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Zerstreue dich, Lügenwolke – die Sonne, unsre Mutter, sei gelobt! Die Erde ist wohlauf und hängt an ihrer Brust ... Aggies zierlicher Körper, obwohl von einem Hotelfenster gehalten, schwebte in den Lüften und war eine Frucht, von Saft erwärmt, dessen Geschmack sie spürte, wenn sie die Lippen aufeinanderdrückte, dessen Farbe sie sah, wenn sie in der einfallenden Sonne die Augen schloß ...
»Also los!« sagte sie laut zu sich selbst. »So was will nicht nur gesehn, sondern auch begangen sein.«
In der Halle ertappte sie sich, wie sie vor sich hin kicherte ... Der Portier, ein alter, als Franzose naturalisierter Neapolitaner, kam auf sie zu, und sie sagte gewohnheitsmäßig:
»Nein, danke, ich kaufe nichts.«
Statt Karten für Tennistourniere, Theater, Konzerte und andre Veranstaltungen bot er ihr nur einen Guten Morgen, das kostete nichts.
»Guten Morgen, Mademoiselle! Ein göttliches Wetter heute!«
Aggie, beschämt über so viel Selbstlosigkeit, blieb stehn und dachte nach, womit sie sich erkenntlich zeigen könnte, und wie stets in solchen Lagen, fand sie das Falsche.
»Ach, Signor Napolitano«, klagte sie, »meine Zimmernachbarn lassen die halben Nächte das Wasser laufen. Man sollte nicht glauben, was für einen Lärm das macht.«
»Die pure Rücksicht, Mademoiselle«, versetzte ernsthaft der Alte. »Es sind Hochzeitsreisende« ... »Das junge Paar will niemand am Schlafen hindern«, fügte er väterlichen Tones hinzu.
Als Mademoiselle noch immer nicht begriff, leuchtete er ihr mit einem anzüglichen Grinsen auf den Weg.
Es dauerte wieder eine Weile, dann, plötzlich, errötete Aggie bis unter den weißen Hut, bis in die weiße Bluse.
»In den Kellern der Moskauer Gefängnisse«, rief sie, »in den Kellern der Moskauer Gefängnisse lassen sie einen Motor laufen, wenn sie Leute erschießen!«
Der Portier prallte ehrlich entsetzt zurück.
»Aber, Mademoiselle! Was für Vergleiche!«
Aggie, nicht minder erschrocken, warf ihm einen Blick zu, der in geheimnisvollen Drohungen schwamm, und verließ das Hotel. Ihre Absätze klapperten.
Vor der Tür trat sie auf Schnee.
In dieser Februarnacht war ein Gewitter über die Riviera gezogen und hatte sie mit Schnee übergossen. Jetzt schien die Sonne ... Aber es war nicht wie anderswo, daß unten der Schnee lag und darüber die Sonne, nein, jetzt entdeckte es Aggie, hier lag die Sonne zuunterst, überall auf Straße und Dächern, auch auf den Bäumen, und über, über der allgegenwärtigen Sonne zitterte Schnee, ein leichter, kindlicher Schnee – mit einem rührenden Ausdruck von Vergänglichkeit.
Aggie puderte sich noch einmal, und zwar mehr als sonst, um nicht mit zu heftigen Lebensfarben die geisterhafte Hochzeit von Sonne und Schnee zu stören, und hatte alles vergessen, die Wasserleitung und die Keller der GPU, die Hochzeitsreisenden und den Portier einschließlich seiner weinroten Nase, in der ein Licht anging, wenn er grinste ... Ihr Geist sang in der Bläue eines luftigen Raumes, der der Frühling der Welt war. Sie wußte, nun empfinde sie für alle Menschen, gute und böse, so wie die Kirche auch für diejenigen betet, die es selbst nicht tun, überall lag Sonne, darüber leichter Schnee ... Während sie ausschritt, fuhr sie in dem Morgengebet fort, das am Fenster ihres Zimmers begonnen hatte, und manchmal blieb sie stehn und beugte sich ein wenig vor, um dem Antwortgemurmel der Gläubigen zu lauschen ...
»Seid gepriesen, ihr Goldäpfel im beschneiten Laub, Früchte der Sonne, seid gepriesen! Seid gepriesen, Olivenhänge, Rauschebärte des himmlischen Lichtes! Ich habe heute früh in den Spiegel geguckt, ob mir graue Haare wachsen, ob die Erde erkalte, die Menschen, mein Geschlecht, mein herrliches Geschlecht, bald sterben müssen ... Ich konnte nur ein einziges weißes Haar entdecken, das habe ich ausgerupft. So ist es auch mit diesem Winter. Er macht nicht Ernst. Wie sollte er auch! Er spielt mit der Sonne – wie die siamesische Katze des Diamantenhändlers ten Hoet mit dem Widerschein des Kaminfeuers spielt, das abends angezündet wird, mehr zur Belustigung der Gäste, als weil es kalt wäre ... Seid gepriesen, Levkojenhügel und Rosenterrassen! Mein Leben ist mit Sonne, mit Bläue behangen, ein festliches Schiff ...«
Und nun muß ich wohl Aggie Ruf beschreiben. Und das ist schwer.
Klein war sie (für eine Frau eigentlich mittelgroß) und schmal wie ein Knabe, mit dunkelblondem Haar und hellen Augen, so trug sie ihre dreißig Jahre vor sich her wie Federn auf der flachen Hand. Lange Zeit fiel ihr die Masse ihres Haares bis auf die Schenkel – als sie es abschneiden konnte, ohne aufzufallen, zögerte sie nicht, es zu tun. Fort mit der Last, die in keinem Verhältnis stand zu der Gestalt, der sie aufgebürdet war, ihr zum Verdruß und niemand zur Freude! Eine feierliche Handlung, bei der sie sich vorgekommen war wie eine Novize, jedoch eine, die nicht Vorkehrungen trifft, für immer ins Kloster zu treten, sondern in ein abenteuerlich gewordenes Leben ... Dies Gefühl hielt bis heute an, obgleich nicht das geringste Abenteuer aufgetaucht war. Und sie glaubte sich doch bewaffnet und gewappnet genug, jedem Lindwurm zu begegnen! ... Dazu gehörte auch, daß sie Hüte bevorzugte, die die Stirn frei ließen, aber mit zwei Klappen die Schläfen bedeckten. Infolgedessen blinkten die Schläfen bei entblößtem Haupt weiß und zart und seltsam nackt aus dem sonnverbrannten Gesicht, und es fiel ihr auf, daß manche Männer und auch Frauen die Schläfen mit besonderer Neugier betrachteten. Zudem baumelten da zwei scharfe, dünne Locken, Rebmessern vergleichbar, die den Betrachter möglicherweise einluden, von den Früchten des Weinstocks zu schneiden, oder, noch schlimmer, die Locken erinnerten an beidseits gezückte Enterhaken eines Piraten ... Von Schläfen und Locken sagten ihre Freunde, sie seien »Aggie Rufs einziger Bluff«.
Um nun auf die kurzen, festanliegenden, gleichsam kriegerischen Hüte zurückzukommen, die sie mit Vorliebe trug, so war es zwar ein Genuß und ein Beweis von Tapferkeit, sie über den Kopf zu stülpen, aber statt ihre Erscheinung mit festeren Umrissen auszustatten, saßen sie ihr recht eigentlich als eine Tarnkappe auf. Sie schien darin erst recht halb verweht und durchlässig, ein Übergang von Luft zu Mensch. Es kam vor, daß Aggie plötzlich stehn blieb und ratlos auf ihre Füße blickte ... Sie waren winzig.
