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Eine Geläuterte. – Herr Ziegenmilch zum letztenmal. – Cirillo Rompelli. – Die cause célèbre. – Macht des Gewissens. – Gritli. – Ein Passus aus einer Gerichtsrede. – Ein Schuldig und ein Nichtschuldig.
Isolde war, als sie mit mir, dem Herrn Oberst und Julie von der roten Fluh abreiste, von ihrer Freundin dringend eingeladen worden, einige Zeit bei ihr in der Stadt zu verleben. »Ich würde gern bei dir sein«, hatte meine Verlobte erwidert, »aber es zieht mich heim, alle die gewaltsamen Eindrücke der letzten Zeit mir in der Stille zurecht zu legen. Und dann, liebe Julie, bin ich eigentlich die Lindachbäuerin, weißt du? Und die herankommende Herbstzeit verlangt um so mehr meine Anwesenheit zu Hause, als ich einen so großen Teil des Sommers über abwesend war.«
In Chur trennte sich unsere Gesellschaft. Der Handelsherr, ein halbgebrochener Mann, ging von da über den Splügen nach Italien, von wo aus er mit dem Vorsatz, mehrere Jahre fortzubleiben, nach der Levante reisen wollte. Er übergab mir beim Abschied eine Vollmacht für Herrn Bürger, wonach dieser die Geschäfte mit unbedingter Machtvollkommenheit leiten sollte. Julie und ich begleiteten meine Verlobte das Rheintal hinunter an den Bodensee Als der Dampfer mir meine Geliebte entführt hatte – zum Glück nur für wenige Wochen – brachte ich Julie in ihre Vaterstadt zurück, wo ich meine Angelegenheiten ordnen wollte und als Zeuge in der Kipplingschen cause célèbre vernommen werden sollte. Denn bei unserer Ankunft in der Stadt fand ich die Zitation vor. Gritli, das arme Kind, hatte angegeben, sie habe mich nach der Katastrophe, bevor sie sich in den See gestürzt, aufgesucht und habe mir alles sagen wollen, »weil der Herr Hellmuth mal so gut gegen sie gewesen sei.«
Julie war gut und gefaßt. Sie wenigstens war aus der schrecklichen Familientragödie geläutert hervorgegangen. Von ihrem Bruder sprach sie nie, mit keiner Silbe. Dagegen hielt sie redlich ihr Versprechen, daß Gritli ihre Schwester sein sollte. Kaum zu Hause angelangt, noch in den Reisekleidern, erwirkte sie sich die Erlaubnis, die arme Gefangene zu besuchen, und tiefbewegt kam sie von dieser Zusammenkunft zurück.
»Ich durfte ihr,« äußerte sie gegen mich, »noch nicht sagen, daß ich ihre Schwester sei. Es hätte die geängstigte Seele des armen, schönen, guten Kindes nur noch mehr verwirrt. Aber nun ich Gritli gesehen, ist es gar keine Großmut mehr von meiner Seite, daß ich mich ihrer annehme: denn ich liebe sie. O, mein Freund, es ist furchtbar, zu denken, daß ein Vater, welcher zugleich auch der meinige ist, sein Kind, sein eigen Fleisch und Blut, den Zufällen des Fabriklebens preisgeben konnte. Aber er bleibt doch mein Vater und er bedarf jetzt der Liebe, denn er ist unglücklich. Ich will auch Gritli ihn lieben lehren.«
Am Tage, wo der Prozeß vor dem Schwurgericht zur Verhandlung kam, frühstückte ich auf ihre Einladung mit Julie.
»Wäre es doch schon Abend,« sagte sie. »Ich zittere, wie das Los Gritlis fallen wird. – Was den andern angeht – halten Sie mich nicht für herzlos, wenn ich gestehe, daß mir sein Schicksal gleichgültig ist. Er hat von Jugend auf dafür gesorgt, daß er keinen Anteil an meinem Herzen habe. – Aber das Kind, das Kind! Könnte man so barbarisch sein, es zu verurteilen? Geschähe das, mein Schwesterlein, so jung, so schön, so unglücklich, soll nicht im Zuchthaus verkümmern. Ich werde alles, selbst mein Leben daran setzen, das zu verhindern. Zum Glück ist der Staatsanwalt ein einsichtsvoller und humaner Mann. Ebenso der Advokat, welchen ich, wie Sie wissen, zum Verteidiger Gritlis geworben. Er gibt mir Hoffnung und stützt diese insbesondere auf die ärztlichen Gutachten, welche sehr zugunsten des Kindes ausgefallen seien. – Bitte, lieber Michel, lassen Sie mich keinen Augenblick warten, wenn die Entscheidung heraus ist. Ich werde mich von Stunde zu Stunde nach dem Gange der Verhandlung erkundigen lassen und Ihnen dann den Wagen schicken. – Und jetzt von anderem. Sie werden uns bald verlassen, mein Freund?«
»Binnen wenigen Tagen.«
»Ja, Sie müssen sich nach Isolde sehnen: die Herrliche, der auch ich soviel verdanke, ist es wert. Aber ich bin doch zu selbstsüchtig, leugnen zu wollen, daß ich Sie sehr vermissen werde.«
»Liebe Julie, ich lasse einen Freund zurück, der auch der Ihrige ist.«
»Sie meinen Bürger? Er war mir gut, aber ich fürchte, ich habe ihn zu sehr gekränkt in meinem Übermut. Er vermeidet es, mit mir zu sprechen ... Bürger ist ein seltsamer Mensch, aber gewiß ein Mann von Ehre.«
