René Schickele
Meine Freundin Lo
René Schickele

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Als eines Morgens die Torglocke ging und jemand, auf einem sehr tiefen und sehr hohen Ton »A–ha« sang, worauf die Glocke wieder in Bewegung gesetzt wurde, stürzte Lo auf die Veranda und rief:

»Da ist er.«

Wir blickten angestrengt auf den Gartenweg.

Nach einer Weile trat unter den Bäumen ein großer, starker Mann hervor und blieb bewundernd stehn. Er war hell gekleidet und trug einen Überzieher überm Arm. 46 Der Strohhut war in den Nacken geschoben. Seine weitgeöffneten Augen schienen irr von dem vielen Grün der Bäume, die Lippen schwollen an, so schmeckten sie die Luft, die Nasenflügel blähten sich in tiefen Atemzügen. Langsam kam dem Mann, indes er gläubig nickte, die Besinnung wieder. Er sah uns. Er entschuldigte sich mit einem Lächeln, das hilflos sein wollte, hob den Hut und verneigte sich. Strahlend kam er auf uns zu.

»In diesem Reiche, Fürst, begrüß ich dich.«

Er nahm Los Hand:

»Stell mich, bitte, deinem Herrn vor.«

Lo trug den Überzieher und den Strohhut ins Zimmer. Bertrand stand vor mir und betrachtete mich. Dann sagte er, als ob er mich trösten wollte: »Wir« . . . Er trat einen Schritt zurück und starrte mir in die Augen: »Wir werden uns nie verzanken.«

»Nein, nein,« antwortete ich.

Er legte mir die Hand auf die Schulter.

»Stehen Sie, bitte, auf . . .« »Denn«, 47 sang er, »ich sehe es wohl, Sie sind ein Mensch.« Er stieß mich liebevoll zurück: »Menschen sind seltener als kluge Tiere . . . Und jetzt wollen wir essen!«

Lo kam zurück . . . Bertrand rieb sich die Hände.

»Hübsch, die Kleine. Sehr hübsch.«

Er wandte sich vertraulich zu mir:

»Die Natur macht hungrig. Seltsam.«

Lo legte mir den Arm um die Schulter und zeigte auf Bertrand, der höflich die Hand ans Ohr hielt:

»Du darfst dich nicht wundern. Herr Bertrand ist nicht nur ein Original, aber er ist stolz darauf. Wenn er gegessen hat, wird er sich beruhigen. Er schläft nach dem Essen.«

Der andere nickte.

»Aber ja, aber ja, man wird sich kennen und schätzen lernen.«

Lo drückte sich beruhigend an mich.

»Er ist auch nur geistreich, solange er nicht gesessen hat . . . Übrigens, Bertrand, wie oft essen Sie am Tag?«

»Viermal, Schatz, nicht mehr als 48 viermal. Aber mein Ruf leidet darunter, daß man mich immer nur zwischen den Mahlzeiten sieht.

Lo ging in die Küche, und ich mußte mich mit dem Regisseur über das deutsche Theater unterhalten. Er hatte Kainz gesehen und fand, daß er sich zu sehr anstrenge, seine Größe durch schauspielerische Dialektik herabzusetzen. »Große Schauspieler«, flüsterte er, »können nicht Theater spielen.« Er beugte sich lächelnd vor: »Verstehen sie wohl! . . .« Er zeigte mit Fäusten auf sich: »Ich spiele Theater . . . Aber Antoine! Spielt Antoine Theater? Er brütet über Darstellungen, wie sie kein Mensch verwirklichen kann. Das tut ein großer Schauspieler!«

Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und starrte mit großen blauen Augen vor sich hin. Die dicken Backen glänzten. Die grauen Haare waren über einer starken Stirn in die Höhe gebürstet. Der Mann machte den Eindruck eines traurigen Boxers.

»Ich bin Variot begegnet,« sagte er 49 abwesend. »Er wohnt dahinten.« Sein Kopf deutete den Berg hinauf. »Ich habe ihm gesagt, daß er herkommen soll. Es ist dumm, wenn Menschen leiden . . . Er hat ein gutes Stück geschrieben. Eine Rolle für Lo.«

Und er sah plötzlich auf, wie um meinen argwöhnischen Blick nicht zu versäumen . . . Langsam hob er die Hände und sang leise:

»Ruhig mein Lieber, ich kenne Lo. Fürchten Sie nichts. Was vorbei ist, ist vorbei. Deshalb soll er herkommen. Vielleicht haßt er Sie jetzt. Wenn er Sie wiedersieht, wird er finden, daß Sie nicht hassenswert sind. Es ist gut, daß Dichter an den Frauen leiden, dafür sind sie da. Aber die Männer verdienen diese Aufmerksamkeit nicht.«

Lo rief zum Essen.