Nur die grauen Augen, die konnten deutlich da sein, wachsam und weitsichtig wie die eines Wiesels. Das konnten sie, ja – aber andre Male war ihre Abwesenheit so fühlbar, daß Aggie einen Entschluß fassen und auf die Suche nach ihnen ausgehn mußte. »Wo habe ich meine Augen«, rief sie dann aus, eine Frage, die sonst nur für die Vergangenheit gestellt wird ... Und mehr ist von ihrer äußeren Erscheinung nicht zu sagen. Wieviel Klumpen Worte schon für einen so gewichtlosen Atemzug der Schöpfung!
Wenn ich es mir gut überlege, sollte aber doch noch hinzugefügt werden, daß sie unter allen Umständen helle Farben trug. Als ihr Vater starb und sie Schwarz anlegen sollte, entschloß sie sich lieber gleich zur Farbe der höchsten Trauer, zum Lila, und wählte es möglichst licht. Bei ihren Straßburger Standesgenossen erregte sie damit natürlich Ärgernis. Da fuhr sie, obwohl es erst März und empfindlich kalt war, in einem weißen Sommerfähnchen zur Bahn und zeigte den Bekannten, denen sie begegnete, ein darauf abgestimmtes Gesicht. Am Abend hieß es in den Straßburger ›guten Familien‹, Aggie Ruf glaube wohl, sich derartige Eigenmächtigkeiten erlauben zu dürfen – vielleicht ... übrigens ... mit Recht! Der alte Ruf sei ein merkwürdiger Heiliger gewesen, der seine einzige Tochter von Kindesbeinen an gegen jede Pietät abgehärtet habe ... Und außerdem würden ihr wohl an die fünfhunderttausend Goldfranken zufallen. So viel dürfte der Doktor vor Ausbruch des Krieges in die Schweiz gebracht haben.
In Wirklichkeit dachte Aggie gar nicht daran, eine Unfreundlichkeit gegen den Toten zu begehen, sie wollte lediglich die Straßburger Gesellschaft strafen, die ihr das Lila mißgönnte. Und die fünfhunderttausend französischen Goldfranken in der Schweiz waren fünfmal übertrieben. Die Erbschaft brachte ihr eine Monatsrente im Wert von drei- bis vierhundert Mark, so daß Aggie, flüchtig und fahrlässig wie sie lebte, zur guten Hälfte auf die ›Arbeit ihrer Hände‹ angewiesen war (ein Ausdruck, den sie sehr liebte), öfter noch als auf die Füße blickte sie deshalb auf ihre Hände, und zwar auf beide, als schreibe sie mit beiden Händen zugleich. Das eine Mal empfand sie Stolz, weil sie zart und dennoch stark genug waren, sie zu ernähren, das andre Mal Mitleid – sie schienen so erschöpft, so bedürftig, so ganz abhängig von einer kleinen Rente!
Es läßt sich nicht länger verheimlichen: Aggie Ruf schrieb ein Buch (und es war nicht ihr erstes – aber sie taugte wirklich zu nichts anderem!). Ich gestehe es mit einiger Verlegenheit, die sie selbst nicht geteilt hätte, vielmehr fand sie ihren Beruf überaus wichtig, und so soll denn gleich die volle Wahrheit heraus, damit ich es hinter mir habe.
Aggie war weder imstande, eine Tennismeisterschaft noch den Rekord im Hochsprung zu erringen. Sie spielte Tennis, ungefähr wie sie es schon mit fünfzehn Jahren verstand, und sprang nur, wenn sie allein war. Für einen bürgerlichen Beruf hatte sie sich womöglich noch untauglicher gezeigt, allerhand Studien an drei oder vier Universitäten waren ohne praktisches Ergebnis geblieben. Aber gab es jemand, der die schönen Dinge, auch die unscheinbarsten, mehr liebte als sie? Wer so kräftig liebt, den sollte man wiederlieben, dachte Aggie, weshalb sie sich auch bei gehobener Stimmung von allen Menschen geliebt glaubte und im allgemeinen Auftrag die Schönheit der Welt zelebrierte ... Echt war sie und aufrichtig, kämpferisch auf eigene Faust und in einer Art, die sich nicht belohnt macht. So glaubte sie zum Beispiel nicht einmal an den »Fortschritt«, eine Religion, die bekanntlich selbst den Dümmsten und Gleichgültigsten zugänglich ist. Zu nichts taugte sie, zu gar nichts als zum Schreiben von Büchern, genaugenommen, nicht einmal dazu, sie taugte einzig und allein zum Schreiben ihrer Bücher. In einer Zeit, die selbst den Heiligen und Propheten nur als Reklamefachmann kennt, ahnte sie nicht, ob ihre Bücher den Forderungen des Tages entsprächen. Sie verlangte bloß unentwegt Vorschuß ...
Nun dämmerte sie also wieder, mit Anfällen heller Wachsamkeit, über einem Buch, einem kleinen Buch, fast ohne Handlung. Als Schauplatz hatte sie ein Landstädtchen am Fuß der Vogesen gewählt, die Hauptperson war das elfte Kind eines Straßenwartes. Es blieb ungewiß, ob die Heldin an die Kirche glaubte (in ihrer Heimat glaubte man noch an die Kirche) oder an den Gewerkschaftssekretär, der zweimal im Jahr vorbeikam und eine Versammlung im »Löwen« abhielt, oder einfach an die Polizei, die ständig da war. Dies alles blieb im Dunkel, vielleicht bis auf die Vermutung, daß man in Aggies Welt nicht auf Preisverteilungen nach Abschluß des irdischen Schuljahres zählte. Alles am Buch sollte so simpel sein, daß es mühelos in den Kopf eines Schafhirten einginge, vom Lärm der Welt sollte nichts zu spüren sein, nur der leise Wille eines Wesens, in einem Landstädtchen Frieden zu stiften. Eine Näherin, klein, unscheinbar, fast eine alte Jungfer, sollte das Wunder vollbringen. Sie hatte nie getanzt, kein Mann hatte ihr die Hand gedrückt, von alledem, was man Liebe nennt, wußte sie nichts. Dennoch hing ihr Herz, eine volle, runde Sonne, über dem Städtchen, alle schauten danach aus, aus den alten Kellern kamen sie, aus den Stuben mit den verstaubten Kreuzen im Winkel und der frischen Zeitung auf dem Tisch, jeder, den ein heimliches Leid oder eine Gewissensfrage plagte, rückte schließlich aus der Schattenseite der Gasse in ihren Schein, und ihr Licht, wohin es fiel, wuchs wie Saat auf dem Acker ... So ungefähr war das Buch, reich im Innern, von Wärme erfüllt, kühl und armselig nach außen.
Aggies erster Gang jeden Morgen führte zu den Blumen, zu den Fischen ...
Auf dem Blumenmarkt war es im ersten Augenblick jedesmal ein Brausen und Schwärmen lustiger Gedanken, das vor ihr aufstieg, und der Frohsinn trug die Namen Mimose, Nelke, Rose, Hyazinthe, Narzisse, Levkoje, Mandelbaum, Goldlack, Ranunkel, Veilchen, Anemone. Dann legte sich der Aufruhr, so daß ein ernsthaftes Gespräch beginnen konnte ... Warum, fragte sich Aggie, ist das Herz meiner Näherin (es sollte eine Näherin sein wegen des langen, demütigen Sitzens, das ihr so viel einfältige Gedanken erlaubte, wie sie täglich Stiche tat), warum ist ihr Herz so rund und so voll und unerschöpflich wie die Sonne? Warum dieses Herz mehr als ein anderes?
