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Praktische Philosophie eines Kindes des Jahrhunderts, das es – das Kind nämlich – enorm, ganz enorm gut mit dem Autor meint.
»Wie ich Ihnen sage, Herr Hellmuth, Geschäft ist Geschäft, und Geschäfte müssen geschäftsmäßig behandelt werden. Das ist eine Tatsache, denk' ich.«
»Ohne Zweifel, Herr Ziegenmilch. Aber noch eine enormere Tatsache ist es, daß Sie, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, das Publikum mit dieser ›Lilionese‹, bestehend aus etwas Rosen- und Zimmetöl, vermischt mit viel Kreide, ganz enorm beschwindeln. Das Töpfchen von diesem wunderbaren Schönheitsmittel kostet Sie etwa einen Viertelfrank, während Sie es um fünf Franken verkaufen.«
»Was wollen Sie? Geschäft ist Geschäft! Ich denke, wir können diesen gangbaren Artikel noch billiger herstellen und noch um zwei bis drei Fränklein teurer verkaufen. Die Damen sind ja ganz rasend darauf – dank Ihrer enormen Annonce! Habe nie eine enormere gesehen, auf Ehre! Enorm, ganz enorm!«
»Aber, Herr Ziegenmilch ...«
»Bitte, kommen Sie mir nicht wieder mit Ihren moralischen Wenn und Aber. Wie oft muß ich Ihnen, der Sie, ohne Kompliment, ein Mann von Genie und Bildung sind, wie oft noch muß ich Ihnen sagen, daß die Moral für Pastoren und Schulmeister ein enorm vortreffliches Ding sein mag, für Geschäftsleute aber ein enorm störsames, ausgenommen etwa Sonntags in der Kirche. Nämlich, verstehen Sie mich wohl, die Sorte von Moral, welche für kleine Kinder, dito für große und, wie ich Ihnen sage, für Pastoren und Schulmeister erfunden wurde. Was die andere Moral betrifft, nämlich die, welche vorschreibt, uns vor widerwärtigen Karambolagen mit dem Strafgesetzbuch zu wahren, ei, vor dieser hab' ich einen so enormen Respekt als nur irgendeiner. Ist das eine praktische Moral, eine Moral für Geschäftsleute. Nur keine unpraktischen, idealistischen Marotten, mein lieber Herr Hellmuth, wenn Sie auf dem Geschäftsweg, wenn Sie überhaupt Ihre Fortune machen wollen.«
»Aber, mein lieber Herr Ziegenmilch, es handelt sich da nicht entfernt um Idealisches, wenn ich mir die Freiheit nehme, Ihnen unter uns zu bemerken, daß Ihr ganzes Geschäft da eigentlich purer blanker Humbug und Schwindel ist.«
»Bscht, bscht! Eigentlich mag es so sein, aber uneigentlich ist das Geschäft ein enorm gutes Geschäft, wie Sie wissen. Sehen Sie nur, wie sich da draußen im Laden die Damen drängen, um alle die kosmetischen Herrlichkeiten von meiner enormen Erfindung einzukaufen. Humbug und Schwindel, ei jawohl! Sagen Sie mir, ist dieses enorm elegante Geschäftslokal, welches die in Kosmetik machende respektable Firma Oskar Ziegenmilch und Komp. eingerichtet hat, auch Humbug oder ist es eine enorme Tatsache? Denke doch, das letztere, Herr Hellmuth. Geschäft ist Geschäft, und praktisch, enorm praktisch muß man sein: das ist meine Moral. Sehen Sie, 's ist gar nicht so lange her, daß Oskar Ziegenmilch und Komp. ein so armer Teufel war wie Sie, Herr Hellmuth – bitt' um Entschuldigung. Hatte da oben in der obskuren Spiegelgasse ein enorm miserables Lädchen, eine gemeine Bude, allwo ich Tüten drehte, armem Gesindel lotweise Kaffee und Pfeffer verkaufte, Käse auswog und Heringe einwickelte. War, mit einem Wort, ein unpraktischer, ehrlicher, dummer Kerl. Kriegte aber eines schönen Tags eine Erleuchtung, die mein verborgenes Genie weckte. Hatte nämlich meine gute Lelia – eigentlich heißt, im Vertrauen gesprochen, meine werte Hälfte Liseli, wie wir hierzulande für Elisabeth sagen, modelte aber diesen gemeinen Namen mit meiner Einwilligung in Lelia um, welchen vornehmen Namen sie, glaub' ich, in einem verrückten französischen Geschichtenbuche aufgelesen ... gescheite Ehemänner müssen ihren Frauen solche harmlose romantische Wallungen oder Kapricen nachsehen, wissen Sie? – ja, meine Lelia hatte mal statt des verlangten Romans aus der Leihbibliothek ein enorm kostbares Buch erhalten, welches sie verächtlich beiseite warf. Zufällig tat ich einen Blick hinein, und was entdeckte ich? Eine neue Welt, sag' ich Ihnen. Es war die Lebensbeschreibung des großen Barnum, von ihm selber geschrieben.«
»Die Lebensgeschichte des unverschämtesten aller Schwindler?«
»Sie mögen den großen Barnum so nennen, ich nenne ihn das Ideal eines Geschäftsmannes. Die Weisheit aller Gelehrten, die je gelebt haben, hätte mir nicht halb soviel genützt, als mir Barnums Geschichte nützte. Das Buch wurde meine Bibel, die ich mit Eifer, mit Andacht studierte. Mein Genie, das bisher brach gelegen, wurde von Barnums Genie gleichsam beackert und besät. Barnum operierte mir den Staar meiner dummen Ehrlichkeit oder ehrlichen Dummheit. Ein enormer Mensch, der Barnum, ganz enorm! Sah mich jetzt zum ersten Male mit offenen hellen Augen in der Welt um, und was gewahrte ich? Daß die Welt nur eine große Schwindelbude ist, in welcher die Dummen den Klugen den Saldo bezahlen. Die menschliche Gesellschaft erschien mir fortan als ein enormes Hauptbuch, bestehend aus den zwei Rubriken Soll und Haben, und ich beschloß weislich, in der Rubrik Haben mich anzusiedeln. Alle praktischen Leute tun das und überlassen die Rubrik Soll großmütig den unpraktischen. Wer aber praktisch sein will, recht enorm praktisch, der muß heutzutage mehr oder weniger schwindeln. Sie sehen, mein lieber Herr Hellmuth, ich spreche ganz offen und vertraulich mit Ihnen. Würde es nicht tun, wenn ich Sie, Ihrer unpraktisch idealistischen Anwandlungen ungeachtet, nicht für einen im Grunde praktischen Kopf hielte.«
»Sehr verbunden, Herr Ziegenmilch. Allein lassen Sie sich sagen, daß meine praktische Anlage doch nicht groß genug ist, mich zu überreden, die ganze Welt sei Humbug und Schwindel.«
»O, Sie werden das schon noch begreifen, mein Lieber. Sehen Sie sich den Lauf der Dinge nur einmal genau an. Alle schwindeln, die Großen im großen, die Kleinen im kleinen. Wer Millionen kommandiert, macht in Staatspapieren, Eisenbahn- und Kreditaktien; wer keine Million hat, aber zu einer kommen will, macht, wie zum Beispiel Oskar Ziegenmilch und Komp., in Wunderarzneien und Schönheitsmitteln. Kam durch einen glücklichen Zufall darauf, welchen ich eine wahre Fügung des Himmels zu nennen mich gedrungen fühle. Während ich gerade an dem großen Exempel Barnums mich begeisterte, verlangte meine Liseli, will sagen meine Lelia, Geld von mir, um sich für ihre damals noch sehr bescheidene Toilette ein Tüpfchen von der in den Zeitungen gepriesenen Aurorapomade anzuschaffen. Das war ein Schicksalswink. Ich befolgte denselben und warf mich mit enormer Energie auf die Kosmetik. Zuerst handelte ich mit Schönheitsmitteln, dann erfand ich selber welche, mit Hilfe eines alten Apothekerbuches. Kann ich etwas dafür, daß die Welt betrogen sein will? Bald war ich in den Stand gesetzt, aus der obskuren Spiegelgasse in dieses vornehme Stadtquartier überzusiedeln. Anfangs war ich nur Mieter meines Geschäftslokals, jetzt ist es samt dem Hause mein Eigentum, und ich habe es ganz nach den Erfordernissen der Pariser Eleganz neu etabliert. Bereits darf ich mich, unter uns, einen gemachten Mann nennen, und es wird die Zeit kommen, wo ich meinem eigenen Kutscher befehlen kann, mich nach der Börse zu fahren. Sehen Sie, mein Lieber, das ist das Resultat meiner Moral: Geschäft ist Geschäft und praktisch muß man sein ... Im übrigen will ich Ihnen etwas sagen, selbst auf die Gefahr hin, Ihr warmes Zartgefühl zu beleidigen.«
»Sprechen Sie ungeniert, Herr Ziegenmilch. Sie sind mein Prinzipal, und ich bin Ihr Untergebener.«
»Ja, das ist wohl so: aber sehen Sie, Herr Hellmuth, Sie haben so etwas an sich, so etwas ... nun, so etwas Vornehmes. Ich will sagen, man merkt Ihnen den studierten Mann auf Schritt und Tritt an. Es ist etwas Kurioses, etwas enorm Kurioses, daß wir anderen, wir Geschäftsleute, vor den Studierenden, falls es nämlich keine Lumpen sind, innerlichst so 'ne Art von Respekt haben .... doch, kurz und gut, will Ihnen zeigen, daß auch ich kein gemeiner Kerl bin. Ja, auf Ehre, bin kein schofler Egoist und meine es gut mit Ihnen, enorm gut, obgleich ich mich selber, das heißt meinen Vorteil natürlich, dabei auch nicht außer acht lasse. Müßte kein Geschäftsmann sein, wenn ich das täte. Der gegenseitige Vorteil ist das festeste Freundschaftsband, sehen Sie, und wenn man seine Fortune machen will, muß man sich in die Welt schicken."
»Zur Sache, wenn's beliebt.«
»Allsogleich. Sie wissen, Herr Hellmuth, als ich das Glück hatte, zufällig Ihre Bekanntschaft zu machen, waren Sie in nicht sehr glänzenden Umständen ....«
»Allerdings nicht, sondern im Gegenteil in sehr mißlichen.«
»Gut. Ich machte Ihnen den Vorschlag, bei mir einzutreten. Sie hatten so etwas an sich, was mir gefiel, etwas, was mir sagte, daß Sie gut mit der Feder umgehen könnten ....« »Meiner Treu, Sie sind ein merkwürdiger Physiognomiker.« »Lachen Sie nur nicht, Herr Hellmuth. Ich habe meine kleinen praktischen Talentchen. Das Geschäftsleben schärft einem, der kein Dummkopf ist, die Augen enorm, ganz enorm. Sie übertrafen auch meine Erwartungen weit. Nicht nur brachten Sie eine vortreffliche Ordnung in die Bücher und in die Korrespondenz, sondern Sie bewiesen auch eine Meisterschaft im Verfassen von Annoncen, die ich mit wahrer Bewunderung anerkenne, um so mehr, da mir, obschon, wie Sie zugeben werden, mein Mundstück nicht zu den schlechtesten gehört, der Himmel die Gewandtheit im schriftlichen Ausdruck versagte. Sie haben eine glückliche Hand, Herr Hellmuth, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Mein Geschäft hat in den wenigen Wochen, seit Sie demselben Ihr Genie widmen, schon bedeutend gewonnen, ich füge es ohne Umschweife. Bin unter Umständen enorm aufrichtig, ganz enorm. Überdies sind Sie ein angenehmer Hausgenosse, kein Krakeeler, aber auch kein Finsterling, kurz, gerade so, wie ich die Leute gern habe. Auch mein Liseli, nein – Donnerhagel! – meine Lelia, hat Sie gern und das will etwas heißen, denn sie ist, wie ich Ihnen bereits bemerkte, mitunter allerlei romantischen Wallungen und Kaprizen unterworfen. Es ist aber ein großer Segen, wenn eine Frau weder seufzt noch weint, weder schmollt noch brummt, was alles zuweilen der Fall war, bevor Sie kamen. Meine Ehehälfte findet an Ihrer Tischgenossenschaft großen Gefallen. Das macht, sie kann mit Ihnen von dem Zeug schwatzen, was sie ihre Ideale nennt, das arme Ding! Sie hat nicht das Glück, Mutter zu sein, wie Sie wissen; auch hat sie leider einen Abscheu vor dem Küchendepartement, und in diesen beiden Fällen pflegen die Frauenzimmer auf allerlei Schnickschnack zu verfallen. Die einen werden fromm, die anderen sentimental oder sonst schwärmerisch, die dritten werfen sich der Galanterie, die vierten der Dichterei in die Arme, die fünften suchen Trost in der Weinflasche. Ich habe meine werte Hälfte stark im Verdacht, sich zum Mitglied der vierten dieser Klassen machen zu wollen, und ersuche Sie daher dringend, Herr Hellmuth, sie zu überreden, diese Kaprize nicht gar zu weit zu treiben. Die Gute hält, wie ich weiß, große Stücke auf Sie, und ich – ich bin ganz und gar nicht zur Eifersucht geneigt. Außerdem bin ich überzeugt, daß ich es mit einem Ehrenmann zu tun habe. Ja, und beiläufig, dürfte ich Sie bitten, meine Frau heute ins Theater begleiten zu wollen? Sie wissen, ich tue das nicht gern, langweile mich enorm daselbst, ganz enorm, und gebe alle Theater und Theaterstücke der Welt für einen gemütlichen Schmaußjas oder Skat, zehn Points zu zwanzig Centimes.«
»Ich werde Ihren Wunsch erfüllen, Herr Ziegenmilch. Aber, wenn ich nicht irre, wollten Sie mir eine Mitteilung machen.«
»Freilich, freilich, und diese Mitteilung wird Sie, rechne ich, überzeugen, daß ich es enorm gut mit Ihnen meine, ganz enorm ... Sagen Sie mir, lieber Herr Hellmuth, befinden Sie sich heute nicht bedeutend komfortabler als vor drei Wochen, wo Sie bei mir eintraten?«
»Doch, Herr Ziegenmilch, doch. Ich anerkenne auch dankbar, daß Sie meine Dienstleistungen in Ihrem Geschäft weit über mein Erwarten belohnt haben ...«
»Saläriert, wollen wir sagen, lieber Herr Hellmuth. Sie haben in drei Wochen mehr für mein Geschäft getan, als zehn andere Kommis in der doppelten und dreifachen, ja zehnfachen Zeit dafür hätten tun können, und im gebührenden Verhältnis zu ihren Leistungen setzte ich auch Ihr Salär fest. Dasselbe ist, schmeichle ich mir, so, daß ein junger Mann, welcher nicht allzu viele Bedürfnisse hat, damit auf dem Fuß eines Gentleman leben kann.«
»Ich bin zufrieden.«
»Schön, schön, oder vielmehr nicht schön, Herr Hellmuth. Denn, verstehen Sie mich wohl, Sie sollten höher streben.«
»Ich bin nicht geldgierig, Herr Ziegenmilch.«
»Ei, ich bin auch nicht gerade geldgierig, das heißt, ich bin kein schmutziger Egoist; aber ich bin ein praktischer Mensch. Als solcher bin ich überzeugt, daß wir beide, verstehen Sie? wir beide mitsammen in der Welt etwas vor uns bringen könnten, etwas Enormes. Daher mache ich Ihnen folgenden Vorschlag: Sie verpflichten sich, für zwei, drei Jährchen in Ihrer jetzigen Stellung, die ich Ihnen so angenehm als möglich zu machen suchen werde, meinem Geschäfte Ihre vortrefflichen Dienste zu widmen. Inzwischen dehnen wir das Geschäft nach allen Seiten hin aus und ziehen nach und nach diverse weitere Branchen in das Bereich unserer Tätigkeit. An baren Mitteln und an Kredit – 's ist eine enorm schöne Sache um den Kredit! – soll es mir dazu nicht fehlen, und die Hauptsache, Genie, besitzen wir beide. Nach Verlauf der angegebenen Zeitfrist erlassen wir eines schönen Morgens ein Zirkular, welches der Welt anzeigt, daß die Firma Oskar Ziegenmilch und Komp. fürohin heiße: Ziegenmilch und Hellmuth. Verstehen Sie?«
»Sie sind so gütig, mir für die Zukunft die Associéschaft in Aussicht zu stellen?«
»Ja.«
»Ich anerkenne Ihre Güte, Herr Ziegenmilch; aber ...«
»Schon wieder eines Ihrer aber? Ich bitte Sie, Geschäft ist Geschäft, und praktisch muß man sein.«
»Wohl ... doch lassen Sie mich Offenheit mit Offenheit erwidern. Als ich den Entschluß faßte, die kommerzielle Laufbahn zu betreten, leitete mich neben anderen Motiven insbesondere die Hoffnung, auf dieser Laufbahn meinen Wunsch, die weite Welt zu sehen, am leichtesten befriedigen zu können. Ich hatte zu diesem Zwecke eine kurze Weile daran gedacht, Soldat zu werden, das heißt in englischen oder holländischen Diensten die militärische Laufbahn zu versuchen. Allein ich fühlte in allen Nerven, daß ich doch viel zu sehr Idealist sei – Verzeihung für das unpraktische Wort! – um eine willenlose Maschine sein zu können. So wurde ich denn Kommis, und wenn Sie, wie Sie mir sagen, mit meinen Diensten als Kommis einigermaßen zufrieden sind, so mag Ihnen das beweisen, daß ein Mann von Bildung auch in praktischen Sphären nicht allzulangsam und schwer sich zurechtfinden kann. Sie haben mich gütig behandelt, Herr Ziegenmilch, und Sie werden mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht unempfänglich und undankbar bin. Allein es muß dennoch heraus: Ihr ganzes Geschäft da hat etwas an sich, was mir gegen den Mann geht.«
»Ei was, Herr Hellmuth, Geschäft ist Geschäft und praktisch muß man sein.«
»Wohl, aber Praxis und Humbug ist doch gewiß nicht absolut eins und dasselbe.«
»Hm, darüber ließe sich viel sagen. Will Ihnen aber statt des vielen heute nur zweierlei bemerken. Erstens, wenn Sie, lieber Herr Hellmuth, Ihre kaufmännische Fortune possieren wollen, so dürfen Sie keine Minute, keine Sekunde, keinen Augenblick lang des kaufmännischen Fundamentalsatzes vergessen, welcher lautet: Möglichst wohlfeil kaufen und möglichst teuer verkaufen. Darauf beruht auch mein Geschäft. Zweitens: die Firma Oskar Ziegenmilch und Komp. ist mitnichten willens, ihr Leben lang nur die Erfindung, die Herstellung und den Umsatz von Artikeln zu betreiben, durch deren Gebrauch kranke Einfaltspinsel gesund, junge, häßliche Frauenzimmer schön, alte Weiber wieder jung zu werden vermeinen. Mein Genie ist auf Höheres gestellt ...«
Der dieses Gespräch mit mir führte, lieber Leser, und zwar an dem Orte, welchen er mit viel Bewußtsein sein »Kontorkabinett« zu nennen pflegte – eine Lokalität, in welcher, beiläufig gesagt, auch mein Schreibpult sich befand, und welche mittels eines hohen Bogenfensters und einer schmalen Türe mit dem »Tempel der Kosmetik« draußen, das ist mit dem Schönheits- und Gesundheitsmittelladen, in Verbindung stand – also mein »Herr Prinzipal«, Oskar Ziegenmilch und Komp., war ein angehender Vierziger und das, was junge und alte Stubenmädchen einen »hübschen Mann« zu nennen pflegen. Von mittlerer Statur war er wohlgebaut und vortrefflich angezogen; auch ein kleidsames Schnurrbärtchen fehlte ihm nicht, und um seine roten Bäckchen zog sich ein Backenbart, welcher »enorm« gut à l'Anglais kultiviert war. Hätten nicht unter der etwas niedrigen und wie ein neues Trommelfell glatt und glänzend gespannten Stirne hervor die kleinen wasserblauen Augen des Mannes so äußerst schlau und doch auch wieder gutmütig in die Welt geblickt, man hätte glauben können, er sei, wie er leibte und lebte, aus dem neuesten Modejournal geschnitten worden.