Bertrand sprang auf und zog, den Hochzeitsmarsch aus »Lohengrin« blasend, ins Eßzimmer. Vor seinem Platz brauste er den Gesang zu Ende, dann setzte er sich.

50 »Lustig, lustig,« rief er und griff zu den Hors d'œuvres. Lo verlangte Ruhe.

Ich sagte:

»Variot kommt heute mittag zu uns.«

Sie sah lächelnd zum Regisseur hinüber:

»Er kuppelt Freundschaften zwischen einstmaligen Liebenden. Er tut es um so lieber, als er dann nicht mehr eifersüchtig zu sein braucht. Eine Art Revanche in Güte, nicht wahr, Bertrand?«

Der Regisseur lachte über Sardinen, die er hurtig in Butter rollte.

»Ja, ich bin sehr pervers . . .!«

»Ein Ungeheuer sind Sie,« sagte Lo heftig, »das aus seiner Schwerfälligkeit Nutzen zieht, nachdem es vergeblich versucht hat, sie abzulegen.«

»Richtig«, nickte der andre und balanzierte die dicke Butterpackung der Sardinen auf ein Stück Brot.

Auf Los Stirn verschwand die senkrechte Falte über der Nasenwurzel, sie sah mich fragend an, und als ich bejahte, nahm sie gleich wieder ihr leise um den Mund fliegendes Lächeln an.

51 »Sie wuchern mit Ihrem Stück Plumpheit wie . . .«

Bertrand schluckte schnell den Bissen hinunter:

»Wie Frauen mit ihrer Jungfräulichkeit.«

Lo ließ sich ihren Vergleich nicht nehmen:

»Wie gewisse Schauspielerinnen mit ihrer mütterlichen Stimme.«

»Oh, prachtvoll!« Bertrand hob den Zeigefinger: »Ausgezeichnet gesagt.« Während er sich bückte, um eine neue Sardinenladung zu bereiten, warf er mir das Lob hin:

»Die Kleine ist gescheit, und« – er tippte Lo auf die Hand – »ihre Diskretion geht so weit, daß man es tagelang nicht merkt.«

Er gestattete uns, vom Tisch aufzustehn, bevor er selbst mit dem Essen zu Ende war. Nach einer Viertelstunde zeigte ihn mir Lo, wie er auf der Chaiselongue lag und mit geschlossenen Fäusten und offenem Munde schlief.

»Siehst du,« flüsterte sie, »er hält den 52 Schlaf mit den Fäusten fest. Er liebt nichts so sehr wie den Schlaf. Er liebt ihn leidenschaftlich.«

Der große Mann atmete in tiefen Schnarchtönen. Die Stirn strotzte von Willenskraft. Sein Gesicht war ernst und entschlossen. Die Chaiselongue unter den starken Fäusten schien von der Energie des Schlafenden zu zittern.

Lo zog mich leise auf die Veranda zurück.

»Er ist ein Schwächling, oder wenn du willst, ein guter Kerl, der sich überlegt hat, daß er nicht anders kann . . . Aber er verdirbt mit seiner Klugheit alle, die ihm nahe kommen. Er hat das Gleichgewicht nicht gefunden und strengt sich an, es die andern verlieren zu lassen.«

Sie machte ein angestrengtes Gesicht und wandte sich ab, weil sie sich böse fühlte. »Lo!« bat ich . . . Da kam sie gleich wieder, mit ihren in Klugheit getauchten Augen und dem zu roten Mund und sagte lächelnd, während sie, die Hüften 53 ein wenig vorgestreckt, sich mir wiegenden Ganges näherte:

»Es macht nichts, ich habe ihm viel zu verdanken. Ich würde heute auch mit ihm fertig.«

Sie sprach zu mir wie zu einem heimlichen Bundesgenossen . . .

Ich zog sie schnell an mich und küßte ihre Lippen, die ein wenig hart waren von der Schminke. Sie gab sich in einer schmelzenden Biegung ihres ganzen Wesens, rückhaltlos, und ohne zu zögern . . .

