnpore kommandierte, hatte über fünfzig Jahre mit den Sepoys gedient, Nana Sahib war sein Freund. Nana Sahib, der gastfreie Maharadscha von Bithoor, einem befestigten Schloß in der Nähe Cawnpores, wo der Adoptivsohn des letzten, von den Engländern abgesetzten Mahrattenführers verschwenderisch Hof hielt. Er hatte von seinem Vater, einem der reichsten Fürsten, alles geerbt, nur nicht die Pension, welche die Engländer dem Alten bei dessen Entthronung ausgesetzt hatten, unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie bei seinem Tode erlösche. Gerade auf die Pension aber hatte es Nana Sahib abgesehn, und er wurde nicht müde, sie als sein gutes Recht einzufordern. Er schickte sogar einen Agenten nach London, um die Angelegenheit bei der Zentralbehörde zu betreiben. Darüber vernachlässigte er übrigens weder seine Manieren, die alle englischen Gentlemen bezauberten, noch seine Beziehungen zu einflußreichen Indern, vielmehr spann er sie zu einem feinmaschigen Netz aus, in der Hoffnung, damit im richtigen Augenblick den großen, den unfehlbaren Fischzug zu tun. Wir hielten ihn für einen zuverlässigen Bundesgenossen, und die Tänzerinnen von Bithoor waren berühmt, und als die Unruhen ausbrachen, vertraute der General unserm Nana den Regierungsschatz an.

Nana Sahibs wahres Gesicht hat nie ein Europäer gesehn. Am Vorabend des Tages, da er seine Truppen auf unsre Verschanzung losließ, hatte er dem alten General noch zugelächelt, und nach Unterdrückung des Aufstandes blieb er verschwunden. Es hieß, er habe sich in die Dschungeln geflüchtet und sei an Dschungelfieber gestorben.

Auch Nana Sahib scheint lange geschwankt zu haben. Denn er ließ sich erst zum Herrscher der Mahratten ausrufen und nahm den offenen Kampf erst auf, als die meuternden Soldaten, des Wartens müde, sich bereits auf dem Weg nach Delhi befanden. Er rief sie zurück, brauchte aber noch weitere drei Tage, um den letzten Schritt zu tun ...

Die Belagerung der Schanzen, die dann begann, dauerte drei Wochen. Dreihundert Engländer samt einem Häuflein treu gebliebener Sepoys waren mit ebenso vielen Frauen und Kindern zusammengepfercht. In der zweiten Woche standen die Kasernen nur noch als Trümmer, darüber hin ging Tag und Nacht das Feuer der Belagerer. Kranke, Frauen und Kinder lagen unter freiem Himmel, den Kugeln und der indischen Junisonne ausgesetzt. Bei dem Brand einer Kaserne gingen alle Vorräte an Medizin, Verbandstoffen und chirurgischen Instrumenten verloren, Hunger und Durst taten das übrige. Frauen, mit ihrem Kind im Arm, sprangen auf und liefen schreiend in den Kugelregen, andere, die sagen hörten, die kleine Schanze könne sich nicht mehr halten, warfen sich der Länge nach an die schadhaften Stellen. Trotzdem gelang es uns noch am siebzehnten Tage, dem Gedenktag der Schlacht von Plassey, den schlimmsten Sturm abzuschlagen. Die Überlebenden genügten aber nicht mehr zur Besetzung der zerschossenen Erdwälle. Am selben Tag gingen die Lebensmittel zu Ende.

Der General entschloß sich, das Anerbieten Nana Sahibs, freien Abzug mit Waffen auf dem Ganges nach Allahabad, anzunehmen, und es wurde schriftlich vereinbart, daß der Nana Wagen für den Transport der Verwundeten, Frauen und Kinder beschaffen und am Landungsplatz Boote mit Vorräten an Mehl bereithalten sollte.

