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Es sollte ein Nachtfest im Freien gefeiert werden. Variot hatte den Vollmond am Himmel gesehen. »Zu meinem Garten gehören der Wald, der Park und die Terrasse von Meudon. Ich lade Sie ein, auf der Terrasse bei Vollmondschein Champagner zu trinken. . . . Henri, vergiß den Champagner nicht!«
Bertrand nannte das sofort eine grandiose Idee! . . . Er rief: »Die beste Pariser Gesellschaft würde uns um dieses Fest beneiden,« und Frau Cunin stimmte ihm bei. Variot erinnerte daran, daß ein Vollmond niemals allzulange dauert. Wir beschlossen, die Gelegenheit zu benützen und ihn gleich am nächsten Abend zu feiern.
Frau Cunin und »Mac Mahon«, die sich erstaunlicherweise auch auf Tafelschmuck verstand, hatten den Tisch mit Blumen belegt und Teller, Gläser und 127 Bestecke angenehm zurechtgerückt. Der Tisch stand unter den Bäumen, nahe am Holzgitter, das den Garten vom Park trennte. Als wir nach einer feierlichen Aufforderung Bertrands daran Platz nahmen, wurden die formvollen Gedecke ein wenig geschüttelt, und während Frau Cunin noch schalkhafte Scheltworte an uns richtete, störte Lo durch eine ungeschickte Bewegung, die das Tischtuch verzog, auch noch das Stäbchenspiel aus Tulpen, Rosen, Nelken, Margueriten. Darauf war nun Frau Cunin ganz besonders stolz gewesen. Lo zog das Tuch unter tausend Entschuldigungen sofort wieder zurecht und glättete es eifrig, aber sie vergaß die Architektur der Blumen wieder herzustellen. Frau Cunin zeigte Bertrand sehr flüchtig ein überlegenes Lächeln und tat im übrigen, als merkte sie das Versehen nicht. Bertrand antwortete mit einem diskreten Achselzucken, sie war vollauf befriedigt. Wenn das Gespräch stockte, wurde der »von unserem lieben Dichter« – wie Frau Cunin sagte – aus einem Faßreif und zartbelaubten Haselnußgerten 128 verfertigte Kronleuchter noch einmal bewundert. Er hing über dem Tisch in den Bäumen, und beim geringsten Windstoß, der auf seine zwanzig Kerzen blies, überfiel uns plötzlich die Finsternis wie lautlose Vögel. Es huschte zwischen unsern Köpfen und warf wilde Schatten über das Tischtuch, die Blumen regten sich wie von selbst. Das tat gut. Jeder spürte es. Wir blickten zum Kronleuchter empor, und jemand sagte: »Wahrhaftig ein schöner Kronleuchter.« . . .
Variot führte den Vorsitz am einen Ende des Tisches, am andern Ende beunruhigte ihn Cunin durch verschwiegene Huldigungen, die Lo mit derselben glücklichen Zurückhaltung entgegennahm. Sie saß zur Rechten des Abgeordneten und neben mir. Frau Cunin nahm die eheliche Aufmerksamkeit ihres einen Nachbarn nur in Anspruch, wenn der andre, Bertrand, seinen Dienst tat. Er regelte nämlich den Auftritt »Mac Mahons« und meldete die Gänge an; dazu mußte er dann in die Küche gehen. Sein Bestreben war, 129 möglichst unbemerkt vom Tisch wegzukommen, und er nahm auch erst wieder Platz, wenn die andern sich schon bedienten, im Augenblick, wo er seinen Heroldruf und seine Rolle vergessen glaubte. Die Anstrengung lohnte sich. Denn für ihn und seine Nachbarin hatten dieses heimliche Kommen und Gehen besondere Reize. Seine dicken Backen zitterten, wenn er wieder zu Frau Cunin auf die Bank schlüpfte, er wagte dann eine Weile nicht, sie anzusehen und warf freche, raubgierige Blicke um sich oder starrte Lo blöd unschuldig ins Gesicht. . . .