Bertrand hatte ausgeschlafen. Wir hörten ihn durchs Haus poltern und rufen. Ich wollte Los Arm von meiner Schulter heben und dem Regisseur entgegengehn. Aber Lo hielt mich fest, ihr Arm preßte sich enger um meinen Rücken.

»Laß ihn rufen,« sagte sie. »Er ist doch auf dem Land, und da gehört es zum Vergnügen, daß man im Haus herumgeht und laut ruft.«

Wir saßen zusammen in einem breiten Korbstuhl unter den Kastanienbäumen, in deren übereinandergetürmten Büschen weiße Blütenkerzen aufgesteckt waren. 54 Sprachen wir? Ich hätte mich der Worte nicht entsinnen können . . . Wir sahen in den Baum über uns, verfolgten das Schaukeln eines Zweigs, auf dem sich ein Vogel rührte . . . bis er aufflog und der Zweig nach einem kleinen heftigen Schrecken immer leiser schwang und dann in die Ruhe des großen grünen Baumes einging . . . Die Katzen waren vorüber geschlichen . . . Einige hatten Lo erkannt und sie eine Weile unbeweglich angesehn. Sie rief sie nicht. Sie nahm die Wange nicht von meiner Schläfe. Sie strich nur mit einer flüchtigen Bewegung über meinen Arm, legte die flache Hand ganz ruhig auf mein Knie, und die Katze war weitergegangen . . . So kamen und schwanden in der zärtlichen Stille die »andern« und waren wie Liebkosungen. Wir hatten in einer Verzauberung gelebt, es war Los Geheimnis, solche Verzauberungen zu bewirken. Es geschah nichts, aber das Geringste an ihr dämpfte alles ab, fügte es in eine leidenschaftliche Sanftmut ein, ihre stille Hingabe war so groß, daß ich in langen Minuten 55 selbst ihre Gegenwart vergaß. Ihre leisen Bewegungen fielen wie lautlose Ruderschläge, die uns durch die Stille weiter trieben. Sie verursachten immer eine kurze Unruhe, süß wie ein Schwindelgefühl, das vorübergeht.

Der Regisseur stampfte mit ungeduldigem Gesicht die Stufen hinter dem Haus herunter. Wir sahn seine Beine und den spähend vorgebeugten Kopf zugleich in den Bäumen auftauchen. Er entdeckte uns, und gleich verschwand sein Kopf in der Höhe, um erst nach einer Weile am Ende des großen, gemächlich unter den Ästen herabsteigenden Körpers in strahlender Hausbackenheit wiederzukehren.

Er setzte sich uns gegenüber und schlug die Beine übereinander.

»Gut geschlafen. Von den Schätzen der Erde geträumt, in die ihr euch unterdessen geteilt habt. Ihr wartet wohl auf Variot?«

Die Glocke läutete. »Da ist er,« sagte er mit dem Gesicht eines Menschen, der gewohnt ist, daß ihm die Natur gehorcht.

56 Ich wollte aufstehn. Lo drückte mich auf den Stuhl zurück und schloß auch den andern Arm um meinen Hals. Das tat sie ohne Hast und indem sie ihr Gesicht neben das meine herabbeugte und mir das lächelnde hinhielt.

Bertrand betrachtete uns und ließ Variot herankommen. Ohne den Kopf zu wenden, rief er dröhnend:

»Hierher, großer Dichter. Man erwartet Sie.«

Dabei blinzelte er uns schelmisch zu.

Als Variot vor uns stand, erhob sich Lo und stellte sich hinter mich. Ich begrüßte ihn. Er wollte mit bleichem, verwirrtem Gesicht auf Lo zugehn, aber er zog die ausgestreckte Hand zurück und gab sie mir.