Der Morgenruf der Blumen blieb hinter ihr, duftend und standhaft in der Erinnerung wie die Umarmung ihrer Freundin Ada ... Ada, wenn Aggie sie im Bademantel überrascht und umarmt hatte, die taghelle, kühle, auf die draußen die Welt zu warten schien, während sie ihre Wange an die Wange der Freundin lehnte – ach, immer mußte sie Ada der Welt überlassen, nahm nur die Erinnerung an sie mit, duftig und standhaft über Tag und Nacht ... Warum?
Sie begann über das Wesen der Freundschaft zu sinnen, wirr und unbeholfen wie stets, wenn sie, statt über Menschen, über Begriffe nachdachte. Und geriet von einem Ding auf das andre, bis ins Weglose, wo sie unversehens wieder auf die Gestalten ihres Buches stieß. Aber von denen wollte sie gerade jetzt nichts wissen, sie machte kehrt: wie verhielt es sich mit Ada Breisach und ihrer Freundschaft? Die Freundin lebte allein, seit vielen Jahren war sie geschieden, sie hatte keine Liebhaber gehabt, und ihre einzige Freundin, Aggie, blieb steif wie ein Stock, verwirrt und – wie gesagt, sie wurde steif, die Scham ließ Aggie erstarren in der Umarmung, Wange an Wange. Die Freundinnen umarmten sich bloß, denn küssen konnte Aggie nicht. Niemand hatte es sie gelehrt. Der Morgenruf der Blumen blieb zurück ...
Es geschah, daß Aggie ihrem Vater in Gedanken Vorhaltungen machte, weil er es versäumt hatte, sie das Küssen zu lehren. Die Mutter starb früh, Aggie konnte sich ihrer nicht entsinnen, die Mutter traf keine Schuld. Jedoch den Vater überraschte sie noch am Tag vor seinem plötzlichen Tod, wie er, im Hausflur, eine Dame geradezu brutal an seine Brust zog. Noch an diesem Tage hätte er ihr beiläufig sagen können, wie man küßt. Auf den Mund, nicht nur à la française auf die Backe. Gern hätte sie Ada einmal auf den Mund geküßt! ... In seiner urmännlichen Selbstsucht hatte er es versäumt, obwohl er Arzt war, und davon sollte sie nun einen lebenslänglichen Schaden bewahren. Warum aber lebte in dem lustigen, gierigen Mann, den alle gern hatten, kein Herz, das strahlte und wärmte und half, wie das Herz der Näherin, die auch nicht auf den Mund zu küssen verstand, warum nicht? Was machte jene Kraft aus, die Gewalt der großen Liebe, die Entzückung, der auch solche erlagen, die nicht – ...
Aggie war im zweiten ihrer Morgengärten angelangt, auf dem Fischmarkt. Weithin über die Brettertische glänzten die Gewächse des Meeres, lauter Blumen, die sich heute nacht noch in der See getummelt hatten. So fein war ihre Zeichnung, so hauchzart die Farbe, daß Aggie sich tief auf sie herabbücken mußte. Von einem Fisch mit gelben und stahlblauen Zeichnungen in barocker Art, wie man sie auf japanischen Degenblättern findet, ganz fest gezeichnet über einem Orangenschimmer, der kam und ging, ein Atmen der Farbe konnte sie sich lange nicht trennen. Warum? ging es ihr inzwischen durch den Kopf: warum liebte die Näherin stärker als alle Frauen, die sich Männern hingaben, herrschten und dienten? Warum beglückte sie selbst solche, die – die hungrig waren nach Erde?
Halblaut wiederholte sie die Frage, als sie bald darnach auf einer Bank der Promenade saß, das Meer flirrte weiß, als ob die Bläue siedete und Schaumblasen triebe. Was machte die Einzigartigkeit jenes armseligen Geschöpfes aus, das erschütterte durch seine Stille?
Überreich an Farben, Düften, Klängen, wie Aggie sich heute fühlte, schmückte sie ihre Heldin mit aller inwendigen Schönheit, die Land und Meer unter ihrer Pracht verbargen. Denn die Dinge zeigen nur ihre Hülle und wollen umworben sein, bevor sie sich einem selig witternden Gemüt offenbaren ... Das letzte Geheimnis, das Geheimnis des selbstlosen Herzens, auf ihrer Bank vor dem Meer konnte Aggie es nicht erfahren, so tief sie sich auch hinter ihren weit geöffneten, grauen Augen in sich versenkte.
Eine Männerstimme murrte melodisch:
»Jugendgespielin von den Lianen und Wässerlein im verwunschenen Rheinwald – einmal habe ich Sie mit dem Schneeball in den Nacken getroffen. Sie verabscheuten den Winter ...«
Zwischen Aggie Ruf und dem Meer ragte ein Riese. Zwischen Schnee und Bläue dunkelte ein menschlicher Berg. Sie erkannte den Amtsgerichtsrat Bieterle aus Stuttgart.
Um seine Riesenfüße lag Schnee.
Echter Schnee.
Winterschnee.
Schnee mit dem grimmigen Ausdruck jener Hand, die Aggie vor vielen Jahren den Schulweg entlang führte: von der Blauwolkengasse über den Broglieplatz in die Brandgasse, wo der eisige Wind sich ganz klein und freundlich machte, bis er bei der nächsten Straßenkreuzung unversehens in die gefütterten Überschuhe biß. Der kleine Bieterle dagegen trug genagelte Stiefel, die auf Schnee und Kälte traten. (Für Aggie war das ein Symbol des deutschen Eroberers gewesen.) Aber obwohl die Franzosen inzwischen selbst zu Eroberern aufgerückt und entsprechend genagelt den Bieterle aus dem Elsaß vertrieben hatten, war aller Schnee um seine Füße immer noch elsässisch. Das kam, weil Bieterle außer den vierzig Kilo erlaubten Gepäcks alle Winter seiner Kindheit an den Schuhen durch die Postenkette an der Rheinbrücke geschmuggelt hatte, jetzt entdeckte es Aggie, vielleicht auch die andern Jahreszeiten des Elsasses – aber wo hatte er die untergebracht? ...
»Bieterle, Sie sind ein Berg«, stellte sie fest – »obwohl Sie angeblich abmagern.«
»Du lieber Gott«, widersprach er, »haben Sie je einen Berg mit solchen Hosen gesehn?« Er hob den Fuß und zeigte das Ende des Hosenbeins, wo sich die Falten wie eine beinah geschlossene Ziehharmonika zusammendrängten.
»Gerade«, meinte sie. »Das sind die Ausläufer des Gebirges, dort weiden die Ziegen und Schafe ... Nur nicht den Mut verlieren, Bieterle! Wozu eine Mannshose auch dienen mag, die Ihre erfüllt in überschüssiger Weise ihren Zweck. Sie könnten davon abgeben.«
»Ich danke«, sagte er, und sie lächelte zu ihm hinauf.
Der Amtsgerichtsrat, dessen Eltern nach dem Krieg von 1870 ins Elsaß eingewandert waren, wo sie ihm das Leben geschenkt hatten, begegnete dem Blick in der Haltung eines schwäbischen Reserveoffiziers aus der Zeit der Kaiserfreudigkeit. Er trug einen Winteranzug und einen alten Samthut, und diesen alten Samthut hob er hoch in die Luft, genau wie sein Vater mit dem Hut zum Himmel gefahren war, wenn der Kaiser der Stadt Straßburg seinen Frühlingsbesuch abstattete.