Das tat er auch. In der Morgendämmerung kamen die Wagen, die Wagen fuhren mit den Kranken und Verwundeten zum Fluß. Die Männer marschierten auf beiden Seiten des Zuges. Es war nicht leicht, durch den Haufen von Bewaffneten, die schreiend und drohend herandrängten, durchzukommen. Gleich zu Anfang wurden treu gebliebene Sepoys aus den Reihen der Weißen gerissen und getötet. Ihre englischen Kameraden, die ihnen beispringen wollten, wurden festgehalten, und als es ihnen gelang, sich loszumachen, blieben ihre Waffen verschwunden. Die Offiziere des Nana gaben sich ersichtlich Mühe, derartige Voreiligkeiten zu verhüten. Sie liefen die Kolonne entlang und ermunterten die Weißen zur Eile: »Sobald ihr die Boote bestiegen habt, seid ihr gerettet«, und ihr freundliches Lächeln erinnerte an bessere Tage.

Endlich war der Ganges erreicht. Im flachen Wasser lagen etwa vierzig große, mit Strohdächern gedeckte Boote. Frauen, Kranke, Verwundete und Kinder wurden von den Männern durch das seichte Wasser getragen und mit Hilfe der eingeborenen Bootsleute in die Fahrzeuge gehoben. Um neun Uhr waren alle untergebracht. Der General gab aufatmend den Befehl zum Abstoßen. Gleichzeitig erscholl vom Ufer ein Hornsignal. Die eingeborenen Ruderer sprangen über Bord, und das Gemetzel begann.

Das Dickicht am Ufer sprühte Kugeln, Kanonen donnerten, auf der andern Seite des Flusses jagten Reiter und schössen ihre Karabiner ab, die Boote aber saßen fest auf dem Sand und brannten: auf den Strohdächern hatten glühende Holzkohlen gelegen. Und in den Booten verbrannten die Verwundeten und Kranken. Alle andern waren ins Wasser gesprungen und suchten Schutz vor den Flammen und den Kugeln. Da gingen die Reiter des Nana ins Wasser und brachten die Arbeit mit ihren Säbeln zu Ende.

Weit unten, an ein brennendes Boot geklammert, trieben vier Engländer, die einzigen Überlebenden von Cawnpore. Mit Wunden bedeckt, schwammen sie spät abends an Land, irrten noch eine Nacht und einen Tag umher und wurden schließlich halb verhungert und ausgeblutet von Landbewohnern aufgenommen.

Inzwischen zogen die Reiter die Frauen und Kinder, die noch am Leben waren, aus dem Wasser und führten sie in ein Haus, das dem Nana gehörte. Niemand kann wissen, was hier mit ihnen geschah. Später wurden sie in ein anderes, einstöckiges Haus übergeführt und in kleinen Zimmern ohne Möbel eingesperrt. Sie bekamen nicht einmal Stroh zum Lager. In einer Woche starben achtundzwanzig ...

Als Havelock, der Rächer (Kinder! Ganze Generationen von Engländern nannten ihn nicht anders als Havelock, den Rächer ...) als Havelock, der Rächer mit seinen siegreichen Truppen nahte – schickte Nana fünf Metzgermeister in das kleine Haus. Sie schlossen die Tür hinter sich zu und verweilten zwei oder drei Stunden. Als sie wieder auf die Straße traten, waren sie von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt. Selbst den Eingeborenen, die doch seit den letzten Wochen an den Anblick von Blut gewöhnt waren, flößten sie ein solches Grauen ein, daß die Straßenreiniger, Männer der niedrigsten Kaste, mit Peitschenhieben in das Schlachthaus getrieben werden mußten, um die Leichen herauszuschaffen und in einen Brunnen zu werfen. Und der Nana erließ eine Proklamation, worin es hieß: ›Ein Feuer löschen, aber einen Funken übriglassen, eine Schlange töten, aber ihre Brut schützen, ist nicht die Weisheit einsichtiger Männer.‹«

Berrick beugte sich vor und sah mir mit seinem warmen, stets ein wenig traurigen Lächeln ins Gesicht:

»Claus, haben wir nicht solche Worte auch in der russischen Revolution vernommen? ... Drohte da nicht einer in Leningrad, er werde die Kinder der Bourgeoisie mit dem Kopf an die Wand schmettern? ... Enthalten nicht solche Worte, die selten nur Worte bleiben, die ganze Theorie des Schreckens? Foltert sie! Tötet sie! Ersäuft sie in Blut – damit das Gute siege! ... Und gibt es heute überhaupt noch ein Land, wo man nicht täglich die gleiche Drohung, offen oder verschleiert, aus Zeitungsartikeln und Reden heraushörte? Rote oder Weiße, darin gleichen sie einander wie die Tiger ...«