Lo, ich fühlte es wohl, hielt sich Cunin zugewandt. Eine ihrer ergreifendsten Schönheiten war, wie sie jemand zuhörte, wenn sie ihn leiden mochte. Dann war ihr Gesicht vor dem Erzähler wie in unsichtbare Liebkosungen gehoben, die braunen, durchsichtig feuchten Augen strahlten vor Klugheit. Der gestreckte Hals schimmerte bräunlich im Schatten, er war vollkommen. Das wie aus weichem Stoff hart und sicher geformte Kinn schien der Mittelpunkt des 130 herzerfüllenden Glanzes und der tiefen Beruhigung, die von Lo ausgingen. Ihre Aufmerksamkeit glich schon der Hingabe, aber sie hätte eher eine große Schwester sein können, als eine Geliebte, denn es war offenbar, daß sie nicht an Liebe dachte, und ihre ruhige Schönheit ließ den Gedanken an ihren Besitz auch im andern nicht aufkommen. Nur war sie so sehr Frau, daß ihre Freundschaft immer an Liebe grenzte. . . .
Ein Mann ist stolz, wenn seine Geliebte andern Vertrauen einflößt und begehrenswert erscheint, ohne in ihnen häßliche Gelüste und seine Eifersucht zu wecken. Lo war nicht kokett, oder sie strengte sich nicht an, zu gefallen. Wer ihr angenehm war, für den wollte sie schön sein. Aber nichts lag ihr ferner, als Versprechungen zu machen; sie gab oder gab nicht, sie versprach nie. Obwohl sie sich fast die ganze Zeit mit Cunin beschäftigte, blieb sie doch immer bei mir. Einmal schob sie die Hand neben die meine, das andre Mal lehnte sie lange ihr Knie an mich, 131 oder sie antwortete Cunin mit einer Stimme, deren Klang mich an sie erinnern sollte. . . . Sie fand hundert unmerkliche Liebkosungen, sie gab mir in jedem die Sicherheit, geliebt zu sein.
Cunin sprach jetzt anders von der Politik als in jener Nacht auf Montmartre; ich wußte nicht, sah er sie anders oder scheute er sich nicht mehr, von ihr wie von einer intimen Angelegenheit zu sprechen. Jedenfalls schien es, als ob ihm vieles eben erst, vor Lo, einfiele, so erfreut war er, so eifrig zeigte er ihr seine Zufriedenheit. . . . Die Politik? Sie war seine Leidenschaft, die große, die alle andern Passionen einschloß, oder nein: jede Leidenschaft mündete in die Politik, verwandelte sich in treibende Kraft, die die schwere Volksmaschine trieb, wurde allgemein in ihr und fast unpersönlich. . . .
»Oh, jetzt bin ich in den Ferien. . . . Ich denke nur an frische Luft, an lange Fahrten durch Wiesen und Wälder. . . . Es wird einem so kühl, wenn der Zug durch einen Wald fährt. . . . Ich möchte 132 ans Meer . . . nach England. . . . Die Überfahrt auf den braven kleinen Dampfern, die sich mit einer hartnäckigen Wildheit gegen Wellen werfen, die manchmal größer sind als sie, diese kurzen stürmischen Überfahrten sind herrlich. . . . Ich sehne mich nach einem Haus am Meer, wo man zwei Monate nichts tut, als mit dem Meer und den Gestirnen leben. . . .«
Seine Frau seufzte laut.
»Ach ja! . . . Mieten wir doch so ein Haus in der Bretagne. Voriges Jahr waren wir zwei Monate restlos glücklich in Villers sur mer, nicht wahr, Emile?«
Er antwortete nicht. Lo hatte ein ernstes, nachdenkliches Gesicht. Es entstand eine Pause, wie ein plötzliches Hindernis, über das niemand hinwegkonnte. Bertrand, der Clown, nahm es mit einem Satz:
»Frau Mathilde schwärmt!« rief er. »Prost, auf den Schwarm. Es ist Vollmond.«
Man trank. Dann befahl der Schauspieler:
»Fahren Sie fort, Cunin. Sie waren 133 noch nicht zu Ende,« und er gab seiner Nachbarin durch ein Zeichen zu verstehen, daß er gleich in die Küche verschwinden müsse. Sie nickte. »Ich geh mit.« Da erhob er sich mit strampelnder Gelenkigkeit, reichte ihr den Arm, die beiden machten uns eine tiefe Reverenz und stolzierten stattlich davon.