»Mein Lieber, ich freue mich, daß du uns aufsuchst,« sagte Lo, die meinen Arm nahm. »Seit wann wohnst du hier?«

Variot blickte ihr starr in die Augen, er stand mit schlaffen Armen und ließ den schwarzen Filzhut von einer Hand in die andre wandern. Plötzlich schlug er 57 die fiebrigen Augen nieder und stammelte blöde lächelnd:

»Einen Augenblick, bitte, ich muß mich daran gewöhnen.«

Ich fühlte Los Arm zittern. Bertrand hatte sich abgewandt und senkte die Hände langsam in die Hosentaschen. Dann schien er mit zurückgeworfenem Kopf angestrengt zu lauschen. Die Intelligenz seines Rückens war außerordentlich. Vielleicht hatte der Mann seinem Rücken durch die Gewohnheit, die Welt von hinten zu betrachten, die Empfindlichkeit einer Membrane verliehn. Er stand da wie ein Apparat zur präzisierten Aufnahme von Gesprächen . . . Wahrscheinlich war dieser Rücken mit dem Gesichtssinn ausgestattet . . . Er hörte und sah mit dem Maximum der Aufmerksamkeit. Variots Blicke glitten über ihn, sie betasteten das Ungeheuer mit nervösen Griffen.

»Schade,« äußerte Bertrands Bariton. Da stieß ihn Variot auch schon, daß er einen Schritt vorwärtstaumelte. Das Kunstwerk war zerstört. Bertrand ging 58 mit ausgestreckten Armen auf Variot zu. Er sang.

»Lieber! Lieber! Schade,« sagte ich. »Aber für andere eine Ablenkung von schmerzhaften Dingen zu sein, ist vielleicht besser als das egoistischere Vergnügen, den Schmerz eines Dichters in den Gliedern zu fühlen.«

Variot schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Haarbüschel tanzten. Er kam sich lächerlich vor und war bereit, sich mit dem großen Kerl zu prügeln. Bertrands Arme senkten sich auf seine Schultern:

»Und vergessen Sie nicht, daß ich ein Stück von Ihnen aufführen werde, ein ausgezeichnetes Stück, ein Stück, das fast ein Meisterwerk ist! . . . Ich bin also kein Untier, ich bin ein Künstler wie Sie, und was bedeutet der Ärger über einen Menschen neben dem Glanz einer Première, der das Morgenrot eines Ruhmes sein kann.«

Das Wort »Ruhm« kam aus Bertrands gerundetem Mund wie etwas Weiches, Langes und blieb eine Weile melodisch zitternd 59 darin stecken. Dann stob es in einer Wolke Parfüm auseinander. Es durchdrang den ganzen Garten.

»Variot,« sagte Lo. »Hör zu: Ich geh jetzt dort in die Küche und bereite Tee. Du bekommst Kognak hinein! . . . Unterdessen machst du mit den Herren einen Rundgang durch den Garten. Nachher sprechen wir von deinem Stück.«

Variot nickte lachend. Er sah mich mit hellen Augen an.

»Also,« begann Bertrand und setzte sich mit Variots Arm in Bewegung. »Also,« fiel ich ein, »wie ist das mit deinem Stück. und seit wann wohnst du hier draußen?«

Bertrand tätschelte Variots Arm. »Ich glaube, es ist günstiger für Ihr Stück, wenn Sie die zweite Frage zuerst beantworten. Aber da ich die Antwort schon kenne, geh ich zu Lo.« Er schob mir Variot zu und entfernte sich mit komischen Sprüngen, wie ein Kind, das Kavallerist spielt. Nach einigen Sprüngen stockte er und steckte die Hände in die Hosentasche. Er benutzte diese Spiele offenbar nur, um 60 aufzutreten und als Abgang. Wenn er die Hände in die Hosentaschen steckte, so bedeutete das, daß er sich als hinter die Kulissen und ins Privatleben zurückgetreten betrachtete.

»Weißt du,« sagte Variot sofort. »Ich bin dir schrecklich böse gewesen. Ich wußte wohl, daß du mir Lo nicht genommen hattest, es hat sie nie einer genommen, aber wenn du nicht dagewesen wärst, so –« Er unterbrach sich und sah mich wehmütig lächelnd an: »So wäre es ein anderer gewesen. Der andere war fällig. Er war nicht zu vermeiden. Ich fühlte ihn kommen. Er stand vor der Tür. Gott, als es dann anklopfte, hätte ich sagen sollen: lieber du als ein anderer! Meine Eifersucht war zum großen Teil Empörung, weil du nichts zu merken schienst . . . Sag einmal . . .«

»Nein,« versicherte ich. »Es ist vorher nichts geschehn, wir hatten einander nicht berührt, bevor – die Tür aufging und ich hereintrat.«

Variot wiegte bedenklich den Kopf.

