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Gegen fünf Uhr in der Früh waren Lo und ich auf dem Weg zu den Hallen. Lo hatte sich bei der Arbeit aufgeregt und konnte nun erst recht nicht schlafen.
Alle zweihundert Meter begegneten wir einem einzelnen Vertreter der Pariser Straßenreinigung, der sein Scheuerwerkzeug im Arm hielt und sich eine Zigarette drehte. Die Seine erinnerte an einen Styx, der Sonnenaufgang im Nebel konnte ein Feld von Asphodelen sein, die Begegnungen mit grauen Menschen waren geisterhaft, aber Notre-Dame leuchtete schon.
»Lo, gefällt dir Notre-Dame?«
Sie deklamierte:
»Ich hab Unsre Frau von Paris im Morgengrauen frösteln gesehn, ihre Augen glühten vor Kälte.«
Verse von Variot.
Wir schlenderten an den Hallen 14 vorbei. Hunderte von Körben mit Erdbeeren standen im Viereck, wie ein Regiment der alten Garde, daneben waren Pyramiden von Kohlköpfen und roten Rüben aufgetürmt oder wankten auf zweirädrigen Karren. Allerhand Rindvieh sah blutig aus grauem Segeltuch hervor. Weiche Flaumhügel von Gänsen, Enten und mannigfachen Hühnern schlossen ein Schlachtfeld von vierfüssigem Wild ein, und drinnen in den Hallen stockte einem der Atem vor dem Geruch von Fisch und faulem Gemüse. Diese Hallen sind wüst, imponierend und langweilig wie ein Roman von Zola.
»Lo, gefallen dir die Hallen?«
»Man muß sie von Zeit zu Zeit wiedersehn. Da wird einem erst klar, daß das Leben gar nicht so leicht ist. Wenn ich das hätte erfinden sollen –!«
Und nach einer Weile fügte sie hinzu:
»Der Staat ist eine großartige Idee!«
Sie war sehr müde.
Auf dem Heimweg begann sie an meinem Arm einzuschlafen. Mitten aus 15 einer Lache war sie in Müdigkeit gesunken. Sie erwachte kaum, als wir uns vor meiner Tür trennten.
Ich dagegen setzte mich an meinen Schreibtisch, um zu arbeiten.
Es klopfte an der Tür. Sofort stand ich auf, warf die Bettdecke zurück und entkleidete mich hastig. Der Morgen war verloren. So wollte ich wenigstens schlafen.
»Du gestattest doch, daß ich bei dir eine Zigarette rauche?« fragte Variot.
Er wanderte lächelnden Gesichtes zwischen Fenster und Tür . . . Als ich mich aufseufzend in mein Bett gesenkt hatte, setzte er sich neben mich, und jetzt erst merkte ich, daß sein Lächeln das eines Weltmannes war.
»Du meinst . . .?« sagte ich.
Er beschwichtigte mich.
»Gar nichts.«
Ich bestand darauf:
»Aber du meinst ja.«
Pause. Dann, indem er sich vom Bettrand erhob:
16 »Ich weiß.«
. . . »Dummkopf!«
»Bitte.« Er zuckte mit der Achsel. »Sie ist drei Monate mit mir zusammen gewesen. Das geht über ihr Konzentrationsvermögen. Sie ist nicht gern einsam. Und da du nächste Woche aufs Land reist, ist das Problem: wie das nun weitergehn sollte, aufs angenehmste gelöst. Du nimmst sie mit.«
Ich dachte, es gelte nur, einen Irrtum klarzustellen.