»Ach, Bieterle«, wehrte sie ab, »ich fürchte, Sie grüßen schon wieder in mir die verlorene Heimat. Da sind Sie fehl am Ort, ich muß es Ihnen doch einmal sagen. Ich war seit Jahren nicht mehr daheim, Sie wissen es doch, Haus und Möbel meiner Eltern sind verkauft, und seitdem bin ich heimatlos – übrigens ein wahres Vergnügen. Ich hätte viel mehr Grund, in Ihnen die Heimat zu grüßen! Sie strotzen davon, obwohl Sie immer auf Reisen sind. Einmal traf ich Sie bei den Pyramiden, im Mondschein, wie sich's gehört. Sie schwärmten, auch das gehört sich. Aber wovon schwärmten Sie? Vom Denkmal des Generals Desaix auf der Straße nach Kehl! Und ich – ich kann kaum richtig Dialekt – ja, nun zwingen Sie mich, laut von meiner Schande zu reden.«
»Sie waren als Kind zu vornehm«, erklärte Bieterle. »Dialekt war für Sie etwas wie Krätze. Ich dagegen, dumm und treu, wie Gott uns geschaffen, bin heute noch stolz, daß ein Straßburger Bourgeoismädchen gelegentlich mit einem deutschen Jungen auskniff. Zum Dank versuchte der Junge Ihnen elsässischen Dialekt beizubringen. Eine komische Welt.«
»Ja, das war sie, recht komisch! Bieterle, daß ich es gestehe: ich denke an meine Heimat wie an ein Kasperletheater, es sind immer die gleichen uralten Witze. Aber man lacht ... Sagen Sie, Bieterle, sind nicht unsre Leute in letzter Zeit etwas bösartig geworden?«
Er triumphierte: »Die reinen Tiger!«
Sie hatte sich erhoben und traf Anstalten, es den Seefahrern gleichzutun, die in regelmäßigen Zwischenräumen ihren Standpunkt bestimmen, um die Richtigkeit der Fahrt zu prüfen. Von Zeit zu Zeit, manchmal auch nachts, wenn sie nicht schlief, mußte sie mit einmal von ihrem seelischen Organ, das dem Sextanten der Seefahrer entsprach, Gebrauch machen und den Winkel ihres Lebens zum Schicksal errechnen. Statt eines Gestirns als Richtmaß benutzte sie irgendeinen glitzernden Gegenstand, und war es auch nur ein Nagel in der Wand. Es ging schnell. Sie stand da, berührte leise Bieterles Schulter und faßte den Fahnenknopf des Kasinos ins Auge. Mit der anderen Hand löste sie einen Knoten in der langen, dünnen Goldkette, die ihr um den Hals hing. Mit Behagen empfand sie das eigene zarte Wesen, ihr Blick sank auf ihre Füße, sie waren da, und Aggie fühlte sich stark und schmiegsam, tadellos gekleidet, ein wenig töricht, vielleicht hübsch ... »Gute Fahrt!« rief sie aus und trat einen Schritt zurück ... Ja, ja, gute Fahrt ... Hatte sie nicht trotz allem das Leben gemeistert, leichter vielleicht und gewiß erfolgreicher als der Riese?
»Wozu Riesen?« fragte sie laut. »Der erstbeste David wirft sie um.« Und: »Ja, Bieterle«, fuhr sie schnell fort, als spräche sie wirklich nur von sagenhaften Dingen, »eine komische Welt – warum hattet ihr Deutschen eigentlich so viel Hochachtung vor unsrer Bourgeoisie? Es gab sie ja gar nicht, oder falls Sie meinen, daß doch ein paar Exemplare davon vorhanden waren, so übertrafen sie in nichts die Bourgeoisie irgendeines französischen Provinznestes. Eure Nachbarschaft allein machte sie wichtig. Ich muß lachen, wenn ich daran denke, wie Ihre Landsleute mit dem Hut oder der Faust herumfuchtelten vor dem Personal einer Provinzbühne, die unermüdlich den ›Bürger als Edelmann‹ spielte. Wir nahmen uns ja nur so ernst, weil ihr uns ernst nahmt! Aber Sie tun ja auch jetzt, als ob Sie den Scherz des heutigen Schnees für den Winter nähmen, lieber Bieterle – oder ist das noch immer der Winteranzug, mit dem Sie über die Kehler Rheinbrücke marschiert sind?«
»Ich habe nicht das Geld, mir eine Unmenge neuer Anzüge zu kaufen, ich reise«, gab er gutgelaunt Bescheid.
»Daran tun Sie gut, mein Lieber! Reisen bildet Verstand und Gemüt. Und über die Haltbarkeit von Anzügen herrschen die dümmsten Vorurteile. Ein tüchtiger Anzug überlebt seinen Besitzer.«
Aggie spielte die Prinzessin und ließ ihre helle Stimme klingeln. Bieterle, mit seinem Baß, hielt den Gegenpart, er war das große Tier, das aus der Wildnis bricht und erstaunt vor der Prinzessin haltmacht, ein Bär, eine gewaltige, plötzlich verflüchtigte Kraft, unschuldig wie Quelle und Fels, so zeigte er sich der Jugendgespielin von den Lianen und Wässerlein im verwunschenen Rheinwald. Dabei vergaß er aber nicht, daß Haus und Hof ihm von den Franzosen weggenommen worden waren, genau so, als hätte sein Vater sie gestohlen, daß seine Landsleute, in der Ruhr friedlich-kriegerisch beschäftigt, den Rest seines Vermögens in nichtsnutziges Papier verwandelt hatten, worauf endlich in ihm der Entschluß gereift war, sich durch häufige Krankheitsurlaube an Freund und Feind schadlos zu halten ... Nur wollte er nicht wieder davon sprechen.
»Geld habe ich auch nicht«, beteuerte die Prinzessin. »Nie! Nie! Deshalb laufe ich auch vor der Heimat davon, wo meinesgleichen noch immer Geld hat – während Sie, Bieterle, dauernd hinter ihr her sind. Ja, ich erinnere mich, wir trafen uns einmal in den Alpen, mitten im richtigen Winter, und da – da erzählten Sie mir stundenlang von den Vorzügen der verschiedenen Eisbahnen in Straßburg und den kilometerweit gefrorenen Kanälen. Setzen Sie alle Menschen so in Begeisterung für das Elsaß oder nur gute Seelen wie mich?«
»Alle, verehrte Aggie! Darin bilden Sie keine Ausnahme, darin allein nicht.«
»Wie schrecklich! Ermüdet es Sie denn gar nicht?«
»Im Gegenteil. Es erhält mich jung.«
»So sagen Sie mir denn in Gottes Namen, wodurch der Elsässer Belchen sich vor dem Matterhorn auszeichnet ... Oder könnten Sie nicht morgens ein wenig turnen, statt –«
»Verehrte, im Ernst! Bilden wir nicht beide, wie wir hier stehn, eine Insel Heimat im Meer der Fremde?«
»Bieterle, Amtsgerichtsrat aus Stuttgart in Schwaben, Sie können mich vereidigen, ich spüre nichts davon.«
»Sie nicht, aber Ihr Genius! Wenn ich recht gehört habe, schreiben Sie an einem neuen Buch, dessen Schauplatz Ihre Heimat ist.«
»Wahrhaftig!« rief die Prinzessin. »Es ist eine Geschichte von drüben, daran hatte ich gar nicht gedacht ... Das haben Sie mir eingebrockt, Bieterle! Weil Sie mir mahnend an allen Enden der Welt erscheinen! Zu Ihrer Strafe werde ich den Schauplatz meiner Geschichte nach Schwaben verlegen.«
Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht. Der schmale Mund, die schmale gerade Nase atmeten gierig, weitauf standen die Augen.