»Weißt du, ich kann das schwer glauben, 61 weil ich, als die Reihe an mir war, gewaltig geklopft habe – ohne übrigens den Gang der Ereignisse im geringsten zu beschleunigen. Immerhin: ich klopfte. Und ich nähme es dir sehr übel, wenn du dasselbe getan hättest.«

»Natürlich«, sagte ich, und mit Pathos: »Aber es hat keine Überlegung, keine Vorbereitung gegeben. Nicht Mord, nur Totschlag.«

Der Regisseur kam angestürzt. »Extrablatt,« rief er, »Extrablatt!« Er leckte den Daumen und fuhr mit dem Arm durch die Luft, als ob er Zeitungen austeile. Bei uns angelangt, flüsterte er:

»Die Art, wie Lo ihre Liebhaber wechselt, sollte diese mit ihr und alle untereinander aussöhnen.

Wir wiesen ihn ab. Wir besprächen ernsthafte Angelegenheiten, denen er fern stehe. Wir vertrügen keinen Geist.

»Bäh,« machte er. »Fernsteht? Seid Ihr sicher?« Verbeugung: »Pardon! Ihr könnt es sein!«

Er war wieder Kavallerist und galoppierte wiehernd davon.

62 Variot zwirbelte an seinem Spitzbart.

»Seltsamer Kerl, was? Ein Zyniker möchte man sagen. Und ich erkläre dir, er ist der beste Mensch, den ich kenne.«

Er schwärmte. Wessen Talent er anerkannte, dem schenkte er seine Freundschaft auf Lebenszeiten, dieser Bertrand. Solcher Menschen gab es nicht viele heutzutage, wo die Kunst nur noch als Luxus behandelt und als Handel betrieben wird. Man las ja manchmal in Biographien, daß junge, unbekannte Talente einem Meister Proben ihres Könnens einsandten und vom Meister postwendend aufgefordert wurden, den Koffer zu packen und unverzüglich in eigener Person zu erscheinen. »Ich bin Ihr Freund. Kommen Sie wie zu einem Freund. Mensch und Künstler sind eins.« Das gab es nicht mehr. Oder nur in seltenen Ausnahmen, für die man ein besonderes Pantheon bauen sollte. »Den Freunden der großen Männer.« Zu großen Männern gehören große Freunde. Zu kleineren erst recht, weil der Freund da manchmal bedeutender ist als der große 63 Mann selbst. Bertrand war sein Freund. Wenn er, Variot, bekannt wird und nicht mehr zu hungern braucht, so ist das einzig das Verdienst Bertrands.

»Hungerst du?«

Er hungerte.

»Freiwillig, aber ich hungere.«

Ob er nicht mehr bei seinem Advokaten arbeite?

Er arbeite nicht mehr für andere. Er hatte seine eigene Kundschaft.

Seine Hand fuhr in die Luft:

»Früher bildete ich mir ein, daß ein großer Prozeß mich bekannt machen könnte, worauf die Theater sich um meine Stücke gerissen hätten. Unsinn. Das Stück wird die Kunden bringen. Die Honorare werden mit der Aufführungsziffer steigen. Ich hatte den falschen Weg eingeschlagen . . . Außerdem bekam ich keinen Prozeß. Jetzt wird es anders. Um auf jeden Fall bereit zu sein, habe ich mich selbständig gemacht. Du begreifst.«

Ich bewies es ihm, indem ich sagte:

»Und dann kommt die Politik.«

64 Die blasse knochige Hand verbiß sich in den schwarzen Bart. Er nickte:

»Dann kommt die Politik.«

Wir schritten schweigend auf und ab . . .

Lo stellte das Tablett mit dem Tee-Service auf den Tisch. Bertrand spielte den zerstreuten Kellner. Er trug ein Tischtuch auf dem Arm und starrte mit offenem Mund in den Kastanienbaum. Lo zerrte an dem Tischtuch, er merkte es nicht. Sie nahm das Tablett vom Tisch und befahl ihm zu decken. Er rollte die Augen. Plötzlich verbeugte er sich bis zur Erde und stürzte sich gebückt, das ausgebreitete Tischtuch in den Händen, über den Tisch. Er erhob sich: das Tuch blieb glattgestrichen liegen. Schnell riß er Lo das Tablett aus den Händen. Er hob es hoch, stolperte und fiel mit dem Geschirr auf den Tisch. Er ruderte mit den Armen, schlug den Kopf auf die Platte, daß die Tassen sprangen, schnellte mit einer Verbeugung zu Lo herum. Hoch aufgerichtet verkündete er:

»Madame ist bedient.«

65 »So,« sagte Lo. »Jetzt legen Sie sich bitte unter den Tisch und knurren Sie, wenn jemand Sie anstößt.«

Der Regisseur schlürfte schon seinen Tee.