»Lo ist keineswegs drei Monate mit dir zusammen. Du vergißt die vier oder fünf Wochen ihrer afrikanischen Abwesenheit. Da sie niemals weniger als drei Monate treu ist, kannst du noch einen ganzen Monat ruhig sein. Dann bliebe noch zu untersuchen, ob die drei Monate nicht erst von ihrer Rückkehr aus Afrika zu rechnen wären.«
Variot wurde ungeduldig, und da er ein Psychologe ist, unternahm er gleich einen Frontangriff auf meinen Charakter, dem ich durch Verhöhnung seiner besten 17 Eigenschaften begegnete. Ganz unvermittelt schrie er:
»So, eifersüchtig bist du auch noch!«
Und er tobte, als er hinzusetzte:
»Eifersüchtig auf Vergangenes. Und du, dessen Heißhunger nach Infamien eine Gemeinheit nicht sättigen kann, fühlst dich natürlich überlegen, weil du mir Lo abspenstig gemacht hast, und mordest mich mit dieser Überlegenheit, die bei einem anständigen Menschen in lauter Scham zerflösse.«
Wir bewahrten eine gewisse Höflichkeit: jeder ließ den andern ausschreien, bevor er selbst, einen Ton höher als der andere geschlossen hatte, einsetzte. Dann schrie er seinen Spruch herunter und mäßigte gegen Ende die Stimme, damit der andre nicht gezwungen war, ihn zu überbrüllen, wodurch die Rhapsodie den Charakter eines gleichmäßig gewellten Hochplateaus annahm. Die Sorge, daß die Zusammenstöße auf einem für beide Teile gleich günstigen Terrain erfolgten, entsprach einer chevaleresken Grobheit, auf 18 die wir uns bei Beginn unserer Freundschaft ein für allemal geeinigt hatten.
Aber der Psychologe ist ein Fanatiker, den nicht einmal die Todesgefahr vor der Aussprache einer Erkenntnis zurückhielte. In einem Dorf meiner Heimat bewahrt man das Andenken einer Märtyrerin. »Verlauster Kerl« hatte sie ihrem Gatten gesagt. Dafür bekam sie Prügel. Sie schrie. Sie schrie immer lauter, so daß der Mann sie schließlich aufpackte, an den Kanal trug und ins Wasser warf. Sie ertrank. Aber ihre Hände streckten sich noch einigemal aus dem Wasser, und die Daumennägel, die sich fassungslos aneinanderrieben, stammelten: »Verlauster Kerl.« So stirbt ein Psychologe.
Und Variot behauptete, daß ich ein Sadist sei. Ich griff nach der Uhr auf dem Nachttisch, um ihn damit zu töten . . . In diesem Augenblick waren wir an den Grenzen unserer menschlichen Kräfte angelangt. Die Überreizung war so groß, daß nichts Irdisches uns hätte beruhigen können. Dies ist der Zustand, wo der 19 Mensch ins »Jenseits« entrückt wird. Die Gläubigen fallen in Ekstase, andere . . .
Durch das offene Fenster brauste Glut und wirbelte durchs Zimmer. Wir hatten den Eindruck, als ob Millionen rote Flaumfedern durch einen höllischen Atem durcheinandergewirbelt würden. Dazwischen hörte man ein Ächzen wie von jemand, der sich übermäßig anstrengt. Es roch nach Schweiß.
Ich war aus dem Bett gesprungen und versuchte nachzudenken. Variot stand mit offenem Mund und entsetzten Augen. Wir waren geblendet und sahen nichts als kreisende Glut. Aber allmählich erkannten wir ein großes rotes Federvieh, das hastig surrend an den Wänden entlang flog. An seinem Steiß zischte eine bengalische Flamme . . . Das Surren wurde leiser und leiser, vom Lichtwunder blieb nichts übrig, als ein schwarzer Draht, der würdelos aus den Schwanzfedern hervorsah. Die Flügel schlugen mit geringer Kraft, ja, der eine blieb zwischen dem Kleiderschrank und der Wand hängen, und 20 als es in dem Vieh noch einmal wie von Leben zuckte, löste sich der eingeklemmte Flügel und der ganze Schrecken platschte vor Variots Füße. Schnell beugten wir uns darüber und besahen ihn . . . Es stellte sich heraus, daß der jenseitige Geier aus gutem Blech und billigen Federn gemacht war. Aber seltsam . . . Vorn auf der Brust trug er ein sauberes Messingschildchen mit einem Ring, daran stand »Bitte öffnen!«
Ich gehorchte. Da fiel dem Raubvogel ein Paket viereckiger Zettel aus der Brust, einer so groß wie der andre, und jeder sauber mit Versen beschrieben. Ich wandte mich erstaunt an Variot:
»Ist das nicht deine Handschrift?«
Er trat ans Fenster und sah lange über den Luxembourggarten. Dann sagte er, leise mit dem Kopf nickend:
»Mein Herz . . .«
Ich hob den Vogel auf und deutete damit auf Variot, als ob ich fragen wollte: »Das da?«
Er hob den Kopf. Jetzt sah er bis zum Eiffelturm.