»Durch und durch. Und was seine Seltsamkeiten angeht, so sind sie rein nur äußerlich. Er ist die beste Seele von der Welt. Aber der kräftige Keim von Güte und Milde, den sein Herz birgt, ist nicht zum Ausschlagen und Blühen gekommen, weil keine liebevolle Hand diesen Keim pflegte und ermunterte. So hat er sich die Marotte in den Kopf gesetzt, er sei ein Egoist, Pessimist, Blasierter, während täglich seine Handlungen seine Worte Lügen strafen, aber nur eben ganz im geheimen. Er poltert und schilt über das Volk, und doch beteiligt er sich unter fremdem Namen bei allen Unternehmungen und Anstalten, welche auf die sittliche und materielle Hebung des Volkes abzwecken. Er macht sich über das Volksschulwesen lustig, und doch ist er heimlich stets mit reichlichen Beiträgen für Schulzwecke bei der Hand. Er tut gelegentlich, als ob schon der bloße Namen Polen ihm widerwärtig und verächtlich wäre, und doch hat er, gerade er, aus der Zeit der Polenbegeisterung ein Mitleid sich bewahrt, welches ihn nicht müde werden läßt, eine unglückliche Polenfamilie, die aus jener Zeit hier hängen geblieben ist, heimlich zu unterstützen. O, ich bin hinter Bürgers Schliche gekommen und weiß, daß er seine Tugenden ängstlicher verbirgt, als andere ihre Fehler ... Und er liebt Sie, Julie, glauben Sie mir, er liebt Sie innig und treu. Er würde Sie auf den Händen tragen und Sie ehren wie kein zweiter Mann. Lassen Sie mich es sagen, teure Freundin, ich würde in der Ferne mit leichterem Herzen Ihrer gedenken, wenn ich Sie in der Liebe eines solchen Mannes sicher und glücklich wüßte.«
»Ich glaube Ihnen, Michel,« erwiderte Julie, nachdem sie eine Weile nachdenklich geschwiegen. »Sie meinen es gut, ich weiß es. Eine alte Jungfer kann und mag ich ja doch nicht werden. Und dann würde, wenn ich Bürger heiratete, auch ein alter lieber Wunsch meines Vaters in Erfüllung gehen ... Ich will es bedenken, mein Freund, ich will es bedenken.« – – – – –
Auf meinem Wege nach dem Gerichtshause traf ich zufällig mit Herrn Ziegenmilch zusammen, welcher mich übrigens, sobald er meine Ankunft in der Stadt erfahren, aufgesucht hatte, um mir, wie er sich ausdrückte, für die enorme Diplomatie und Freundschaft zu danken, womit ich ihm wieder zu seinem lieben runden exfrommen Liseli verholfen hatte. Der Herr weiland Direktor der großen Kohlenkompagnie wußte natürlich »enorm« viel von dem Ereignis des Tages zu sprechen und schloß seine Rede mit dem Ausruf:
»Der einzige Sohn der Firma Gottlieb Kippling und noch dazu ein so enorm praktischer Mensch vor Gericht auf dem Lasterbänkchen! Enorm, ganz enorm!«
In einer engen Gasse, durch welche unser Weg führte, wurden wir für einige Augenblicke durch ein frauenzimmerliches Gedränge vor einem Quincaillerieladen aufgehalten. Die Damen steckten die Köpfe zusammen, einige flüsterten, andere lachten, einige gaben sich Mühe zu erröten, andere, entrüstet auszusehen; aber zuletzt gingen alle in den Laden hinein.
»Der Erzschuft!« sagte Herr Ziegenmilch, vor dem Schaufenster des Ladens stehen bleibend. »Da lugen Sie mal, Herr Hellmuth.«
Er wies auf ein großes Blatt Papier, welches zwischen den Quincailleriesachen am Fenster sichtbar war und worauf in kühn geschwungenen Zügen die Worte standen:
»Der Chef dieses Geschäftes, Junggeselle und von sanfter Gemütsart, wünscht sich mit einer ehrsamen Dame, Jungfrau oder kinderlose Witwe, zu verheiraten.«
»Das ist groß,« sagte Herr Ziegenmilch. »Das ist noch gar nicht dagewesen! Das zieht! Das lockt! ... Ja, das muß man sagen, ein praktischer Mensch, ein enorm praktischer Mensch ist der Schusterle doch.«
»Was für ein Schusterle?«
Herr Ziegenmilch wies auf das Schild über dem Schaufenster, und ich las dort in prahlerisch großen Goldlettern: »Quincaillerie-Handlung von Cirillo Rompelli.«
»Was,« sagte ich, »sollte wirklich unter diesem italisierten Namen der alte Humbuger Rumpel stecken? Sollte er wirklich die Frechheit gehabt haben, nach allem, was vorgefallen, in dieser Stadt sich zu etablieren?«
»Er hat sie gehabt, 's ist ein enormer Kerl! In allen Sätteln gerecht.«
»Und wahrscheinlich hat er diese Etablierung zuwege gebracht mittels –«
»Eines gewissen Schmuckkästchens und dito Taschenbuches, wollen Sie sagen? Freilich!«
»Und Sie haben nicht Lärm geschlagen, Herr Ziegenmilch?«
»Daß ich ein Narr gewesen wäre? Wir, Oskar Ziegenmilch und Komp., sind nicht so unpraktisch. Tut nicht gut für Geschäftsleute, Skandal zu machen – in keiner Weise. Herr Theodor Kippling dürfte das auch erfahren. Zudem habe ich Ursache, dem Schuft da dankbar zu sein. Seit ihrer Heimkehr von ihrer Entf– will sagen Badereise ist mein Liseli wie ein umgewendeter Handschuh, sie ist wieder ein so liebes, tolerantes, praktisches Frauli, wie sie vorzeiten in der Spiegelgasse gewesen. Die in Gesellschaft des Monsieur Rumpel unternommene – Badereise hat sie von allen gefühlvollen Flausen und Zierereien glücklich kuriert. Praktisch das! Bin daher dem Rompelli gar nicht böse. Grüßen einander, wenn wir uns begegnen. Ins Haus darf er mir natürlich nicht mehr, aber das hindert mich nicht, ihm allen Erfolg zu wünschen. Wird ihn auch haben, ist praktisch genug, seine Fortune tüchtig zu poussieren. Müßte mich sehr irren, wenn der enorm praktische Schwindel, den er da ausgeheckt und ausgehängt hat, nicht sein Geschäft bedeutend in Zug brächte. Könnte ihm dieser Schwindel auch zu einer ganz anständigen Partie helfen. Sehen Sie nur, was er für Zulauf hat. Wollen wir mal hinein, um zu sehen, wie der Schelm mit dem Wybervolch Mundartlich für Weibervolk, in der dortigen Gegend populärer Ausdruck statt Damenwelt oder schönes Geschlecht. Es fällt mir dabei eine artige Anekdote ein. Ein schweizerischer Pfarrer hat mir erzählt, daß er einmal während des Konfirmandenunterrichts große Mühe gehabt habe, das Lachen zu unterdrücken. Nämlich: »Zu welchem Volke gehörte die Mutter Jesu?« fragte er einen seiner Bauernjungen. – »Zum Wybervolch!« antwortete der Gefragte entschieden. umspringt?«
»Nein, ich habe jetzt weder Zeit noch Lust,« versetzte ich weitergehend.