Elegant, wie die Erscheinung des Herrn Ziegenmilch, war auch das ganze Geschäftslokal; das Magazin draußen mit seinen drei »Ladenmamsellen«, die hübsch und gut angezogen genug waren, um den Herrn Prinzipal einigermaßen zu berechtigen, sie seine »drei Grazien« zu nennen, wie das Kontor hier innen, wo alle Gerätschaften »kosmetisch« aussahen, bis herab zu dem mit rotem Korduanleder überzogenen Schreibbock, auf welchem während des gemeldeten Dialogs Herr Ziegenmilch rittlings gesessen hatte.
»Wie ich Ihnen sage, Herr Hellmuth,« fuhr er fort, »mein Genie ist auf Höheres, auf Höchstes gestellt.«
Mit diesen Worten voltigierte er graziös von seinem hochbeinigen Sitze herab, verschränkte die Arme und durchmaß mit großen Schritten das kleine Gemach, offenbar große Gedanken und kühne Entschlüsse im Kopfe wälzend.
Endlich blieb er vor mir stehen, legte seine rechte Hand auf meinen linken Arm und sagte mit viel Majestät:
»Meine Zeit ist heute gemessen, Herr Hellmuth, denn ich muß mich zu einem Diner bei der großen Firma Sack und Söhne ankleiden ... Sack und Söhne, wissen Sie? erstes Bankhaus auf hiesigem Platze ... Große Ehre für mich ... Laden zu ihren exquisiten Diners nur Geschäftsfreunde ein, welche viel – verstehen Sie? – viel mit ihnen machen. Sehen Sie, so weit hat es der weiland Käse- und Heringskrämer aus der Spiegelgasse schon gebracht, und er wird es, so Gott will, so weit bringen, daß er Sack und Söhne zu seinen Diners bitten kann. Bin also pressiert und daher in Eile nur noch folgendes ...«
Hier streckte sich Herr Ziegenmilch und sah möglichst aus wie Napoleon, der seinen Marschällen einen Schlachtplan entwickelt, oder noch besser, wie ein deutscher Professor der Philosophie, welcher seinen Zuhörern das innerste Heiligtum seines Systems aufschließt.
»Herr Hellmuth,« sagte mein Prinzipal mit allem Pathos, das er aufzuwenden hatte – »der Handel ist in unserer Zeit alles! Das übrige, alles das übrige ist Lumpenzeug, das nur noch so mitläuft. Alle Leute von Genie – wie zum Beispiel Sie und ich – werfen sich in die industrielle und kommerzielle Karriere. Da kommt man vorwärts, da stellt man etwas vor. Schwatzen da närrische Leute bei uns zu Lande von Volkssouveränität, und noch größere Narren glauben ihnen. Wir, die Gescheiten, die Geschäftsleute, wissen aber, daß die Souveränität nirgends steckt als in unseren Kassen und in unseren Hauptbüchern. Der Kaufmann, der große Kaufmann ist jetzt der Herr der Welt, hier wie überall, und ich bin entschlossen, enorm entschlossen, ein großer Kaufmann, ein Kaufmann in des Wortes verwegenster Bedeutung zu werden. Aber, wie ich Ihnen sage, ich bin kein Egoist, das heißt ich weiß, daß zwei Männer von Genie mehr vermögen als einer. Sie sind ein Mann für mich, und ich bin ein Mann für Sie. Daher erwägen Sie den Vorschlag, welchen ich Ihnen gemacht. Ich gebe Ihnen eine Woche, meinetwegen auch zwei Wochen Bedenkzeit. Bin überzeugt, Ihr Genie wird Ihnen sagen, daß ich es enorm, ganz enorm gut mit Ihnen meine. Hiermit Adieu für heute ... Sack und Söhne dürfen nicht warten ... bin enorm pressiert ... aber vergessen Sie meine Frau Gemahlin und das Theater nicht und ... ja, unterlassen Sie beim Schlafengehen und beim Aufstehen nie, den Spruch zu beten: Geschäft ist Geschäft und praktisch muß man sein, enorm praktisch!«
welches den Kommentar zu dem vorhergegangenen enthält.
Eine der traurigsten Lagen, in welche der Mensch kommen kann, ist die, im verödeten Vaterhaus zu stehen, zum letztenmal, und von allem Abschied zu nehmen, was an entflohenes Glück, an eine von zärtlicher Mutterhand gepflegte Kindheit, an frohe, von einem liebevollen Vaterauge bewachte Jünglingsjahre erinnert. Alle die goldenen Erinnerungen stürmen auf dich ein, und du meinst, die schreckliche Veränderung, diese Einsamkeit, diese Öde sei eine Unmöglichkeit. War das nicht der leichte Tritt der Mutter im Nebenzimmer? Sprach da nicht der Vater ein joviales Wort dorther, von seinem gewohnten Platz am runden Familientische? Trällerte nicht die Schwester draußen vor dem Fenster im Garten ein lustig Liedchen?
O, mein Gott, Vater und Mutter schliefen drüben auf dem beschneiten Kirchhofhügel, der Großmutter zur Seite, und lieb Schwesterlein sang nicht mehr im Garten. Sie war groß und schön und unglücklich geworden, und barg droben hinter den klösterlichen Mauern von Gnadenbrunn den Schmerz über das jähe Erwachen aus einem kurzen schönen Jugendtraum. Selbst der runde Familientisch war fort, von irgend einem Trödler oder einer Trödlerin in der Auktion erstanden, welche abhalten zu lassen die Verhältnisse mich genötigt hatten.
Ein schmerzliches Ding, so eine Auktion, welche den mit Sorgfalt angesammelten Hausrat einer Familie in alle Winde zerstreut. Ich mußte mich während der traurigen Szenen dieses Geschäfts doch sehr oft daran erinnern, daß ich ein Mann sei, um nicht dieses oder jenes Möbelstück, welches mein Vater besonders bequem gefunden, dieses oder jenes Stück Linnen, welches meine Mutter gesponnen, wieder unter dem unerbittlichen Auktionatorhammer wegzureißen. Die teuersten Familienstücke, Reliquien unseres Wohlstandes, an welche sich besonders liebe Erinnerungen knüpften, hatte ich freilich gerettet, indem ich sie meiner Schwester nach Gnadenbrunn mitgegeben.
Hildegard hatte dringend dorthin verlangt, wo sie von der Mutter Superiorin und der ganzen Schwesterschaft mit offenen Armen aufgenommen zu werden gewiß war. Auch lebte ihr ja ganz in der Nähe des Klosters die treueste Freundin, Isolde, welche auf ihrem Hof Lindach wohnte, und endlich war es mir lieb gewesen, der geliebten Schwester den Anblick der traurigen Veränderungen zu ersparen, welche unser Elternhaus durch die Ordnung der Hinterlassenschaft und die damit zusammenhängende Auktion erlitt. Freilich hätte ich es viel lieber gesehen, wenn Hildegard das dringende Anerbieten Isoldes, schwesterlich mit ihr in Lindach zusammen zu wohnen, angenommen hätte. Aber ihr Sinn stand nun einmal nach dem Kloster, und es wäre mir wahrlich übel angestanden, der armen, durch den Verlust des Vaters in tiefstes Leid versetzten Schwester Zwang antun zu wollen. Nur eines forderte und verlangte ich von ihr, das Versprechen, unter keinen Umständen durch ein unwiderrufliches Gelübde sich zu binden, bevor sie die Überzeugung gewonnen, daß sie es nie zu bereuen haben werde. Deshalb hatte ich sie gebeten, wenn überhaupt, erst drei Monate nach dem dritten Todestage unseres geliebten Vaters den Schleier zu nehmen. Sie hatte mir das versprochen, und ich wußte, daß sie ihr Wort halten würde. Ich hoffte dabei auf Hildegards Jugend, auf den lindernden Einfluß der Zeit, auf irgend einen glücklichen Zufall, welcher verhindern würde, daß meine schöne Schwester unter dem Nonnenschleier verwelken müßte.
Endlich, an einem trüben Februarabend war alles vorüber. Die Auktion war zu Ende, die Leute waren weg, die Sachen fortgenommen. Ich wollte noch eine letzte Nacht in dem unheimlich leeren Hause verbringen, dessen nackte Wände nur allzusehr zu meiner Stimmung paßten. Ich durchschritt noch einmal die vertrauten Räume, die mir ferner kein heimatliches Obdach mehr gewähren sollten, suchte meine Schwermut mit der Vorstellung zu beschwichtigen, daß wenigstens meiner Schwester für ihr Leben lang eine bescheidene Existenz gesichert sei, und ging dann daran, meinen Koffer zu packen, als unsere zwei Mägde, die Theres und die Annem'rei, eintraten.
Sie waren zum Gehen gerüstet und kamen, Abschied zu nehmen und sich nach Lindach auf den Weg zu machen. Isolde hatte die treuen Seelen in ihren Dienst genommen. Da ich sie im Hause ihrer neuen Herrin noch einmal sehen sollte, war der Abschied kein allzuherber. Doch fehlte es auf ihrer Seite nicht an Tränen, und während der folgenden Szene wurden auch mir die Augen feucht.
»Seht, Herr Michel,« sagte die Annem'rei, indem sie den Deckel des Korbes öffnete, welchen sie am Arme trug, »seht, den nehmen wir auch mit. Das arme Beest soll in seinen alten Tagen nicht unter fremde Leute verstoßen sein.«
In dem Korbe richtete sich der alte Don Murr langsam auf, rieb seinen Kopf an meiner liebkosenden Hand, ließ ein melancholisches Mau! Mau! hören, rollte sich dann wieder in seinem Behälter zusammen und steckte den Kopf zwischen die Hinterbeine, als wollte er von dieser jämmerlichen Welt nun gar nichts mehr sehen.
»Ach,« schluchzte die alte Magd, »der Herr Kons'lent selig hat das Tier so lieb g'habt, drum soll es auch nicht hungern, solang' die alt' Annem'rei noch ein Stückle Brot hat.«
»Und den da nehmen wir auch mit,« sagte die Theres, ein Tuch von dem prächtigen Rosenstrauß wegziehend, dessen Topf sie im Arme hielt. »Seht, Herr Michel, 's ist die groß' Moosrosenstaude, an der die Frau Kons'lentin selig ihre absonderliche Freude hatte, und da dacht' ich, die Pflanz' soll nicht z' grund' gehen, solang' die alt' Theres leben tut.«
Ich blickte lange, lange auf den Strauch, der voll blühender Rosen hing. Mir wollte vorkommen, als sähe ich die zarten Finger meiner Mutter durch das Blättergrün gleiten. Es war wie ein zärtliches Winken, wie ein duftender Gruß aus dem Geisterland ....
Als die beiden alten treuen Seelen fortgegangen und ich nun ganz allein war in dem weiten leeren Hause, ließ ich meinem verhaltenen Schmerze freien Lauf. Ich habe in meinem Leben nie bitterlicher geweint als damals.
In jener Nacht, die, lang und schlaflos wie sie war, ernstem Nachdenken gewidmet wurde, kam auch der Entschluß zur Reife, eine Laufbahn einzuschlagen, wie mein Bildungsgang sie nicht erwarten ließ. Möglich, daß mein jugendlich schwärmerischer Ingrimm gegen das, was ich Verkehrtheit und Unrecht in unseren politischen und sozialen Einrichtungen nannte – ein Ingrimm, über welchen zu brüten ich auf der Festung so recht Zeit und Gelegenheit gehabt – hierbei einen Hauptfaktor abgab. Ich schlußfolgerte so: Da ich ein Mensch ohne Protektion bin, ein Mensch ohne wegbahnende Basen und nachschiebende Vettern, außerdem ein Mensch, dessen Rückgrat bedenklich ungelenk, ein Mensch, der seine Zunge nicht ja sagen lassen kann, wo sie nein sagen muß, dessen Augen nicht so organisiert sind, wie die des edlen Polonius, und der dummerweise gewohnt ist, sein Herz auf dem Rockärmel zu tragen, wie jenes schottische Sprichwort sagt – da ich endlich ein armer Mensch bin, so ist das Fazit der Rechnung, daß ich auf dem Wege der Juristerei nicht weiter als in jene Sackgasse gelangen werde, in welcher das Staatsproletariat, die Bureaumenschheit ihr nicht so fast glänzendes als vielmehr nur glänzend scheinendes Elend hinschleppt. Besseres vielleicht könnte ich hoffen, wenn ich, den Staatsdienst zur Seite liegen lassend, Beruf zur Advokatur in mir verspürte; aber offen gestanden, diese widert mich fast noch mehr an als jener. Und dann, ich möchte die Welt sehen, möchte meine Jugendfrische nicht im Kanzleidienst und Aktenstaub vertrocknen lassen. Wäre ich reich, so würde ich ein »Weltfahrer« auf eigene Rechnung à la Pückler-Muskau, wäre ich schriftstellerisch begabt, ein Weltfahrer à la Mundt auf Buchhändlers Rechnung.
In dieser Manier ging mein nächtlicher Monolog noch lange fort, aber ich verschone den Leser damit und setze nur den Schluß hierher, welcher darauf hinauslief, daß ich ohne Zögern den Entschluß faßte, ein Geschäftsmann oder, speziell ausgedrückt, ein Kaufmann zu werden.
Das war nun freilich einer jener kühnen Entschlüsse wie nur die Jugend sie improvisieren kann und darf. Die einzige faktische Basis, auf welche mein Plan sich stützte, waren meine leidlichen Sprachkenntnisse und der feste, unter den Widerwärtigkeiten der letzten Zeit gezeitigte Wille, Dinge und Menschen zu nehmen, wie sie sind.
Als ich, ermüdet von Sorgen und Erwägungen, bei Tagesgrauen endlich einschlief, tat ich es mit den Worten: Ich will in die weite Welt hinaus, will versuchen, Kaufmann zu werden und mein Glück zu machen.
Man sieht, der kommerzielle Geist, der geldmachende, der eigentliche Zeitgeist unseres Jahrhunderts, hatte auch mich ergriffen. Ich will auch gar nicht versuchen, um meinen zunächst rein egoistischen Entschluß etwelchen sozialphilosophischen Nebel herzubreiten, wie ich solchen leicht etwas aus Thomas Carlyles »Evangelium der Arbeit« holen könnte. Ich wollte arbeiten, allerdings, sogar angestrengt arbeiten, aber zuvörderst doch nur, um mir in der Welt zu einer anständigen Existenz zu verhelfen. An andere dachte ich kaum. Fühlte ich doch recht schwer, daß ich selber nichts war und vor allem versuchen müsse, etwas zu werden.
Am folgenden Tage ließ ich mein Gepäck in die Stadt bringen, sagte den Gräbern meiner Teuren Lebewohl und stieg dann ins Tal von Gnadenbrunn hinauf, um die beiden Wesen, die mir jetzt die teuersten auf der Welt waren, noch einmal zu sehen. Nach einem herzzerreißenden Abschied von Hildegard eilte ich nach dem Lindacher Hof, wo mich die ernste, stille in ihrem stillen Ernst so schöne Isolde wie einen Bruder empfing.
Als sie mich aus ihrem Zimmer, wo alles von den ernsten Beschäftigungen eines edlen und gebildeten Geistes zeugte, in das für mich bestimmte Gemach geleitete und die Tür desselben öffnete, stand ich freudig überrascht still.
Da war ja unsere Familienstube aus der Rentei in Rothenfluh!
An den Wänden die alten vertrauten Kupferstiche: die Sixtinische Madonna, das Abendmahl von da Vinci, die Köpfe Lessings, Schillers, Goethes. Dort das alte Kanapee, auf welchem sitzend die Mutter uns Kindern so viele schöne Märchen erzählt hatte; der große runde Tisch davor, an dessen hartem Holz mein schnitzelndes Messer sich so oft versucht hatte. Alles, bis auf die kleinste Gerätschaft herab, hing, stand, lag so, wie es daheim gehangen, gestanden, gelegen. Vom Fenster her grüßte mich der mütterliche Moosrosenstrauch, dessen Anblick mich gestern so tief bewegt hatte. Am Ofen stand der Sorgenstuhl, in welchem der Vater so manche Pfeife geraucht, so manchen Scherz losgelassen hatte, und auf dem Stuhle lag Don Murr, welcher bei meinem Eintritt sich erhob, seinen kühnsten Buckel machte und zum Willkomm ein fröhlich Geschnurr hören ließ.
Mich überkam ein Gefühl, daß ich doch nicht ganz heimatlos geworden sei.
»O, Isolde,« sagte ich, tief gerührt die Hände des jungen Mädchens ergreifend und in den meinigen drückend, »so gut kann auf der ganzen weiten Welt doch nur Isolde von Rothenfluh sein! Ich danke dir!«
»Wofür? Daß ich dir diese kleine Freude bereitete?«
»Für alle deine Liebe und Güte.«
»Wie du nur sprichst! Waren wir nicht wie Geschwister von Kindheit auf? Und sieh, ich habe ja auf der weiten Welt nur noch Hildegard und dich.«
»Du vergissest deinen Bruder ....«
Isolde ließ meine Hände los, trat zurück und machte eine abwehrende Gebärde, Ein tiefer Schatten überflog ihre edlen Züge.
»Um des Himmels willen, Isolde, du hassest deinen Bruder?«
»Hassen? Nein!«
Und tief aufatmend setzte sie hinzu:
»Ich bin noch jetzt bereit, für sein Glück zu tun, was ich kann. Aber zwischen ihm und mir steht ein ... Genug, sprich nicht von ihm, o, ich bitte dich! Es tut mir weh; du weißt nicht, kannst nicht wissen, wie weh.«
Sie sank auf einen Stuhl und verbarg das Antlitz in den Händen.
Was waltete hier für ein Geheimnis? Was stand zwischen Isolde und Berthold?
Bevor ich einen Versuch machen konnte, auf diese Fragen eine Antwort von Isolde zu erlangen, erhob sie sich wieder und fügte, ihre Aufregung glücklich bemeisternd:
»Du bist durchnäßt, lieber Michel, bist müde und gewiß auch hungrig. Mache dir's bequem, und inzwischen will ich nachsehen, ob die alte Theres und die alte Annem'rei dir auch auf dem Lindacher Hof deine Lieblingsgerichte – o, ich kenne sie wohl noch – zum Abendessen bereiten können ...«
Ich blieb den folgenden Tag noch auf dem einsamen Hofe, wo das junge Mädchen, das, ausgestattet mit allen Vorzügen des Körpers und des Geistes, befähigt war, in den glänzendsten Kreisen der Gesellschaft zu herrschen, in freiwillger Zurückgezogenheit als Hausfrau waltete, angebetet von ihrem Gesinde, hochverehrt von dem umwohnenden Bergvolk, aber, wie ich leider befürchten mußte, schwer gedrückt von einem geheimen Kummer.
Nach einem nochmaligen schüchternen Versuche mußte ich es aufgeben, dieses Rätsel zu lösen, wenngleich der alte vertraute Ton aus den Kinderjahren zwischen Isolde und mir wiedergekehrt war.