21 »Es war ein glühender Vogel. Was bleibt? Eine Maschine, aus der druckfertige Gedichte fallen.«
Der arme Freund ging langsam aus dem Zimmer. Ich folgte ihm. Er führte mich zwei Treppen hinauf unters Dach und vor eine Mansardentür, die er mit einem kleinen gezackten Schlüssel, wie man sie für Geldschränke verwendet, lautlos öffnete. Die Kammer war weiß getüncht, sehr sauber und leer. Aber im Rahmen des kleinen Fensters, das weit aufstand, zeichnete sich vom blauen Himmel eine große, vollkommen runde Schlinge ab. »Um Gottes willen«, rief ich, und ich kämpfte mit ihm, denn er griff und strebte mit dem ganzen Körper nach der Schlinge, und obwohl er mich furchtbar an der Nase zerrte, brachte ich ihn aus der Kammer hinaus und die Treppen hinunter und unter beständigen Stoßen bis zur Seine. Ich wollte mit ihm auf die großen Boulevards gehen. Er sollte sich zerstreuen.
Der Abendhimmel über der Seine, glühende Wüste zwischen gelben und 22 milchweißen und grünen Wiesen, war so schön, daß wir mitten auf der Brücke in Bewunderung stehen blieben. Der Justizpalast am Ufer stand in starken Umrissen schwarz wie eine einzige Schattenmasse zwischen dem bunten trübspiegelnden Wasser und dem ausgebreiteten Himmel.
Ich entdeckte eine Überzeugung in mir . . .
»Das tröstet doch! Über alles! Sag selbst . . .«
Kaum hatte ich ausgesprochen, da fiel ich und zappelte zwischen grünem, perlendem Wasser, das fortwährend weiße Blasen in die Höhe trieb, ich hing in einer sausenden Wassersäule, die grün und weiß im dunkleren Wasser stand und sich wie eine jener Schrauben drehte, deren Windungen in die Höhe zu klettern scheinen, obwohl sie in Wirklichkeit immer die selbe wagerechte Bewegung vollführen. Ich schluckte Wasser. Viel Wasser.
Nun? . . .
Mein Kopfkissen war naß, die Haare waren naß, mein Hände griffen in lauter Nässe, ich richtete mich auf und sah, wie Variot den Wasserkrug auf die Toilette stellte.
23 »Ah! Ah!« höhnte er und kam mit dem Lächeln seiner sieghaftesten Tage auf mich zu. »Es ist mir also doch gelungen, dich zu wecken.«
Er blieb vor mir stehn. »Gut. Das war der letzte Freundschaftsdienst, den ich dir geleistet habe.« Er ging zur Tür. »Du wirst bei Lo verlernen, im wichtigsten Augenblick einer Auseinandersetzung einzuschlafen.« Er schlug die Tür hinter sich zu.
Aus dem Garten des Luxembourg kamen Klänge von gedämpftem Gold, die langen Rufe der Rheintöchter, und dann sang es von Freyas goldenen Äpfeln, und der Regenbogen spannte sich zu dem feierlich tönenden Walhall. Ich lehnte mich zurück. Ich dachte an den obern Rhein, der zwischen den spröden, gewaltigen Pappeln in seiner Ebene strömt, und den wir an Sommernachmittagen durchschwammen. Wir mußten immerzu gegen den Strom schwimmen und brauchten einen Kilometer, um hinüberzukommen . . .
Und es ist nicht zu sagen, wie gewaltig 24 er an gelben Gewitterabenden war, und wie herzergreifend in den Vollmondnächten!
Ich sprang aus dem Bett und warf die Bücher auf dem Schreibtisch durcheinander.
Her mit dem internationalen Balladenbuch, das ich Kursbuch nannte, als ich noch nichts wußte von der Seligkeit, durchzubrennen! Singt, ihr hunderttausend Eisenbahnschienen! Ruft eure Namen auf, ihr Städte, wo es überall Hotels gibt, um zu schlafen, und von der Sonne chemisch gereinigte Straßen und alte Wälle, wo man ins Land hinaussieht, und getäfelte Wirtsstuben mit einer Hängelampe an der Decke, die leise schaukelt, wenn die Tür geöffnet wird . . .
»Paris (Est) départ . . .«
Ich reise!
*
Ich reiste nicht.