Ich fand die Zugänge zum Gerichtshause von Volksmassen belagert. Aus dem dumpfen Gemurmel derselben hervor gellten einzelne drohende Stimmen, ob man auch sicher sei, daß der Angeklagte, weil er der Sohn des »Millionenmannes«, der Strafe nicht entschlüpfe. Aber solche Zweifel waren überflüssig. Ich konnte zwar nach allem, was ich wußte, mir nicht verhehlen, daß der Verbrecher zeitig gewarnt worden sei, welche Warnung ihm, falls er ein armer Schlucker gewesen, schwerlich zuteil geworden wäre. Nachdem er sich aber einmal in den Händen der Justiz befand, konnte gar nicht mehr die Frage sein, daß ihm sein Recht werden würde.
Die Prozedur mußte, wie es in solchen Fällen das Gesetz vorschreibt, eine geheime sein, das heißt das größere Publikum war von der Verhandlung ausgeschlossen. Trotzdem war der ohnehin nicht sehr große Saal so ziemlich von Männern angefüllt, deren Anwesenheit mehr oder weniger notwendig erschien. Die Verhandlung war schon eröffnet, als ich aus dem Zeugenzimmer hineingerufen wurde. Richter, Geschworene, Ankläger, Angeklagte und Verteidiger waren auf ihren Plätzen. Der Vorsitzende erfüllte seine wahrlich nicht leichte Pflicht und Aufgabe mit Würde und Takt. Man hatte auch die humane Rücksicht gehabt, die Angeklagten zu trennen, auf der eigentlichen Anklagebank saßen nur Herr Kippling und Frau Regel. Etwas abseits war ein Stuhl für Gritli hingestellt.
Das arme schöne Kind saß bleich und scheu in sich zusammengeschmiegt, als hätte es sich vor den Blicken der Menschen in die Erde verbergen mögen. Sein Verderber dagegen benahm sich so, als wäre er wirklich, wie Julie von ihm gesagt hatte, der frechste aller Menschen. Höchst elegant gekleidet, zupfte er mit behandschuhter Hand an seinem Bärtchen, lorgnettierte Geschworene und Zeugen, unterhielt sich lässig mit seinem Verteidiger, dessen Pult hinter der Anklagebank stand, kurz, er tat, als ginge ihn die ganze Sache eigentlich gar nichts an. Die Frau Regel ihrerseits war offenbar in tausend Ängsten, obgleich sie einen trotzigen Gesichtsausdruck zu erkünsteln suchte.
Die Voruntersuchung hatte ergeben, daß die beiden Verbrechen, um welche es sich handelte, im engsten Kausalzusammenhange standen, und darauf fußte auch die Anklageakte. Sie war mit der größten Sorgfalt verfaßt und entrollte mit psychologischer Meisterschaft ein ergreifendes Gemälde der ganzen unseligen Geschichte. Der dunkelste Punkt darin fehlte freilich. Waren doch der Angeklagte und ich die einzigen Personen im Saale, welche von dem Geheimnis wußten, das die Freveltat Kipplings zu einer unerhörten machte.
Die Leumundszeugnisse Angeklagter spielen vor schweizerischen Schwurgerichten eine sehr bedeutende Rolle, unter Umständen vielleicht eine zu bedeutende. Im vorliegenden Falle verstärkten aber die von Gemeinde-, Schul- und Kirchenbehörden eingelaufenen Zeugnisse die günstige Meinung, welche schon die Anklageakte für Gritli erweckt hatte. Ebenso die Gutachten der beigezogenen ärztlichen Experten, welche zu dem Ergebnis kamen, das Kind sei durch die ihm angetane brutale Mißhandlung in einen Zustand momentaner Geistesstörung versetzt worden und demnach im Augenblick der Brandstiftung unzurechnungsfähig gewesen.
Die Vernehmung der Angeklagten und die Zeugenabhörung begannen. Einen Schleier über die empörenden und schrecklichen Details! Herr Kippling suchte die ganze Sache als Bagatelle zu behandeln und leugnete mit einer Stirne von Erz jede Anwendung von Gewalt. Er mußte auch richtig Mittel und Wege gefunden haben, auf die Frau Regel einzuwirken; denn, auf den Verhörstuhl berufen, nahm sie ihre in der Voruntersuchung gemachten Angaben zurück und suchte ganz im Sinne des Angeklagten zu sprechen. Sie hielt auch das Kreuzverhör, welches der Staatsanwalt und Gritlis Verteidiger mit ihr anstellten, eine Weile mit großer Geschicklichkeit aus. Dann aber begann sie unruhig auf ihrem Stuhle hin und her zu rutschen, zu zaudern und zu stocken. Das Auge Gritlis, bisher immer zu Boden gesenkt, hatte sich mit der ganzen Magie seines schwermütigen Ausdrucks auf die falsche Zeugin geheftet. Vergebens wandte diese sich ab: sie mußte immer wieder diesem vorwurfsvoll flehenden Auge begegnen, bis sie zuletzt, nachdem sie eine Weile verstockt geschwiegen, plötzlich mit fliegendem Atem in die Worte ausbrach:
»Ihr Herren, das Geschrei des Kindes in jener Nacht will mir nicht aus den Ohren ... Ich muß die Wahrheit sagen ... Es ist alles so, wie ich in der Voruntersuchung angegeben.«
Der Herr Staatsanwalt, seither zu hohen kantonalen und eidgenössischen Würden aufgestiegen, entwickelte in der jetzt folgenden Vernehmung Gritlis das ganze Zartgefühl eines humanen Charakters. Er wußte dem zitternden, stammelnden Kinde Vertrauen einzuflößen, so daß es seiner Angst wenigstens einigermaßen Meister wurde. Als der Staatsanwalt zuletzt an die Angeklagte die Frage stellte, wie es ihr denn im Moment der Brandstiftung zumute gewesen sei, und sie mit vor Schluchzen brechender Stimme die bebende Antwort gab: »Ich weiß ja nicht; mir ist nur so g'si, Gewesen. als müßt' ich die ganze Welt verbrennen!« Da ging eine Regung tiefen Mitgefühls durch den Saal, und ich sah die Augen starker Männer feucht werden. Es lag in dieser Antwort die furchtbare Gewißheit, daß die Brutalität eines Elenden eine schuldlose Kinderseele zum Wahnsinn getrieben hatte.