Er senkte den Blick und fuhr leise fort:

»Bei Havelocks Ankunft – waren die Leichen noch nicht einmal mit Erde bedeckt. Im Schlachthaus stand das geronnene Blut einen Finger hoch. Auf dem Boden lagen Haarbüschel, zerfetzte Frauenkleider, Kinderwäsche, Schuhe, an langen Haarsträhnen hing noch ein Stück Kopfhaut. Die Wände waren bis an die Decke mit Blut bespritzt und an manchen Stellen, wo die Opfer den Streichen ausgewichen waren, von Säbelhieben zerhackt.

Vor allem aber war da in einem Zimmer ein Haken. Er stak, etwa sechs Fuß über dem Boden, in der Wand und war mit geronnenem Blut überzogen. An diesem Haken hatte ein kleines Kind gehangen, das Gesicht zur Wand gekehrt, und an den blutigen Abdrücken sah man, wie es mit Händen und Füßen gegen die getünchte Wand geschlagen hatte.

Die Opfer wurden von Havelocks Truppen gezählt und in dem Brunnen begraben. Es waren hundertachtzehn Frauen und zweiundneunzig Kinder ...«

Bis jetzt hatten wir uns alle still verhalten, obwohl Pia und die Kinder abwechselnd blaß und rot wurden. Nun aber schlug Pia die Hände vor das Gesicht und stöhnte:

»Schrecklich! ... Ist es denn jetzt zu Ende?«

»Nein«, versetzte Berrick. »Es fängt erst an ...« Er wandte sich an die Kinder:

»Soll ich weitererzählen?«

»Bitte«, sagte Jacquot mit gepreßter Stimme. »Wir wollen alles hören.« Und Gabriele: »Wir müssen das wissen.«

Berrick lehnte sich in den Sessel zurück und schloß für eine Weile die Augen. Vielleicht dachte er, wenn er sie wieder öffnete, wäre Pia verschwunden. Statt dessen bat sie um eine Zigarette und puderte sich, Zigarette und Spiegel in anmutig erhobener Hand. Die Hand freilich zitterte ein wenig.

»An dieser Stelle der Erzählung angelangt«, sprach Berrick, »machte mein Großvater jedesmal eine Pause, bevor er mit eindringlich gesenkter Stimme fortfuhr ›Das alles muß man sehn, als ob man dabeistünde und mit seinen eigenen Augen sähe, um zu verstehn‹ ...

Und damit tat der alte Herr gut. Denn was es nun für einen jungen englischen Gentleman zu verstehn galt, das war der Umstand, daß ein britischer General in diesem Cawnpore einen Brigadebefehl ausgab, wonach alle Gefangenen, die der Teilnahme an der Ermordung europäischer Frauen und Kinder überführt seien, vom Profos in das Schlachthaus gebracht und dort gezwungen werden sollten, kniend mit der Zunge einen Quadratfuß des blutbefleckten Fußbodens rein zu lecken, ehe sie zum Galgen geführt und gehängt würden!

Zu verstehn, daß an einem andern Ort, wo unsre Leute ebenso grausam hingemordet worden waren, ein Banyanbaum auf dem Dorfplatz hundertunddreißig Gehenkte zu tragen bekam. Dann fand sich kein Platz mehr an dem Baum.