Die Koffer lehnten zugeschnürt an dem Schreibtischsessel, auf der Lehne lag vierfach gefaltet der Reisemantel und darauf der Strohhut mit dem frischgebürsteten orangegelben Band, in dessen Schleife ich 25 eine mir vor zehn Minuten noch völlig unbekannte, im Schubfach des Nachttisches gefundene falsche Perle gesteckt hatte. Ich sah mich gerührt im Zimmer um und wollte gerade zu den letzten Betrachtungen übergehen, ohne die ich ungern ein von mir bewohntes Zimmer verlasse. Es ist eine der seltenen Gewohnheiten, sich über die Kürze des Lebens und die Eitelkeit alles Menschlichen klarzuwerden. Man hat gar nichts zu tun als zu warten, bis es Zeit ist, sich aus dem Staub zu machen.
Lautlos öffnete sich die Tür, Lo kam herein. Sie blieb stehen, wobei ihre Arme mit viel Sanftmut an den Hüften niedersanken und ganz still waren, und sah mich lächelnd an, mit ihrem Lächeln, das gar nichts sagt, und das nur ein leuchtender Schmuck ist, mit dem sie sich plötzlich behängt. Sie hatte blanke braune Augen und fragte, den Kopf an die hochgezogene Schulter gedrückt:
»Du reist?«
. . . »Ja. Aber es ist mir gleichgültig, wohin.«
26 »Ich muß noch vierzehn Tage Theater spielen. Bleib doch in der Nähe, in Meudon oder Sèvres. Ja? Willst du?«
Lo ging zum Sofa und ließ sich artig darauf nieder.
»Wenn du magst, nehmen wir ein Seineboot und fahren gleich hinaus. Du findest möblierte Villen, so viele du willst und kannst mieten, auf so lange du willst.«
Ich hatte mich nach Variot erkundigen wollen, aber jetzt fürchtete ich, taktlos zu sein. Lo sprach merkwürdig leise, mit einer flüchtigen Freundschaftlichkeit, die an eine ihrer schnellen, wie unwillkürlichen Liebkosungen erinnerte, so, wenn sie jemand eilig und mit abgewandtem Gesicht über den Ärmel strich, ganz kurz mit der flachen Hand die Hand des anderen berührte, für eine Minute jemandes Arm nahm . . . Sie war eine entzückende Freundin! Sie hätte ruhig verheiratet sein können. »Du,« rief sie jetzt leise, »ich verspreche dir einen schönen, stillen Sommer. Wir werden Sonnenblumen pflanzen und nachmittags unter den Bäumen in illustrierten 27 Zeitschriften blättern. Am Abend werden wir in einer Dorfkneipe mit dem Wirt Domino spielen. Wir werden uns wenig um einander kümmern und immer zusammen sein.«
Es war ein Glucksen und ein Lachen in ihrer stillen Stimme, sie führte, wie sie unbewegt dasaß, in Wirklichkeit einen ausgelassenen Tanz auf, schlug in die Hände, drückte sich an mich, zerrte mich und sah mich nach vorn übergebeugt an: »Nun, bist du lustig?« Aber sie wippte nur mit dem Fuß. Sie gab nur ihre großen klaren Augen hin. Sie dachte nicht daran, jemandes Geliebte zu sein . . . Variot war so fern, wie ein Mitschüler, an den ich zehn Jahre nicht gedacht hatte. Und Lo kannte ich auch schon so lange! Sie war eben in Paris angekommen, und ich hatte sie hier erwartet. Nach einigem Zögern wußten wir, daß wir einander noch gerade so gut verstanden, wie vor zehn Jahren. Nur waren wir jetzt erwachsen . . .
Zwischen Meudon und Sèvres sahen wir vom Dampfboot ein Tor, das mit Mietsanzeigen bedeckt war. Wir stiegen in 28 Sèvres aus und gingen den Weg zurück bis vor das Tor, wo uns ein dickes, lächelndes Weib erwartete. Sie hatte uns mit natursüchtigen Kopfverrenkungen die Straße heraufkommen sehen. Während sie uns prüfend betrachtete, schloß sie das Tor zu, und als sie damit fertig war, erklärte sie auch schon, daß sie ganz etwas Passendes für uns habe. Sie steckte den Zipfel ihrer Schürze hoch und führte uns zwischen steilen, mit Efeu und wildem Wein bewachsenen Mauern, die in glatten Windungen den Berg hinaufgingen, wie durch grüne Festungsgräben, an deren Rand sich die Villen in den Abendhimmel reckten. Die Frau öffnete eine enge Gittertür, die Schelle darüber heulte und sprang wie ein Kettenhund, der gegen einen Fremden anrennt. Die Villa »paßte« uns wirklich. Sie war schmal und drei Stockwerke hoch. Die untersten Zimmer führten auf eine Terrasse, und wir sahen, wie ein Wunderbaum im Horizont langsam, in der wachsenden Nacht, seine unzähligen leuchtenden Knospen öffnete . . .