Jener mit dem herrlichen Mädchen verlebte Tag ließ mich seit langer Zeit zum erstenmal wieder fühlen, was Glück sei. Und doch sprachen wir nicht von Liebe. Aber wie ein süßestes, für alle Ewigkeit unzerreißbares Band umschlangen uns die rosigen Erinnerungen aus früheren Tagen.
Oft, ich gestehe es, wenn ich die Jungfrau in der ganzen Anmut und Huld ihrer Erscheinung vor mir sich bewegen sah, wenn sie mir gegenüber saß und ihre wundersam schönen Augen voll herzinnigen Vertrauens den meinigen begegneten, oft pochte mir das Herz heiß in der Brust und leidenschaftliche Worte drängten sich mir auf die Lippen. Oft bedurfte es meiner ganzen Willenskraft, das teure Mädchen nicht zu fragen: Gehören wir denn nicht zusammen? Sollen wir nicht zusammenbleiben für immer? Und eine verlockende Stimme in meinem Innern flüsterte mir zu: Frag Isolde immerhin; sie wird nicht nein sagen.
Aber immer wieder bezwang ich mein Herz. Mein Stolz, ein törichter Stolz vielleicht, hielt mich zurück, ein Wort der Entscheidung zu wagen. Durfte ich, ein junger Mensch, der nichts war, der noch nicht einmal gezeigt hatte, daß er etwas werden könnte, ich, sozusagen ein Bettler, durfte ich mir herausnehmen, um die Herrliche zu werben? Nein!
Ich teilte Isolde meinen neuen Lebensplan mit.
Sie stutzte anfangs und sagte, indem sie zu lächeln versuchte:
»Wie, Michel? Du, der himmelstürmende Gigant, dessen hochfliegenden Theorien kein Titanismus titanisch genug sein konnte, willst dich kopfüber in die Prosa des Lebens stürzen? Du willst Kaufmann werden? Es ist wohl nur Scherz.«
»Keineswegs,« erwiderte ich, und nachdem ich meinen Plan des näheren entwickelt hatte, setzte ich hinzu: »Sieh, meine teure Isolde, die Zeit des titanischen Wollens, die Zeit der gigantischen Himmelsstürmerei, wie ich sie mit vielen guten und schlechten Gesellen auf der Universität getrieben, ist vorbei. Was hilft es dem einzelnen, gegen die Schranken einer Welt anzurennen, wie sie nun einmal ist? Er kann sich dabei höchstens den Schädel zerschellen. Dem Manne, selbst dem idealistisch gesinnten, drängt sich bald genug die Notwendigkeit auf, die Verhältnisse zu nehmen, wie sie sind; denn nur so kann es ihm gelingen, sie wenigstens einigermaßen nach höheren Begriffen zu gestalten. Euch Frauen ist es gestattet, länger in der idealen Welt, die ihr in eurer Brust erbautet, zu weilen. Eure ganze Organisation ist die zartere, poetischere. Euch in schonen Illusionen zu wiegen, das ist euer Vorrecht. Du hast deine Dichter, dein Piano, deine Harfe, dein Skizzenbuch; du, kannst und darfst da in deiner idyllischen Einsamkeit dem Kultus des Schönen leben, obgleich die praktischen Forderungen des Lebens auch an dich, an die Lindachbäuerin, wie du dich scherzweise nennst, tagtäglich herantreten. Bewahre deinen Idealismus! Du kannst es, und er steht euch Frauen so schon! ... Was mich betrifft, du glaubst wohl nicht, daß ich je ein gemeiner Utilitarier werden könne; aber, siehst du, ich muß erst durch das Nützliche hindurch, um zum Schönen gelangen zu können. Ich muß erwerben, um mir und anderen das Leben zu gestalten. Überzeugt, daß ich zum Gelehrten nicht das Zeug habe, ebenso, daß ich weder als Beamter noch als Advokat mir selbst oder sonst jemand nützlich sein könnte, will ich es als Kaufmann versuchen. Du wirst mich darum nicht geringer achten, denn nicht was er treibt, sondern wie er es treibt, macht den Mann. Ich werde versuchen, in unserem Nachbarlande, der Schweiz, diesem industriellsten Lande des Kontinents, eine industrielle oder kommerzielle Stellung zu gewinnen. Die Schweizer gelten für Dreiviertels-Engländer und für halbe Yankees: ich werde also bei ihnen vortreffliche Studien im Geschäftsleben machen können. Ich gehe an den Versuch ohne sanguinische Hoffnungen, aber mit festem Mut. Und sieh, Isolde, wenn ich es recht bedenke, hat das Leben, welchem ich mich widmen will, nicht nur seine kleinlich selbstsüchtige Seite, sondern auch seine großartige, sogar, wenn du willst, seine poetische. Wir leben im Zeitalter der materiellen Interessen. Ein unerbittlicher Realismus beherrscht die Welt. Die Theorie gilt nur noch da, wo sie als Dienerin, als untertänige Dienerin der Praxis auftritt. Die Wissenschaft wird nur noch in dem Grade geschätzt, in welchem sie für den unmittelbaren Erwerb arbeitet, Kunst und Poesie sind Luxuswaren wie andere. Der Born idealer Schöpfungskraft scheint einstweilen versiegt zu sein. Die kleine Gemeinde des Idealismus muß sich kümmerlich von den Brosamen nähren, die von der schwelgerischen Geistertafel des achtzehnten Jahrhunderts in das unsrige herüberfallen. Das Kapital beherrscht alle Gesellschaftsklassen, vom König hinab bis zum Fabriksklaven. Es ist die Seele des großen Motors unserer Zeit, des Industrialismus, mit welchem die moralischen und materiellen Motoren der Vergangenheit, die ich alle unter dem Namen Feudalismus zusammenfasse, einen wilden Kampf auf Leben und Tod kämpfen. Wem der Sieg zufallen werde, kann nicht zweifelhaft sein. Mit jedem neuen Dampfboot, das vom Stapel läuft, mit jedem neuen Dampfroß, das die Schienen beschreitet, fällt ein Stück Feudalismus in den Abgrund unwiederbringlicher Vergangenheit. Jede neue Maschine, deren Eisenarme der Dampf in Bewegung setzt, zerreibt ein religiöses, politisches oder soziales Dogma des Mittelalters zu Atomen. Törichte Romantik, welche den Leichnam der sogenannten guten alten Zeit, nachdem sie denselben mit allerhand Flitter aufgeputzt, galvanisiert und der Welt einreden will, der Moder sei Leben. Ein ungeheurer Umschwung der Ansichten und Verhältnisse bereitet sich vor, alles ist auf reale Ziele und Zwecke gerichtet. Die Menschen glauben, lieben, hoffen und wollen nichts mehr, als was sich verwerten, zählen, wägen läßt und Interessen, tatsächliche, greifbare Interessen trägt. Das Nützliche, nur das Nützliche, immer und überall das Nützliche, das ist's, was unsere Zeit will und mit ungeheurer Arbeit erstrebt. Niemals ist so gearbeitet worden, wie jetzt gearbeitet wird, und wo Arbeit ist, da ist Leben, Bewegung, Zukunft. Ja, Zukunft, und zwar eine solche, welche dem Nützlichen auch wieder das Schöne gesellen wird. Mag es scheinen, ja mag es Wirklichkeit sein, daß unsere Zeit nur noch an den schwarzen Höllengott Mammon glaubt, die lichten Götter der Freiheit und Freude, der Schönheit und Menschlichkeit sind darum nicht tot. Sie harren nur, wie so oft schon in wildgärenden Übergangsperioden auch jetzt wieder ihrer Zeit. Die reale Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts bereitet den Boden, auf welchem im zwanzigsten ideale Samen ausgestreut werden und fröhlich gedeihen können.«
Mein langer Vortrag, in welchem ich, wie ich auch jetzt noch glaube, die Signatur unserer Zeit ziemlich getreu gezeichnet hatte, stimmte Isolde nachdenklich. Nach ihrer verständigen Art wollte sie die neugewonnenen Eindrücke sich erst zurechtlegen und klarmachen, bevor sie sich darüber aussprach. Ich habe nie ein weibliches Wesen gekannt, welches von der Untugend sovieler Frauen, über alles und jedes, auch das ihnen Neueste, von ihnen Unbegriffenste, blind in den Tag hineinzuschwatzen, so frei gewesen wäre, wie Isolde es war.
Ich wiederhole, ich glaube, schon damals in meinem »dunklen Drange« ziemlich richtig gefühlt zu haben, wie unsere Zeit ist und was sie will; aber ich will gleich hier bekennen, daß ich später, als ich das Wesen des Utilitarismus des neunzehnten Jahrhunderts in seinen Einzelheiten kennen lernte, oft große Not hatte, mir den Glauben an die Möglichkeit der Wiederkehr des Idealismus im zwanzigsten Jahrhundert zu bewahren.
Am Abend vor meinem Abschied von Isolde, nachdem wir lange von unseren Eltern und von meiner Schwester gesprochen, gab sie dem Gespräch eine andere Wendung und sagte:
»Du willst also Kaufmann werden, lieber Michel? Nun wohlan, deine Gründe haben mich überzeugt, und ich kann deinen mutigen Versuch, dir mit eigener Kraft eine Stellung im Leben zu schaffen, nur billigen und loben. Aber, mein Freund, ein Kaufmann, besonders ein erst werdender, hat Geldmittel nötig und ...«
Wohl wissend, was kommen werde, wollte ich Isolde unterbrechen, allein sie legte mir begütigend die Hand auf den Arm und fuhr mit ihrer einfachen Herzlichkeit fort:
»Unsere Hildegard weiß es nicht, aber ich weiß es, wie großmütig du gegen sie gewesen, und daß du infolge dieser Großmut ...«
»Nenne es nicht so, Isolde. Meine Handlungsweise war nur die allereinfachste Pflichterfüllung und mir noch dazu von meinem geliebten Vater ausdrücklich vorgezeichnet.«
»Du mußtest tun, wie du tatest, mein Freund, ich weiß es. Aber sieh, du solltest doch auch wissen, daß mir jeder Bissen im Munde quellen würde, wenn ich dich in Not wissen müßte.«
Wie mußte ich mir Gewalt antun, um diesen reizenden Mund, der so einfach wahr aussprach, was das Herz ihm gebot, nicht zu küssen!
»Quäle dich doch nicht mit so trüben Vorstellungen, meine teure, meine gütige Isolde,« sagte ich. »Für die nächste Zeit bin ich von Subsistenzmitteln keineswegs entblößt, und zudem bin ich gesund, rüstig, voll guten Mutes und habe hoffentlich auch einiges gelernt – woher also schlimme Besorgnisse? Wenn sie sich aber jemals rechtfertigen, wenn ich jemals in wirkliche Not geriete, dann, beim Himmel! wäre Isolde von Rothenfluh das einzige Wesen, welches um Unterstützung anzugehen ich mich nicht schämte.«
»Dank dir, mein Freund. Aber wie du nur wieder sprichst! Wer redet von Unterstützung? O, ich kenne unsern stolzen Michel, und meinst du denn, ich wollte ihn anders haben, als er ist? Mir gefällt, wie ich schon sagte, dein Vertrauen auf die eigene Kraft ... Aber jedes Ding muß doch seinen Anfang haben, und ... und, siehst du, als ich dich heute so geschäftsmäßig reden hörte, wurde auch ich ganz geschäftlich gestimmt, und ich dachte mir, du würdest aus alter Freundschaft nichts dagegen haben, wenn ich mich mit einer Summe Geldes, die leider lange nicht so groß ist, wie ich sie wünschte, an deinen Unternehmungen beteiligen würde, und ...«
»Wie du errötest, über und über, meine teure Isolde! Siehst du, du kannst keine Lüge aussprechen, du nicht! Nicht einmal eine Lüge der Großmut, womit du nur das eigene Zartgefühl täuschen möchtest. Nein, nein! Sieh, du hast mich stolz genannt: wohlan, laß mir den Stolz, dir, gerade dir zu zeigen, daß ich durch mich selbst etwas werden könnte.«
Isolde sagte nichts mehr. Sie sah mich nur noch bittend an mit ihren lieben Veilchenaugen und, ach, wie schwer wurde es mir, dieser stummen Sprache zu widerstehen! Ich fühlte überhaupt, daß ich hier nicht länger weilen dürfte, wenn ich meine Fassung, meinen Stolz bewahren wollte.
So ging ich denn folgenden Tages.
Wir sagten uns kein zärtlich Wort zum Abschied, wir weinten nicht, wir küßten uns nicht; aber als mir, dem oft Zurückblickenden, das rotbraune Dach, unter welchem Isolde atmete, entschwunden war und ich durch die frostigen Morgennebel hinabstieg aus dem Gnadenbrunner Tal, den von schmelzenden Schneemassen geschwellten, laut tosenden Bergbach zur Seite, da stand ein wilder Schmerz in mir auf und schrie mir in die Ohren: Jetzt bist du allein, ganz allein in der weiten, weiten Welt!
Nach wenigen Tagen befand ich mich in der großen und berühmten Handelsstadt des Nachbarlandes, wo mich der geneigte Leser im »Kontorkabinett« von Oskar Ziegenmilch und Komp. wiedergefunden hat.
Ich hatte bald genug erfahren, daß es etwas anderes ist, ein fremdes Land als leichtblütiger Student, eine anständig gefüllte Börse in der Tasche, sozusagen mit Sang und Klang zu durchstreifen, und wieder etwas anderes, etwas sehr anderes, in das nämliche fremde Land zu gehen, um daselbst ein Unterkommen zu suchen, vollends in einem Fache, wo man doch eigentlich ein purer Bönhas ist. Ich hatte zwar nicht alle die Enttäuschungen sovieler Deutschen durchzumachen, welche mit der Vorstellung in die Schweiz kommen, dieses Land sei ein verwirklichtes Freiheitsgedicht, so 'ne Art Geßnerschen Idylls in die Politik übersetzt, ich wußte schon zum voraus so halb und halb, daß die Schweizer ein durchaus praktisches, utilitaristisches, arbeitsames und nüchtern rechnendes Volk seien; aber nach einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Versuche, mir eine Art Existenz zu verschaffen, glaubte ich doch gefunden zu haben, daß diese Republikaner nicht nur halbe, sondern ganze Yankees seien. Man weiß ja, wie die Not den Menschen verbittert, und ich hatte erfahren, was Not ist und wie sie tut. Ach, sie tut einem doppelt weh, der in Wohlhabenheit erzogen wurde und sich nun sozusagen plötzlich mittellos »der gemeinen Wirklichkeit« gegenübergestellt findet.
Vorüber! ... Aber ich kann doch nicht umhin, manchmal jener trübseligen Stunde zu denken, wo ich in einem düstern Quartier der reichen Handelsstadt vor der Tür einer armseligen Pintenschenke stand und ernstlich mit mir zu Rate ging, ob ich den letzten Rest meiner Barschaft, das letzte von Wert überhaupt, was ich besaß, den Maria-Theresientaler meiner seligen Mutter, dadrinnen gegen ein seit zwei Tagen entbehrtes Mittagsessen eintauschen sollte oder nicht.
Seltsam, in der nämlichen Stunde, wo meine Pietät über meinen Hunger einen – ach, wie schweren! – Sieg davontrug, nahm mein Geschick eine günstige Wendung, indem mir ein Zufall die Bekanntschaft des Herrn Oskar Ziegenmilch verschaffte.
Ich hatte eben mit vieler Anstrengung meine Augen von der Versuchung, die mir in Gestalt einer Pintenschenke entgegengetreten, abgewendet, als ein weiblicher Schreckensruf an mein Ohr schlug. Er kam aus dem Munde einer elegant gekleideten Dame, die vor den scheugewordenen Pferden eines leeren Frachtwagens her die enge Gasse herabfloh. Ich lief ihr entgegen, faßte sie am Arme und führte oder trug sie vielmehr rasch in eine offenstehende Haustür, die sie in ihrer blinden Angst wahrscheinlich nicht gesehen hätte. Das Gespann rasselte vorüber, und damit wäre die Geschichte zu Ende gewesen, wenn nicht die Dame, einer Ohnmacht nahe, so krampfhaft meinen Arm festgehalten hätte, daß ich sie wohl oder übel nach Hause geleiten mußte.
Meine Schützlingin war Frau Elisabeth, will sagen Lelia Ziegenmilch, deren Herr Gemahl mir warmen Dank bezeigte und freundlich in mich drang – du lieber Gott, es bedurfte keines großen Drängens! – an dem eben bestellten Mittagstische Platz zu nehmen.
Wenn du, mein geneigter Leser, einmal in der Lage gewesen bist, zu erfahren, was nach wochenlanger Entbehrung ein kräftiges Mittagsessen, ein Glas Wein, zum Nachtische eine Tasse Kaffee und eine gute Zigarre für köstliche Dinge sind, so wirst du begreifen, daß ich gegen meinen Wirt nicht spröde tat. Er war ein zu »enorm praktischer« Mann, um nicht, noch bevor wir zu Kaffee und Zigarren kamen, meine Lage zu durchschauen. So gab denn ein Wort das andere und – kurz und gut – der nächste Morgen sah mich als angehenden Kommis in dem Geschäftslokal von Oskar Ziegenmilch und Komp.
Er war in der Tat das, für was er sich selbst hielt, ein kaufmännisches »Genie«, mein werter Herr Prinzipal, und er war auch kein »schmutziger Egoist«, das heißt, wer ihm diente, dem diente er wieder. In seiner Art war er ein Mann von großem Streben, und auch seine Eigenheit, sich in wahrhaft kriechender Weise um die Bekanntschaft von irgendwie, namentlich aber durch großen Besitz ausgezeichneten Leuten zu bemühen und sich dann in echter Emporkömmlingsweise dieser »vornehmen« Bekanntschaften bei jeder Gelegenheit zu rühmen, selbst diese Eigenheit, die mir oft so lächerlich vorkam, ist ja nur ein allgemeiner Charakterzug jener in unserer Zeit so äußerst zahlreichen Sorte von Menschen, deren ganzes Dichten und Trachten im Streben nach äußerlichem »Sukzeß« aufgeht. Einer solchen Natur mußte mein moralischer Ärger über den Humbug, woraus Ziegenmilch und Komp. bares Geld münzten, mein Ärger über diese Gesundheitsarkane und diese Kosmetik, über diese Witheschen und Hetteschen Augenwasser, diese Stanleyschen und Laurentiusschen Kraftessenzen, Rohrschekschen Universalbalsame, Delabarreschen Sirupe, du Barryschen und Whartonschen Revalenten, diese Aurorapomaden, Lilionesen, Schönheitswasser, Rachel-, Viktoria-, Eugenie-Schminken usw. in infinitum – ich sage, meinem Ziegenmilchschen Kaufmannsgenie mußte meine Moral in der Tat sehr albern vorkommen. Ich werde nie das triumphierende Lächeln vergessen, womit Herr Ziegenmilch meiner »unpraktischen« Moral gegenüber bei einem Wochenabschluß auf die Summe zeigte, welche der handgreifliche Blödsinn des Baunscheidtschen »Lebensweckers« ihm binnen wenigen Tagen eingebracht hatte. Später, als ich erfuhr, daß das Ziegenmilchsche Geschäft im Grunde nur der Mikrokosmos des kommerziellen Makrokosmos war, ärgerte ich mich nicht mehr so heftig darüber, daß die Welt schlechterdings betrogen sein wolle.