Zu verstehn, daß Hodson, von Hodsons Reitern (Kinder! Auch eine legendäre Figur, für die alle jungen Leute ein halbes Jahrhundert schwärmten ...), daß Hodson, von Hodsons Reitern, gleich nach dem Sturm auf Delhi, bei dem über die Hälfte der stürmenden Truppen fiel, und nach einem Straßenkampf von entsetzlicher Wildheit, ohne Begleitung zu einem alten Grab hinausritt, wo die beiden Söhne des Königs sich verborgen hielten, sie gefangennahm und nach Delhi brachte und mit gespanntem Revolver durch die Straßen führte, in denen noch immer geschossen wurde, durch die Straßen und auf einen freien Platz, wo er sie vor allem Volk niederknallte ... Weil er gefürchtet habe, daß die Menge sie befreie, sagte er später, als die Regierung ihn zur Verantwortung zog. Seinen Freunden gegenüber setzte er hinzu: ›Und um ein Ende zu machen!‹ Er selbst hatte eine Kugel in der Schulter und eine andere im Rücken, und die Uniform hing ihm in Fetzen am Leib. Ein Ende. Der Gedanke, daß die Szenen dieses Aufstandes sich wiederholen könnten, war unfaßbar. Ein Ende! (Aber natürlich war es kein Ende. Auf solche Weise macht man niemals ein Ende!) Die Männer, die seit Wochen mit angespanntestem Willen lebten und nichts als Blut und Trümmer sahen unter der furchtbaren Sonne, diese toll gewordenen Gespenster von Engländern hielten sich kaum noch aufrecht ... Nun gut! Lassen wir Hodson, von Hodsons Reitern. Da war jedoch noch ein andrer Mann, ein Mann mit Namen Nicholson.

Es gibt, müßt ihr wissen, noch heute in den Bergen des Punjab eine Sekte, die Nicholson-Heiligen. Sie stammt aus der Zeit, da Nicholson, wie die Missionsblätter schreiben, die wilden Bergstämme unterwarf, nicht mit den Waffen, sondern mit der strahlenden Kraft seiner Persönlichkeit. Feldmarschall Roberts, ein ziemlicher Rohling, der ihn zu jener Zeit kennenlernte, sagte, es sei von dem großen, ernsten Mann mit den milden Augen, eine Macht sondergleichen ausgegangen. ›Nicholson‹, sagte er, ›machte auf mich einen tieferen Eindruck als je eine andre Persönlichkeit vorher oder nachher. Ich habe niemals wieder einen solchen Mann gesehen.‹ Und der stille milde Nicholson, gerade dieser Heilige, mußte den bereits vollkommen erschöpften General Wilson zwingen, den Sturm auf Delhi auszuführen! Verstärkungen waren nicht mehr zu erwarten, das Fieber und die Sonne streckten täglich Hunderte der Belagerer zu Boden. Die kampffähigen Truppen schmolzen vor den Augen des Feindes zusammen, und es bestand keine Möglichkeit, das Lager noch länger gegen eine Übermacht zu halten, die sich in ihren täglichen und allnächtlichen Operationen auf das starke Delhi stützen konnten. Außerdem strömten den Rebellen ununterbrochen Verstärkungen zu, der Glaube, daß diesmal die Engländer aus Indien ausgerottet würden, der Ruf an alle Gläubigen: ›Nach Delhi!‹ setzte von fern und nah die Massen in Bewegung. Es mußte auch hier ein Ende gemacht werden, nötigenfalls von einem Heiligen ... Ihr seht, Kinder, ich lache nicht, ich sage es ernsthaft: nötigenfalls von einem Heiligen ... Nicholson führte selbst einen Sturmtrupp. Er wurde verwundet und blieb in der glühenden Sonne liegen, bis er nach langer Zeit gefunden und in das Lazarett getragen wurde.

Als er hörte, daß Wilson sich zurückziehen wolle, schickte er zu ihm und beschwor ihn, fest zu bleiben: heute oder nie müsse Delhi fallen, die Folgen eines Rückzuges seien unabsehbar, die nächste Folge aber wäre der sichere Untergang des englischen Heeres. Er bekam einen Zettel zurück: ›Ich bin vollkommen fertig.‹ Da richtete Nicholson sich in seinem Bette auf und rief: ›Gott sei Dank, ich habe noch Kraft genug, ihn niederzuschießen!‹ Er ließ Wilson sagen, er möge entweder sofort stürmen oder zu ihm kommen, und mit der Pistole in der Hand hielt er gewissermaßen an der Pforte der Ewigkeit Wache, bis die Meldung eintraf, daß Delhi gefallen war. Darauf legte er sich hin und war in wenigen Minuten tot ... Merkt euch, Kinder, wie und wann selbst Heilige zu Henkern werden.