29 »Paris,« flüsterte die Alte.
Sie rollte feierliche Augen.
*
Lo stand morgens als erste auf. Ich hörte im Halbschlaf, wie sie die Fenster ihres Zimmers öffnete. Es blieb eine Weile still, und ich nahm an, daß sie einen Schleppdampfer bewunderte, der ein halbes Dutzend schwere Kähne einen gelehrten Bogen um die Spitze der Insel St. Germain beschreiben ließ. Oder sie zählte die weißen Büsche, die aus den Mauern des Tauben-Schießplatzes flatterten und im Knall eines Schusses verschwanden. Dann rückten leise die Stühle, sie lief in kleinen hastigen Schritten über den Gang ins Toilettezimmer. Die Wasserleitung rauschte. Die kleinen, hastigen Schritte kamen wieder, sie rührten sich im engen Zimmer, liefen über den Gang zurück, bis sie plötzlich verstummten und Lo zu summen begann. Jetzt frisierte sie sich. Ich schlief . . . Zweimal heulte die Glocke der Gartentür, und Lo war aus dem Dorfe zurück. Sie hatte eingekauft. Ich hörte sie in der Küche.
30 Jetzt war es an mir, aufzustehn.
Der Frühstückstisch prangte mitten in der Sonne, unter dem grünlichen Glasdach der Veranda, an deren Enden, auf halbrunden Bänken übereinandergetürmt, ziegelrote Geranien sich in einem Winkel Schatten verkrochen. Die gelben Rosen im hohen Glas hatten einen helleren Glanz um sich wie eine Aureole. Das Tischtuch blendete, wenn man aus dem Zimmer trat, an den Tellern und an den Tassen flitterte Sonne. Die Kieselsteine im Garten schienen mit unzähligen knisternden Flämmchen zu brennen . . . Drunten im Tal, an der hellspiegelnden Seine, rann die Sonne die Pappeln hinunter. Die Erlen rumorten wie große weiße Bienenschwärme. Jenseits des Wassers stand der riesige Gasometer, hellgrau wie das ganze Land, der Dom dieser Landschaft, und hinter ihm trugen die Wipfel des Bois de Boulogne das große Strahlen des Himmels bis dorthin, wo Paris in einem dünnen silbernen Nebel schwamm. Sacre-Cœur auf der Höhe des Montmartre schien von 31 weißestem Zucker. Der Eiffelturm hob sich schlank und schmal aus dem Dunst, so hoch, bis er, immer spitzer in den Himmel stoßend, die klare Bläue fand und nur noch ein goldener Knauf war.
Im Westen sah man St. Cloud, dessen Kirchturm wie ein Befehlshaber in der Mitte der zusammengedrängten Häuser den Abhang hinaufstieg. Ringsherum, über den geschweiften, zur Seine abfallenden Hügel verstreut, tauchten Villen aus dem Grünen, glänzten weiße Herrenhäuser, waren die Bäume zu Parkanlagen geordnet.