Ein uraltes Männchen, ein Zittergreis von verschollener Eleganz, kam in Begleitung eines Dämchens die Promenade herab. Das Dämchen, in dessen Gesicht die Schminke dicke Jahresringe angesetzt, trug ein Hündchen im Arm, damit war es ihrem Galan immer einen Schritt voraus. Er indes nahm sich Zeit und erfreute sich teils an den Frauen, die seinen Weg kreuzten, teils am pelzverbrämten Glockenkleid seiner Dame, das ihr um die rosa Beine schaukelte. Das Kleid gehörte einer vergangenen Mode an, ganz wie er selbst. Das Märchen von der Prinzessin und dem Bären erweiterte seinen Personenkreis um zwei Stinktiere.
Schnell schaute Aggie sich nach dem Amtsgerichtsrat um. Er stand noch da, erstaunlich, und hatte ein wildes, hübsches Riesengesicht, den Schnauzbart rotborstig, kurz geschoren, die Nase gerade und beinahe zart gesattelt unter der Stirn – selbst den Hünen unter Aggies Freunden fehlte es nicht an Anmut! Sie waren sauber. Sie atmeten Gesundheit. Aggie stand unter ihrem Schutz ... Jedoch der andre, der zerschlissene, völlig verworfene Elegant, mit weniger als einem Schritt trat er auf sie zu und, die Hand am Mund:
»Voyez, comme elle a faim, la poule! Sie riecht das Mittagessen in den Hotels.«
Ins Ohr flüsterte er es ihr, hinter der vorgehaltenen Hand, und er schwitzte vor Schadenfreude. Der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der Stirn vor Haß. Ins Ohr flüsterte er es ihr, lächelte verzerrt, nickte, weitertrippelnd, noch einmal zurück.
Aggie preßte die Hände mitsamt der dünnen Kette gegen die Brust, als bedeckte sie krampfhaft eine Blöße. Eine furchtbare Angst klaffte in ihr, und aus der Angst flammte Haß, der wiederum nur Angst war, wie der Haß jenes Alten. Als der Schreck sich verzogen hatte, blieb ein seltsamer Geschmack auf ihren Lippen, sie genoß ihn, Bieterle sah, wie ein Lächeln langsam ihre Züge erhellte. Die glückhafte Flut stieg ihr bis in die Augen, und der Amtsgerichtsrat erschrak vor dem Liebesblick, der ihn traf und von dem er mit Bestimmtheit wußte, ihm gelte er nicht. Aber wem dann? ... Ohne ein Wort bewegte sie den Mund, in der Luft berührte sie, schmeckte sie den Flaum einer unsichtbaren Frucht, die außen kühl war, doch von der warmen, schneeigen Sonne ihres Innern geschwellt. Und auf einmal traf auch den Bieterle ein lebenweckender Hauch aus der Tiefe, so daß er den Sinn der Worte erriet, die undeutlich von Aggies Lippen fielen:
»Nur wer keusch bleibt, kann endlos lieben, ... unerschöpflich bei aller Verschwendung ... Im höchsten Königreich der Leidenschaft wohnt das jungfräuliche Licht. Der Edle liebt, wie Heilige sich zum Sterben bereiten ...«
Als spränge sie mit Bläue, mit Sonne behangen von einem Schiff an Land, erklärte sie unvermittelt:
»Ich rede von meiner Näherin, dem dürftigen Mädchen, Sie wissen, in meinem Buch, das ich aus Bosheit nun also nach Schwaben verlege.« Sie nahm seinen Arm, die Goldkette baumelte, Aggie ballte lachend die Faust. »Ach, Bieterle, ich will euch Männern ein Hoheslied der Jungfräulichkeit singen, daß ihr erblaßt vor so viel Glut! Keine noch so berühmte Liebhaberin soll an mein Mädchen heranreichen in allem, was Liebe je war und je sein wird, und ... und ... es soll Agnes Maienstock heißen.« Bieterle schwieg voller Achtung, die Dichterin verfiel in grimmiges Sinnen.
Einmal, bei einem Seitenblick, fiel ihm die Schärfe ihres Mundes auf, der leidenschaftliche Ausdruck ihres um die Lippen gesammelten Hauptes – gebäumt stand es im Luftzug. Endlich sagte er: »Maienstock heißt bestimmt nur ein elsässisches Mädchen.« Da fuhren sie aber schon im Auto über Nizza hinaus, fort von der Himmelsküste, dem Felsenstädtchen Tourette entgegen, wo Freunde sie zu Mittag erwarteten.
Hinter St. Paul lagen die steilen Nordhänge unberührt unter dem Schnee, daß der Wagen die Straße aus ihrer Flanke reißen mußte. Im Himmel über ihnen türmten sich Ortschaften, die mit Mauern und Wällen aus den Felsen sprangen ... »Ein Land voller Gralsburgen«, lenkte der Amtsgerichtsrat ein, als er keine Antwort erhielt. Die Sonne wurde wärmer, die Schneedecke dünner.
Aggie hob die Hand, der Ring mit dem Smaragd sprühte Feuer, grün und zärtlich wie die Erde, die schon wieder hie und da an den Südhängen hervorquoll:
»Das ist Tourette«, sagte sie.
Erst nickte er nur, er kannte das Städtchen. Im nächsten Augenblick kniff er die Augen zu und lächelte.
Wie sie es ausgesprochen hatte, war das Wort selbst mit Wall und spitzen Türmen bewehrt und schwebte, eine wohllautende Spiegelung der Stadt in der Höhe, sekundenlang auf ihren Lippen. Entzückt wiederholte er:
»Tourette.«
Und: »Verehrte, liebe Aggie«, sprach er vor sich hin.
Damit dankte Bieterle für die zweite Entdeckung, die er heute an der Dichterin machte. Er, der glaubte, weder ihre Bücher noch ihre Person könnten ein Geheimnis vor ihm hüten, so lange waren sie ihm vertraut, er hatte bei der kurzen Entrückung Aggies auf der Promenade zum erstenmal in die Tiefe ihres Wesens geschaut – und dort, in dieser phantastischen Jungfräulichkeit, den Quell ihres Lebensmutes gefunden! Darauf löste sich ein zweites Rätsel, im gleichen Augenblick, da es vor dem Verblüfften aufstieg, nämlich: daß ihre Kunst durch die Bildkraft eines schier unkörperlichen Zaubers verführte, den er allerdings nur ungefähr mit Musik bezeichnen konnte. Wenn jemand mich fragte, lachte er innerlich, worin das Genie Aggie Rufs bestehe, ich würde den Mund verziehn, ihn schmal und kühl machen mit einem Zitterschimmer darüber und »Tourette« sagen ... Ich würde es wenigstens versuchen! »Tourette.« Schien es nicht, als ob beides zugleich und jetzt erst von ihr erschaffen worden sei, das Wort und die Sache? ...
Das Wort, flüchtig wie Schnee auf Sonne, verging auf ihren Lippen.
Dafür sprach es jetzt um so deutlicher aus den Türmen im Himmel.
Bieterle duckte das Hünenhaupt in die Schultern und dachte an Liebe, in der großen Art, die ihm entsprach, mit einem, hundert glitzernde Blasen treibenden Überschwall, wie nur gesottene Junggesellen ihn kennen.