Los Hand legte sich auf den Arm ihres Freundes: »Erzählen sie von dem Haus am Meer. Wie lebt man da? Beginnen Sie. . . . Wann steht man morgens auf?«
Er tat ihr den Gefallen und schilderte umständlich einen Ferientag am Meer. Aber das war es nicht, worauf er vorher hinaus wollte. »Ich habe Ferien, sagte ich, ich fühle mich ganz in den Ferien, ich habe das Parlament und seine Insassen, meine Freunde, und fast sogar meine Wähler vergessen, was bedeutend schwerer ist, . . . ich lese kaum Zeitungen. Ich bin glücklich über mich, es geht mir sehr gut – und doch falle ich nicht aus dem Rahmen und sehe ich mich deutlich im Bild dieses konfusen, gärenden Lebens, dieser Menge, 134 das mein Leben ist. Einzelne Teile des Bildes sind tief in den Schatten gerückt und das ganze ein wenig verschwommen, aber ich fühle mich, weniger bewußt als sonst, fast willenlos, aber fühle mich trotzdem mit tausend Blutfäden an alle die geknüpft, durch die und für die ich da bin.
Was ich bin?
Ein Bürger von 1789.«
Jetzt fuhr Variot auf. Ja, leider war Cunin ein Bürger, ein staatserhaltender Bürger. . . .
Cunin unterbrach ihn. Jede Klasse war staatserhaltend, wenn sie einmal die Macht besaß. Die Anarchisten selbst würden sich, nach ihrer Einrichtung, wie die erbarmungslosesten Konservativen gegen einen revoltierenden Nachwuchs kehren.
»Die zuletzt kommen, haben immer recht,« erklärte Variot.
Ja, im Augenblick, wo die älteren ihre eigenen Rechte abgeben, oder wo sie ihnen genommen wurden.
Variot knirschte. »Ich hasse deine Art, immer und überall die Machtfrage zu 135 stellen. Es ist gemein, wenn man der Stärkere ist. Man muß den Schwächeren helfen.«
»Helfen, ja, aber nicht so sehr, daß sie einem über den Kopf wachsen.«
»Man hat euch auch geholfen. So ganz allein hättet ihr die Bastille nicht gestürmt.«
»Sicher nicht. Und vielleicht wird auch unser Geldschrank einmal gestürmt – mit unserer Hilfe. Wir werden solang nachgeben, bis man uns umwirft. Vorläufig verteidigen wir ihn.«
»Warum gebt ihr nicht lieber Anteilscheine aus, die gewissermaßen eine Versicherung gegen gewaltsamen Einbruch wären?«
»Wir geben sie aus, Variot. Viel zu viel! . . . weil wir nicht anders können.«
»Zyniker.«
»Nein, kein Zyniker. Nur einer, der im Gleichgewicht zu bleiben wünscht. Ich bin in meiner Klasse geboren, ich bleibe in ihr, bereit, jeden neuen Ankömmling aufzunehmen. Sie finden sich täglich ein. 136 Denn siehst du, was du den Geldschrank nennst, das ist kein Reservatrecht. Jeder, der gesund auf die Welt kommt, kann ihn sich anlegen. Wie viele von uns haben ihn sich selbst angelegt! Und warum sollten die andern nicht, als Preis eines unfreiwilligen Lebens, den Fleiß ihrer Väter ernten?«
»Andre erben nur Elend.«
»Elend, Variot, ist ein wenig übertrieben. Sagen wir Armut. Es ist nicht ihre Schuld; auch nicht die unsere. Im übrigen sind sie es, die beständig unsere Reihen verstärken und unsere Klasse mit der jungen Energie versehen, ohne die sie schnell zugrunde ginge. Es gibt in diesem Land keine Geburtsrechte mehr oder wenigstens nicht solche, die nicht in einem Menschenleben zu erobern wären. Ich sehe jedermann für meinesgleichen an und kenne nur Unterschiede der Intelligenz und des Geschmacks. Ja, Variot, meine Klasse steht jedem offen, ohne allen zu gehören, . . . wodurch das Außerordentliche in jeder Gestalt unmöglich würde. Deshalb halte 137 ich meine Klasse, die bürgerliche Gesellschaft, die heute in Frankreich herrscht, für vollkommen . . . hörst du? für denkbar vollkommen!«
»O Cunin, wie kannst du so sprechen? Sie ist fürchterlich, deine Gesellschaft! Abgründig verlogen und geschwollen.« . . .