Frau Lelia Ziegenmilch war, wie ihr Gemahl scherzweise zu sagen pflegte, eine »starke Neunzehnerin«, das heißt sie hatte unlängst das dreißigste Jahr passiert. Ihre gefühlvolle Seele wohnte in einem Körper, der recht hübsch war, wenn er nicht etwas zu kurz und zu rund gewesen wäre. Eine Blondine von rosigem Teint, besaß sie allerliebste Arme und gefällige, wenn auch unbedeutende Züge, aber sie war zu sehr, was die Engländer bushel-bubby nennen. Ihre Zähne waren bewunderungswürdig regelmäßig und weiß, aber wahrscheinlich gerade so echt wie die schönen Zähne von zwei Dritteln ihrer Landsmänninnen. Ihre runden graubläulichen Augen schmachteten, schmachteten sehr, nämlich nach einem »Lebensinhalt«, wie sie sich ausdrückte. Sie bildete sich ein, keinen solchen zu haben, seit sie ihrem Manne nicht mehr Käse auswägen und Tüten drehen helfen mußte, sondern seidene Roben trug und ein eigenes »Meidli« zu ihrer persönlichen Bedienung hatte. Vielleicht war es auch mehr als Einbildung, und die gute Frau war in dem kleinen Lädchen in der obskuren Spiegelgasse wahrscheinlich glücklicher gewesen, als sie es in ihrem stattlichen Hause auf dem großen Quai war, wo diverse Bankiersfrauen, die in der Nachbarschaft wohnten und lange nicht so hübsch waren wie meine »Prinzipalin«, sich über das lustig machten, was sie die Pfeffertütenmanieren der »kleinen« Ziegenmilch nannten. Ein junger Maler, Herr Artur Puff, ein lustiger Gesell, der bei Ziegenmilch und Komp. aus und ein flatterte und unter dem Vorwande, der Frau vom Hause den Hof zu machen, dem Hausherrn seinen Wein vertrinken und seine Zigarren verrauchen half, pflegte witzelnd zu sagen, das, woran sich Goethe im zweiten Teile des »Faust« abgemüht, die Vereinigung von Romantik und Klassik, habe die Natur in Frau Lelia glücklich zuwege gebracht. Hier wohne in einem appetitlich plastischrunden Körper eine germanisch-romantische Nebelseele.
Glaube nicht, lieber Leser, daß ich mit Wissen und Willen boshaft sei. Herr und Frau Ziegenmilch haben mir zu viel wirkliches Wohlwollen gezeigt, als daß dies irgendwie meine Absicht sein könnte. Ich male nur nach der Natur, nach dem Leben, und ich benutze gerade diese Gelegenheit, mich mit dir, lieber Leser, über einen wichtigen Punkt auseinanderzusetzen.
Ich habe dich im vorstehenden in die Geschäftswelt eingeführt, und im folgenden werden wir uns in den verschiedenen Kreisen derselben bewegen. Solltest du da mitunter einen unangenehmen Eindruck erhalten, so ist das durchaus nicht meine Schuld. Ich beschreibe nur, was ich erlebte, und ich erkläre förmlich, daß ich die Geschäftswelt weder für besser noch für schlechter halte als andere Kreise der Gesellschaft. Seit sich das Publikum einesteils durch eine geleckte naturlose Dorfnovellistik, andernteils durch Suesche Proletarier-Romantik den Geschmack verderben und die klare Anschauung der sozialen Wirklichkeit trüben ließ, sind die wunderlichsten Ansichten über an Stand und Beruf haftende Tugendlichkeit oder Lasterhaftigkeit aufgekommen. Ich teile diese Ansichten keineswegs. Ich glaube, ein Kaufmann oder, wenn du willst, ein »Geldprotz« kann so tugendhaft oder so lasterhaft sein wie ein Bauer, wie ein Proletarier, wie ein Prinz und umgekehrt. Meine Erfahrung lehrt mich, daß die Torheiten, Leidenschaften und Laster der Menschen in allen Ständen ihrem Wesen nach immer dieselben sind, obgleich sie in verschiedenen, »standesgemäßen« Formen zum Vorschein kommen ... Du hast das selber schon längst gewußt? Nun, desto besser!
Ein Abend vor den Lampen. – »Immens« gefühlvoll. – Der Herr Kandidat oder Professor. – Ein Literaturtraum. – »Die konservative Hetzpeitsche.« – Ansichten, Findungen und Ratschläge eines praktischen Genies. – Ein Zwischenakt und ein verflogener Jugendtraum.
Am Abend des Tages, an welchem mir mein Herr Prinzipal ein Privatissimum über praktische Philosophie las, hatte ich also die Ehre, Frau Lelia ins Theater zu begleiten, wo die Firma Ziegenmilch und Komp. einstweilen noch, bevor sie in die höheren Regionen der ersten Logenreihe emporstieg, auf zwei Sperrsitze im Parkett abonniert war.
Das Haus war und ist wahrscheinlich noch jetzt nicht gerade ein Kompliment auf den Geschmack und die Munifizenz einer Stadt, welche durch die unvergleichliche Schönheit ihrer Lage eine Menge von Fremden zur Ansiedelung lockt, durch Gewerbbetrieb und Handel große Wohlhabenheit, ja Reichtum erlangt hat und durch die wissenschaftlichen Anstalten, die sie besitzt, den Rang eines intellektuellen Mittelpunktes des ganzen Landes mit Recht beansprucht. Das Gebäude, außen ärmlich, innen kärglich, enthielt eine Bühne, deren Personal zu meiner Zeit mehr auf den Titel einer Bande als auf den einer Gesellschaft Anspruch machen konnte, und wenn man fragte, warum eine Stadt von dieser Bedeutung kein besseres Theater besitze, so erhielt man die Antwort, es gelte nicht für »vornehm«, theatralische Genüsse zu suchen, um so weniger da es »vornehmer« Ton sei, »fromm« zu sein oder wenigstens zu tun. Die »vornehmen« Familien, besonders die Damen, suchten ihre ästhetischen Bedürfnisse lieber in Konventikeln zu befriedigen, und was die Herren beträfe, so würden dieselben allerdings fleißige Theaterbesucher sein, falls nur jener »Professor der höheren Plastik«, dessen Name, glaub' ich, Müller war, das ganze Jahr hindurch seine »lebenden Tableaus« aufführen oder auch eine Sennora Pepita allabendlich ihren gewänderverschiebenden Ole tanzen würde. Möglich, daß diese Behauptungen die purste Verleumdung waren, denn sie kamen aus dem Munde des Herrn Artur Puff, welcher für einen Satiriker galt. So viel indessen sah ich selber zu verschiedenen Malen, daß die Logen, namentlich die des ersten Ranges, sehr leer, Parterre und Galerie dagegen ziemlich voll waren.
Man gab heute das damals unvermeidliche »Lorle« der unvermeidlichen Birch-Pfeiffer, und Frau Lelia verriet schon während der ersten Szenen die gehörige Rührung. Sie war die dankbarste Zuhörerin von der Welt, meine schöne Nachbarin. Wenn droben auf der Bühne ein recht sentimentaler »Drucker« aufgesetzt wurde, seufzte sie jedesmal mit ihrem allerliebsten kleinen Mund: »Ach, wie gefühlvoll!« und bewegte malerisch ihren Fächer, und dabei hob sich ihr Busen so mächtig, daß mir ganz bange wurde, er möchte die Blondenchemisette sprengen. Als der Vorhang nach dem ersten Akte fiel, sagte sie eifrig:
»Wie glücklich Sie sind, Herr Hellmuth, in einem Lande daheim zu sein, wo das Volk noch so harmlos idyllisch und so gefühlvoll, so immens gefühlvoll ist.« – (»Immens« war das Lieblingswort von Madame. Wie ihr Herr Gemahl alles »enorm« fand, fand sie alles »immens«.) – »Bei uns zulande,« fuhr sie fort, »findet man solche Bauern nicht mehr. Ich weiß das noch von damals, wo sie zu uns in den ......« Käseladen kamen, wollte sie wahrscheinlich sagen, brach aber schnell ab, und zum Glück wurde dieses Abbrechen vortrefflich dadurch motiviert, daß eine rasselnde Stimme im nämlichen Augenblicke hinter uns sagte:
»Dummes Zeug! Birch-Pfeifferei! 's gibt weder auf Erden noch im Himmel solche marzipanene Bauern – wissen Sie?«
Die Stimme klang mir bekannt. Ich wandte mich überrascht um und sah mich dem roten Vollmondgesichte des berühmten Kandidaten Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel gegenüber.
»Mein Gott, Herr Kandidat ....«
»Professor, wenn's beliebt,« unterbrach er mich, indem er mir die Hand schüttelte und sich zu meinem Ohre vorbeugte. »Professor klingt vornehmer, und sind diese Republikaner und Republikanerinnen hier höllisch auf Titel versessen – wissen Sie?«
»Aber wie kommen denn Sie hierher?«
»Könnte die nämliche Frage an Sie richten. Habe aber eine Mission hier, eine kolossale Mission!«
»Freilich. Aber wollen wir nicht lieber in die Theaterrestauration hinübergehen? Spricht sich dort ungenierter. Habe Rücksichten zu nehmen, muß das Dekorum beobachten – wissen Sie?«
Ich folgte meinem Führer aus dem Saal, und während er mich durch ein enges Gewinde von Korridoren und Treppen geleitete, ließ er seiner Suada freien Lauf.
»Verfolgt einem doch diese Birch-Pfeiffersche Dramatik heutzutage überall, wie vordem den reisenden Briten das Lied von Marlborough – schrecklich!« sagte er.
»Aber, mein lieber Kandidat oder Professor .....«
»Warten Sie, warten Sie! Fällt mir da gerade ein, daß ich vorige Nacht einen kuriosen Traum gehabt, einen echtdeutschen Traum, einen Literaturtraum – wissen Sie? Träumte mir, wandelte in der Unterwelt umher, wie vorzeiten der Epistemon des alten Rabelais. Sah da schnakische Dinge, versichere Ihnen. Kam da ein Fürst daher, welcher in einem Gitterkorb, den er auf dem Rücken trug, eine erkleckliche Schar lyrischen und dramatischen Federviehs eingefangen hatte, ein Wiedererwecker der Tage der Medizi und Este. Herrgott, war das ein Geflatter und Geschnatter und Gepiepse! Nebenher tänzelte graziös ein berühmtester Sänger und bot mit allerliebster Stimme die allersüßesten Zuckerkandisstengel feil, während ihm ein edelster Mittroubadour Konkurrenz machte, indem er mit höchster Fistelstimme Inquisitionstörtchen à la Torquemada ausschrie. Weiterhin sah man diverses jungdeutsches Gesindel in Hofratsuniformen sich abmühen, der deutschen Charakterfestigkeit einen Weihetempel zu errichten, welchen ein deutsch-russischer Baron mit Braunemärchenfresken ausmalte. Daneben war die ganze Reihe von Selbstmördern aufgehangen, unglückliche Übersetzer, welche es nicht zu ertragen vermocht hatten, daß dem Sue die Tinte brandig geworden, und daß der Dumas den Fingerkrampf gekriegt. Dort links um die Ecke klagte ein Schwabe, daß man seine Schwarzwälder, seine leibeigenen Schwarzwälder widerrechtlich zu Bühnendiensten gepreßt habe. Trösten Sie sich, Landsmann, sagte eine majestätische Dame, ich habe Ihre Lorle unsterblich gemacht, indem ich sie durch meine dramatische Kaffeemühle laufen ließ. Ach was, versetzte der Landsmann unwirsch, ich werde Sie dafür belangen. Die majestätische Dame lachte dazu und setzte ihre Promenade durch die europäische Novellistik fort, unermüdlich ihre Kaffeemühle drehend, welche ein gigantischer Dramatiker aus Wien ihr vergeblich zu zerschlagen suchte, aus Brotneid vermutlich .... Ein dummer Traum!«
»Sehr!«
»Ja, was wollen Sie? Man muß doch das Recht haben, wenigstens manchmal bei Nacht privatim dumm sein zu dürfen, wenn man bei Tage öffentlich so gescheit, so höllisch gescheit sein muß, wie dermalen Ihr gehorsamer Diener, welcher Ihnen jetzt da drinnen zeigen wird, daß sein Gescheitsein bei Tage ihn in den Stand setzt, nachts nicht nur dumm zu träumen, sondern auch einem alten Freunde eine Flasche Champagner zu ponieren.«
Wir traten in das Büfettzimmer, der Wein kam, und ich bemerkte, daß Herr Rumpel eine wohlgefüllte Börse zog, denselben zu bezahlen, sowie, daß der alte Bummler nicht nur anständig, sondern sogar elegant angezogen war und seinen vorzeiten stets bloßen Stierhals in höchst respektable Vatermörder eingezwängt hatte.
»Sie scheinen in guten Umständen zu sein, mein lieber Herr Rumpel,« sagte ich. »Haben Sie eine Anstellung an einer der hiesigen Lehranstalten?«
»Allerdings, mein guter Herr Hellmuth,« versetzte er. »Ich habe eine Lehrstelle an einer der größten Lehranstalten inne, genannt Staat.«
»Wie?«
»Ich doziere öffentliche Meinung, wissen Sie?«
»Was?«
»Die Sache ist so ... Doch vor allem, kennen Sie das kolossal einflußreiche Blatt: ›Die konservative Hetzpeitsche‹?«
»Ich sah es ein paarmal bei meinem Prinzipal.«
»Prinzipal? Wie?«
»Nu ja, ich habe die Ehre, Kommis bei Ziegenmilch und Komp. zu sein.«
»Kommis, Sie? Bei Ziegenmilch und Komp.? Beim Styx, das ist klassisch, geradezu klassisch! Sie, der auch ohne Beihilfe des großen Dissertationenverfertigers Rumpelius eine ganz leidlich gelehrte Doktordissertation zustande gebracht hätte – Sie Kommis?«
»Nun, was ist da Verwunderliches daran? Ich erinnere Sie, daß der große Dichter, welchen Sie sonst gern zitierten, mal irgendwo gesagt hat:
Ein jeder Platz, besucht vom Aug' des Himmels,
Ist Glückes Hafen einem weisen Mann.
Lehr deine Not die Dinge so betrachten,
Denn mehr als alle Tugend ist die
Not.«
»Da haben Sie und Shakespeare recht, sehr recht. Aber wenn ich erwäge, daß Sie, der himmelstürmende Student und quasi Poet, der, wissen Sie? jenes pyramidalische Trauerspiel schrieb, Kommis geworden sind, und daß ich, der himmel- und höllenstürmende Kandidat, ich, der Revoluzer, Pantheist und Atheist von ehemals, jetzt Chefredakteur der hochkirchlichen und tiefkonservativen ›Hetzpeitsche‹ geworden bin, so wird mir so schuljungenhaft dumm zumute, daß ich nur gleich Ovids Verse hersagen möchte:
In nova fert animus mutatas dicere formas
Corpora ….
Mich treibt der Geist, zu singen, wie Gestalten in neue Bildungen sich verwandelten.
Ja, 's ist zum Lachen. Aber man muß die Komödie des Lebens mitmachen. Muß man nicht? Was sagt der göttliche Brite?
...... Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab;
Sein Leben lang spielt einer manche Rolle
Durch sieben Akte hin ....