Variot erzählte:

»Lo, du mußt mein Stück lesen. Die Hauptrolle ist für dich geschrieben. Es könnte sie keine andere spielen. Es darf sie keine andere spielen.«

Er hüpfte vor Freude auf seinem Stuhl.

»Gott, wie bin ich froh, daß das Stück aufgeführt wird! Sagen Sie, Bertrand, ist das eine Rolle für Lo?! Hör nur, Lo! Nun, Bertrand, sprechen Sie!«

Der Regisseur spielte die bezeichnendsten Episoden der Hauptrolle.

»Einmal,« rief er begeistert, »im zweiten Akt brauchst du nichts anzuziehen. Das heißt, du brauchst nur soviel anziehen, wie du willst. Du liegst im Bett, mit deinem Geliebten. Variot äußert seine Verwunderung darüber, daß du die Augen aufschlägst und gleich wach bist. Der arme Kerl kann sich den Schlaf nicht aus den Augen 66 reiben. ›Ein herrliches Wetter,‹ sagst du. Die Sonne fällt durch die Gardinen. ›Ich erfahre immer schon, was in Paris für Wetter ist,‹ antwortet Variot, ›wenn ich noch vom Tibet träume. Ich fühle es schon dicht neben mir.‹ Ihr liegt natürlich nur im Bett, damit du, Lo, dann Gelegenheit hast, dich anzuziehen. Wie Variot sich anzieht, ist natürlich weniger interessant. Deshalb bleibt er liegen und empfängt, nachdem du fortgegangen bist, den Besuch deines andern Liebhabers. Du hast nämlich zwei Liebhaber. Das heißt, den nächsten Akt sind es bereits drei, und das Stück schließt mit der Aussieht, daß die im letzten Akt erreichte Zahl von fünf Geliebten dir nicht lange genügen wird. Du wächst ins Uferlose. Wieso dir das Vergnügen macht, versteht kein Mensch. Mit Ausnahme Variots, der sich den zweiten Akt reserviert hat, um es zu verschweigen. Immerhin behält man den Eindruck, daß er der einzige war, der dich hätte verstehen können . . . ›Die Wüste‹ heißt das Stück.«

67 »Ah,« sagte ich, »dein glühend Reich dehnt sich von Ost nach West . . .«

Variot lächelte beglückt.

»Ja, das Drama ist aus dieser Anregung entstanden.«

»Deine afrikanische Abwesenheit!« erklärte ich Lo. Sie lachte Variot an, dessen Augen sie verzehrten. Ich sah seine Blicke um ihr schönes kaltes Gesicht flackern . . . Los Augen waren ganz hell. Sie saß vor dem zitternden Mann, als sei nicht sie die Frau, der seine Unruhe galt, sondern eine unsichtbare Freundin neben ihr, mit der sie manchmal nachdenkliche Blicke tauschte.

Aber die Rolle gefiel ihr nicht. Es sei ja, meinte sie, für einen Dichter sehr hübsch, eine Frau festzuhalten, solang es ihm paßte, und sie so zu gestalten, wie er sie in Wirklichkeit hätte haben wollen; gegen solche romantische Bequemlichkeiten habe sie nichts einzuwenden, wenn der Kunstgriff auch letzten Endes den Herrgott überflüssig machte, – aber sie wollte nicht im Bett liegen, um dann dem 68 verehrlichen Publikum in die Operngläser hinein ihre Körperformen deutlich zu machen. Diese Ankleidegymnastik lehne sie ab. Das sei die Schauspielkunst für Tänzerinnen und akrobatische Damen, die nur auf einen Sprung vom Boulevard auf die Bühne kommen . . . Sie sprach streng und nicht ohne Hohn.