»Solange die Welt steht, werden die Bäuche immer mehr Platz einnehmen als die Köpfe. Die unsern erkennen wenigstens die Köpfe an, Beweis: die Köpfe fühlen sich, mit Überlegenheit natürlich, jedenfalls siehst du: die Köpfe fühlen sich ganz wohl unter den Bäuchen. Vielleicht wohler als andre, revoltierte zwischen Fäusten, – von denen man nie weiß, wohin sie fallen.«
»Nein, Cunin, nein. Die Tiere sind besser als ihr. Geh in eine Arbeiterversammlung: der Nachwuchs ist schöner und gütiger und gescheiter.«
»Er ist jünger . . .«
»Jedenfalls verdient er, daß er euch zusammenschlägt.«
»Noch nicht. Wir sind noch zu solid. 138 Aber wenn es sein müßte, ließe ich mich niederschlagen, – ich ginge nicht über.«
Variot schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Ich auch nicht – zu euch.«
Lo gestand, daß sie sich nicht mehr zurechtfand. Soviel sie wisse, wollte doch Cunin seinem Freund Variot einen Wahlkreis verschaffen.
»Sobald ich einen finde,« versicherte Cunin. »Variot ist Rechtsanwalt, er hat Temperament, er spricht Gewitter. Er wird Erfolg haben – bis er sich eines Tages den Hals bricht oder aus Ekel Royalist wird, – wozu er vorausbestimmt scheint. Denn er sieht die Politik für ein Gebiet der Dichtkunst an, . . . für eine Gelegenheit, seine Gefühle in der Praxis auszuleben.«
»Verzeihung. Mit diesem verachteten Gefühl hat man Revolution gemacht.«
»Revolution? Ja. Aber weiter nichts. Die von ihnen profitierten waren keine Gefühlsmenschen.«
Darauf konnte Variot nur erwidern, daß auch die Zeit der Profiteure einmal vorbei sein werde. Er glaubte blind an 139 eine bessere Zukunft, weil er die Gegenwart erbärmlich fand, und Cunin liebte die selbe Gegenwart, weil er an eine bessere Zukunft nicht glauben konnte. Die menschliche Bewegung blieb immer der gleiche Vorgang: Knechtschaft, Befreiung, Besitz und Verfall. . . . Variot glaubte an ein irdisches Ziel dieser ewigen Anstrengung. . . .
Wie dann der Vollmond so recht deutlich am Himmel stand, mußten wir nach der Anleitung Bertrands zur Terrasse marschieren. Er stellte sich mit der Köchin an die Spitze des Festzugs. Die beiden trugen den Champagnerkorb und den Eiskübel, Variot und ich die Stühle, Cunin drückte einen kleinen Tisch an den Leib, und da er so nicht auf den Weg achten konnte, durfte seine Frau ihn führen. Sie hatte noch ein übriges tun wollen: sie hielt eine Vase mit hohen Lilien im Arm. Lo lief voraus, um den Ort aufzusuchen, wo der Tisch aufgestellt werden sollte.