Sieben Akte, das sind viele. Glaube, unter uns, nicht sehr daran, daß ich es in meiner Hetzpeitschenrolle bis zu sieben Akten bringen werde. Bin schon weit vorgeschritten im dritten Akt und ist dieser – wissen Sie? – in guten Komödien gewöhnlich der Kulminationspunkt des Stückes.«
»Aber wie kamen Sie denn überhaupt zu dieser Rolle?« »Ganz wie Saul zu einem Königreich kam, nur gerade umgekehrt, das heißt, ich war ausgezogen, ein Königreich, nämlich das Reich der Freiheit zu suchen, und fand zwar nicht meines Vaters Eselin, aber die mehrbesagte Hetzpeitsche.«
»Ihre Parabel macht mich nicht klüger.«
»So will ich unparabolisch sprechen. War mir das Dissertationsschreiben endlich verleidet, wissen Sie? Hat auch für einen genialen, wissenschaftlich gebildeten Mann etwas Unbequemes, wenn er keinen Tag, aber auch gar keinen, bis zehn Uhr morgens im Bette liegen kann, ohne von albernen Brummern belästigt, blockiert, belagert, berannt, bestürmt zu werden. Sehr ungemütlich das, wissen Sie? Beschloß also, mein undankbares Vaterland wieder einmal mit dem Rücken anzusehen, und kam in höchster Freiheitsglut hierher, um als Tyrannenerschütterer mit den Teilen und Winkelrieden, das heißt mit den hiesigen Liberalen zu fraternisieren, das heißt, mein Licht im Dienste der Republikanisierung Europas und der Völkersolidarität leuchten zu lassen. Freiheit, Gleichheit, Bruderschaft, Weltbürgertum usw. – wissen Sie? Platschte wie ein rechter Taps und Dörgel in die hiesigen Verhältnisse herein, wie ein rechter deutscher Biedermann, dem eine rosenrote Idealbrille auf der Nase sitzt, durch welche ihm die Schweiz aus der Ferne wie 'ne Platonische oder Rousseausche Phantasierepublik erscheint. Kolossaler, pyramidaler, mammutischer, mastodontischer Unsinn! – wissen Sie? Gerade so lächerlich, diese Ansicht vom hiesigen Lande, wie die Kehrseite derselben, auf welche unsere Hofmaler – wissen Sie? die Schweiz als einen ewig kochenden und brodelnden, Blitz und Donner, Tod und Verderben speienden Revolutionskrater hinmalen. Blödsinn! Wohl gescheit, wie ich bin – wissen Sie? roch ich bald Lunte. Sind die Schweizer keine so kosmopolitischen Esel wie wir, sind sie vielmehr rein praktische Leute, welche wie zuerst so auch zuletzt für sich selbst sorgen und sich um die anderen keinen Pfifferling kümmern. Weise das, sehr! Resolvierte mich, ebenfalls weise zu sein und – praktisch, höllisch praktisch. Eines schönen Morgens stand ich auf und deklamierte, ein Shakespearesches Thema variierend: Die hiesige Welt ist eine Auster, die ich mir mit meiner Feder öffnen will! Es lebe der Stil! Jener Stil nämlich – wissen Sie? – welcher sich der gerade herrschenden Zeitstimmung anschmiegt, wie das Badehemd den schönen oder unschönen Formen einer badenden Schönen oder Nichtschönen .. Beiläufig, wer ist die hübsche, runde, feine seidenbekleidete Dame, Ihre Nachbarin da drinnen im Parkett?«
»Meine Frau Prinzipalin.«
»Glücklicher, Sie!«
»Bitte, bitte. Sie brauchen nicht frivol zu blinzeln und zynisch zu lächeln. Es ist dazu nicht der entfernteste Grund vorhanden.«
»Recht so, in solchen Dingen muß ein Mann von Ehre diskret, höllisch diskret sein – wissen Sie?«
»Was ich weiß ist, daß ich Sie bitten muß, nicht so albern zu schwatzen, oder dieses Glas ist das letzte, welches wir mitsammen trinken.«
»Ach, immer noch der alte burschenschaftliche Heißsporn, der auf die Lex castitatis schwört? Nun, chacun à son goût, leben in einem freien Lande. Aber würden Sie mir wohl den Gefallen tun, mich bei Ihrem Herrn Prinzipal einzuführen? Zutritt in guten Häusern zu haben, ist an hiesigem Orte sehr förderlich – wissen Sie?«
»Ich will es mir überlegen, aber Sie müssen mir vor allem versprechen, daß Sie sich verständig und anständig betragen wollen.«
»Und wie! Seien Sie ganz ruhig. Bin unter diesen praktischen Leuten hier selber sehr praktisch geworden. Fing damit an, daß ich einsah, mit den Liberalen sei nichts zu machen. Sind mißtrauische Bursche, haben kein Geld, das heißt sie haben, aber sind so knickerig, niederträchtig knickerig damit – wissen Sie? Zudem ist dermalen die aristokratische Partei obenauf. Ergatterte bald, wo Barthel den Most holt, und resolvierte mich, auch welchen zu holen, zu meinem Privatgebrauch – wissen Sie? Machte Bekanntschaft mit dem Führer der herrschenden Partei, war noch praktischer als er. Imponierte ihm – wissen Sie?«
»Damit, daß ich so gelegentlich durchblicken ließ, ich sei im Besitz einer ganz neuen Weltwissenschaft. Hält mich jetzt der Mann für ein Weltgenie, wissen Sie? reines Weltgenie. Stellte ihm ungeheure Findungen in Aussicht.«
»Sie spielten den philosophischen und politischen Scharlatan?«
»Was wollen Sie? Die Welt will betrogen sein.«
»Und er verschluckte den Köder?«
»Gierig wie ein ausgehungerter Hecht. Machen nämlich die Liberalen dem Manne viel zu schaffen, braucht Hilfe, findet keine unter seinen Leuten. Talentlose Kerle, mittelmäßige Tropfe, kein Genie, kein Stil, aber Geld, viel Geld. Lebe jetzt flott, höllisch flott – wissen Sie?«
»Sie sind sehr praktisch, in der Tat!«
»Ganz gewiß. Erfand zuerst die Bezeichnung ›konservativ‹ für unsere Partei, um das hierzulande gehässige Wort ›aristokratisch‹ zu beseitigen. Stellte dann, so als Abschnitzel von meiner neuen Weltwissenschaft, eine ganz neue Physiologie oder Psychologie der politischen Parteien auf.«
»Wirklich?«
»Freilich. Fand, behauptete und bewies, daß der Mensch im Knabenalter radikal, im Jünglingsalter liberal, im Mannesalter konservativ und im Greisenalter reaktionär sei.«
»Und mit solchen ›Findungen‹ wußten Sie den Leuten hier zu imponieren?«
»Und wie! Sie glauben gar nicht, was alles ich mit dieser Lehre von den politischen Parteien ausgerichtet habe, seit ich sie in dem auf meinen Vorschlag von meinem Gönner gegründeten Blatt ›Die konservative Hetzpeitsche‹ allseitig entwickelte.«
»Und Sie meinen, mit solchem Firlefanz werde sich die herrschende Partei herrschend erhalten?«
»Hm, ist das eine kritische Frage. Unter uns, manchmal will mir selber scheinen, die konservative Hetzpeitsche knalle schon nicht mehr so lustig wie noch vor kurzem, und ihr Geknall finde keinen so begeisterten Widerhall mehr – wissen Sie? Sagte mir erst heute mein hochgestellter Gönner mit einem Seufzer, daß die Liberalen wieder Boden gewonnen hätten. Muß die bevorstehende Integralerneuerungswahl der gesetzgebenden Behörde die Sache entscheiden. Bin aber praktisch – wissen Sie? Werde mir beizeiten schon eine andere Karriere zu öffnen wissen. Bin nicht der Mann, mit einem untergehenden Fahrzeug unterzugehen. Tun das nur einfältige Ideologen, verrückte Schwärmer – wissen Sie? Leben in einem Lande, wo man die vorüberfliegende Fortuna resolut am Stirnhaar packen muß. Sag Ihnen das als aufrichtiger Freund. Praktisch und resolut! Das ist die Losung. Nur keine moralischen, will sagen idealistischen Skrupel! Halten einen sonst für einen Dummkopf, diese praktischen Schweizer – wissen Sie? Man muß heutzutage Amboß oder Hammer sein. Wußte das übrigens schon der alte Goethe in seinen Tagen. War eigentlich immer so – war es nicht? War es, beim Jupiter! Wer wird aber Amboß sein wollen, wenn er irgendwie Hammer sein kann? Praktisch! Praktisch! Praktisch!«
»Praktisch muß man sein, enorm praktisch. So sagen auch Ziegenmilch und Komp.«
»Sagt er so? Respekt vor ihm. Verlange ungeheuer danach, des respektablen Mannes Bekanntschaft zu machen, die Madame eingeschlossen – wissen Sie? Folgen Sie immerhin, werter alter Freund, der Losung von Herrn Ziegenmilch und mir, und Sie werden gleich mir in diesem Lande der praktischen Leute ihr Glück machen. Ist ein prächtig Land, diese Schweiz, und sind die Leute hier so kolossal praktisch, daß sie es sich nie träumen lassen, andere könnten noch praktischer sein als sie. Schöne Gegend das – wissen Sie? Bedarf nur der rationellen Ausbeutung durch Leute von Genie, wie unsereiner ist, und so sage ich: Seien Sie meiner väterlichen Ermahnungen eingedenk; und ich prophezeie Ihnen in diesem Falle mit dem alten Horaz, der ja auch kein idealistischer Nebelpoet, sondern ein praktischer Gutsbesitzer und vortrefflicher Gourmand war:
…..... Hic tibi copia
Manabit ad plenum benigno
Ruris bonorum opulenta cornu .....«
…..... Es werden dir
hier aus wohltät'gem Füllhorn reichlich
Fließen des Landes Genüss' und Schätze.
Als wir in das Haus zurückkehrten, war die Tochter des Wadelewirtes schon zur Frau Professorin avanciert und Frau Lelia empfing mich mit einem Blicke, welcher böse gewesen wäre, wenn meine verehrliche Prinzipalin überhaupt hätte böse sein können – die gute Seele!
»Ach, Herr Hellmuth,« sagte sie, »Sie haben viel verloren, immens viel. Es war gar so gefühlvoll, wie das Lorle und der Maler Reinhart sich gegenseitig ihre Gefühle offenbarten. Ich wollte, mein Vetter, Herr Artur Puff, wäre da gewesen, um zu sehen ...«
»Wie sich ein gefühlvoller Künstler bei Liebeserklärungen anstellt?«
»Ach nein! Gehen Sie doch: Wie mäschannt (méchant) von Ihnen. Sie gehören per se ( per se ist eines der typischen Lieblingsworte der schönen und nichtschönen weiblichen Eingebornen der Stadt, von welcher hier die Rede) auch zu den Blasierten und Spöttern wie Herr Artur. Ach, die jetzige Männerwelt! Geldmachen, Zigarren rauchen und die süßesten Gefühle verspotten, das ist alles, was sie kann und tut.«
»Das ist nur zu wahr, Madame,« nahm – wir befanden uns nämlich im letzten Zwischenakt – der Herr Professor und Chefredakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« keck das Wort, seiner rasselnden Stimme einen möglichst süßen Ausdruck gebend und seine frechen Augen manierlich niederschlagend– »das ist nur zu wahr. Unsere jetzige Männerwelt ist bis an den Hals in den Sumpf des gemeinsten Materialismus versunken. Der grandiose Schiller hätte heute ganz andere Veranlassungen als in seinen Tagen, zu singen:
Und es herrscht der Erde Gott, das Geld.
Der unsterbliche Prophet des Idealismus würde, dichtete er jetzt, noch viel kläglicher klagen:
Freiheit lebt nur in dem Reich der Träume
Und das Schöne blüht –
Ja, Madame, das Schöne blüht nur noch da, wo die zarten Hände schöner und hochgestimmter Frauen es pflegen. So eine Priesterin des Schönen ist unsere schöne und allverehrte Charlotte Birch, geborne Pfeiffer.« – Vor kaum einer Stunde hatte der Halunke aufs wegwerfendste über die »Birch-Pfeifferei« sich ausgelassen. – »Und, Gott sei Dank, ihr erhabenes Streben, ihre gefühlvolle Poesie wird noch von gleichgestimmten Frauenseelen« – hier schoß Herr Rumpel aus seinen kleinen Augen einen so großen Blick auf meine Prinzipalin, daß diese sanft errötete – »verstanden und gewürdigt. Ja, Madame, bei ihnen, die sie das heilige Vestafeuer des Idealismus allein noch nähren, haben wir Männer in die Schule zu gehen. Das ahnte schon Altmeister Goethe, als er das tiefsinnige Wort sprach:
Willst du genau erfahren, was sich ziemt,
So frage nur bei edlen Frauen an.
Und noch expressiver huldigte Ihrem Geschlecht der Tyrtäos unserer Zeit, indem er, mit Grund an der Männerwelt verzweifelnd, von Ihrem Geschlecht die Lösung der großen weltgeschichtlichen Fragen erwartete und deshalb an dasselbe die heroische Apostrophe richtet:
Aber wollen mich die Männer
Nicht verstehn, die schwerverwirrten,
O, so höret
ihr mich, Frauen!
Traget
ihr ein Schwert in Myrten!«
Ein zweiter dreister Blick beschloß diese mit der gewohnten Zungenfertigkeit ihres Urhebers vorgebrachte Rede, und abermals errötete Frau Lelia sanft. Sie war gewiß in ihrem Leben noch nie mit so vielen Huldigungen und Zitaten auf einmal überschüttet worden, und ihre gefühlvolle Seele schwamm offenbar in Entzücken. Etwas verlegen wie sie war, konnte sie nur schüchtern sagen:
»Mein Herr, auf mich macht Charlotte Birch-Pfeiffer allerdings den Eindruck einer immensen Dichterin.«
»Immens? Ja, das ist das rechte Wort, gnädige Frau. An der Wahl dieses Wortes erkenne ich wieder den angeborenen ästhetischen Takt Ihres Geschlechtes.«
Dieses Kompliment und vollends der Titel »gnädige Frau«, welcher in der Schweiz selten einer Frau geboten wird, taten bedeutende Wirkung, Ich sah, daß der pfiffige Schelm im Handumdrehen meine Prinzipalin für sich eingenommen habe, und ich hätte, wie die Folge zeigen wird, gut getan, diese Bekanntschaft wo möglich nicht weiter gedeihen zu lassen. Aber die Wahrheit zu sagen, dieser »Zwischenakt« ergötzte mich höchlich, und so stellte ich den Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« in aller Form meiner Frau Prinzipalin vor.
Herr Rumpel setzte zu einer neuen Reihenfolge von Schmeicheleien an, als sich der Vorhang wieder hob und ihn zur Ruhe verwies.
Wer aber nicht zur Ruhe kam, sondern sehr in Unruhe geriet, war ich.
Indem ich mich nämlich umdrehte, um meinen Platz einzunehmen, streifte mein Blick die Proszeniumsloge rechter Hand und in der Loge einen jener, mit Herrn Ziegenmilch zu sprechen, enormen modischen Tubusse, deren zwei Mündungen denen von Sechspfündern gleichen.
Dieses Geschütz, von zwei zartbehandschuhten Damenhänden dirigiert, war auf mich gerichtet und blieb es, als droben auf der Bühne die schließliche Verbirchpfeifferung der Auerbachschen Novelle sich abzuspielen begonnen hatte.
Da ich an meinem damaligen Aufenthaltsorte noch nicht das Vergnügen gehabt hatte, irgend eine Dame außer Frau Ziegenmilch kennen zu lernen, so war es begreiflich, daß die beharrliche Neugierde der Logeninhaberin auch mich neugierig machte.
Die Dame saß ganz allein in der Loge, und da ich sie früher nicht bemerkt hatte, mußte sie erst lange nach Beginn des Stückes gekommen sein. Aber da ihr Kopf vorwärts geneigt und ihr Gesicht von dem fatalen Tubus beschattet war, konnte ich nur eine Fülle à la Grecque gescheitelten lichtbraunen Haares, eine prächtige Büste und zwei herrlich geformte, durch ihre blendende Weiße die Spitzenmanschetten beschämende Vorderarme sehen.
Endlich sanken diese Arme mit dem verwünschten Tubus auf die Logenbrüstung nieder und – o Himmel! – ich erkannte meine reizende, nur allzu unvergessene Reisebekanntschaft vom Gießbach und Faulhorn wieder.
Der Name Julie stieg mir laut aus der Brust in die Kehle, und ich mußte meine Lippen zusammenpressen, um ihnen denselben nicht entwischen zu lassen.
Sie mußte meinen überrascht fragenden Blick wahrgenommen, mußte bemerkt haben, daß ich in frohem Schrecken halb von meinem Sitze aufgefahren; aber kein Augenwink, keine Bewegung von ihrer Seite verriet die Wiedererkennung.
Sie fixierte mich noch eine Sekunde mit bloßen Augen und wandte dann diese großen schwarzen Augen, deren Feuer mit dem des funkenstreuenden Solitärs, den sie als Busennadel trug, wetteiferte, gleichgültig von mir ab und der Bühne zu.
»Sie hat dich wohl längst vergessen oder will vergessen, daß du sie einst gekannt und – geküßt hast, armer Junge!« sprach ich mit einem Seufzer bei mir. Dann hüllte ich mich in meinen dazumal, ach, sehr erkünstelten Stoizismus und sagte mir: »Bah, was weiter? Ein schöner Jugendtraum, verflogen wie soviele andere schöne Jugendträume.«
Ich beschloß, gar nicht mehr nach der Loge hinzusehen, tat es aber doch immer wieder, wobei ich mich bemühte, ebenfalls ganz gleichgültig auszusehen. Diese Heuchelei war indessen ganz überflüssig, denn Fräulein Julie nahm nicht die geringste Notiz mehr von mir.
Das ärgerte mich denn doch verteufelt, und in nicht eben guter Laune machte ich mich nach Beendigung des Stücks kurz von dem zugleich »genialen« und »praktischen« Herrn Rumpel los und führte meine Prinzipalin hinaus.
Als wir draußen die Vortreppe hinabstiegen, war eine Dame, welcher ein Livreediener den Schlag ihrer Equipage öffnete, gerade im Begriffe den Fuß auf den Tritt zu setzen, wandte sich aber halb, um ihren Mantel zurecht zu ziehen, und da fiel ihr Blick auf mich, den er aber nur flüchtig streifte, während er mit fast impertinent forschendem Ausdrucke einen Moment auf der Dame an meinem Arme haftete.
Es war Fräulein Julie; aber ich war zu stolz, auch nur mittels eines Blickes auf die frühere Bekanntschaft mich zu berufen, und was Frau Ziegenmilch betraf, so war sie zu sehr damit beschäftigt, den verehrungsvollen Abschiedsgruß des Redakteurs der »Konservativen Hetzpeitsche«, der uns gefolgt war, zu empfangen, als daß sie den forschenden Blick der jungen Dame beachtet hätte.
Diese schlüpfte rasch in ihren Wagen, der mit Pomp davonrollte, und ich schalt mich einen Dummkopf, daß ich dem Rädergerassel lauschte, bis es verhallte, aber ich tat doch so und fürchte sehr, Frau Lelia habe, während wir heimgingen, im stillen mit Recht gewünscht, statt ihres ungalant zerstreuten und einsilbigen Begleiters lieber den »immens« gefühlvollen und artigen Herrn Professor Rumpel an der Seite zu haben.
Eine jener alten Geschichten, die immer neu bleiben. – Das verzauberte Hauptbuch. – Doktor Schwindelhabersches Augenwasser und ein wunderliches Augenleiden. – Autor kommt jemand »verheiratet« vor und erhält ein Billett zugesteckt.
Am folgenden Tage brachte die »Konservative Hetzpeitsche« zwei Artikel, deren erster von der sittlichen und politischen Bedeutung des Handels, deren zweiter mit Bezugnahme auf die gestrige Lorelei von der dichterischen Berechtigung der Frauen handelte. Beide Artikel waren brillant geschrieben, so zwar, daß sich jeder Kaufmann einbilden konnte, er machte, während er rein nur für sich »machte«, eigentlich Weltgeschichte, und jede Abonnentin einer Leihbibliothek, sie sei zum mindesten eine halbe Sappho oder Sand.
Herr Rumpel hatte sozusagen diese beiden Artikel als seine Vorläufer und Anmelder in das Ziegenmilchsche Haus gesandt, denn am nächsten Tage kam er selbst, und zwar unter dem Vorwande, mich zu besuchen, seinen »alten liebwerten Freund«, wie er sich auszudrücken geruhte. Wir waren gerade im Begriffe, vom Mittagstische aufzustehen, und so konnte ich nicht umhin, den Herrn »Professor« meinem Prinzipal in aller Form vorzustellen.
Herr Ziegenmilch, ein Stockkonservativer, wie genau angesehen, so ziemlich alle Geschäftsleute, die überhaupt eine politische Meinung haben, nahm den Redakteur der Hetzpeitsche, welcher damals in Wahrheit keine kleine Rolle spielte, mit großer Artigkeit auf und überhäufte denselben mit Komplimenten über seinen gestrigen Leitartikel, welchen er »enorm, aber auch ganz enorm« fand, und zwar ebenso »enorm praktisch« als »enorm geistig«. (Beiläufig bemerkt, wo wir geistreich oder geistvoll sagen, sagen die Schweizer kurzweg »geistig«. Anfangs kommen einem Ausdrücke wie zum Beispiel: »Das ist ein geistiger Pfarrer; er hat gestern eine geistige Predigt gehalten« – sonderbar vor.) Auch Frau Lelia, nachdem sie eine Viertelstunde lang die geziemende bescheidene Zurückhaltung beobachtet hatte, fand Gelegenheit, ihr Wort anzubringen und dem Herrn Professor für seinen »immens gefühlvollen« Frauenartikel Dank zu sagen. Herr Rumpel seinerseits führte seine Rolle mit höchster Meisterschaft durch, indem er sich gleichsam in zwei Hälften teilte. Die eine dieser Hälften, die dann doch wieder durch das Band einer göttlichen Sicherheit, um nicht zu sagen Unverschämtheit, verbunden wurden, waren Herrn Ziegenmilch zugekehrt und praktisch jeder Zoll, die andere, Frau Ziegenmilch zugewandt, schillerte in allen Farben idealischer Gefühlsamkeit. Er blieb auch nicht zu lange, der Schlaukopf, sondern empfahl sich, nachdem er meinem Prinzipal einige mysteriöse Winke über eine in der europäischen Geschäftswelt bevorstehende Geldkrisis gegeben und ihm dabei kordial die Hand geschüttelt, und nachdem er für Madame ein »immens geistiges« Wort über ihre Lieblingsdichterin George Sand hingeworfen und ihr in ehrfurchtsvoll galanter Weise die runde Patschhand geküßt hatte. Herr Ziegenmilch begleitete den Vielgewandten bis unten an die Treppe und sagte ihm dort noch mit Emphase: »Es wird mir eine große Ehre sein, Herr Professor, wenn Sie mein Haus häufig mit Ihrer Gegenwart beehren wollen.«
Armer Ziegenmilch! dachte ich und ging an meine Arbeit, entschlossen, bei erster Gelegenheit meinem Prinzipal eine verständliche Andeutung zu geben, daß es nicht immer »praktisch« sei, sich mit renommierten Leuten von der Gattung des Herrn Rumpel einzulassen. Die Gelegenheit fand sich auch einige Tage später, allein ich erzielte mit meiner Warnung nur, daß mir Herr Ziegenmilch deutlich zu verstehen gab, er fände es seltsam, daß ich, wie es scheine, eine so »enorme« Persönlichkeit, wie mein Landsmann sei, nicht zu würdigen wüßte.
So sind die Menschen, sie wollen lieber zehn Lügen als eine Wahrheit hören. Wer ihrer Eitelkeit, ihren Vorurteilen schmeichelt, der hat sie. Auch eine jener alten Geschichten, die immer neu bleiben.