Als die Plaidoyers der Verteidiger an die Reihe kamen, taten die Advokaten des Herrn Kippling und der Frau Regel, was sie tun konnten; allein man hörte aus ihren Reden deutlich genug heraus, daß sie eben nur berufshalber eine verlorene Sache führten. Der Verteidiger Gritlis richtete die vernichtende Gewalt seiner von großer Beredsamkeit unterstützten Beweisführung auf den Angeklagten. Ein Passus seiner Rede ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. – »Das, meine Herren Geschworenen,« sagte er, nachdem er Charakter, Lebensführung und Verbrechen des Angeklagten gezeichnet hatte, »das sind die Folgen einer Jugenderziehung, wie sie der Mammonsgeist unserer Zeit diktiert, einer Erziehung, welche alle idealen Anregungen geringschätzt und den Materialismus, welcher lehrt, daß nur, was Geld einbringe, gut, nützlich und erstrebenswert sei, als ein Evangelium anerkennt. Hier in dem Angeklagten, in diesem jungen Wüstling, welcher keinen Begriff davon hat, daß die schnöde Opferung eines schuldlosen, von allen übereinstimmend als brav und gut anerkannten Kindes etwas anderes sei als ein frivoler Spaß, als ein gelegentlicher Zeitvertreib eines reichen Herrn, hier haben Sie ein Produkt des utilitarischen Ungeistes, welcher die Masse der Besitzenden und Erwerbenden nur an ihre Interessen, an Luxus und Vergnügungen denken läßt und die Gesellschaft einer sittlichen Verwilderung entgegen zu führen droht, wie die Weltgeschichte nur in Perioden tiefsten Verfalls sie kennt.«
Der Vorsitzende gab sein Resümee, anschaulich-klar und parteilos, die Geschworenen zogen sich zurück, und es verging eine bange halbe Stunde. Ich fürchtete doch für Gritli; denn ich wußte, daß Vergehen gegen das Eigentum nur in wenigen Ländern noch strenger geahndet werden als in der Schweiz, in dieser nämlichen Schweiz, welche Unkenntnis und Übelwollen als einen Herd kommunistischer Schwärmerei verschrien haben. Aber das Verdikt, welches die Geschworenen hereinbrachten, bewies recht schlagend die Vorzüge des aus dem lebendigen Volksbewußtsein geschöpften Rechtes vor dem aus toten Formeln abstrahierten. Gelehrte Juristen hätten nach dem Buchstaben eines Artikels des Strafgesetzbuches urteilen müssen, Geschworene konnten nach ihrer auf den psychologischen Zusammenhang der ganzen Sache basierten moralischen Überzeugung urteilen.
Der Wahrspruch lautete für Herrn Kippling auf »Schuldig unter erschwerenden Umständen«, für Frau Regel auf »Schuldig der Beihilfe«. Für Gritli hieß das Verdikt: »Ja, die Angeklagte war im Augenblicke der Brandstiftung gestörten Geistes und demnach unzurechnungsfähig.«
Ein Summen der Befriedigung lief im Saale um. Der Vorsitzende verfügte sofort die Freilassung des geretteten Kindes. Ich faßte es an der Hand, als ich es auf seinen Füßen wanken sah.
Die Strafbestimmung für die beiden Schuldigbefundenen nahm noch einige Zeit in Anspruch. Das Urteil lautete für Herrn Kippling auf fünfjährige, für Frau Regel auf zweijährige Zuchthausstrafe. Jener nahm den Spruch mit vornehmem oder wenigstens vornehm tuendem Gleichmut hin. Seine Blasiertheit wich, wie ich anderen Tages erfuhr, erst dann, als ihm der Züchtlingsanzug gereicht wurde. Da hat er sich wütend gesträubt und mit wilden Flüchen und Lästerungen auf dem Boden gewälzt.
Ich führte Gritli hinaus und hoffte, da es bereits dunkelte, das Kind unerkannt durch die versammelten Volksmassen hindurch zu bringen. Aber es wurde doch erkannt und mit jubelnden Glückwünschen bestürmt. Zitternd klammerte es sich an meinen Arm, und so brachte ich es glücklich durch das Gedränge zu dem seitwärts haltenden Wagen. Der Diener öffnete den Schlag, eine Gestalt beugte sich aus dem Fond des Wagens, und die Freigesprochene fand sich in den Armen ihrer Schwester, welche mit Liebesworten und Küssen sie begrüßte.
worin noch einmal kurz über die Schweiz geredet und dann fast nur von Geschäften gehandelt wird.
Mit Gefühlen der Achtung und Dankbarkeit verließ ich die Schweiz. Ich hatte in diesem schönsten Lande Europas meine Kräfte brauchen gelernt, hatte Erfolge gehabt, hatte mir Freunde für das ganze Leben erworben. Früher selbst zuweilen in den Fehler verfallen, ohne genauere Kenntnis über schweizerische Zustände in der oberflächlichen Weise abzusprechen, wie es Fremden nur allzuhäufig begegnet, erachte ich es für Pflicht, hier noch zu sagen, daß, alles zusammengenommen, die Schweizer auf einen hohen Grad von Achtung Anspruch machen können. Es ist wahr, es fehlt ihnen durchschnittlich der ideale Seelenschwung wie die Leichtlebigkeit des Humors. Allein es mag sich dieser Mangel leicht daraus erklären, daß die Schweizer durch den ganzen Gang der Geschichte ihres Landes darauf hingewiesen wurden, vorwiegend praktische Ziele anzustreben. Daraus resultiert die verständige Nüchternheit, welche die Schweizer in der ganzen Fassung und Führung des Lebens kennzeichnet. Daneben sind sie jedoch edlerer Impulse keineswegs bar und ledig. Schon ihr reger Gemeinsinn und die außerordentliche Pietät, womit sie die glorreichen Erinnerungen ihrer alten Geschichte pflegen, beweisen das hinlänglich. Die staatlichen Einrichtungen der Eidgenossenschaft haben ohne Zweifel ihre Mängel; allein in dem Umstand, daß die Formen des Selfgovernments, anderwärts erst mühsam und meist noch etwas ungeschickt erstrebt, den Schweizern längst schon zur zweiten Natur geworden sind, ist ein mächtiges Korrektiv gegeben. Endlich darf auch nicht mit Stillschweigen übergangen werden, daß das schweizerische Geschäftsleben, obzwar es sich von dem Kredit- und Spekulationsschwindel unserer Tage keineswegs unberührt erhalten hat, dennoch im ganzen noch auf solider und rechtlicher Basis ruht.