Über der Seine trieben Nebelschwaden ein hartnäckig Spiel. Sie stiegen immer wieder langsam empor und blieben doch 140 an den Pappelspitzen hängen. Die einige Erfahrung erworben hatten, beschieden sich dann. Aber es kamen immer andre von unten herauf, die der hohe Mond lockte und die glaubten, bis zu ihm emporsteigen zu können. Einem einzigen dieser Schleier schien es gelungen zu sein zu entfliehn. . . . Hoch im blauen Raum neben dem Mond hing unbeweglich eine blasse runde Wolke.
Paris, am Horizont, glich einem Nadelkissen. Es war gespickt mit Nadeln in allen Größen, die Köpfe glitzerten. Eine große Hutnadel glänzte am höchsten, in der Gegend von Montmartre, das große Rad, das beleuchtet war, bildete, auf der andern Seite, eine vollkommen runde Brosche. »Man könnte es auf die flache Hand nehmen, dieses Paris,« sagte Lo. Die Nacht war so hell, der Mond so hoch. . . . Auf einem bewaldeten Hügel leuchtete ein weißes Haus wie ein Marmortempel, und tief im Tal, in »Valfleuri«, das Meudon vom gegenüberliegenden Hügel trennt, glühten dicht über den Boden 141 gespannte Silberdrähte: die Eisenbahnschienen.
Wir tranken schweigsam. Man behielt das Glas in der Hand. Lo hatte sich in meinen Arm zurückgelegt und starrte über sich in die milchige Bläue. Manchmal sprach Cunin, in langen Zwischenräumen, aber es war, als ob er eine Geschichte erzählte.
Ronsard hat Verse auf diese Terrasse gemacht. »De là tu pourras voir Paris, la grande ville.«
. . . Hier ist der erste Bourbon König geworden, und der letzte Dauphin starb hier.
. . . Da drüben brannte die Pompadour Feuerwerke ab. Sie wurden in Paris gesehen. Die Pamphletisten machten Witze, und die Pompadour brannte keine Feuerwerke mehr ab.
. . . Napoleon wollte hier eine Schule für Könige einrichten. Die Thronerben Europas sollten hier gemeinsam erzogen werden. . . . Der »Aiglon« hat hier gespielt. . . . Als Napoleon in die 142 Verbannung ging, stieg er hier aus dem Wagen und ging allein durch den Park und den Wald bis auf die Straße, die nach Fontainebleau führt, dort stieg er wieder in seinen Wagen. Von hier sah er damals zum letztenmal Paris.
Wir träumten von Frankreich. . . .
»Nicht wahr?« sagte Cunin, »hier fühlt man etwas von der ewigen Schönheit Frankreichs? . . . Wir sind heute das glücklichste Land; wir müssen es bleiben. Wir haben geerbt wie kein anderes Volk, und ich glaube, daß fast jeder Franzose sich der Kostbarkeit seines Erbes irgendwie bewußt ist. Die große Revolution hat es frei gemacht. . . . Was unsere Könige Schönes getan haben, besitzen wir, und vielleicht sind doch sie es, die uns gelehrt haben, wie man lebt.« . . .
Da sprang Variot auf die Balustrade und hob das Glas:
»Cunin, auf dein Wohl! Siehst du, ich, wenn die Schönheit vor meine Seele tritt, vergesse die Politik und allen Kampf. Von all dem sehe ich in dieser 143 wunderbaren Nacht nur dich, und du gefällst mir. Ich meine: ich könnte jetzt ruhig sterben, das heißt alles aufgeben, weil es vielleicht sehr gut, aber nicht endgültig war, . . . es verdampft in der hohen Nacht, es verliert sich zwischen den Sternen und schmilzt am so reinen Mond wie die Düfte dieser tausend Gärten, wie die Geräusche im Tal und der Gesang einer Nachtigall. Man fühlt ihn noch deutlich in etwas Großes, Schönes übergehen, wenn er schon verstummt ist. . . . Nichts bricht, nichts hat sein Ende, alles wird still und gibt sich tiefer hin, als es gesagt werden konnte. Du, Cunin, hast eine Stimme, die nicht versagt. Du bist eine musikalische Sirene, – aber eine Sirene! . . . die nicht weiß, wie gleichgültig einen die Schönheit gegen jede Art Handlung machen kann, . . . die im Gegenteil der Schönheit einen Lebensschrei, einen aufreizenden Kampfruf entreißt und sie an die Spitze eines begeisterten Haufens stellt. . . . Darum lieben wir dich, wir andern, die wir ziemlich untüchtig auf die Welt gekommen sind, . . . und Lo, 144 die hinter den plumpen Lilien dem Himmel ihr menschliches Gesicht zeigt, weiß, daß du von ihrer Rasse bist, und das kleine Tier träumt tiefe Erkenntnisse, an deren Richtigkeit sie niemals zweifeln wird, weil sie überhaupt nicht zweifelt.« . . .