Der Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« wurde von jenem Tage an ein viel und gern gesehener Gast bei Ziegenmilch und Komp. Ich fühlte weiter keinen Beruf, ihm das Terrain streitig zu machen, wohl aber fühlte einen solchen Beruf Herr Artur Puff, der in Herrn Rumpel einen gefährlichen Konkurrenten sehen mochte, weniger einen Konkurrenten um Frau Lelia, als vielmehr um den Bordeaux und die Manilas ihres Herrn Gemahls. Herr Puff, ein Ultraradikaler, erhob also innerhalb der Wände des Ziegenmilchschen Hauses einen kleinen satirischen Krieg gegen den Schwinger der Konservativen Hetzpeitsche, allein Herr Rumpel schwang diese wirklich mit so viel Humor, daß der satirische Malerstock seines Gegners nicht dagegen aufkommen konnte. Herr Puff räumte aber dennoch das Feld nicht, sondern es kam zwischen ihm und seinem Gegner zu einem bewaffneten Waffenstillstand, dessen Hauptbedingung war, besagten Bordeaux gemeinsam zu trinken und besagte Manilas gemeinsam zu rauchen. »Ein unverschämter Schuft, dieser hergelaufene Rumpel!« pflegte dann Herr Puff zu mir zu sagen. »Er lügt, daß die Balken krachen; aber er weiß amüsierlich zu lügen, das muß man ihm lassen.« – »Ein höllisch grüner Junge, dieser Puff!« äußerte dagegen Herr Rumpel. »Hat die kuriose fixe Idee, ein Künstler zu sein; aber er trinkt gut und ist im ganzen ein pläsierliches Kerlchen – wissen Sie?«
Ich ging also an jenem Tage, wo sich Herr Rumpel so erfolgreich bei uns einführte, an meine Arbeit und nahm das Hauptbuch vor, um die restierenden Einträge zu machen. Da ich aber im Kontor einen Brief von Fabian an mich vorgefunden, so schoben sich die lieben Züge des Freundes, der mir schrieb, daß er seine Primiz gefeiert habe und jetzt im Begriffe sei, ein Vikariat anzutreten, immer wieder an die Stelle der eintönigen Zahlen, die ich im Soll und Haben zu registrieren mich bemühte. Neben Fabians Gesicht tauchten auch andere liebe Gesichter auf den weißen Blättern vor mir auf, das Hildegards, das Isoldes, und hinter diesem – ich mochte wollen oder nicht, und weiß der Himmel! ich gab mir alle erdenkliche Mühe, nicht zu wollen – das reizende Gesicht, welches ich vorgestern abend in der Proszeniumsloge wiedergesehen hatte. »Sie ist noch schöner geworden, diese Julie,« sagte ich bei mir, »viel schöner als damals, wo sie nicht so beleidigend gleichgültig gegen mich tat.«
»Ach was!« unterbrach ich mich unwillig, »dummes Zeug!« und schlug das Blatt um, damit ich das verführerische Gesicht los würde.
Aber leider, es erschien auch auf dem folgenden Blatte wieder, inmitten einer Reihe mit mechanischem Eifer von mir hingemalter Zahlen.
Ich wandte meine Augen, um sie zu zerstreuen, von dem Hauptbuche ab und dem auf den Laden hinausgehenden Fenster zu, aber – mein Gott! dort hinter den Spiegelscheiben stand ja wieder Fräulein Julie, kein Phantom der gaukelnden Phantasie, sondern leibhaftig, wahrhaftig in der ganzen Wirklichkeit ihrer schönen Erscheinung.
Gerade dem Fenster gegenüber vor dem Ladentische stehend, auf welchem zwei unserer Ladenjungfern den Inhalt von allerhand Schachteln und Schächtelchen geschäftig vor ihr ausbreiteten, mußte ihr Blick auf mir geruht haben; denn als ich plötzlich aufsah, erhaschte ich noch einen Blitz der schwarzen Augen, die sich sofort auf die Verkaufsgegenstände senkten.
Als sie sich nicht wieder erhoben, brummte ich erbost in mich hinein: »Nun mein Fräulein, wenn Sie mich absolut nicht sehen wollen, will ich Sie auch nicht sehen!«
Sprach's und beugte mich tiefer, als nötig gewesen wäre, auf das unglückselige Hauptbuch nieder, ungeheuer bemüht, in den Zahlenreihen mich zu orientieren, die ganz anarchisch vor meinen Augen herumtanzten.
»Ein so dummer Junge wie du, ist mir noch gar nicht vorgekommen!« schalt ich mich im höchsten Zorne, als die Türe aufging und eines der Ladenmädchen hereintrat mit den Worten:
»Herr Hellmuth, eine Dame wünscht von Ihnen eine genaue Gebrauchsanweisung des neuerfundenen Dr. Schwindelhaberschen Augenwassers zu erhalten.«
Was war da weiter zu machen, als dem Verlangen der Dame nachzukommen?
Ich ging also hinaus und machte dem schönen Fräulein eine tiefe Verbeugung. Sie erwiderte dieselbe mit einem kaum merklichen Neigen des Kopfes, wie es eben eine Dame der reichen und vornehmen Welt einem armen Teufel von Kommis zuteil werden läßt.
Ein Fläschchen des genannten Arkanums in der Hand haltend, winkte sie mich mit der anderen an ein Fenster und sagte:
»Mein Herr, ich las gestern eine sehr poetisch stilisierte Annonce über die wunderbaren Wirkungen dieser Tinktur. Darf ich,« fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu, »vielleicht fragen, ob ich die Ehre habe, dem Autor dieses vortrefflichen Gedichtes gegenüberzustehen?«
Als sie so sprach, zischten und kicherten aus den voll auf mich gerichteten Augen der Schönen tausend Schlänglein des Spottes mich an, und um ihre Mundwinkel ward für einen Augenblick wieder jener Eidechsenzug sichtbar, den ich schon früher bemerkt hatte.
Ich nahm mich aber tapfer zusammen und erwiderte so kommishaft gemessen als nur immer möglich:
»Mein Fräulein, Klimpern gehört überall zum Handwerk, und Geschäft ist Geschäft, wie mein Herr Prinzipal zu sagen pflegt.«
»Sie wollen sagen, Geschäft sei Schwindel und Schwindel sei Geschäft?«
»Nun ja, wenn es Ihnen beliebt. Aber leiden Sie wirklich an den Augen?«
»Was geht das Sie an, mein Herr?«
»Nichts, mein Fräulein.«
Sie drehte das Fläschchen heftig zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte noch leiser, als sie bisher gesprochen hatte:
»Ich leide wirklich an den Augen, das heißt, ich habe die wunderliche Illusion, manchmal, besonders bei schlechter Beleuchtung, zum Beispiel in unserm Theater hier, wildfremde Menschen für alte Bekannte zu halten.«
»Wunderlich, in der Tat!«
»Nicht wahr?«
Ihr Auge, dessen Ausdruck so rasch wechselte, wie die Gedanken im Menschenherzen, blitzte mich zornig an. Aber ich hielt den Zornblitz aus, ohne zu zucken. Wahrscheinlich hatte sie erwartet, ich würde mich als einen alten Bekannten zu legitimieren suchen, das heißt mich vor ihr demütigen. Allein ich wollte dem Dämchen zeigen, daß ein Gentleman auch als Kommis doch immer Gentleman bleibt.
Vielleicht las ihr durchdringender Blick so etwas in meinem Auge, denn sie sagte merklich milder als vorhin:
»Auch vorgestern abend, im Theater, spielten meine Augen mir so einen Streich. Denken Sie, mein Herr, ich hätte wohl eine Viertelstunde lang darauf geschworen, in Ihnen einen alten, guten Bekannten zu erblicken« – sie betonte das »guten« so schelmisch-zärtlich und begleitete es mit einem so reizenden Lächeln, daß ich große Mühe hatte, gefaßt zu bleiben – »als ich Sie im Parkett sitzen sah, Ihrer Frau Gemahlin zur Seite.«
»Da war in der Tat eine bedeutende Illusion im Spiele, mein Fräulein. Ich bin nicht verheiratet.«
»Nicht? Seltsam! Sie kamen mir doch so ... so ... wie soll ich sagen? ... nun ja, so verheiratet vor.«
Alle Teufelchen des Spottes mitsammen hätten das Wort »verheiratet« nicht so auszusprechen vermocht, wie Fräulein Julie es aussprach. Es klang, so absonderlich das dem geneigten Leser vorkommen mag, ja, es klang ganz wie »heruntergekommen«, aber doch auch wieder nicht beleidigend, sondern so entschieden komisch, daß ich laut auflachte.
»Sehen Sie, mein Herr,« sagte Fräulein Julie, ihre Rosenlippen für einen Moment im Lächeln so weit öffnend, daß dahinter der weiße Schmelz ihrer Zähne sichtbar wurde, »sehen Sie, wenn Sie die ernste Amtsmiene eines Repräsentanten der Firma Ziegenmilch und Komp. beiseite legen und lachen, so kehrt meine wunderliche Illusion wieder.«
»Merkwürdig! Aber noch merkwürdiger ist, daß Ihre Illusion mit anderen Illusionen die Eigenschaft zu teilen scheint, epidemisch zu sein. Mir kam nämlich schon vorgestern im Theater der illusorische Einfall, ich sei früher einmal irgendwo einer jungen Dame begegnet, die ...«
»Genug!« fiel sie mir rasch und laut ins Wort, auf eines der Ladenmädchen blickend, welches sich neugierig in unserer Nähe zu schaffen machen wollte. »Ich werde genau nach Ihrer Gebrauchsanweisung verfahren, mein Herr. Haben Sie die Güte, mir das Fläschchen einzuwickeln oder einwickeln zu lassen.«
Sie trat an den Ladentisch, zog ihre Börse, bezahlte und wandte sich nach der Türe. Ich hatte inzwischen ihren Befehl erfüllt und überreichte ihr das Dr. Schwindelhabersche Arkanum.
In dem Augenblicke, wo ihre behandschuhten Finger meine Hand streiften, fühlte ich in dieser ein glattes Papierstückchen.
Ich schloß sie rasch und öffnete mit der anderen der Weggehenden die Türe. Sie ging hinaus, meine tiefe Verbeugung unbeachtet lassend, und ich vermied es, ihr nachzusehen. Dagegen eilte ich möglichst schnell ins »Kontorkabinett«, stellte mich dort in den sichersten Winkel und entfaltete das heimlich empfangene Billett.
Auf duftiges Seidenpapier waren mit einer nachlässig kühnen, doch ungleichen und wie in Sprüngen sich bewegenden Hand die Worte geworfen:
»Schickte es sich für mein ›zartes‹ Geschlecht, so würde ich mit jenem französischen Satiriker zu Ihnen sagen: Que diable! qu'allez-vous faire dans cette galère? So aber frage ich manierlich: Wie kann es denn ein Mensch Ihres Schlages – nämlich des Schlages, wie er in Zeiten war, wo es deutsche Studenten gab, die das Loswerden von perfiden Steinen auf steilen Steigen zu allerlei Unfug zu mißbrauchen verstanden – ja, wie können Sie es denn in dieser Ziegenmilchschen Sudelküche des Unsinns aushalten? Pfui! ... Oder schmeckte Ihnen doch die Ziegenmilch – Sie verstehen mich, mein Herr Exführer von weiland –, ja, schmeckte Ihnen doch vielleicht die Ziegenmilch besser, als ich zu Ihrer Ehre annehmen will? ... Also Sie sind Kaufmann geworden? Seltsam, doch qu'importe? Nur dauern Sie mich; daß Sie in der abscheulichen Bude vergraben sein sollen. Ich will Ihnen daher im Vertrauen sagen, daß ich zufällig, aber bestimmt weiß, im Kontor der großen hiesigen Firma Gottlieb Kippling sei eine gute Stelle offen, die Stelle eines Korrespondenten, welcher, wenn er Talent und Lust dazu hat, auch mit wichtigen Missionen nach europäischen und außereuropäischen Handelsplätzen betraut wird. Da kann einer ein ganz anderer Antonio oder, wenn Sie wollen, ein anderer Shylock werden als bei Ziegenmilch und Komp. Wollen Sie es probieren? In diesem Falle rate ich Ihnen nur noch, Herrn Gottlieb Kippling gegenüber so gescheit als möglich zu sein, denn er ist es auch.
Julie.«
in welchem etwas Sophisterei und viel Moral getrieben wird.
Wären Sie, meine schöne Leserin, und Sie, mein biederer Leser, durch den bisherigen Verlauf meiner Geschichte nicht hinlänglich belehrt worden, daß Sie es mit keinem Romanhelden, sondern mit einem schlichten Menschen zu tun haben, so müßte ich sehr befürchten, daß in diesem Kapitel wiederum eine arge Enttäuschung Ihrer wartete. Denn ein Romanheld müßte nach dem zuletzt gemeldeten Erlebnis von Rechts wegen oder, wenn Sie wollen, von Romanpsychologie wegen jetzt in einen weitläufigen Seelenkampf verfallen, aus welchem er, abermals der Romanpsychologie zufolge, natürlich als sieghafter Tugendheros hervorgehen würde. Alles dieses Schöne wird im Nachstehenden nicht stattfinden, denn ich bin weiter nichts als ein gewissenhafter Selbstbiograph, der gerade als solcher sehr gut weiß, daß er von einem wirklichen Menschen aus Fleisch und Bein, behaftet mit allen Schwächen der menschlichen oder, genauer gesprochen, der männlichen Natur, zu erzählen hat.
Zwar so ganz ohne innern Kampf ging es doch auch nicht ab.
Die Zuschrift von Fräulein Julie hatte mich, wie ich gestehe, im ersten Augenblick sehr angenehm überrascht. Hatte doch das ganze Abenteuer jenes romantische Ichweißnichtwas an sich, welches junge Herzen so leicht höher schlagen macht. Die Wiedererscheinung Julies in meiner Lebenssphäre war wiederum, wie es bei unserem ersten Zusammentreffen gewesen, von einer leidenschaftlichen Aufregung meines ganzen Wesens begleitet. Man braucht das nicht gerade im grobsinnlichen Sinne zu nehmen; aber es wäre Heuchelei, wollte ich sagen, daß etwas wie Sinnlichkeit nicht starken Anteil an dem lebhaften Interesse gehabt hätte, welches mir die originelle, pikantkecke junge Dame einflößte. Allerdings drängte sich mir auch jetzt wieder wie früher schon, stets die Vergleichung Julies mit Isolde auf, und es fiel diese Vergleichung nie zugunsten der ersteren aus; aber – was soll ich viele Worte verschwenden, um andern einen Seelenzwiespalt klar zu machen, der mir selber nie recht klar geworden? – genug, Julies Erscheinung übte auf mich lange eine Wirkung, welche ich eine dämonische nennen möchte, wenn sich mit diesem Worte nicht allzu mystische Vorstellungen verbänden.
Aus der ersten Lesung von Julies Billett folgerte ich nur, daß die junge Dame mich nicht vergessen hätte und Anteil an mir nähme, was doch immerhin eine schöne Tatsache sei. Hinterher kam dann die Kritik und fand an dem Billett sehr viel auszusetzen. Wie unzart die Voraussetzung eines unstatthaften Verhältnisses meiner Person zu Frau Ziegenmilch und wie unzart, um nicht zu sagen wie gemein war diese Voraussetzung ausgedrückt! Durfte ein junges Mädchen so schreiben? Isolde würde nie und nimmer so sich geäußert haben. Wie verschieden, wie grundverschieden war die Vorstellungsweise, die sich in Julies Zeilen aussprach, von der hohen und reinen, allem Gemeinen unzugänglichen Gedankenwelt meiner edlen Jugendgespielin!
Aber die Gegenwart macht ihre Rechte an den Menschen so gebieterisch geltend, daß nur in seltenen Fällen unsere Schwäche dagegen aufkommen kann.
Julie zeigte mir einen Weg, auf welchem ich möglicherweise vorwärts kommen konnte, und ich wollte ja vorwärts kommen. Warum also nicht den Versuch machen?
Ach, es gibt nichts Sophistischeres als die Torheit oder die Leidenschaft des Menschen.
Ich schämte mich doch ein wenig, aber freilich nur ein wenig vor mir selbst, wenn mein natürliches Gefühl den Schleier der Sophismen zerriß, womit ich meine lebhafte Neugier, meinen drängenden Wunsch, mehr von Julie zu erfahren und das seltsame Mädchen nicht wieder aus den Augen zu verlieren, zu verhüllen trachtete. Ich zweifelte nicht daran, daß die junge Dame zu Herrn Gottlieb Kippling irgendwie in Beziehung stehen müßte.
Auf der andern Seite, um mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war ich ohnehin schon so halb und halb entschlossen gewesen, mein Geschick nicht länger als eben unumgänglich nötig, an das von Ziegenmilch und Komp. zu knüpfen. Vielleicht, daß dies undankbar von mir gehandelt war, denn mein Herr Prinzipal hatte mir in der Tat großes Wohlwollen erwiesen, und ich glaubte auch annehmen zu dürfen, daß selbst die mir in Aussicht gestellte Associéschaft mehr sei als Humbug. Allein das ganze Geschäft ging mir gegen den Mann. Wie bitter hatte ich die Beschämung empfunden, vor Fräulein Julie stehen zu müssen sozusagen als Mitbeteiligter an einem von der jungen Dame so unverhohlen verhöhnten Schwindel! Und dann war mir der Aufenthalt im Ziegenmilchschen Hause, obgleich ich – weiß der Himmel! – nie auf den Rang eines Tugendhelden Anspruch machte, auch noch aus anderen Ursachen drückend. Wer das Glück gehabt hat, im elterlichen Hause Zeuge eines zugleich heiteren und sittlichen Familienlebens zu sein, wird dieses nie vergessen, über gewisse Dinge nie sich hinwegsetzen können. Das Ziegenmilchsche Haus war nun aber trotz ökonomischen Gedeihens hinter dem Schein bürgerlicher Wohlanständigkeit ein innerlich zerrüttetes. Herr Ziegenmilch vernachlässigte seine Frau, und ich hatte starke Gründe, zu glauben, daß er seine Abende keineswegs nur mit harmlosem Skatspiel, zehn Points zu zwanzig Centimes, ausfüllte. Hätte ich doch keine Augen haben müssen, wollte ich nicht sehen, daß die hübscheren unserer »Ladenjungfern« dem Prinzipal nicht nur offizielle, sondern auch offiziöse Dienste leisten mußten, und ich war nach dieser Richtung hin eines Tages wider Willen Zeuge einer häßlichen Szene, welche sogar die sanfte Frau Lelia in Zornkrämpfe versetzte. Diese, von Natur unzweifelhaft gut und sittsam, war so allmählich in den Gedanken hineingetrieben worden, die ihr widerfahrene Vernachlässigung an ihrem Gatten zu rächen. Ich bin fest überzeugt, nicht zuviel zu sagen, wenn ich bei dieser Gelegenheit behaupte, daß eine Frau selten oder nie den Fehlweg einschlägt, ohne daß die auf demselben sichtbaren Fußstapfen ihres vorangegangenen Mannes sie zur Nachfolge einladen. Es ist nicht Frauennatur, die Initiative zu ergreifen, wenn aber ausnahmsweise, so ist es unendlich viel häufiger eine Initiative zum Rechten als zum Schlechten. Doch ich will erzählen, statt zu moralisieren.
Am zweiten Tage nach dem Abenteuer mit dem Dr. Schwindelhaberschen Augenelixier befand ich mich auf dem Wege zum Kontor des Herrn Gottlieb Kippling.