Indessen auch im deutschen Vaterlande fand ich, heimgekehrt, neben vielen untröstlichen Erscheinungen manches Tröstliche vor. Auf dem Gebiete materiellen Gedeihens hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten ungeheure Vorschritte gemacht, und wenn das geistige Leben der Nation gegenwärtig keine solchen Prachtblüten treibt, keine solchen Gedankenfrüchte voll ewiger Nahrungsfülle reift, wie es in der letzten Hälfte des vorigen und zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts entfaltet und gezeitigt hat, so ist doch die Verbreitung des Gesamtschatzes unserer Bildung in allen Volksklassen eine unendlich viel erweitertere und tiefere geworden. Das beste ist aber, daß die nationale Idee, seit der ruhmreichen Epoche der Befreiungskriege das teuerste Besitztum aller Guten, in immer weiteren Kreisen Wurzeln geschlagen hat, selbst in solchen, wo dafür früher gar kein Boden vorhanden zu sein schien. Deutschland ist denn doch schon seit lange etwas Besseres als ein »bloßer geographischer Begriff«. Wir haben angefangen, uns zu fühlen als ein zusammengehörendes, zu Glück und Größe befähigtes und berechtigtes Volk, und wenn die Zeit der Feuertaufe kommt, die uns zur Nation weihen soll – ich hoffe mit ganzer Seele, daß wir sie mit Ehren bestehen werden. Diese vor zwölf Jahren geäußerte Hoffnung ist schneller und glänzender in Erfüllung gegangen, als die kühnste Phantasie erwarten durfte. Die »Zelt der Feuertaufe« – und welcher Feuertaufe! – für die im Jungbrunnen der Bildung verjüngte und im Feuer der Vaterlandsliebe zusammengeschmiedete Nation ist gekommen, und die große Probe wurde so heldisch und herrlich bestanden, daß 1870 als das schönste Jahr, so recht als das Ruhm- und Glanzjahr der gesamten deutschen Geschichte dasteht. Zur Stunde, wo ich dieses schreibe, ist die nationale Einheit eine geschichtliche Tatsache. Möge aus dem gesunden Boden dieser Einheit unser Freiheitsbaum, die deutsche Riesenlinde, frisch und froh hervorwachsen und mit ihrem grünen Wipfel rauschen die Jahrhunderte der Zukunft entlang! (Anmerkung zur Ausgabe von 1871.)
Freilich hatte ich zunächst keine Zeit, meine Blicke mit sonderlicher Aufmerksamkeit auf das Allgemeine und Öffentliche zu richten. Privatangelegenheiten, die ich um Isoldes willen als meine eigenen ansehen mußte, nahmen meine Zeit, Sorge und Arbeit vollauf in Anspruch.
Isolde hatte nicht erst nötig, mir zu sagen, wie sehr es ihr Wunsch sei, daß keine Unehre an dem Namen haften bleibe, welchen ihr Vater getragen und welchen sie mir zubrachte. War ich doch selber noch keineswegs ein so »enorm praktischer« Mensch geworden, daß es mir hätte gleichgültig sein können, ob die Gläubiger des unglücklichen Berthold ganz oder teilweise um ihr Recht kämen. Aber ihnen zu ihrem Rechte zu verhelfen, war schwierig, sehr schwierig. Denn es zeigte sich, daß Schloß Rothenfluh und der dazu gehörende, noch immer sehr bedeutende Güterkomplex zwei- und dreifach verschrieben und verpfändet waren. Es galt, nachdem die Schuldtitel endlich festgestellt waren, ein Abkommen mit den Gläubigern zu treffen, und zwar im Namen Isoldes, die ich beredete, den Versuch zu machen, das Gut selber zu übernehmen. Ich machte eine Berechnung, wie hoch sich ungefähr die Auslösungssumme belaufen würde, kam aber zu einem niederschlagenden Resultat. Denn wenn ich auch mein Erworbenes zusammennahm, wenn ich den Wertbetrag vom Lindachhof, welchen mir meine Verlobte zur Verfügung stellte, dazu tat, wenn ich sogar das bescheidene Vermögen meiner Schwester Hildegard, welches mir die Gute zu dem in Frage stehenden Zweck überließ, hinzurechnete, so erreichten diese Mittel doch noch lange nicht die Höhe der Schuldenmasse. Ich konnte den Gläubigern demnach nicht genug bieten und so beschloß eine Versammlung derselben die öffentliche Versteigerung des Gutes. Ich gab aber meinen Entschluß, Rothenfluh für Isolde zu retten, deshalb noch nicht auf. Wußte ich doch, wie das Herz der Geliebten an den Räumen hing, wo ihr Vater gelebt, ihre Mutter gestorben und ihre Wiege gestanden. Und als mein Vorsatz, zugleich mit der Neuigkeit meiner Verlobung mit Isolde, in der Gegend bekannt wurde, erfuhr ich, daß mein Vater wie der meiner Braut auch für ihre Kinder Freunde geworben. Denn von Kapitalisten und Gutsbesitzern, ja selbst von schlichten Bauern kamen mir verläßliche Anerbieten von Geld und Bürgschaftstellung zu. Ich schrieb auch an Herrn Bürger und setzte ihm die Sachlage und die mich bedrängenden Schwierigkeiten auseinander, erhielt aber zu meinem nicht geringen Leidwesen nur die wunderliche Antwort, es werde sich schon machen, ich sollte nur die Ohren steif halten.
Wir waren schon mitten im Winter, als ich eines Tages von Rothenfluh zur Stadt hinunterging, wo die Versteigerung stattfinden sollte. Als ich das städtische Rathaus betrat, fand ich bereits daselbst eine ziemlich große Anzahl von Kauflustigen vor, aber was mich nicht wenig überraschte, war die Anwesenheit Bürgers. Er erwiderte indes meine Begrüßungen und Fragen kurzangebundener als je und sagte zu allem nur: »Nachher, mein Bester, nachher. Haben jetzt zuvor das Geschäft da abzumachen – 's ist kla–ar.« Und doch sah der Mann so frisch aus und, wie mir vorkam, viel jünger, als ich ihn je gesehen. Im Augenblick, bevor die Auktion begann, wandte er sich an den die Verhandlung leitenden Beamten mit der Frage, wie hoch sich die gesamte auf dem Gut haftende Schuldenmasse belaufe, und als er die verlangte Auskunft erhalten, brummte er vor sich hin: »Gerade recht – ganz vortrefflich, rechne ich.«
Während der Versteigerung saß Bürger neben mir, und nach einer Weile waren wir beiden die einzigen Bieter. Aber immer überbot mich der Freund mit einem wahrhaft türkischen Gleichmut. Der Kopf wurde mir heiß, und während einer Pause flüsterte ich ihm zu:
»Seid Ihr denn ganz des Teufels? Ohne Euch hätte ich bereits das Gut in Händen.«
»Rechne, ich werde bieten bis zum Betrag der Schuldenmasse.«
»Wollt Ihr denn das Gut für Euch erwerben?«
»Ach, bewahre!«
»Ich meine: für die Firma?«
»Behüte!«
»Für wen denn?«
»Werdet es erfahren – 's ist kla–ar.«
In halber Verzweiflung begann ich wieder zu bieten, denn die Höhe der Angebote überstieg schon bei weitem die mir zur Verfügung stehenden Mittel.