Hinter einem Busch trat ein Mann hervor. . . . Variot sprang von der Balustrade herunter. »Der Wächter,« sagte er. Frau Cunin flüsterte entsetzt: »Er trägt ein Gewehr.« Aber Bertrand erhob sich und steckte die Hände in die Hosentaschen. So erwartete er den Mann mit der Jagdflinte, der mit langsamen Schritten herankam. Cunin füllte ein Glas mit Champagner und schob es neben Bertrand, er holte eine unangebrochene Flasche aus dem Korb hervor und stellte sie daneben. Der Schauspieler blinzelte ihm mit den Augen zu. Der Fremde blieb fünf Schritte vor Bertrand stehen und betrachtete uns kopfschüttelnd.
Bertrand ging ihm entgegen. . . . Er verbeugte sich: »Ich habe das Vergnügen, mit dem Herrn Wächter des Parks von 145 Meudon . . .? Wollen Sie bitte näher treten. . . .«
Der andre rührte sich nicht. »Wie sind Sie hereingekommen?« fragte er streng.
Nun wußte Bertrand wenigstens, worüber der Brave sich wunderte. Er erklärte ihm, daß die Villa dieses Herrn dort, eines berühmten Dramatikers, in einem Garten lag, der an den Park grenzte. »Aber so treten Sie doch näher,« bat er. »Und legen Sie bitte ab.« Er streckte die Hand aus, um dem Wächter das Gewehr abzunehmen. Aber das ging natürlich nicht. Jeder sah, daß der Wächter ein alter Krieger war, und daß er die Gewohnheit hatte, das Gewehr an der Schulter zu tragen wie andre mit ihrem Spazierstock umgehen. Er legte die Hand auf den Gewehrkolben und forderte uns auf, alle Späße zu unterlassen und sofort dorthin zu gehen, wo wir hergekommen seien. Bertrand kehrte ihm den Rücken zu und erklärte laut, der Herr müsse wohl aus dem Kaiserreich stammen. . . . Er schnellte herum und schrie den Wächter an:
146 »Sehen Sie denn nicht, daß wir Champagner trinken?«
Champagner oder Wasser, betonte der Wächter, – die Terrasse von Meudon sei keine Gastwirtschaft.
Bertrand verlor die Geduld. »Auf,« rief er uns zu. »Wenn der Herr nicht zu uns kommen will, so kommen wir zu ihm.« Wir umringten ihn. Und so wie wir jetzt dastanden, donnerte der Schauspieler, so blieben wir hier, und selbst wenn der Herr mit Kanonen schösse. . . . Der Herr selbst konnte tun, was ihm beliebte: mit uns Champagner trinken oder sich wieder ins Bett legen. Denn – Bertrand reckte sich und blickte seinem Feind in die Augen – denn wir hatten das Recht, hier zu sein. . . . Aha, da gab er sich zufrieden, der Herr Kapitän? Jawohl, wir hatten das Recht. Von wem? Der Herr Kapitän sollte selbst suchen, wer uns das Recht gegeben haben konnte. Er sollte sich einmal seine Gäste ansehn. Erinnerte er sich nicht, ihr Bild in den Zeitungen gesehn zu haben ? Beschäftigte er sich nicht 147 mit der Politik? Und der Kopf dort kam ihm nicht bekannt vor?