Ich hatte an meinem damaligen Aufenthaltsorte bisher sehr zurückgezogen gelebt, anfangs aus notgedrungener Sparsamkeit, dann aus Laune, wenn man die Absicht, meine Freistunden zu benutzen, um meine bönhasenfüßigen Kenntnisse im industriellen und kommerziellen Fache mit etwas zunftgemäßeren zu vertauschen, so nennen will. Ich fand dabei allerdings, daß die Erwerbung dieses Zunftwissens für einen Mann von Bildung keine Hexerei sei, aber ein zunftmäßiger Kaufmann ist darum noch kein guter Kaufmann, so wie ein guter Kaufmann darum noch lange kein glücklicher ist. Ich habe Kaufleute gekannt, deren Köpfe gerade so hohl waren wie ihre Gewissen und die vortreffliche Geschäfte machten, und andere, die mit viel Geist, Wissen und Tätigkeit sehr schlechte machten, ohne skrupulös zu sein. Jeder ist seines Glückes Schmied – jawohl, aber zum Schmieden gehören nicht nur rüstige Arme, sondern auch leidlich gutes Handwerkszeug, und dieses Handwerkszeug das ist gerade das Glück selber. Man fragte doch jeden ehrlichen, nicht eiteln Glücklichen, was er selbst und was die Verhältnisse für ihn getan, und man wird Antworten erhalten, welche zeigen, daß das erwähnte Sprichwort wie noch eine Menge anderer Sprichwörter, weiter nichts ist, als eine taube Nuß mit vergoldeter Schale. Kleine und große Kinder mögen damit spielen, aber sie ja nicht öffnen ... Ja, die im Purpur des Ranges und Reichtums geborenen Glücksprinzen, welche ihr Leben lang die gemeinen Sorgen des Daseins »tief im wesenlosen Scheine« unter sich liegen haben, sie können am Ende leicht dazu kommen, sich für ihres Glückes Schmiede zu halten. Sie brauchen dabei weiter nichts zu tun, als sich vor Zuchthaus und Schafott zu wahren. Wer sich aber tüchtig im Leben tummeln muß, um überhaupt leben zu können, wer »die gemeine Wirklichkeit der Dinge« nicht bloß vom Hörensagen, sondern vielmehr vom täglichen Kampfe mit derselben kennt, der wird frühzeitig Bescheidenheit lernen und sich nicht einbilden, daß der Mensch seines Schicksals souveräner Herr und Gebieter sei. Natürlich spreche ich hier hauptsächlich vom äußerlichen Glück; aber ich verschweige dabei keineswegs, daß nach meiner Erfahrung bei fortgesetztem äußeren Mißgeschick das innere Glück, das heißt die harmonische Stimmung der Seele, ein Ding ist, an dessen Realität nur Schuljungen und Heilige glauben können. Schuljungen gibt es auch zu unserer Zeit noch genug und zwar sehr große, Heilige dagegen meines Wissens keine mehr, außer etwa solche à la Krispinus, die das gestohlene Leder zu recht bequemen Schuhen zu verarbeiten wissen, nicht für die Füße der Armen, aber für die eigenen.
Ich wollte sagen, daß ich trotz meiner zurückgezogenen Lebensweise die Lage des Hauses oder Palastes, wo der große Handelsherr Gottlieb Kippling residierte, wohl kannte. Die weitläufigen, Reichtum und eine außerordentlich vielseitige Geschäftstätigkeit ankündigenden Gebäulichkeiten waren mir während meiner einsamen Spaziergänge im Abendzwielicht des Frühlings mehrmals aufgefallen.
Wie ich bereits erwähnte, ist die Lage der Stadt eine höchst glückliche, die Umgebung anmutig und prächtig zugleich. Ein herrliches Seebecken zieht sich südwärts in halbmondförmiger Gestalt fünf bis sechs Meilen weit gegen das Hochgebirge hinauf, dessen Kolosse ihre glänzenden Schneekronen über malerisch geschwungene, dunkelbewaldete Vorberge herabschimmern lassen. Rings um den See läuft eine von der folgsamsten Bodenkultur zeugende Girlande von Rebengeländen, Baumgärten und grünen Matten, aus welchen die weißen Häuser zahlreicher stattlicher Dörfer – stattlichere wirst du nirgends, aber auch gar nirgends finden – hervortreten, hier weit an den Gehängen hinauf zerstreut, dort wieder zu großen Gruppen zusammentretend, die, vom regsten industriellen Leben erfüllt, recht wohl auf den Namen von Städten Anspruch machen könnten. Gegen Norden zu verengt sich das Seebecken mehr und mehr bis zur Breite von einer halben Stunde und verliert sich zuletzt in einen schönen Strom, an dessen beiden Ufern die Stadt erbaut ist. Beim Übergang des Sees in den Fluß springt eine kleine Insel, eine ehemalige Schanze, in das Wasser vor und von hier, wie von der schönen Brücke, die sich etwas weiter zurück über den Strom schwingt, genießt man eines bezaubernden Blickes über den See hinauf zu den Alpenfirnen. Gegen Osten lehnt sich die Stadt an mit Landhäusern besäte, sanft ansteigende Weingärten, gegen Westen lagert ein langer, schmalrückiger Gebirgszug, dessen höchste, vielbesuchte Kuppe eine Rundsicht bietet, die zu den Schönsten des Landes gezählt wird. Die Stadt ist alt und als Stadt nicht gerade schön, in manchen Quartieren sogar von mittelalterlich winkeliger und finsterer Physiognomie. Aber sie besitzt prachtvolle, aus neuerer Zeit stammende öffentliche Gebäude, besonders Schulen und Hospitäler, während mit Ausnahme einiger da und dort an beiden Seeufern liegender Villen großer Handelsherren, die Privathäuser durchschnittlich bescheiden und sogar unansehnlich sind. Dieses Verhältnis der privatlichen zu den öffentlichen Gebäuden legt, meine ich, für die republikanische Staatsform kein ungünstiges Zeugnis ab. Auf den lebhaften Hafen der Stadt blickt ernst ein alter zweitürmiger Dom romanischen Stils, dessen Erbauung, wenn ich nicht irre, die Sage Karl dem Großen zuschreibt. Das Straßenleben ist ein außerordentlich lebendiges, und zwar im Winter wie im Sommer, während dessen allerdings die von allen Ecken und Enden der Welt herbeiströmenden Fremden noch mehr Buntheit in das Treiben und Drängen bringen.
Der See schickt neben seinem breiten Abfluß, dem klaren grünen Strom, noch mehrere schmale Ausläufer in das Land hinein, welche früher als Festungsgraben benutzt wurden. Die große Reformbewegung der dreißiger Jahre beseitigte, wie noch manche andere mittelalterliche Verrottung, auch die Festungswerke, welche die Stadt peinlich eingeschnürt hatten. Die Wassergräben sind entweder zugeschüttet worden, um für neue Straßenanlagen Raum zu gewähren oder sie dienen, wo sie noch existieren, der Industrie und dem Handel zur Kommunikation mit der prächtigen Wasserstraße des Sees.
An einem dieser Kanäle erhoben sich die ausgedehnten Magazine des Herrn Gottlieb Kippling, dessen Namen ich von meinem Prinzipal bei verschiedenen Gelegenheiten hatte nennen hören, ohne daß ich weiter darauf geachtet hätte. Jetzt fiel mir ein, daß Herr Ziegenmilch einmal beim Mittagstisch mit Emphase erzählt hatte, er habe vormittags die Ehre gehabt, eine volle Viertelstunde lang mit dem Herrn Oberst und Kantonsrat Kippling sich zu unterhalten. (Beiläufig, ich machte die Bemerkung, daß in der Schweiz die großen Fabrikanten und Kaufleute sehr häufig zugleich Oberste in der Miliz oder Kantonsräte, das ist Mitglieder der gesetzgebenden Behörde sind. Herr Kippling vereinigte beide Würden in seiner Person.) Mein Prinzipal hatte von dem großen Handelsherrn mit einer Art religiöser Ehrfurcht gesprochen, wie etwa in Indien ein Mitglied der Sudrakaste von einem Haupt der Brahmanenkaste spricht.
Nachdem ich eine Strecke weit am Kanal hinaufgegangen, überschritt ich denselben mittels einer Brücke und befand mich nun am Eingange zu dem »Heimwesen« des Herrn Gottlieb Kippling.
Die Magazine umgaben auf drei Seiten einen großen Hofraum, auf welchem Frachtwagen, Krahnen, Wagen und das Volk der Packer, hier Spanner genannt, passiv und aktiv tätig waren. Die vierte Seite des Hofraums war offen, und hier, von wo aus das Ganze leicht in Aufsicht gehalten werden konnte, stand ein hübsches kleines Haus, dessen Parterrefenster mit starken Eisengittern verwahrt waren. Unaufhörlich gingen da Leute aus und ein, welche nach den Magazinen eilten oder von dorther kamen, Fakturen, Frachtbriefe, Warenlisten in den Händen. Es war hier ohne Zweifel das Kontor der Firma Gottlieb Kippling. Ein langes und hohes Eisengitter, über dessen der Türe des Kontorgebäudes gegenüberliegender Durchgangspforte die Inschrift: Verbotener Eingang – sehr großbuchstäblich angebracht war, trennte den ganzen Geschäftsraum von einem großen, parkartigen Garten, der sich mit seinen Rasenplätzen, Gewächshäusern, Baumgruppen und Blumenbeeten längs des Kanals bis zum Seeufer hinaufzog. Von dort herab, durch eine prächtige Allee von Kastanienbäumen und Silberpappeln schimmerten aus der Ferne die weißen Wände und großen Spiegelscheiben des palastartigen Wohnhauses, welches mit der Hauptfront dem Seespiegel zugekehrt war.
»Der Handel nährt, scheint es, seinen Mann,« sagte ich bei mir, das große Besitztum überblickend.
Dann trat ich in das Kontorgebäude und sagte (»Praktisch muß man sein!«) einem aus einer der Schreibstuben zu ebener Erde herauskommenden Bureaudiener so vornehm barsch als möglich, daß ich Herrn Kippling zu sprechen wünsche.
»Der Herr Oberst befindet sich oben in seinem Arbeitszimmer,« gab der Mann höflich zur Antwort, führte mich die Treppe hinauf und bezeichnete mir die Türe, wo ich anzuklopfen hätte.
Unterhaltung mit einem großen Manne. – Abermals ein alter Bekannter. – Vier Fragen. – Eine Rede von Oskar Ziegenmilch und Komp. – Der Kontrakt. – Ein freundschaftliches »Suppäh«. – »Des Nutzens grobem Dienst verkauft«.
Ich wurde in einem sehr einfach möblierten Zimmer, von welchem aus aber eine offenstehende Nebentür den Einblick in ein desto üppiger, ja mit orientalischem Luxus ausgestattetes Kabinett gestattete, von einem Herrn empfangen, welchen ich seiner mit kunstvollster Eleganz behandelten braunen Perücke zuliebe nicht geradezu einen alten nennen will, obgleich die ziemlich schlaffen und schwammigen Züge desselben, die tiefen Furchen seiner breiten und massiven Stirne, die hundert und wieder hundert Falten und Fältchen um Augen- und Lippenwinkel her, endlich der im Verhältnis zu seinem Untergestell sicherlich überkorpulente Oberkörper unzweifelhafte Attribute des Alters und nicht der Jugend waren.
Dieser Herr saß in einem braunen Morgenrock, sonst aber sorgfältig angezogen, in einem Rohrstuhl mit niedriger Lehne vor einem mit zahllosen Brieffächern versehenen Bureau und schrieb, den Rücken gegen die Türe gekehrt.
»Wer ist da?« fragte er bei meinem Eintritte kurz und scharf, ohne sich umzuwenden.
»Ein Fremder,« gab ich zur Antwort, »der sich Ihnen, Herr Oberst, vorstellen möchte.«
»Zu welchem Zweck?« fragte er wieder und wandte sich dabei halben Leibes lässig gegen mich um.
Unter den achteckigen Gläsern eines schwergoldenen Brillengestells hervor, welches fast ganz oben auf der Wurzel einer unschönen, an ihrer Spitze ins Violette schimmernden Nase saß, sahen mich ein Paar schwarze, blitzende Augen durchdringend an.
Ich muß so einen Blick schon irgendwo gesehen haben. Wo war es doch nur?
»Ich komme, Herr Oberst« sagte ich, »mich für die Stelle zu melden, welche, wie ich hörte, in Ihrem Kontor offen ist.«
»Die Stelle des ersten Korrespondenten für die auswärtigen Plätze ist allerdings offen, es hat sich aber eine ganze Menge tüchtiger Bewerber gemeldet und habe ich auch meine Wahl schon so ziemlich getroffen.«
»Dann bedaure ich, Sie gestört zu haben, Herr Oberst.«
So sprechend wollte ich meine Verbeugung machen, um mich zurückzuziehen; allein die Augen des Handelsherrn hielten mich fest.
»Mein Herr,« sagte er, »Sie sind Ihrer Aussprache nach kein Schweizer.«
»Nein. Ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein.«
»Eine sonderbare Ehre!«
»Darf ich bitten, mein Herr, mir zu sagen, wie Sie das meinen?« fragte ich nun meinerseits mit scharfer Betonung, denn ich hatte während meines Aufenthalts im Lande bereits bemerkt, die Mißachtung, in welcher die Deutschen häufig dort stehen, rühre mit daher, daß viele, um nicht zu sagen, die meisten meiner dort niedergelassenen Landsleute dem bornierten Volksvorurteil durch affektierte Verachtung ihres eigenen Vaterlandes zu schmeicheln suchen. Der Schweizer liebt in der Regel sein Heimatland mit Innigkeit. Diese Liebe ist die stärkste, oft die einzige ideale Seite seines Wesens. Er muß daher einen Deutschen verachten, der im Stile Börnes über Deutschland sich ausläßt, um so mehr, da der Schweizer, für den Humor überhaupt nicht sehr stark organisiert, den blutenden Zorn eines Börne nicht versteht. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, daß der Deutsche, welcher in der Schweiz leben will oder muß, am besten tut, sich schlechterdings nicht in die öffentlichen Angelegenheiten zu mischen, sondern einfach und streng seine Pflichten zu erfüllen und dabei von vornherein mit aller Entschiedenheit darauf zu halten, von den Schweizern, selbst von den höchstgestellten, auf dem Fuß sozialer Gleichheit behandelt zu werden. Allerdings hat es dieser oder jener meiner Landsleute durch ein entgegengesetztes Verfahren, durch einen ihn selbst und sein Vaterland entehrenden Servilismus dahin gebracht, für eine Weile die einflußreiche Kreatur von diesem oder jenem schweizerischen Matador zu werden; allein die ganze Herrlichkeit wahrte doch immer eben nur eine Weile, und im ganzen muß man sagen, daß die Schweizer jedem unter ihnen lebenden Fremden, welcher mit Selbständigkeit des Charakters einigen Takt des Benehmens vereinigt, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie lieben ihn nicht gerade, wie sie die Fremden überhaupt nicht lieben, die durchreisenden ausgenommen, aber sie achten ihn, und mehr kann am Ende keiner verlangen.
Ich erfuhr auch Herrn Gottlieb Kippling gegenüber, daß ich recht getan, meiner Nationalität nichts zu vergeben. Nachdem ich die erwähnte, verständlich genug betonte Frage an ihn gerichtet hatte, wurde die Sprache des Millionärs merklich weniger scharf und kurz angebunden. Freilich bat er mich keineswegs um Entschuldigung, wie ein wahrhaft gebildeter und nobler Mensch getan haben würde; aber er hatte sicherlich bemerkt, daß ich im Notfall der Mann sei, einen Unverschämten in seinem eigenen Hause zu züchtigen. Möglich sogar, daß das Bestimmte in meiner Entgegnung einen günstigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Nur vollendete Jammerseelen wissen ein mannhaftes Auftreten nicht zu würdigen. Herr Kippling war in seiner Art ein Mann, ein ganzer Mann.
Er drehte sich völlig zu mir um, deutete auf einen Stuhl und sagte, nachdem er mich abermals fixiert hatte:
»Es ist eigen, daß mir vorkommt, Sie sähen jemand ähnlich, dem ich schon begegnet sein muß. Hm! Sie sind also in Deutschland geboren, mein Herr?«
»Ja, mein Herr.«
»Wo?«
»Im Dorfe Rothenfluh.«
»In Rothenfluh?« fragte der Millionär, wie mir schien, mit einiger Hast und erhob sich von seinem Rohrsessel.
Er ging mit auf den Rücken gelegten Armen einigemal im Zimmer hin und her, unter seiner Brille hervor forschende Seitenblicke auf mich richtend, und ohne in seinem Gange inne zu halten warf er die Frage hin:
»Ihr Name?«
»Michel Hellmuth.«
Herr Kippling trat an sein Bureau, kramte in den dort liegenden Papieren, und nach einer Weile fragte er, den Rücken gegen mich gewendet und wie völlig zerstreut:
»So, so, mein Herr, Sie heißen Hellmuth? Ein recht wohlklingender Name ... Sie wurden zum Kaufmann gebildet?«
»Nein, Herr Oberst, ich habe studiert.«
»Was?«
»Theologie und Jurisprudenz.«
»Aber wie kommen Sie denn dazu, um eine kaufmännische Stellung sich zu bewerben?«
»Ich wollte weder Pfarrer, noch Staatsbeamter, noch Advokat werden.«
»Hm, Sie scheinen sehr wählerisch zu sein, junger Mann. Und doch,« fügte er hinzu, sich wieder zu mir kehrend und mich mit einem schnellen Blicke vom Scheitel bis zur Sohle musternd, »und doch sehen Sie nicht wie ein Taugenichts und Bruder Liederlich aus.«
»Herr Oberst, ich glaube auch versichern zu dürfen, daß ich weder das eine noch das andere bin. Zu meinem Entschluß, die kaufmännische Laufbahn zu versuchen, hat mein Wunsch, fremde Länder zu sehen, wohl das meiste beigetragen. Dann gab der Tod meines Vaters den Ausschlag.«
»Wer war Ihr Vater?« fragte der Millionär, wieder eifrig in seinen Papieren herumstöbernd.
»Der Konsulent Hellmuth, Verwalter der freiherrlichen Herrschaft Rothenfluh.«
»Wann starb er?«
»Im letzten Winter.«
»Er hinterließ Vermögen?«
»Nur ein sehr mäßiges.«
»Sie sind also doch nicht ganz mittellos?«
»Doch, mein Herr. Die Hinterlassenschaft meiner geliebten Eltern gehörte von Rechts wegen meiner Schwester. Ich hatte meinen Anteil, jedenfalls den größeren, zum voraus verbraucht, verstudiert, wenn Sie wollen.«
»Sie scheinen aufrichtig zu sein, junger Mann ... hm ... und ... nun, sehen Sie, ich war seinerzeit, als ich anfing, Geschäfte zu machen, ebenfalls ein armer Teufel, besaß sozusagen keinen Franken, keinen Rappen ... Tätigkeit, mein Herr, Tätigkeit, Kühnheit und praktisches Talent, das macht den Geschäftsmann ... So, so, Sie besitzen also nichts?«
»Nichts, ausgenommen Mut, guten Willen und, wenn ich es ohne Unbescheidenheit sagen darf, einige Kenntnisse.«
»Sind Sie in Sprachen bewandert? Versteht sich von selbst, ich meine nicht die alten Schulsprachen ... unpraktisches Zeug!«
»Ich möchte mich auch mit dem, was noch davon an mir hängen geblieben, nicht sehr brüsten, Herr Oberst; aber ich verstehe leidlich Französisch, perfekt Englisch und hinlänglich Italisch.«
»Sie sagen Italisch statt Italienisch. Warum?«
»Ich erspare dabei zwei Silben. Zeit ist Geld.«
Der Millionär, wieder zu mir gewendet, ließ sich herab, über den schlechten Witz zu lächeln. Dann fragte er weiter:
»Sie kommen direkt aus Ihrer Heimat?«
»Nein. Ich habe schon einige Zeit in einem hiesigen Geschäfte gearbeitet.«
»Bei wem?«
»Bei Ziegenmilch und Komp.«
»Bei dem Salben- und Latwergenkrämer?«
»Herr Oberst, ich habe alle Ursache, Herrn Ziegenmilch dankbar zu sein. Er gab mir Brot, als ich keins hatte. Aber ich vermag mich mit der von ihm kultivierten Geschäftsbrauche nicht zu befreunden.«
»Hm, ich denke, ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber, mein Herr, Geschäft ist Geschäft und praktisch muß man sein. Herr Ziegenmilch ist ein praktischer Mann, ein sehr praktischer. Wird es weit bringen. Besitzt bereits bedeutenden Kredit auf hiesigem Platz.«
»Ich zweifle nicht daran, aber ...«
»Was bewog Sie denn, gerade der Firma Gottlieb Kippling Ihre Dienste anzubieten?«
»Der große Ruf dieser Firma und meine Hoffnung, hier bei befriedigenderer Arbeit auch besser vorwärtszukommen.«
»Sonst nichts?«
Ich wurde durch diese Frage in peinliche Verlegenheit gesetzt. Wie ein Blitz der Erinnerung überkam es mich, daß mein Vater am Grabe seiner Mutter einst zu mir gesagt: »Lüge nie!« Aber es gibt Lagen ... Ach, das Leben ist ein schlechter Moralprediger.