Bürger überbot mich und dann wiederum und noch einmal. Ich aber durfte und konnte nun nicht mehr weiter gehen, denn falls mir das Gut zugeschlagen worden wäre, hätte ich die Bedingung, die Kaufsumme bar zu erlegen, nicht erfüllen können.
Der Freund erhielt den Zuschlag zu einem Preise, welcher nur einige Tausende unter dem Betrag der Schuldenmasse blieb.
»Rechne, Ihr habt keine Ursache, so desperat auszusehen,« sagte Bürger, als ich mit verbissenem Ingrimm aufstand. »Mußten ja die Manichäer doch bezahlt werden – 's ist kla–ar.«
Er stand ebenfalls auf und sagte zu dem Beamten:
»Mein Herr, ich erlege nach Vorschrift den Kaufschilling bar.«
Damit öffnete er die Mappe, welche er unter dem Arme gehalten, und bedeckte den Tisch mit Banknoten.
»Mein werter Herr,« sagte der Beamte, nachdem er die sehr beträchtliche Summe überzählt hatte, »wen habe ich die Ehre als Ersteher des Freigutes Rothenfluh, so wie es steht und liegt, in das Versteigerungsprotokoll einzutragen?«
Bürger zwinkerte lustig mit den Augen, bewegte die Nasenflügel und versetzte:
»Rechne, Herrn Michel Hellmuth und Fräulein Isolde von Rothenfluh.«
Der Beamte schaute hoch auf, schrieb aber dann mechanisch, als Bürger ernsthaft mit dem Kopfe nickte.
»Aber um des Himmels willen –«
»Bah, bah,« unterbrach Bürger meinen angefangenen Satz. »Rechne, ist nicht der Ort hier zu Exklamationen und Expektorationen. Geschäft abgemacht und dann geschwatzt – 's ist kla–ar.«
Er wartete ruhig, bis der Beamte die nötigen Papiere ausgefertigt hatte, steckte mir dann dieselben ohne weiteres in die Brusttasche und zog mich in ein Nebenzimmer.
Hier drückte er mir mit Wärme die Hand und sagte:
»Rechne, schrieb Euch nicht, wollt' Euch überraschen, da Ihr ja noch ein halber Romantiker seid. Überraschungen poetisch, wißt Ihr? Hatte auch viel zu tun und obendrein allerlei angenehme Zerstreuungen ... Hätte zwar der Hanns Bürger einen alten Freund auch nicht stecken lassen – rechne, Ihr glaubt das – bin aber doch nur als Mandatar meines – hm, meines Herrn Oberst Kippling hier – 's ist kla–ar.«
»Wie?«
»Rechne, ist so. Habt Ihr denn nie, aber auch gar nie davon läuten hören, daß vorzeiten die beiden Herren, Euer Vater und der Freiherr Bodo, zu gleichen Teilen mitsammen eine hübsche Summe in das Kipplingsche Geschäft gaben?«
Ich beantwortete diese Frage der Wahrheit gemäß mit nein, aber doch erwachte eine dunkle Erinnerung in mir, die Erinnerung an jenen Morgen, wo vor Jahren Berthold plötzlich zum Regiment in die Residenz verschickt wurde und der Freiherr mit meinem Vater über Geldgeschäfte gesprochen hatte.
»Die fragliche Summe,« fuhr Bürger fort, »ging verloren, in einem Bankerott, den der Herr Gottlieb Kippling nach dem Tode seines Schwagers und Kompagnons machte. Es ist lange her, und wollen wir also nicht mehr genau untersuchen, welche Bewandtnis es eigentlich mit jenem Bankerott hatte.«
»O, jetzt weiß ich, warum mein teurer Vater seinerzeit soviel Kummer hatte und warum er, der Edle, Vertrauensvolle, plötzlich davon sprach, man müßte den Menschen mißtrauen.«
»Und er hat Euch also nie den Namen des Mannes genannt, durch welchen er sein Vermögen einbüßte?«
»Nie.«
»Das muß ein braver Mann gewesen sein! Er wollte nicht Haß in Eure junge Seele säen. Rechne, nobel das! ... Aber weiter im Text. Ihr wißt so gut und besser als ich, wie der Herr Oberst durch alle die Kalamitäten der letzten Zeit mitgenommen wurde. Lebt jetzt in Neapel und duselt so hin. Wird nie mehr der Alte werden. Als ich ihm nun neulich unter anderem auch von Euch und Euren Angelegenheiten schrieb, kam umgehend ein Brief, worin er die alte Schmiere von dem Bankerott aufrührte und mir befahl, sofort die betreffende Summe mit Zinsen und Zinseszinsen an Euch und Fräulein Isolde zurückzubezahlen. Er habe das ohnehin tun wollen, schrieb er. Der wunderlichste Zufall fügte es, daß das Geld fast netto so viel betrug, als die auf Rothenfluh haftenden Schulden ausmachten. Damit basta! ... Im übrigen läßt Euch meine Frau schön grüßen.«
»Eure Frau? Julie?«
»Rechne, dieselbige Julie, yes – 's ist kla–ar.«
»Ich sag' Euch, Bürger, das freut mich noch mehr als diese fast märchenhafte Erwerbung von Rothenfluh.«
»Rechne, Ihr wäret dessen fähig. Seid von jeher ein leidlich anständiger Mensch gewesen.«
»Aber wie kam denn das?«
»Kurios genug. Julie war seit der Katastrophe auf der roten Fluh ganz mächtig zu ihrem Vorteil verändert. Merkte es gleich, tat aber nicht so. Als Ihr nun fort waret, sah sie sich in ihrer Vereinzelung nach einem Freunde um, dem sie wie Euch vertrauen könnte. Da war denn der alte Hanns Bürger da, von dem auch Gritli, das arme Kind, welches übrigens in der Hut der Schwester jetzt recht schön und gut aufblüht, allmählich begriff, daß er im Grunde ein leidlich guter Kerl sei. Rechne, das Zutrauen Gritlis hat mir erst recht das Vertrauen Julies verschafft. Nun, um kurz zu sein, sollte eines Tages nach der Baustätte ins Bihltal hinauf, war mit Julie gerade allein im Zimmer und sagte da so von ungefähr zu ihr: ›Könntet mir wohl auch Eure Hand zum Abschied geben.‹ – ›Da,‹ sagte sie, und wie sie mir die Hand gibt, fügte sie mit einem schelmischen, aber guten Lächeln hinzu: ›Wollt Ihr sie?‹ – ›Und wie!‹ sag' ich. – ›Für immer?‹ fragte sie. – ›Für immer und noch für ein wenig länger,‹ sag' ich. – ›Da habt Ihr sie und mich dazu,‹ sagt sie. – ›Topp,‹ sag' ich, ›rechne, wollen die Ehestandskomödie mit bestem Humor mitsammen durchspielen.‹ – Drei Wochen darauf war Julie, nachdem ein merkwürdig gerührter Glückwunschbrief von dem Herrn Oberst eingelaufen, meine liebe, liebe Bürgerin .... Das ist die ganze Schnurre.«