Cunin wandte sich erschrocken ab, und als Bertrand fortfuhr, schlenderte er, unbeteiligt, an die Balustrade. Daraus konnte der Herr Kapitän am besten schließen, daß der Abgeordnete ein bedeutender Mann sein mußte! »Und ich,« rief er aus, »und ich – glauben Sie, daß ein Vagabund mit dem Wächter des Parks von Meudon so spräche, wie ich mit Ihnen spreche? Wer ist Ihr Vorgesetzter? Also gehn Sie morgen zu ihm und erzählen Sie ihm, was heute nacht vorgefallen ist. Sagen Sie: so und so hat man zu mir gesprochen. Vergessen Sie nicht, den Champagner zu erwähnen, und daß der Herr an der Balustrade, als ich seine Eigenschaft verriet, peinlich berührt war. Ihr Chef wird lächelnd antworten . . . wie heißen Sie? . . . Herr Benoist, wird er antworten, es ist gut, ich danke Ihnen. Sie können gehen. . . . Auf Ihr Wohl, Herr Benoist.«
Der Wächter nahm das Glas. Er hatte 148 listige Augen und schmunzelte belustigt in seinen Bart. Als er getrunken hatte, fragte er: »Und von wem soll ich den Chef grüßen?« Bertrand duckte sich: »Pst.« Er legte den Finger an den Mund: »Pst.« Dann flüsterte er ihm ins Ohr: »Vom Oberregisseur Bertrand – und seinen Freunden.« Der andere nickte, und kameradschaftlich: »Dürfte ich nicht dem Herrn an der Balustrade die Hand drücken?«
»Pst!« machte der Schauspieler. »Ein andermal.« Er drückte dem Alten die Champagnerflasche in die Hand: »Gehen Sie. Denken Sie nach. Sie müssen ihn schon einmal gesehen haben,« und er nahm seinen Arm und führte ihn davon.
Er kam zurück, indem er sich im Takt mit beiden Händen den Bauch schlug. »Die Frau paßte am Fenster auf. Sie warf mir eine Kußhand zu, als sie die Flasche sah,« lachte er. »Ich tat, als ob ich fortginge, und schlich dann leise ans Fenster zurück. Sie sitzt im Nachtkamisol am Tisch, er hält den Arm um sie geschlungen und erzählt ihr Geschichten, 149 über denen sie den schönen Champagner wieder ausprustet. Sie ist ein heiteres Temperament, die Alte, es lebe die Liebe.«
. . . Alle gingen in den Wald, Lo, und wir beide verirrten uns, weil wir den andern davonliefen und sie vergaßen. Es war manchmal recht schauerlich im dunkeln Wald, und wir mußten uns fest aneinander drücken, um uns nicht zu fürchten. Ich weiß nicht mehr, was ich dir alles sagte. . . . Ich erinnere mich nur an deine Stimme, wie sie, ein wenig zitternd, sang: »Oh, wie du mich lieb hast!« . . . Wo der Mond durch die Baumwipfel schien, machten wir halt. Ich wollte dich sehen. Ich wußte nicht mehr genau, wie du aussahst. Alles prägte ich mir ein: wie die Augen zueinander standen, wie das Haar über die klaren Schläfen lief, ich nahm mit dichten vorsichtigen Küssen die Form deines Halses ab, nahm ihn in beide Hände, und wenn wir dann weitergingen, wußte ich im tiefsten Dunkel alles von dir. Sobald du mich aber küßtest, hatte ich wieder alles vergessen, und ich hob dich in meine 150 Arme, trug dich, eng an mich gedrückt, bis an eine Lichtung, dort kniete ich neben dir nieder, und sah, sah, daß du es warst: Lo – Lo, die ich ein halbes Leben lang nicht gekannt hatte, Lo, die ein eigenes, selbständiges Leben war, das ich niemals ganz in mich aufnehmen konnte, und die vielleicht morgen ein anderer in den Armen hielte, der unerhörte Glücksfall Lo, das Berauschende, in das ich mich wie in einen Abgrund stürzen konnte, und das mich glückschreiend empfing – und ich verstand, daß jemand eine Frau aus Liebe töten kann, wenn er am glücklichsten ist, aus Angst, daß sie für ihn erblaßte und erlöschte und eines Tages ein Mensch wäre wie jeder andre und vielleicht ein Feind. . . .