Ja, mein guter Großvater hatte recht: das alles muß man sehen können, wie mit eigenen Augen, um die Soldaten zu begreifen, die in Gewaltmärschen von Delhi aufbrachen, sich in Cawnpore mit andern Truppen vereinigten und weiter gegen Lucknow marschierten, wo im Residenzgebäude eine andre Schanze voll Frauen und Kinder mit Mühe standhielt. Und man muß auch hören können, die Märsche hören durch die indische Nacht, wo jeder Schritt ›Rache für Cawnpore‹ in das Bewußtsein hämmerte, ›Rache für Cawnpore!‹ ... Wenn die Lawine des Irrsinns einmal im Rollen ist, könnt ihr sie nicht aufhalten. Und deshalb Kinder, darf es nie so weit kommen, unter keinen Umständen, unter keinem scheinbar noch so sittlichen Vorwand, ganz gleich, ob es um die angeblich heiligen Güter einer Nation oder Religion oder Klasse geht ... Niemals!

 

Die Verstärkungen trafen in Lucknow ein, die neue Schlacht begann. Hochländer und Sikhs hatten sich vor die Geschütze gespannt und sie den steilen Hang zum Sikander Bagh hinaufgezogen. Sikander Bagh hieß der Sommerpalast des letzten Königs von Oudh. Mit seinen dicken Mauern bildete er eine starke Stellung und versperrte uns den Zugang zur Residenz, wo die Frauen und Kinder waren. Unsre Leute lagen zu beiden Seiten der Batterie in einer Anpflanzung, durch einen niedrigen Wall aus Lehm gegen das feindliche Feuer geschützt, und warteten, daß die Geschütze eine Bresche in die Mauer legen würden. Ganz vorn, in der ersten Reihe der Hochländer, kauerte der Gemeine Hope.

Der Gemeine Hope lehnte gegen den Lehmwall und hielt das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett zwischen den Knien. Jedesmal, wenn bei der Batterie ein Mann getroffen wurde oder wenn in der Nähe eine Granate platzte, stieß er lange Flüche aus und machte Anstalten, auf eigene Faust zum Angriff überzugehn. Seine Kameraden packten ihn am Rockkragen, dann kauerte er eine Weile still da und stierte einen bestimmten Hochländer an. Dieser Hochländer lag einige Reihen hinter ihm unbeweglich auf den Knien, preßte die gefalteten Hände um das Gewehr und betete. Und das war Wallace, der Gemeine Wallace, der im Regiment wegen seiner Frömmigkeit der ›Quäker‹ hieß.

Zwar galten die Hochländer allesamt für gottesfürchtige Leute, die es in nüchternem Zustand mit der Erfüllung ihrer religiösen Pflichten ernst nahmen. Sie bildeten eine militärische Gemeinde mit Pastor und Kirchenältesten und führten, wahrscheinlich als einziges Regiment, eine vollständige Ausstattung von Abendmahlsgefäßen mit. Insofern wäre also der Gemeine Wallace keine auffallende Erscheinung gewesen. Aber dieser Schotte trank nicht. Er trank nie. Ja, er legte einen großen Abscheu gegen alle geistigen Getränke an den Tag. Deshalb hatten die Schotten auch erst gedacht, dies sei der Grund, warum er den Trunkenbold Hope mit Verachtung, ja mit Haß betrachtete – ein Gefühl, das Hope aufrichtig erwiderte. Allmählich waren sie jedoch dahinter gekommen, daß es mit den beiden eine andre Bewandtnis haben mußte.

Der Quartiermeister meinte, Wallace habe beim Eintritt in das Regiment bereits von Hope gewußt, ihn wenigstens dem Namen nach gekannt. Beide nämlich waren als Freiwillige von einem andern Regiment gekommen, Hope als erster, gleich darauf Wallace, und Wallace hatte in Dover nach Hope gefragt und dann gebeten, bei derselben Kompanie eingestellt zu werden. Sie sprachen nie ein Wort miteinander. Während der Überfahrt konnte man Wallace beobachten, wie er im Mondschein das Deck auf und ab schritt und mit lauter Stimme französische Verse hersagte. Bei Tag jedoch hörte man nur Bibelsprüche von ihm.