Wir saßen in Strandkörben und lasen die Zeitungen, die Lo im Dorf gekauft hatte. Ich arbeitete, und Lo nahm ein Sonnenbad. Nach dem Mittagessen gingen wir in den Garten und tranken Kaffee. Wir spielten Croquet, Lo erzählte. Ich setzte mich wieder an die Arbeit. Von der Veranda, die jetzt im Schatten lag, sah ich Lo sich in einem kurzen lila Hauskleid mit lila Krausen am Hals und an den Handgelenken im Garten herumtreiben. Sie fütterte die Katzen, die den ganzen 32 Tag durch den Garten wanderten, große langgestreckte Tiere, die selbstbewußt wie kleine Raubtiere auftraten. Sie zog sich Lieblinge, mit denen sie auf dem Grasplatz spielte, ganz in sie verliebt, bis eine andere mit gesenktem Kopf aus dem Gebüsch trat . . . Sie tat einige Schritte auf dem Gartenweg . . . Dann hob sie den Kopf und blieb stehen. Ihr starker Blick war auf Lo gerichtet, die sich vorsichtig in den Knien aufrichtete und die Hände vor sich auf den Boden stützte. Sie sahen einander an. Der Liebling, der sich gerade unter Los Händen auf dem Rücken gewälzt hatte, warf sich auf die ausgestreckten Pfoten, wölbte den Rücken und senkte ihn, bis der Bauch den Boden berührte. Er verharrte unbeweglich mit zuckenden Ohren, den Blick in den Blick des Eindringlings gebohrt. Der tat einen Schritt auf die Gruppe zu. Des Lieblings Schweif hob sich und schlug platt auf die Erde, er duckte den Kopf noch tiefer: sofort blieb der andre stehn und prüfte Los Gesicht. Nun streckte Lo sich langsam neben 33 ihrer Katze aus und hielt der andern eine lockende Hand hin, die sie in der Luft streichelte und mit Zucker fütterte. Sie schlich sich so am Boden an das Tier heran, das reglos wartete und sich langsam unter Los Hand zusammenduckte, oder aber es sprang eine Spanne vor Los Hand mit einem Ruck davon. Bekam Lo die neue Katze zu fassen, zog sie sie nach einigen Liebkosungen mit beiden Händen an sich. Sie gehörte ihr. Sie sollte es gut haben bei ihr. Und der Liebling mußte fort, weil Lo immer nur mit einer einzigen Katze spielte.
Lo tat mehr, als nur mit Katzen spielen. Sie hatte in Paris ein Buch gekauft, »Der vollendete Gärtner«. Sie las viel darin, strich Stellen an, versah andre mit Ausrufungszeichen. Sie rächte sich mit erbosten Fragezeichen, wenn ein Kunstgriff mißlang. Sie säete und legte Spaliere an. An einem einzigen Rosenstock machte sie sich, mit einer großen Schere, eine halbe Stunde zu schaffen. War sie endlich fertig, so trat sie einen Schritt zurück und betrachtete 34 ihn lange. Worauf sie mit kleinen schlendernden Schritten und einem plötzlichen Lächeln für den Mann auf der Veranda, der ihr zunickte, auf den Grasplatz ging und sich über dem »vollendeten Gärtner« ausstreckte. Wenn sie genug gearbeitet hatte, fragte sie: »Gehn wir spazieren?« Ich kam zu ihr herunter, und wir gingen sehr langsam durch unsern Garten: die Büsche hinein, die Büsche hinaus am verfallenen Treibhaus vorbei, wo wir uns nach Mäusen und Spinnen umsahen, nach dem leeren Hühnerhof, für dessen Bevölkerung wir sorgfältige Berechnungen vornahmen, zum Stall, wo man ein großes Automobil hätte unterbringen können, über die wackelige Treppe zu den Kutscherzimmern im selben Gebäude, dann, am Haus vorbei, die mit runden Holzstämmen gehaltenen Stufen zwischen den Bäumen hinauf, in den hintern Garten bis zur Terrasse. Die Terrasse schloß sich gleich an das Haus an. Sie lag hoch wie der ganze hintere Garten, von dem man ins zweite Stockwerk trat, und war vom untern 35 Garten bis hinauf mit Efeu bewachsen. Hier stand das Croquetspiel.
Wir wunderten uns nicht, daß wir hier zusammen waren . . . Wir quälten einander nicht . . . Wir langweilten uns nie . . . Um 6 Uhr fuhr Lo nach Paris in ihr Theater. Sie vergaß nie zu sagen: »Schließ das Tor gut, und bevor du mich abholen gehst, stelle bitte das Wasser für den Tee auf . . . Es ist bald zu Ende, wir spielen nur bis zum 29. des Monats . . . Schließ das Tor gut zu.«
Sie kam mit dem letzten Zug aus Paris zurück. Es war immer nach ein Uhr. Ich erwartete sie auf dem leeren Bahnsteig, wo eine einzige Laterne brannte. Der Beamte war schon nach Hause gegangen. Auf der andern Seite der Bahn stieg der gemauerte Hügel fast senkrecht in die Höhe . . . Wenn ich bis ans Bahnhofsgebäude zurücktrat, konnte ich über mir in den Bäumen das weiße Dachwerk unseres Häuschens sehn. Die Drahtseilbahn, die den Berg hinaufführt, schnitt schwarz in den Himmel. In der Ferne waren die 36 kleinen Lichter der Brücke von Sèvres, unter ihnen hingen gelbe Lichtstreifen, die das Wasser bewegte.