Um auch dies vorwegzunehmen: aus der Geschichte mit Bieterle und Aggie wird nichts. Als Aggie mich später einmal, in Breuschheim, mit dem Stoßseufzer überraschte: »Claus, ich meine fast, ich hätte den Bieterle heiraten sollen, am Ende hätte er einen bewohnbaren Mond aus mir gemacht!«, war es noch immer Unsinn, was sie sagte, und außerdem längst für jeden Unsinn zu spät.
Dagegen beginnt hier eine andre Geschichte. Bei der geht es hauptsächlich um Geld, persönliche Freiheit und Macht, aber auch um andre gute Dinge, wie den Besitz einer Frau, die Eroberung, den Genuß, die hemmungslose Ausbeutung einer Frau, weshalb die Geschichte üblicherweise die Bezeichnung einer Liebesgeschichte verdient. Erobert, genossen, ausgebeutet wird – das soll sich erst zeigen. Jedenfalls kann sich das Opfer ebensowenig dagegen wehren wie ein Skiläufer gegen die Lawine, die jemand (vielleicht er selbst) mit einem Ruf, einem Hauch nur in dem gewaltigen Raum entfesselt.
Der Held oder Bandit, wie man es nennen will, heißt Silvio Wolf, gebürtig aus dem Münstertal, Oberelsaß, jetzt: Département du Haut-Rhin, Familie unbekannt, langjähriger Sekretär Sir Ronald Gurdons.
Freunden wie Feinden unsrer Familie, der Familie Breuschheim aus Breuschheim (Unterelsaß, jetzt: Département du Bas-Rhin), sind Ada Breisach und Ronald Gurdon schon begegnet. Den Silvio Wolf haben sie bisher nicht gekannt. Hier ist er.
Er sitzt mit Ada Breisach auf der Terrasse des Wirtshauses von Tourette, fast geblendet trotz der farbigen Brillen, denn die Sonne hier oben ist eine einzige Glut.
Vor ihnen, rund um den Marktplatz, wachsen schmale Häuser aus dem Kalkfelsen, der das uralte Städtchen trägt. Die Häuser sind nicht mit den Grundmauern auf den Stein gesetzt, sie kriechen aus Höhlen hervor, kleben an Felswänden, klettern schmal mit einer Zacke des Gesteins empor und werfen von dort eine Terrasse zu einer andern Felszacke, ohne sie ganz zu erreichen, so daß eine Spitze des Urgesteins wie ein Blitzableiter oder ein Götzenbild hervorragt. Zumal unter dem tauenden Schnee macht das Städtchen den Eindruck eines unbändigen, schier pflanzlichen Wachstums, gegen das der Maurer und der Zimmermann es nur ungenügend schützen konnten. Die Sonne ist eine einzige Glut. In Strömen läuft der Schnee von den Dächern.
Silvio und Ada stützen die Ellbogen auf den Tisch und dösen, wie es scheint, in mittäglicher Trägheit dahin.
Bald sehen sie schweigend Sir Ronald Gurdon zu, dem englischen Kautschukmagnaten, der unten auf und ab spaziert, bald beugen sie die Köpfe (und zwar geschieht dies, sooft Silvio das Wort nimmt) und legen die Brillen ab, schauen sich beim Reden in die Augen und blinzeln zwischendurch in die Sonne. Adas Mund ist hochmütig gespannt. Ihre Augen entsenden eine helle Wolke, worin Goldstäubchen tanzen, und dann bleibt ihr Blick, vom vollen Licht getroffen, erst recht verschleiert ... In diese Augen fällt Silvios Auge, geballt und dunkel, in einem jähen, wie zugreifenden Absturz, Ada spürt jedesmal den Stoß bis unter die Brust. »Wie habgierig, wie diebisch!« wehrt sie ab, und: »Noch einmal!« winkt die Wolke aus den blauen Augen.
»Es war, als ich bei Gurdon einzog«, sagt Silvio, »am Tag nach unsrer Begegnung in London ... Die Allee, die zu seinem Hause führte, machte eine Biegung, und dort, vor dem Haus, auf einer Wiese, dort sprangen vier nackte Gestalten an der Sonne. Zwei Jünglinge, zwei Mädchen. Sie sprangen, als griffen sie mit der Hand nach einem fliegenden Ball. Im Augenblick, wo er gerade über sie wegsauste, griffen sie danach, schnellten steil in die Höhe. Es war aber, verehrte Gräfin, gar kein Ball im Spiel, und so konnten sie ihn auch nicht fangen, schließlich liefen sie, den Kopf zurückgeworfen, mit Vogelschreien davon. Alle vier hatten kurzes Haar, alle vier bewegten sich gleich schlank in den Hüften, dennoch waren es zwei Buben, zwei Mädchen.«
Wieder begegnen sich Ada und Silvio im schauersüßen Fall des Blickes, lösen sich, blinzeln in die Sonne ... Gurdon macht unten vor der Terrasse halt: Tête-à-tête einer weißen Angora mit einem schwarzen Dachkater, stellt er für sich fest. Nur ist er noch nicht sicher, ob die Angora ernstlich ja sagen wird ... Er hofft es nicht, er will es nicht wahrhaben, bei Gott, er will es nicht wahrhaben.
Hätte Silvio seinen Herrn in diesem Augenblick überrascht, so wäre ihm die beschwörende, beinah tragische Haltung des Mannes nicht entgangen, der die dicken Brillengläser eines Kurzsichtigen zu der Terrasse hinauf und wieder abwandte, und er wäre wie immer, wäre auch jetzt noch vor dem Funkeln der Gläser erschrocken. Gurdon setzt sich wieder in Bewegung und schreitet auf eine Gruppe von Männern zu. Von den fünf oder sechs solcher Ansammlungen wählt er die entfernteste.
Die gesamte männliche Bevölkerung, die wegen des Schnees nicht im Feld arbeitet, hält auf dem Marktplatz in weit verstreuten Haufen, von denen jeder vermutlich ein politisches Fähnlein darstellt, raucht Zigaretten und wärmt sich an der Sonne.
Am Brunnen vor dem Wirtshaus waschen die Weiber. Die Arme nackt bis über die Ellbogen, die Schultern entblößt, die Röcke geschürzt über roten und blauen und gelben Wollsocken, die Haare wirr vom Eifer der Arbeit, so stehn sie um den großen runden Trog, reiben mit dem Bimsstein, schlagen mit Handbrettern auf die Wäsche los, schwenken große Leintücher durch die Luft und führen ein großmächtiges Gespräch, von dem der Platz aus allen Ecken widerhallt. Aus vier Röhren sprudelt das Wasser, und in der überschwappenden Brunnenschale herrscht Sturm. Das Ganze wirkt wie eine barbarisch belebte Wasserkunst, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das natürliche Werk von Himmel und Erde zu überbieten. Hinter den Müttern verschleudern die Kinder die letzten Schneebälle, die sich noch kneten lassen, nur die Kleinsten beeilen sich nicht und geizen mit jedem Ball, es ist der erste Schnee ihres Lebens, eine Kostbarkeit.