Der Pastor hatte geäußert, Wallace spräche besser Latein als er selbst, und wenn Hope betrunken war, fluchte er in verschiedenen Sprachen, die niemand, nicht einmal der Pastor, verstand. Hope bekam häufig Geld geschickt, das er teils vertrank, teils verspielte, wenn er es nicht zu leichtsinnigen Weibern trug. Im Feld marschierte und kämpfte er wie ein Teufel, und seine Kameraden liebten ihn mehr als den ›Quäker‹, obwohl der vielleicht ein ebenso tüchtiger Soldat war und des öftern befördert werden sollte, was er aber jedesmal mit einem Bibelspruch ablehnte. Er wollte dem Hope nicht von der Seite weichen, so viel war an der Sache klar. Wenn er hörte, daß Hope bei Weibern gewesen sei, konnte er die ganze Nacht nicht schlafen und starrte haßerfüllt auf den schnarchenden Kameraden. So hatten sich die Schotten allmählich eine Geschichte zusammengereimt, worin eine bessere Frau, gewissermaßen eine Dame, eine für Hope erfreuliche, für Wallace dagegen höchst düstere Rolle spielte. ›Jedenfalls‹ sagte der Pastor, ›hat der Krieg sie so weit versittlicht, daß sie einander nichts Böses tun und gemeinsam der Königin dienen, so gut sie's verstehn.‹

Und die Königin, Kinder, die Königin, das war für uns Engländer die Dame, die gleich nach dem Herrgott kam und sich mit ihm in unsern Weihrauch teilte ...

Da kauerte nun also der eine der armen Teufel, für die der Krieg eine Lösung ihrer privaten Nöte war, am Lehmwall und sah angestrengt zum andern hinüber. Wallace begegnete dem Blick Hopes, ohne eine Miene zu verziehen. Kaum daß seine Lippen, die sich im stillem Gebet bewegten, einen kurzen Augenblick wie erstarrt stehenblieben. Auf einmal sprang ein Kanonier bei der Batterie senkrecht in die Luft und kam tot neben Hope zu liegen.

›Well! Ihr lehrt uns Gymnastik‹, schrie Hope und schickte, während er sich umdrehte und über den Lehmwall nach dem Sikander Bagh hinüberspähte, einen Strom von unflätigen Redensarten und Flüchen hinüber, die der Hauptmann mit der Bemerkung aufzuhalten suchte, Gemeinheiten seien kein Zeichen von Tapferkeit, und ein Soldat müsse sich schämen, in einem solchen Augenblick zu fluchen ... Ihr seht, der Hauptmann wußte, was sich schickt, und sorgte für Anstand noch dicht vor dem Gemetzel! Ähnliches muß wohl auch Hope gedacht haben.

›In einem solchen Augenblick?‹ schrie Hope und schnellte auf die Beine. Er biete dem Tode Trotz, schrie er. Die Kugel, die ihm den Mund verbiete, sei noch nicht gegossen, und er schere sich den Teufel darum, was der Hauptmann denke. Die Schutzwehr reichte ihm kaum bis an die Hüfte. Er warf einen Blick auf Wallace, drehte sich um und schoß stehend, wie auf dem Schießstand, nach dem Sikander Bagh. Ein Kugelregen antwortete. Hope lud von neuem. Der Hauptmann befahl einem Korporal, ihn zu verhaften und abzuführen. Aber der Pfeifermajor, der neben ihm stand, sagte: ›Lassen Sie den armen Jungen. Er ist gezeichnet. Er wird die Sonne nicht untergehn sehn.‹ Gleichzeitig hörte Wallace auf zu beten und starrte offnen Mundes auf Hope.

Der stand noch immer da und feuerte. Plötzlich sauste er mit einem Sprung auf den Wall, und hier traf ihn endlich die Kugel. Sie schlug auf die Schnalle des Gürtels, glitt ab und riß den Leib auf, so daß die Eingeweide bis auf die Knie herausfielen. Er brach zusammen, hielt sich aber mit beiden Händen fest, um nicht hinter den schützenden Wall zu fallen. Denn er war tapfer bis zur Verblendung, vielleicht hatte er auch reichlich genug vom Leben. Erst als er den letzten Atemzug getan hatte, rollte der Körper, von den einschlagenden Kugeln geschoben, langsam in die Umwallung zurück.