»Redet nicht von Schnurren, lieber Freund. Das Glück guckt Euch ja zu den Augen heraus, indem Ihr von Julie sprecht.«
»Rechne, wenn Ihr's durchaus so haben wollt, lieber Junge, so muß ich's schon sagen: ja, bin sehr glücklich! Julie ist über die Maßen liebenswürdig und liest mir jeden Wunsch aus den Augen. Seit ein paar Wochen vollends – na, genug; rechne, es wird seinerzeit ein Gevatterbrief in Rothenfluh einlaufen, verlaßt Euch darauf! ... Und jetzt, mit Verlaub, da Ihr ›Hanns im Glücke‹ gesehen, verlangt mich danach, meinerseits ›Michel im Glücke‹ zu sehen. Ihr müßt mich daher noch heute mit Eurer Braut bekanntmachen. Habe nämlich eine feierliche Mission an Fräulein Isolde, von wegen eines Kusses, welchen Euch zu schulden und an Eurem Hochzeitstage bezahlen zu wollen Julie bekennt. Schulden müssen bezahlt werden, seien es Geldschulden oder Kußschulden – 's ist kla–ar.«
»Pfingsten war, das Fest der Freude ..«
Zur schönen Pfingstzeit war es, als der große Glückstag meines Lebens erschien. Durch das Blachfeld zogen die Rapsäcker ihre gelben Blütenstreifen, die Hügel standen in ihrem saftigen Buchengrün, und unser Dorf lag im weiß-roten Blütenwald seiner Obstbäume. Das ist so recht die »Hochzeit« des Jahres, wie Pfingsten in den alten Liedern genannt wird, und darum auch so recht die Zeit zum Freien und Heimführen der Bräute.
Es lag eine solche Freude und Wohligkeit über der Erde, daß kein Leid, kein Schmerz aufkommen konnte. Darum trugen wir auch, Isolde und ich, die ernste Feier, welche am Pfingsttage zu Gnadenbrunn in der Klosterkirche stattfand, mit ruhiger Fassung.
Meine gute Schwester Hildegard legte an diesem Tage ihr Klostergelübde ab. Sie tat es mit der heiteren Ruhe, welche sie sich schon lange zu eigen gemacht, und welche selbst die erschütternde Nachricht vom Ausgange Bertholds nicht dauernd gestört hatte.
Fabian zelebrierte das Hochamt. Er war gekommen, um den Freund mit der Jugendgespielin zu trauen, und hatte eine gute Nachricht mitgebracht, die Nachricht, daß seine Ernennung zum Pfarrer in Rothenfluh gewiß sei. Der Herr Dekan war nämlich zu Anfang des Frühjahrs gestorben, und da verstand es sich doch von selbst, daß ich das an dem Freigut haftende Patronatsrecht zugunsten des Freundes geübt und ihn der Kirchenbehörde vorgeschlagen hatte. Bevor er von Frohdorf abreiste, hatte er sein dortiges Priesteramt damit beschlossen, daß er dem Jages und Vefele ihren ersten Buben taufte.
In der festlich geschmückten Klosterkirche ging die schwermütig-feierliche Zeremonie der Weihung Hildegards zur »Braut Christi« vor sich. Das dunkle Lockenhaar meiner Schwester sank unter der Schere, der Nonnenschleier fiel über ihr von Schönheit und Andacht strahlendes Gesicht, und der Ambrosianische Lobgesang wurde angestimmt.
Am zweitfolgenden Morgen darauf war großes Leben in der Rentei von Rothenfluh. Aus diesem Hause sollte ich die Geliebte zur Kirche führen. Hierher hatte ich sie am Tage zuvor von Lindach herabgebracht, nachdem in der Woche zuvor das alte Haus mit dem elterlichen Hausrat, welchen Isolde nach dem Tode meines Vaters mit so schöner Pietät hatte aufkaufen lassen, wieder eingerichtet worden war. Ich sehe die beiden alten treuen Mägde noch, die Theres und die Annem'rei, wie sie in den altvertrauten Räumen herumgingen und mit vor Freude zitternden Händen jedem Hausratsstück seinen alten Platz anwiesen. Ich selber empfand dabei die weihevolle Wirkung der Familientradition, eines Bleibendsten und Heiligsten im Wechsel der irdischen Dinge, das aber in unseren Tagen leider nur allzuhäufig geringgeschätzt und mißachtet wird.
Isolde war meinem Wunsche entgegengekommen, als sie mich gebeten hatte, für die nächste Zeit mit mir unter dem Dache wohnen zu dürfen, wo wir beide so glückliche Kinderjahre verlebten. »Ich meine,« hatte sie gesagt, »das Andenken deiner geliebten Mutter, welches an diesen Räumen haftet, wird mich lehren, ihrem Sohne eine so gute Frau zu sein, wie sie deinem Vater gewesen.« – Ohnehin bedurfte das Schloß verschiedener Reparaturen, und dann setzte ich auch etwas darein, zunächst meinen eigenen Verwalter zu machen und mich sozusagen von diesem erst zum Gutsherrn aufzudienen.
Drüben auf dem Kirchturm läuteten sie schon das erste Zeichen zum Beginn der Hochzeitmesse, als ich in die Familienstube trat, wo mich die geschmückte Braut erwartete.