Droben fragt Ada, hinter der Schneebrille:
»Was waren das für Kinder in Sir Ronalds Garten, Herr Wolf?«
»Ich hielt sie für Inder«, antwortet er, »und der seidengekleidete, strahlend weiße Lümmel von einem Diener, der mich führte, bestätigte es. ›Ja, indische Kinder, das sollen sie wohl sein‹, meinte er. ›Das heißt, der Herr hält sie für Kinder. Die Kinder des Herrn, so heißen sie im Haus, und das bedeutet, er hält sie wie eigene Kinder.‹ Der Bursche drückte feixend ein Auge zu: ›Dabei sind sie übers Kreuz verheiratet, sozusagen – verstanden?‹ Ich sah ihn scharf an. ›Und Mr. Gurdon weiß es nicht?‹ – ›I wo, da säßen sie längst auf dem Pflaster!‹ – ›Und woher wissen Sie?‹ – ›Dazu hat man seine Augen und vor allem die Ohren! Übrigens, das sage ich Ihnen gleich, es sind die besten im Haus. Ich meine die Ohren.‹ Der Kerl setzte mein Köfferchen ab, hob die Arme wie umgeklappte Wegweiser und zeigte auf seine Ohren. Und dann trug er mir stehenden Fußes ein Bündnis an, ich schlug ein ... Er war die Falschheit in Person, in meinem Leben habe ich nichts Ähnliches getroffen. Je älter er wurde, um so gemeiner, um so scheinheiliger! Heute gilt er als Matador in Gurdons Haus ... Damals fragte ich ihn auch, ob er es nicht für seine Pflicht halte, den Herrn aufzuklären. Er grinste bis hinter die Ohren: I wo! Da sei es gut möglich, daß der Herr, statt ihm zu glauben, ihn gröblich hinauswerfe, so vertrauensselig sei Mr. Gurdon, man müsse ruhig die Stunde abwarten, die Stunde komme immer für den, der zu warten verstehe ... Im Sommer darauf ereignete sich etwas Furchtbares. Die ›Kinder des Herrn‹, liebe Gräfin, zwei reizende Buben, zwei bildhübsche Mädel, wurden gepeitscht und mit nichts als dem Schal, der ihnen als Kleid diente, vor die Tür gesetzt. Es war Sir Ronald, der sie auspeitschte, und zwar im Gartensaal, der groß und licht war, damit man sehn sollte, wie die Menschen sich als freie Wesen bewegten‹ – so hatte er mir einmal erklärt ... Die Kinder gaben, solange sie geschlagen wurden, keinen Laut von sich. Ich kam zufällig hinzu. ›Ich wollte nicht, daß ein andrer sie strafe‹, sagte Gurdon, als er die Peitsche fortwarf ... Jedes der Kinder hob sein Tuch auf und lief, so wie es von der Peitsche loskam, mit kleinen Schritten zur Tür. Sie wimmerten, ihre Rücken waren demütig gebeugt. Hinter der Tür wartete der Seidenlümmel, um sie aus dem Haus zu führen. Bekümmerten Gesichts verließ Gurdon den Saal. Er wagte nicht, mich anzusehn ... ›Habe ich Ihnen nicht gesagt, man brauche nur auf eine Stunde zu warten?‹ flüsterte der Seidenlümmel mir zu, als ich ihm später auf der Treppe begegnete ...«
Diesmal ist es Silvio allein, der die Brille absetzt. Unangenehm berührt, daß die Huldigung ihrer Augen ausbleibt, hebt er die Brauen, er sieht sich gleichsam im Spiegel, wie die breiten, geschwungenen Flügel über seinen Nachtaugen auffliegen mit einem Ruck, und er lacht, selbstbewußt wie ein Junge. Das Lachen kann alles mögliche bedeuten, und jedenfalls klingt es reichlich überlegen. Als er merkt, wie Adas Brauen auf den Flug der seinen antworten, indem sie sich hinter die Brille verziehn, hält er es für geraten, seiner Kühnheit eine andere Richtung zu geben:
»Da hinten steckt Gurdon wie ein Pfahl im Boden«, ruft er. »Erst hat er Zigaretten unter die Leute verteilt, jetzt spioniert er mit aller Kraft seiner Gläser zu uns herüber und überlegt, ob ich ihm durchgehe oder nicht, ob mit der Gräfin Breisach oder allein ... Sein Schiffchen im Hafen von Villefranche liegt unter Dampf, jawohl: winke, winke, guter alter Gurdon, adieu! Diesmal ist es aus zwischen uns. Haha! Er glaubt, auf solch eine Entfernung sei ein Späherauge hinter der Brille so unsichtbar wie hinter einem Busch. Ich kenne dich, Alter!«
Silvio springt auf, zieht das Taschentuch und beginnt, über den Platz zu winken:
»Ein ›merci‹, dick und laut wie ein Hurra«, schreit er (der andre steht ja viel zu entfernt, als daß er ihn hören könnte), »und lebe wohl, for ever!«
Er fällt auf den Stuhl, schlägt sich lachend auf die Schenkel. Wie ordinär ein so gepflegter Mann auf einmal sein kann! Ada nimmt sich vor, es ihm später einmal zu sagen: niemals dürfe er sich gehn lassen, er habe sich jederzeit im Auge zu behalten ... Doch, sie muß es ihm sagen, sonst geht es nicht.
»Da haben Sie's, Gräfin! Ich schwöre Ihnen, der Chef tut schon wieder, als hätte er mich mißverstanden, geht zum Auto und läßt den Chauffeur den Frühstückskorb bringen. Ich soll aus dem Magen gewinkt haben! Soll gar keine andern Sorgen kennen als die Stillung von Hunger und Durst – und ein kleines Bankkonto ... Sogar der Chauffeur scheint heute ein halb befreiter Sklave und trägt, plötzlich ins Erhabene befördert, die Livree des Mittags: Weiß und Gold. Sonst fand ich, in seinem weißen Kittel sehe er aus wie eine Köchin, die sich die Mütze eines Marineoffiziers aufgesetzt hat.«
Ada denkt: Sicher glaubt er, er halte sich weltmännisch, dabei ist er steif wie ein Hampelmann, und es ist klar, daß er sich fürchtet ... Da sagt er zu ihrer Überraschung:
»Und ich? Sagen Sie selbst, Ada, was unterscheidet mich von allen Privatsekretären des Vereinigten Königreichs? Ich darf nicht einmal eine Orange von den Bäumen stehlen. Keine Macht der Welt, keine Sonne kann mich verwandeln. Meine Livree ist gelblichgrau wie der Londoner Nebel und sitzt innen – innen, Ada, innen!« Damit vergräbt er das Gesicht in die Hände.
Sie fragt:
»Hören Sie – jener Diener, der Ihnen ein Bündnis antrug? ... Sie zögerten nicht, Herr Wolf? Sie traten sofort auf gleichen Fuß mit ihm? Sie schlugen ein, nahmen die schmutzige Hand, sicher das schmutzigste, was es im Hause gab – in die Ihre?«
Ohne die Haltung zu ändern, sagt er:
»Ja.«
»Schade. Ich verstehe jetzt, warum Sir Ronald nicht mehr aus Ihnen gemacht hat.«
Er nickt, den Kopf noch immer in den Händen:
»Ich fühlte mich schwach. Damals fürchtete ich Gurdon. Damals und noch lange Zeit nachher.«
»Bis zu dem Tag, als er die Kinder auspeitschte?« fragt sie unerbittlich ... »Haben Sie später mit ihm darüber gesprochen?«
Langsam taucht Silvios Gesicht auf, glatt und still, und als der Mund zum Vorschein kommt, kann Ada sehn, daß er lächelt. Ein Lächeln voll verschämter Listigkeit ringelt sich um die Mundwinkel, es hat etwas ausgesprochen Kindliches, dieses Lächeln. Ein Junge, denkt sie, ein Junge, der nichts von Gut und Böse weiß, ich muß ihm helfen ... Sie nimmt die Brille ab, um nicht hinter einer Halbmaske zu sitzen im Augenblick, da er sich zu Geständnissen anschickt, vielleicht auch, um ihn mit ihrem bloßen Gesicht zu zwingen, wahrhaftig zu sein. Der Ausdruck Silvios verrät eine Unschuld, gegen die es keine Beschwörung gibt.