Schließlich fanden wir uns wieder auf der Terrasse ein. Sie hatten sich gelangweilt. Sie konnten es nicht verbergen. . . . Jetzt aber waren sie vergnügt, weil Lo unter ihnen stand und mit ihrem Lächeln Belohnungen austeilte. Den Schauspieler kränkte sie, weil er plötzlich Frau Cunin sitzen ließ und Lo neronisch den Hof 151 machte. . . . Er griff in den Himmel und bewarf sie mit Sternen wie mit Konfettis. »Süße Sklavin« nannte er sie und befahl seinen Leoparden, ihr die Füße zu lecken. Vorläufig versuchte er ihr die Schuhe auszuziehen. Sie stieß ihn zurück. »Angetrunkener Clown,« flüsterte sie. Er zog die fürchterliche Grimasse des Schmerzes, hinter der sich seine Eitelkeit verschanzte, wenn sie sich vor Wut krümmte und der ganze Kerl plötzlich den Halt verlor. . . . Cunin hatte den Kopf auf die Hand gestützt und sah Lo unverwandt an. Er scherzte mit ihr, er sagte laut und ernst, daß sie schön sei, und ihre Klugheit kleide sie wie . . . eine Reiherfeder im Haar einer schlanken dekolletierten Frau. Dann ruhten, eine Sekunde lang, ihre Blicke ineinander, Los Mund zuckte, aber das ruhige Lächeln fiel nicht von ihren Lippen. Es war das Siegel meines Besitzes, dieses Lächeln, so lange es nicht brach, war sie mein!
Eine halbe Stunde, hatten wir einander versprochen, eine halbe Stunde wollten wir bei den andern bleiben, aber nicht 152 länger. Lo vergaß es nicht, und ich war glücklich, daß sie mich bat, aufzubrechen als ich noch gar nicht an die Möglichkeit eines Aufbruchs dachte. Sie schien sich so wohl zu fühlen! Und nun kämpften sie um sie. Cunin versprach ihr die Bretagne und das Meer, wenn sie noch bliebe, er schenkte sie ihr, und Variot, der viel getrunken hatte und traurig war, weinte ehrliche Tränen, weil sie ihm den einzigen Trost ihrer Gegenwart nehmen wollte. Der Schauspieler trat vor sie hin und sagte demütig: »Lo, ich bin ein dummer Kerl. Aber ich habe Sie wirklich lieb. Ich will sie gewiß nicht wieder ärgern. . . . Bleiben Sie noch ein wenig.« Ja, selbst Frau Cunin erhob sich; sie umarmte Lo und sagte: »Mein liebes Kind«, und wenn Lo nicht bliebe, ginge sie auch.
Lo blieb fest. Sie sagte ein letztes fröhliches Gutenacht und lief einfach davon. Es war vielleicht nicht sehr würdig, wie ich ihr, nach einigen zweifellos zu eiligen Verbeugungen und zu flüchtigem Händedrücken, nachlief, aber ich war bei 153 ihr, und wir lachten wie die Kinder über den gelungenen Streich.
Lo stellte sich mitten in mein Arbeitszimmer und klatschte in die Hände: »Jetzt mach ich Tee, jetzt schwatzen wir was uns einfällt.« Aber wir hatten noch nicht die erste Tasse getrunken, da rief sie nach einem Stillschweigen, das mich mit schmerzhaften Ahnungen erfüllte.
»Ich möchte eigentlich noch einmal zu den andern auf die Terrasse.«
Ich fragte:
»Warum bist du dann fortgegangen?«
Sie gab mir recht. »Ja. . . . Aber sie waren alle so enttäuscht, daß wir sie schon verließen.«