Bertrand beruhigte sie mit einer Handbewegung, die alle Zweifel unter dem Gewicht seiner gediegenen Sachkenntnis erdrückte:

»Ruhig, Kind. Die Rolle ist gut. Das Stück ist ein Schlager, mit Bett oder ohne Bett. Im Stück bist du bereits aufgestanden. Ich dachte nur, daß man das Publikum unmöglich so lange warten lassen kann, bis du mit der Toilette fertig bist. Und, abgesehn davon: sag, mein Kind, kennst du Phryne? Hat Phryne vielleicht einen schlechten Ruf? Nein. Man nennt sie im selben Atemzug mit der Lucretia, der ebenfalls nicht sehr bekleideten Frau, die sich in allen Museen einen Dolch in den Busen stößt. Dabei genießt Phryne noch 69 den Vorzug, daß man weiß, warum sie berühmt ist, wogegen man Lucretias Großtat erst im Lexikon nachschlagen muß. Ich rate dir, dich ins Bett zu legen. Wenn du nicht willst, so garantiere ich dir nicht, daß du die Rolle bekommst. Der Direktor hätte sie dir sonst sicher gegeben, weil du, in der betreffenden Szene, geradezu eine Entdeckung für unser Publikum gewesen wärst. Und wozu glaubst du wohl, daß die Fremden ins Theater gehn?«

Lo wandte sich zu Variot.

»Ich spiele die Rolle nicht! Die Rolle ist sehr lustig, aber ich spiele sie nicht.«

Variot sah Bertrand untertänig an und murmelte:

»Ich meine auch! Es ist doch ein literarisches Stück. Sie haben es selbst gesagt.«

Der Regisseur machte uns allen dreien eine Verbeugung, die bedeutete: »Bitte, so spielt ihr das Stück allein.« Variot wagte nicht mehr aufzublicken. Er rieb den Saum des Tischtuchs zwischen Daumen und Zeigefinger und stach sich 70 fortwährend mit der Bartspitze in die Brust. Ich, ich dachte: »ein beruflicher Zwischenfall,« und freute mich, daß Lo aufmerksam kleine Schlucke Tee trank und nicht im geringsten erschüttert schien.

»Ihr werdet mir die Rolle geben,« sagte sie endlich, »weil ich eine ziemlich hohe Gage, aber keine Spielgelder habe. Es ist noch der Kontrakt, den du mir gemacht hast.«

Sie wollte lächeln. Aber vor Bertrands bösem Blick schnellte eine senkrechte Falte über die Nasenwurzel, dunkelten plötzlich die Augen und warfen die Lippen sich hochmütig auf.

»Ja, mein Lieber, dein Kontrakt, wie ich deine Entdeckung war. Ich bin dir sehr dankbar. Aber schuldig, Bertrand, bin ich dir nichts. Denke nach . . . Laß den Direktor weiterhin glauben, daß ich dein Geschöpf bin, da es dir Vorteile verschafft. Aber vergiß nicht, daß ich es schon lange nicht mehr bin und es nur so lange war, wie es jede Frau für jeden Mann gewesen wäre und . . .,« sie senkte 71 ihr helles festes Gesicht in seinen starren Blick: »werde dir endlich ganz bewußt, daß meine Freundschaft für dich selbst in den Augenblicken, wo dich meine Geduld erstaunen mag, nur Dankbarkeit ist, nichts als Dankbarkeit. Du kannst klüger sein als ich, aber ich bin glücklicher und deshalb stärker. Ich bin sogar mehr glücklich als ehrgeizig. Dagegen kommst du nicht an!«

Bertrands Gesicht hatte sich zu einer eisernen Grimasse verzogen. Er erinnerte an einen Greis, dem ein Augenblick furchtbaren und ohnmächtigen Hasses im Gesicht stehen blieb, und der seitdem mit einer Maske herumgeht, die seine armen zitterigen Augen Lüge strafen. Als Lo geendet hatte, schloß er die Augen und öffnete sie wieder, das tat er einige Mal und immer mit einer großen Anstrengung, als wollte er mit dieser Bewegung seine Kräfte zusammenhalten. Seine Augen wurden trüb, sie füllten sich mit Tränen. Zugleich entspannte sich das Gesicht. Er ließ den Kopf hängen und sah uns von unten her 72 unsicher an. Variot und ich erhoben uns. . . . »Komm,« sagte Lo, die seine Hand nahm, »komm,« sagte sie sanft »seien wir wieder gute Kameraden!«

»Mu . . . Mu . . .« Er konnte nicht sprechen. Dann hörten wir ihn klagen: »Mußtest du mir das auch noch vor andern antun?«


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