Sie beugt sich vor, begierig, ein Wort zu hören, das ihn von all dem Häßlichen lossprechen könnte, womit er sich vor ihr, vor ihr gerade großtut. Mit Leib und Seele lauscht sie. Sie lauscht, wie der von Nebel überraschte Fischer nach einem Geräusch hinhorcht, das ihm die Nähe der Brandung und des Landes verrät. Er weiß nicht, daß sie ihn liebt – woher auch? Weiß sie es selbst? Er ist fast schön, er ist heiß und kalt, darin vielleicht ihr ähnlich, er versteht eine Unsumme Dinge, kennt die Welt besser als sie.(Nur wer von unten kommt, kennt sie richtig.) Ada horcht nach einem Ton hin, der ihr die neue Sprache ihres Lebens verraten könnte, verwandelt, wie es morgen oder übermorgen sein wird, in seinem Zeichen. Wie sollte sie sonst etwas über dieses Leben erfahren? Auf Silvios tiefste Stimme lauscht sie, sie erwartet sein Morgengeschenk, seine Stimme für Ada. Starr sitzt sie da.
Fühlt er die Prüfung?
»Niemals haben wir darüber gesprochen, Gräfin«, sagt er mit einem Anflug von Trotz. »Nie. Aber hundertmal, wenn wir uns gespannt gegenüberstanden, Sir Ronald und sein Privatsekretär, da brauchte ich ihm nur auf eine bestimmte Art in die Augen zu sehn, so, sehen Sie: so – und er verstand sofort, woran ich ihn erinnerte, und es fiel kein Wort mehr. Halt. Kehrtum! Und siehe da, der Honigmond unsrer Freundschaft stand wieder am Himmel.«
Auf einmal findet Silvio nicht mehr die Kraft, auch nur sein Lächeln festzuhalten, den kindlichen Schild, der stärker war als Erz – oder er wagt das Letzte und wirft ihn weg. Jedenfalls sinkt er zusammen, versucht, ihre Hand zu fassen, versucht, durch die helle Wolke in ihr Auge zu dringen. Es gelingt ihm nicht. Er fühlt sich gedemütigt und wird blaß, ganz weiß wird er unter der braunen Haut, die Augen öffnen sich, eine innere Gewalt drückt sie auf, weitet sie, verdunkelt, vertieft sie.
»Ich liebe Sie«, stößt er hervor, und dann singt eine Stimme, es ist eine fremde Stimme, sie greift Ada an, daß sie schauert, leise, singt wie für sich, und er spricht taumelnd weiter, ohne daß er sich zu rühren glaubt, lauter, lauter, hört es nicht.
»Liebe Ada ... Ich schwöre ... Ada, ich liebe Sie ... Geliebte ... Liebe ... Ada ...«
Zuletzt unterbricht sie ihn:
»Silvio, Sie sind viel schlechter, als ich glaubte. Sie können nicht anders, es ist stärker als Sie. Hoffnungsloser Fall, mein Lieber! Ein Gurdon, selbst wenn er Kinder schlägt – er hatte sie gern, vielleicht liebte er sie, obwohl er sie schlug! Verstehn Sie das? Das schlimmste aber, mein Freund, Sie sind feig.«
Er versetzt ruhig:
»Wenn von Feigheit gesprochen werden soll, so sind Sie damit gewappnet vom Kopf zu den Füßen – Ada! Sie streiten gegen mich. Sie spähen nach den Stellen, wo ich am verwundbarsten bin. Sie verschmähen es nicht, mich dort, gerade dort zu treffen, obwohl ich es bin, der sie Ihnen zeigt, ich, der Sie durch mein Vertrauen dazu anstiftet, ich, der Ihnen die Hand führt, ich, ich und kein andrer ... Niemand auf der Welt habe ich mich so ausgeliefert wie Ihnen, niemand kennt mich wie Sie, ich beichte, und Sie schlagen zu. Nur um Ihre Niederlage hinauszuzögern, sprechen Sie Beleidigungen aus. Ich vergesse sie nie!«
»Silvio«, sagt sie. »Selbst wenn das einträfe, was Sie meine Niederlage nennen, es würde nichts ändern, weder an Ihnen noch an mir. Ob Sie sich etwas mehr oder weniger an mir rächen, macht nicht viel aus.«
»Sie fürchten mich so, wie ich Sir Ronald gefürchtet habe.«
»Mehr!«
»Sie fürchten sich vor dem Schicksal.«
»Finden Sie das Wort nicht sündhaft übertrieben – im Hinblick auf uns?«
»O nein. Nicht im geringsten. Sie lieben mich! Ich dagegen«, seine Stimme stockt, sinkt, wird merkwürdig zärtlich: »habe Sir Ronald nie geliebt.«
In Scham und Leidenschaft getaucht, bemerken sie, wie ihre vier Hände, die still vor ihnen auf dem Tisch liegen, ins Zittern geraten, und hören, wie ihre Stimmen austrocknen. Sie wollen nicht mehr auf die Hände hinsehn und überlassen die Laute von ihren Lippen sich selbst.
»Sie lieben mich?« sagt sie ... »Nein. Und – ob Sie mich lieben oder nicht, auch das ändert nichts, wenn es sein soll ... Silvio, ich will es nicht, weder für Sie noch für mich!«
»Ich habe nichts zu verlieren«, stößt er hervor.
Sie hebt die Achsel, eine kleine, strenge Falte tritt zwischen ihre Augen.
»Möglich, Silvio. Aber ich.« Sie fährt fort: »Ich liebe Sie nicht, wie sollte ich Sie lieben? Ich könnte Sie nur quälen. Bestenfalls spielen wir ja nur die Verliebten, hinter unsern Brillen. Meinen Sie nicht, es wäre an der Zeit, daß wir aufhörten?«
Ein Schweigen tritt ein, worin eine allzu große Sonne braust.
Sie sitzen einander gegenüber, forschen hinter den farbigen Gläsern in ihren Zügen und quälen sich, starr und stumm. Adas Mund legt nichts von seinem natürlichen Hochmut ab, Silvio hat eben noch geglaubt, sie zu lieben, nun aber haßt er sie. Vielleicht sind es zwei Gefühle in einem, das sich dreht? Vielleicht liegen sie weit auseinander, und er hat sich noch zu keinem von ihnen entschlossen? Oder er wartet einfach ab, wozu sie sich entscheidet.
Nach einiger Zeit streckt er die Finger der rechten Hand, bis sie flach auf dem Tisch liegen, und ballt sie langsam zur Faust:
»Ada. Ich komme von weit her. Ich muß weiter!«
An Offenheit fehlt es ihm nicht, denkt sie. Er ist fast schön. Heiß und kalt. Hier oben ist die Sonne eine einzige Glut. Es taut. Die Erde wandelt sich. Jede Minute verändert die Welt. Ada wird tun können, was sie will, Jahre lang, ein Leben lang, ihn wird sie nicht ändern.
Und auch sie kann sich nicht ändern. Jetzt weiß sie es, mit der größten Gewißheit. Denn jetzt kennt sie ihn. Sie ist hart und will es bleiben.