Ich hörte den Zug in St. Cloud pfeifen: dann dauerte es noch zehn Minuten . . . Ich sah den Rauch der Lokomotive: er fuhr in Sèvres ein. Er pfiff wieder: jetzt eilte er auf unsre Station zu.
Gewöhnlich war Lo der einzige Fahrgast. Der Zugführer nahm ihr die Karte ab und lief, während der Zug sich in Bewegung setzte, zur Laterne, die er in einem Luftsprung und mit einem Schlag auf den für stangenbewehrte Laternenanzünder berechneten Hebel auslöschte.
Solange Lo nicht einschlief, war sie auch nicht müde. Während ich die Abendblätter las, die sie mitgebracht hatte, zog sie sich um. Dann half ich den Tisch decken. Lo trug ihren tiefgrünen Frisiermantel, sie war blaß, die Augen hatten ihre dunkelste Stunde. Das Haar war gelockert. Es hing wie zwei schwarze Flügel um ihr Gesicht, in dem der 37 geschminkte Mund zu rot war. Sie erzählte alles, was ihr begegnet war . . . Sie erzählte, was andre ihr erzählt hatten . . . Wenn eine Geschichte zu Ende war, saß sie gedankenvoll da, bis ihr eine andre einfiel. Sie erlebte den ganzen Abend noch einmal. Ich mußte alles wissen, über jedes urteilen. Und dann war es an mir zu erzählen. Was mit der Post gekommen sei, was ich gearbeitet, an wen ich geschrieben habe . . . Sie empörte sich gegen meine Feinde, sie schloß Freundschaft mit denen, die mir Gutes taten. Die Zeitungen hatte sie bereits im Zug gelesen. Dies war ihr aufgefallen und jenes. Sie urteilte über Politiker wie über Kollegen. Sie sah nicht auf die politische Überzeugung, sondern auf den wahrscheinlichen Grad der Überzeugung und vor allem auf die rednerischen Manieren der Abgeordneten. Im Grund beurteilte sie die Politik ihres Landes nur nach der Replik. Die Replik war für sie Gott und Vaterland. Wert und Ausdruck eines Einfalls entschieden über Recht und Unrecht. »Nicht 38 wahr, eine langweilige Politik ist sinnlos?« sagte sie. »Langeweile macht den Menschen unglücklich und also auch die Völker.«
Wenn einem ihrer Bevorzugten der Skandal drohte, wies sie die rächerisch gesinnte »öffentliche Meinung« der Konkurrenz von sich mit den Worten: »Alles was recht ist! Ein Volk muß sich seine interessanten Männer etwas kosten lassen.« Wenn sie solches mit einem eiligen Lächeln äußerte, war sie sehr hübsch. Denn es gefiel ihr, was sie da sagte, obwohl sie nicht im geringsten darauf bestanden hätte, nun wirklich etwas Rechtes gesagt zu haben. Sie gefiel sich soweit, wie sie andere glücklich machte.
Los beide Zimmer, Schlafzimmer und Boudoir, waren unsere heimliche kleine Wohnung im großen Hause. Die andern Zimmer hatten wir gelassen wie sie waren, langweilig und banal mit all dem unschönen Kram auf dem Kamin und an den Wanden. Aber Los Zimmer ordneten wir von Grund auf. Wir kauften alte Stiche für die Wände, 39 Stoffe und Sessel, wir sammelten sogar ein Teeservice aus einzelnen Kannen und Tassen, die wir bei den Althändlern des lateinischen Viertels kauften. Lo sorgte auch dafür, daß immer Konfekt und feine Zigaretten da waren. Ich brachte schöne Bücher mit, in denen man mit Vergnügen blättern konnte, und andere, die aus irgendwelchen Gründen außerordentlich waren und gewissermaßen zu einer Einrichtung wie die unsere gehörten.
Außer Lo und mir durfte niemand die Zimmer betreten. Unsere Gäste baten oft darum, unser »Museum« besichtigen zu dürfen. Lo duldete es nicht. Es war unser Liebesnest, und wir lachten, weil die andern vor der geschlossenen Tür in Träume von orientalischer Abgründigkeit verfielen. In Wirklichkeit ermangelte die Einrichtung jeder Üppigkeit. Aber alles erinnerte an unsere Liebe.