Da kroch der ›Quäker‹ langsam an den Toten heran, blickte ihm in das entstellte Gesicht und rief mit singender Stimme. ›Die Toren sprechen in ihrem Herzen, es ist kein Gott. Aber die Rache ist mein, sagt der Herr, ich will vergelten.‹ ›Laß den armen Jungen‹, – sagte da wieder der Pfeifermajor. ›Herr, vergib uns unsre Sünden, wie wir vergeben unsern Schuldigern.‹

Der Hauptmann schrie ungeduldig:

›Wallace, sofort auf Ihren Platz zurück!‹

Der ›Quäker‹ hob den Kopf und antwortete wie zur Entschuldigung:

›Ich bin zu euch gekommen, um diesen Mann sterben zu sehn.‹

›Wallace‹, schrie der Hauptmann mit zornheiserer Stimme ... Und im selben Atemzug: ›Los, Jungens!‹

Die ganze Kompanie war aufgesprungen.

Der Oberst sprengte winkend vorbei und setzte über den Wall. ›Rache für Cawnpore!‹ Die Hochländer stießen ein Gebrüll aus. ›Rache for Cawnpore!‹

Und auch der Quäker Wallace schrie: ›Rache für Cawnpore!‹, obwohl gerade er persönlich nicht viel damit zu tun hatte. Dann waren sie durch das kleine Loch in der Mauer und im Hofe des Sikander Bagh. Drinnen marschierte der Pfeifermajor gemessenen Schrittes auf und ab und ließ den Dudelsack ertönen. Erst hielt er sich an der Mauer auf, um niemand zu stören und auch, um die Neuangekommenen zu empfangen, die durch die Bresche geklettert kamen. Als das Handgemenge im Hof allgemein wurde, schritt er mit seinem Dudelsack von Gruppe zu Gruppe und blies schnell und schneller und so stark er konnte, bis das im Boden festgewurzelte Knäuel sich lockerte und die entscheidenden Streiche fielen. Dann ging er weiter und half mit seinem Dudelsack den nächsten Knäuel ebenso lösen. Während des stundenlangen Kampfes schwieg der Dudelsack keinen Augenblick.

›Dean! Dean! Für den Glauben!‹ schrien die Rebellen, und die Sikhs, die zwar ebenfalls ›für die Kirche‹ kämpften, aber auf der andern Seite, antworteten mit ihrem eigenen Schlachtruf. Dazwischen ›Cawnpore!‹

Aus allen Fenstern der den Hof umgebenden Gebäude wurde gefeuert. Stufe um Stufe der engen Treppen mußte mit dem Bajonett erkämpft, Tür um Tür erbrochen werden. Der Pfeifermajor im Hof konnte das Vorrücken der Engländer und Sikhs an den Fenstern der Stockwerke verfolgen. Sobald sie in einem Zimmer handgemein wurden, hörte das Feuern auf. Blieben die Fenster dann leer und trat Stille ein, so kämpften dort Engländer. Nahm dagegen der Lärm zu, bis plötzlich auf einer Sturzwelle von Wutgeschrei tote und verwundete Rebellen aus den Fenstern flogen, so waren dort Sikhs beschäftigt.

Der ›Quäker‹ Wallace kämpfte noch immer im Hof und sang brüllend wie ein Betrunkener. ›Das ist mir lieb‹, sang er, ›daß sich das Ohr des Herrn zu mir neigt‹, und lud. ›Daß mein Gebet zu jeder Zeit bis zu ihm steigt‹, und schoß. ›Ich will dem Herrn vor seinem Volk mein Gelübde bezahlen‹, und lud. Er stach einen Feind mit dem Bajonett nieder: ›Den heiligen Kelch will ich nehmen und die Mühle des Herrn mahlen.‹

Während die andern alle in Gruppen vorgingen, kämpfte Wallace allein. Später sah er, wie eine Kanone in den Hof geschleppt und auf die Tür eines Turms gerichtet wurde. Der Schuß krachte, und bevor der Rauch sich verzogen hatte, war er durch die eingefallene Tür gestürzt und erklomm, schießend und fechtend, die Treppe. Man hörte ihn auf der Spitze des Turmes singen, dann trat Stille ein.