Sie war in ihrem weißen Atlaskleide schön und anmutig wie eine jener Gestalten, wie sie dem Künstlerauge nur in geweihtesten Momenten vorschweben. Sie trug als einzigen Schmuck das Silberkreuz meiner Mutter, aber ein voller Kranz von Rosen lag auf der wunderbaren Fülle ihres unvergleichlichen Haares.
»O, wie bist du schön, Geliebte!« flüsterte ich ihr zu, trunken von Glück. »Du bist selbst eine Rose unter deinem Kranze von Rosen.«
»Ich bin von der Sitte abgewichen, Teuerster,« sagte sie leise. »Die Blumen sind von dem Rosenstocke deiner – unserer seligen Mutter. Es schien mir Glück bringend, wenn ich unter diesem Kranze zur Kirche ginge.«
Ein Wagen fuhr am Hause vor.
»Sie sind es!« rief ich aus und eilte hinab, die liebsten Gäste zu empfangen: Bürger und Julie.
Als die Freundinnen sich umarmt hatten, nahm Julie die Braut bei der Hand, führte sie vor ihren Gatten und sagte:
»Aber ich bitte dich, lieber Bürger, hast du je etwas so Schönes und Holdes gesehen?«
»Rechne, nein, Julchen. Aber weißt du, was wahr ist, muß man sagen: nach Fräulein Isolde kommt sogleich, ja, recht sogleich meine Frau – 's ist kla–ar.«
»Ist er nicht galant, der Brummbär von ehemals?« fragte mich Julie und lachte voll Glück ihrem Manne zu.
Isolde, ihr Erröten zu verheimlichen, führte mir die Freundin zu und sagte ihr:
»Schmeichlerin, bezahle lieber deine Schulden.«
»Recht so, holdselige Braut,« sagte Bürger. »Klare Rechnung muß sein.«
»O, Ihr braucht mich gar nicht zu nötigen,« versetzte Julie heiter. »Ich bin eine ehrliche und zahlungsfähige Schuldnerin.«
Damit küßte sie mich herzlich, zog mich dann beiseite und sagte mir:
»Wie ich Sie kenne, teurer Freund, wird es Ihr heutiges Glück erhöhen, wenn ich Ihnen sage, daß auch ich glücklich sei. Und ich bin es! Bürger ist der liebenswürdigste und beste Mensch von der Welt. Ich hätte nie geglaubt, daß im Kreise stillumfriedeter Häuslichkeit so viel Zufriedenheit und reines Behagen gedeihen könne, wie ich jetzt genieße. – Gritli läßt Sie tausendmal grüßen. Sie können nicht glauben, wie das Kind an mir hängt und wieviel Freude es meinem Manne und mir macht. Wenn Sie,« setzte die Sprecherin mit dem Erröten fraulicher Verschämtheit, aber auch mit dem Lächeln fraulichen Glücks hinzu, »wenn Sie und Isolde im Herbst zum Patenbesuche zu uns kommen, werden Sie sehen, wie groß und schön meine Schwester inzwischen geworden ist.«
Die Glocken riefen uns zur Kirche, und mit Worten innigster Teilnahme und Freude weihte Fabian meinen Bund mit der Geliebten.
Das Festmahl war im großen Saale des Schlosses bereitet worden. Eine Deputation der Gemeinde brachte uns die Glückwünsche derselben. Bürger sprach, sprudelndem Humor warme Herzensworte zugesellend, den Toast auf das Brautpaar. Drunten im Parke waren lange Tische aufgeschlagen, damit die Insassen des Gutes und die Gemeindegenossen auch ihren Teil am Feste hätten, und gegen Abend spielte eine Musikbande der Dorfjugend zum Tanze auf.
Als dort die Fröhlichkeit recht im Gange war, wurde es im Schloß und Park schon stiller. Die Gäste verloren sich, und Bürger und Julie hatten sich schon früher heimlich zu ihrem Wagen gestohlen. Sie wollten uns unserem Glücke und uns selbst überlassen.
Nun wandelte ich mit Isolde Hand in Hand durch den Park dem Wasserfall zu. Dort stiegen wir hinab und gingen am Bache das Wiesental hinauf zur Breunighalde. Es zog uns zu der Stelle, wo unsere Herzen ihr Erwachen zuerst erraten hatten. Auf dem Rückwege besuchten wir den Friedhof, und dort bei den Blumen, welche die treue Hand der Geliebten auf den Gräbern unserer Eltern gepflegt hatte, wiederholten wir die feierlichen Gelübde, welche wir morgens am Altar ausgetauscht hatten.
»O,« sagte Isolde, »wie würden, die hier schlummern, sich freuen, teurer Mann, wenn sie sähen, daß wenigstens zwei ihrer Kinder glücklich geworden sind! Und warum nicht annehmen, daß sie es sehen und uns segnen? Ist es doch ein guter und tröstlicher Glaube, daß die innigsten Bande, welche die Menschen verknüpfen, niemals sich lösen.«
Der Schimmer des Abendrotes verglomm allmählich an den heimatlichen Bergkuppen, als wir zu dem elterlichen Hause zurückkehrten, welches jetzt auch das unsere war.
Drinnen schmückten die Theres und die Annem'rei die Türpfosten der Brautkammer mit Blumengewinden.
Aber wir gingen hinaus in den Garten unter den alten Apfelbaum und saßen dort bis lange in die schöne Frühlingsnacht hinein. Da, an dem Lieblingsruheplatze der Eltern, hielt jetzt der Sohn sein Glück in den Armen. Der alte Freund meiner Jugend, der Apfelbaum, regte im lauen Nachthauch leise die Zweige, und als wollt' auch er seinen Gruß und Glückwunsch sagen, überrieselte er uns mit Blütenflocken. Über ihm, in der klaren riesigen Himmelsglocke funkelten glückverheißende Sterne.
Und stiller und immer stiller ward es um uns her. Drunten im Dorfe unter der Linde verstummte die Musik. Drüben im Parke riefen und lockten sich die Nachtigallen, zuletzt nur noch halbleise, wie traumselig – dann schwiegen auch sie. So erstarb Ton um Ton in der Nähe und Ferne – ich hörte den süßen Atem der Geliebten gehen, die ihr Haupt an meine Brust gelehnt hatte, und zuletzt wachte weit in der Runde hier unten nur noch ein glückliches Paar und droben der Gestirne melodischer Wandel.
Ende.