Gleich darauf war er wieder im Hof unter einem großen Feigenbaum. Krüge voll Wasser standen da. Neben den Krügen lagen Leichen von Hochländern, und Wallace bemerkte, daß sie alle von oben durch den Schädel geschossen waren. Er trat einige Schritte zurück und durchforschte mit den Blicken die Baumkrone. Plötzlich:

›Ich sehe ihn!‹, und während er sorgfältig zielte, begann er wieder: ›Ich will dem Herrn vor seinem Volk meine Gelübde bezahlen.‹ Eine kurze Pause, und er schoß.

Herab fiel eine Gestalt, die mit einer engen roten Jacke und ebensolchen seidenen Hosen bekleidet war. Als der Körper auf den Boden aufschlug, riß die Jacke und entblößte die Brüste einer jungen Frau. Eine Kavalleriepistole war ihrer Hand entglitten, eine andre steckte noch im Gürtel. ›Sieh mal einer das Hürchen!‹ rief ein Hochländer, dem das Blut über das pulvergeschwärzte Gesicht rann, und pflanzte sich breitbeinig vor die Tote. Wollte mich gerade ein wenig abwaschen –‹ Wallace hielt ihm den Mund zu und sank schluchzend an die Brust des erschrockenen Kameraden: ›Hätte ich gewußt, daß es eine Frau ist‹, stammelte er, ›ich wäre tausendmal lieber gestorben, als ihr ein Leid zu tun ...‹

Am andern Tag entsetzten wir die Residenz. Von den dreitausend Aufständischen entkamen keine zwanzig.

Die Frauen und Kinder wurden nach Allahabad gebracht, von wo sie auf Dampfbooten Kalkutta erreichten. Seltsamerweise konnte sich später keiner der Hochländer erinnern, was aus ihrem bibelfesten Kameraden geworden, ob er irgendwo gefallen oder ob er heimgekehrt war. Mit seinem Rivalen Hope, dessentwegen er unter ihnen gelebt hatte, war auch er, wenigstens in ihrem Gedächtnis gestorben ...

Damit, liebe Pia, schließt die Erzählung meines Großvaters – du hörtest sie zum ersten- und letztenmal ... Ein Inder hätte auf Grund derselben Tatsachen anders berichtet ... Auch ich vermochte nicht alles genauso wiederzugeben, wie der alte Herr es erzählte ... Denn er war ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, der noch auf dem Totenbett in einer Art geistlichem Trinkspruch der Königin gedachte.

Und nun, Claus«, wandte er sich an mich:

»Ich bemerke seit langem Ihre Skepsis ... Sie finden den Völkerbund grotesk in seiner unentschlossenen, furchtsamen, auch wohl rachsüchtigen Langsamkeit. Jawohl, so ist er! ... Es geht bei ihm zu wie bei einem Monsterprozeß – sagen wir um eine märchenhaft große Erbschaft, auf die alle Welt Forderungen anmeldet. Richtig! Es handelt sich um das Erbe aus einem Jahrtausende alten Raub. Alles Raubzeug läßt sich widerwillig zähmen ... Es gibt nur zwei Wege: entweder immer wieder Krieg und Bürgerkrieg – oder das gemeine Recht, eine spießbürgerliche, langatmige, scheinbar gänzlich kraft- und saftlose Angelegenheit, wobei freilich unter ›Kraft‹ Mord und Totschlag und unter ›Saft‹ vergossenes Blut zu verstehen ist. Zwischen den beiden Wegen müssen wir wählen. Alle. Und ein für allemal. Es gibt einen Heroismus des Alltags, Claus, der ist größer als jeder andre, der sich in kaltem oder heißem Rausch bewegt ... Denn er ist unscheinbar und darum unendlich schwerer.«

So sprach eines Abends Lord Berrick in der Hotelhalle. Als er geendet hatte, streckte sich Gabriele und schüttelte die Mähne, wie ihre Mutter es tat, wenn sie einen Entschluß faßte:

»In vier, fünf Jahren, Jacquot«, sagte sie, »kommen wir daran!«


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