Zum Glück ließ mir Herr Kippling keine Zeit zu lügen, indem er mein Verstummen anders deutend, weiter fragte:
»Sie kannten den Namen meiner Firma schon früher?«
Sehr froh, der Antwort auf die vorhergehende häklige Frage enthoben zu sein, beachtete ich kaum den bohrenden Blick, von welchem die letztere begleitet war. Erst in späterer Zeit, wenn ich mich dieses ersten Zusammentreffens mit dem Millionär erinnerte, entsann ich mich auch lebhaft des eigentümlich lauernden Blickes, welchen er bei den angeführten Worten auf mich geheftet hatte.
»Nein, Herr Oberst,« gab ich zur Antwort. »Ich hörte von Ihrer Firma erst am hiesigen Orte.«
»Wirklich, nirgends sonst und nie früher?«
»Nie und nirgends,« sagte ich der Wahrheit gemäß mit Bestimmtheit.
Der Millionär setzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versank in ein nachdenkliches Schweigen, während dessen er nur von Zeit zu Zeit einen scharfen, aber nicht gerade unfreundlichen Blick auf mich herüberwarf.
Endlich erhob er sich wieder und trat auf mich zu, der ich ebenfalls aufgestanden war.
»Mein Herr,« bemerkte er, »ich sage Ihnen frank heraus, daß mir Ihr ganzes Auftreten nicht mißfallen hat. Es ist etwas an Ihnen, was Zutrauen erweckt. Aber Geschäft ist Geschäft, und in Geschäftssachen muß man praktisch zuwege gehen.« – Der Millionär, der Geschäftsbrahman Kippling gebrauchte also zum zweitenmal wörtlich einen Lieblingsausdruck des Nochnichtmillionärs, des Geschäftssudra Ziegenmilch. – »Ich sage nicht nein zu Ihrem Anerbieten, allein ich muß, bevor ich mich entscheide, natürlich erst die nötigen Erkundigungen über Sie einziehen und zugleich auch erfahren, ob Sie die fragliche wichtige, sehr wichtige Stelle in meinem Kontor auszufüllen vermögen. Sie werden damit einverstanden sein?«
»Gewiß, Herr Oberst.«
Der Millionär zog die Klingel und sagte dem eintretenden Diener:
»Ich lasse Herrn Bürger zu mir bitten.«
Der Name frappierte mich, aber mehr noch die bald erfolgende Erscheinung seines Trägers.
Es war mein Herr Sekundant von der Hirschgasse in Heidelberg und ich konnte bei seinem Eintritt eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken, welche Herrn Kippling nicht entging, die aber Herr Bürger nicht erwiderte oder gar nicht beachtete.
»Herr Hanns Bürger, erster Buchhalter und Prokuraträger der Firma,« sagte Herr Kippling, mir den Genannten vorstellend – »Herr Michel Hellmuth.«
Ich verbeugte mich, und Herr Bürger erwiderte meine Verbeugung ebenso gemessen. Dann sagte er zu seinem Chef:
»Hatte schon anderen Ortes die Ehre, die Bekanntschaft des Herrn Hellmuth zu machen.«
»Anderen Ortes?« fragte Herr Kippling mit einem Anflug von Mißtrauen in der Stimme. »Wo denn? wenn ich fragen darf.«
»Auf der Mensur.«
»Was?«
»Nun ja,« versetzte Herr Bürger, »auf der Mensur, das heißt, dieser Herr stand darauf und ich stand daneben, 's ist kla–ar.«
»Mir nicht eben sehr,« bemerkte Herr Kippling.
»'s war in Heidelberg – vorigen Spätsommer – auf der Hirschgasse – dumme Schnurre – Säbelpaukerei – sekundierte dem Herrn, welchem ein anderer hätte gegenüberstehen sollen, als ihm gegenüberstand. Kennt ihn auch, den nicht Gegenübergestandenhabenden, Herr Oberst. Werde Euch bei Gelegenheit mal die dumme Geschichte erzählen. Studentika – Allotria – Larifari – 's ist kla–ar.«
»Ich werde Euch gelegentlich daran erinnern, Herr Bürger,« sagte der Millionär. »Jetzt von Geschäften. Dieser Herr hier hat sich um die in unserem Kontor offene Stelle gemeldet.«
Herr Bürger zog bei dieser Ankündigung die Augenbrauen etwas in die Höhe und zitterte etwas Weniges mit den Flügeln seiner Adlerschnabelnase, sagte aber nichts. Herr Kippling fuhr fort:
»Es handelt sich darum, zu sehen, ob Herr Hellmuth die Qualifikation für die fragliche Stelle besitze. Ihr werdet ihm daher vier bezügliche schriftliche Aufgaben stellen, Herr Bürger, und er wird sie, wenn es ihm so beliebt, binnen drei Tagen beantworten, die eine in deutscher, die zweite in französischer, die dritte in englischer, die vierte in italienischer Sprache. Näheres brauche ich Euch darüber nicht zu sagen, Herr Bürger, und damit guten Morgen meine Herren.«
Er wandte sich zu seinem Schreibtisch zurück, und Herr Bürger bedeutete mir mit einer höflichen Gebärde, ihm zu folgen.
Er führte mich die Treppe hinab in sein Arbeitszimmer, welches am Ende der verschiedenen Abteilungen des Kontors lag und mit diesem durch eine Türe in Verbindung stand. Sie war gewöhnlich verschlossen, allein der erste Buchhalter und Prokuraträger der Firma war in den Stand gesetzt, mittels eines großen viereckigen Schiebers, der in die Türe eingesetzt war und nach Belieben geöffnet und geschlossen werden konnte, mit dem Bureaupersonal zu verkehren und dasselbe zu überwachen. Jetzt stand der Schieber offen, und ich sah da draußen an zwei Dutzend alte und junge Kommis an ihren Pulten und Tischen beschäftigt, die einen stehend, die anderen auf niederen Taburetten, die dritten auf hohen Schreibböcken hockend. Es ging still und gemessen zu. Nur dort, aus einer Art von vergitterter Loge, worin der Kassierer hauste, tönte das Geklirre der Metalle, welchen, mit dem armen Shelley zu sprechen:
Den Stempel seiner Selbstsucht schlau der Handel,
Das Siegel seiner allbejochenden
Macht aufgedrückt hat.
Herr Bürger schloß den Schieber, lud mich mit einer Handbewegung ein, auf einem kleinen, ledergepolsterten Sofa Platz zu nehmen, während er sich vor seinen Schreibtisch setzte, auf dessen Tafel und in dessen Fächern Papiere und sonstige Schreibmaterialien aller Sorten, nebst Briefen, Mappen, Kontorbüchern von allen Größen mit der pünktlichsten Sauberkeit geordnet waren, wandte sich dann auf seinem um eine Kurbel sich drehenden Sitz gegen mich um und sagte:
»Also aus einem paukenden Studenten ein Kaufmann geworden? Wahrscheinlich ohne Geld, nicht? Kenne das, stand auch mal in denselbigen, nicht gerade bequemen Schuhen. Närrische Komödie, das Leben! 's ist kla–ar.«
»Wie, auch Sie, Herr Bürger?«
»Ja, ich ... Aber, vor allem, wollt Ihr mir einen Gefallen tun?«
»Nur einen. Kann das alberne ›Sie‹ und ›Ihnen‹ nicht leiden. Humbug! 's ist kla–ar. Rede alle Leute mit ›Ihr‹ an, weil sie ja doch so dumm sind, das ›Du‹ für 'ne Sottise zu halten. Keine Natur mehr in der Welt! 's ist kla–ar.«
Schon bei meinem ersten Zusammentreffen mit Herrn Hanns Bürger hatte ich bemerkt, daß derselbe zur Spezies der wunderlichen Heiligen gehörte. Seither war seine knappe Sprache noch barocker geworden, und da ich die ›Ihr‹-Schrulle damals in Heidelberg noch nicht an ihm wahrgenommen hatte, so durfte ich annehmen, daß dieselbe ein neueres Kind seiner Laune sei.
»Ich will Euch von Herzen gern ihrzen, Herr Bürger,« sagte ich. »Aber wollt Ihr mir einen Gegengefallen tun?«
»Welchen?«
»Nur eine Frage beantworten.«
»Fragt mich.«
»Ihr bemerktet vorhin gegen Herrn Kippling, daß derselbe den dummen Jungen kenne, der damals in Heidelberg so schmählich Reißaus nahm. Wer war der junge Mensch? Kennt Ihr ihn?«
»Kenne ihn – 's ist kla–ar,« versetzte Herr Bürger, lustig mit seinen runden grauen Augen zwinkernd. »Kannte ihn aber damals noch nicht. Kam gerade von jenseits des großen Baches. Hatte lange Jahre erst in Kalkutta, dann in Neuorleans den dortigen Sukkursalen der Firma vorgestanden.«
»Aber wer war denn der Junge?«
»Wer er war? Werdet es, rechne ich, wohl erfahren, Herr Hellmuth, falls Ihr das Glück habt, bei uns einzutreten. Und davon wollen wir jetzo reden, so's Euch beliebt.«
Er redete aber nicht davon, sondern drehte seinen Stuhl dem Schreibtische zu, ergriff die Feder und begann eifrig zu schreiben.
Ich merkte, daß Herr Bürger behutsam behandelt sein wollte, und störte ihn weiter nicht.
Er war bald mit Schreiben zu Ende, stand auf, überblickte rasch das Geschriebene und reichte mir dann das Blatt mit einem kurzen: »Lest!«
Ich tat so.
»Versteht Ihr diese vier Fragen?« fragte er, als ich von dem Blatte aufsah.
»Offen gestanden, im Augenblicke nicht so ganz.«
»Schade! Aber Ihr habt Zeit darüber nachzudenken. Im übrigen befleißigt Euch bei der Beantwortung eines bündigen und klaren Stils. Bündigkeit und Klarheit verlangt die Praxis. Keine Phrasen, keine Schnörkel – versteht Ihr? – 's ist kla–ar. Binnen heute und drei Tagen werdet Ihr mir dieses kaufmännische Exerzitium zukommen lassen. Rat' Euch das. Müßt wissen, der Herr Oberst liebt und verlangt Pünktlichkeit. Ist praktisch das, und jetzt, so Ihr nichts dagegen habt, sag' ich Euch: Adieu, Herr Hellmuth. Will an mein Geschäft.«
Das hieß kurz abgefertigt und verdroß mich nicht wenig, denn ich hatte im stillen gehofft, Herr Bürger würde mir auch bei dem bevorstehenden Duell mit den verteufelten vier Fragen ein wenig sekundieren. Das war aber augenscheinlich eine ganz grundlose Hoffnung gewesen, und so ging ich denn weg, mit sehr herabgestimmter Erwartung, daß ich das »Glück« haben werde, bei Gottlieb Kippling »einzutreten«.
Trotzdem verwandte ich ein paar halbe oder ganze Nächte darauf, die mir gestellten Aufgaben nach bestem Willen zu lösen, und gab am dritten Tage meine Versuche in kaufmännischer Schriftstellerei unter der Adresse des Herrn Hanns Bürger auf die Stadtpost.
Ich hatte mit einer vielleicht nicht ganz geschäftsmäßigen Offenheit Herrn Ziegenmilch sogleich nach meiner Rückkehr von dem Gange nach Herrn Kipplings Kontor von der Absicht in Kenntnis gesetzt, welche mich dahin geführt, und er hatte zu meiner Eröffnung ein sehr langes und nicht eben freundliches Gesicht gemacht. Es hatte sich dann zwischen uns ein etwas belebtes Gespräch entsponnen, in dessen Verlauf Herr Ziegenmilch Saiten aufzog, die nicht sehr angenehm klangen. Ich handhabte aber die Stimmschraube mit Geduld und bewies ihm, daß ich nur seine eigenen Grundsätze und Lehren befolge, daß ich praktisch, »enorm praktisch« sei, wenn ich in einem mir mehr zusagenden Geschäftskreise meine »Fortune« zu »poussieren« suche. Herr Ziegenmilch war zu sehr Praktiker, um gegen diese »Logik der Tatsachen« in die Länge standzuhalten.
Er tat aber noch mehr. Er bewies mir schon am folgenden Tage, daß er sich mit bester Manier in die Umstände zu schicken wußte. Denn von der Börse heimgekehrt, sagte er mir:
»Sie sollen mir eines Tages doch noch die Anerkennung zollen, Herr Hellmuth, daß es kein Mensch, aber auch gar kein Mensch so gut, so enorm gut mit Ihnen meine wie ich. Sehen Sie, der Herr Oberst und Kantonsrat Gottlieb Kippling hat bei mir Ihrerwegen auf den Busch geklopft ... ein scharmanter, ein netter, was sag' ich? – ein großer, ein enorm großer Mann, der Herr Oberst, Kantonsrat und Chef, einziger Chef der enormen Firma Gottlieb Kippling. Ein kolossales Geschäft ... enorm, ganz enorm! ... Ich tat natürlich, als wüßte ich von der ganzen Geschichte keine Idee, denn, wie Sie wissen, praktisch muß man sein, und eine Hand wäscht die andere, das heißt, ich werde Sie nachher auch um eine kleine Gefälligkeit ersuchen. Nun was tat ich? Ja, was tat ich, da Sie, halsstarriger Mensch, nun doch einmal von der zukünftigen Firma Ziegenmilch und Hellmuth nichts wissen wollen? Ich handelte als Ihr Freund, als Ihr enormer Freund, verstehen Sie? indem ich Sie enorm lobte. Was sag' ich? Gepriesen hab' ich Sie nach allen Dimensionen ... und wie! Die Sache wird sich machen, bin überzeugt davon. O, Oskar Ziegenmilch und Komp. hat einen feinen Merker, einen enorm feinen Merker. Aber Geschäft ist Geschäft, praktisch muß man sein und ... wie du mir, so ich dir. Hoffe, lieber Herr Hellmuth, Sie werden dieses enorm guten Grundsatzes nach Kräften eingedenk sein, wenn ich nächstens mal einen Versuch mache, mit der Firma Gottlieb Kippling in Geschäftsverbindung zu treten. Sie glauben gar nicht, wie man sich gegenseitig poussieren kann; aber praktisch muß man sein. Und, ja, ich hoffe, Sie werden, auch wenn Sie bei mir austreten, mein Haus recht oft, recht enorm oft besuchen. Ich und mein Lis... will sagen meine Lelia, wir werden Sie stets mit offenen Armen empfangen, Sie sollen sich bei uns daheim fühlen, enorm daheim ... und ... ja, nicht wahr? Aus Freundschaft lassen Sie mir auch in Zukunft von Zeit zu Zeit, wann ich einen neuen Artikel in Umlauf setze, eines von Ihren Annöncechen, so recht eines von Ihren enormen Annöncechen zukommen? Par amitié, wie gesagt; denn, sehen Sie, praktisch muß man sein, enorm praktisch!«
Der »feine Merker« meines Herrn Prinzipals rechtfertigte sich, denn am vierten Tage benachrichtigte mich ein lakonisches Billett des Herrn Hanns Bürger, daß mich Herr Gottlieb Kippling abends sechs Uhr auf seinem Arbeitszimmer erwarte.
»Viktoria!« sagte Herr Ziegenmilch. »Es geht gut, das heißt, es geht nach Ihrem Willen. Was habe ich gesagt? Habe ich eine feine Nase, oder habe ich keine? Jetzt aber seien Sie enorm klug und praktisch, Herr Hellmuth. Gottlieb Kippling will Sie haben. Das ist kla–ar, wie der, unter uns, unausstehliche Donnerhagelskaib, Dieses in der fraglichen schweizerischen Landschaft heimische Schimpf-, Fluch- und Drohwort wird mitunter auch im entgegengesetzten Sinne gebraucht. So hörte ich einmal eine Fabrikarbeiterin mit dem Ausdruck der höchsten Zärtlichkeit ihren Mann einen Donnerhagelskaib nennen. Das Wort Kaib hat übrigens ursprünglich die nicht sehr reinliche und wohlduftende Bedeutung von Aas. der Bürger, sagen würde. Lassen Sie sich nicht etwa mit einer Bagatelle abspeisen, sondern stellen Sie keck Ihre Forderungen: – praktisch muß man sein!«
Der Herr Oberst und Kantonsrat empfing mich mit der zurückhaltenden Würde eines Mannes, der Millionen kommandiert. Er hieß mich sitzen und leitete ein Gespräch ein, in dessen Verlauf er mit viel Diplomatie meinen ganzen bisherigen Lebenslauf erzählen ließ. Ich gab freilich nur Umrisse, doch wußte er es mittels geschickter Fragen zu machen, daß ich einige Partien, besonders die auf mein elterliches Haus bezüglichen, ins Detail ausmalte. Zuletzt sagte er:
»Herr Hellmuth, ich zweifelte, aufrichtig gestanden, sehr an Ihrer Qualifikation für die Stelle eines ersten Korrespondenten in meinem Hause. Allein Herr Bürger hat mir einen sehr günstigen Bericht über Ihre Befähigung abgestattet. Er meint zwar, mit Ihren französischen und italienischen Wendungen hapere es noch da und dort, Ihr Englisch gehe an, nur schrieben Sie es, was überhaupt der Fehler Ihres Stiles sei, zu blumenreich. Aber es werde sich mit der Zeit wohl machen. Wir« – große Handelsherren reden wie die Könige nur im Pluralis majestaticus von sich – »wir wollen es also mit Ihnen wagen und haben hier einen Kontrakt aufgesetzt, der Ihre Pflichten und Rechte darlegt. Er lautet einstweilen auf die Dauer eines Jahres. Sind wir nach Ablauf desselben miteinander zufrieden, so sollen Sie noch günstiger gestellt werden. Ich bin kein Knicker.«
Er reichte mir den auf einen gestempelten Bogen geschriebenen Kontrakt, und ein Blick auf denselben überzeugte mich, daß die mir bewilligten Bedingungen meine Hoffnungen weit, sehr weit übertrafen.
Der Millionär merkte mir meine freudige Überraschung leicht an und sagte:
»Sie sehen, ich durfte behaupten, daß ich kein Knicker sei, hoffe aber auch, daß Sie mir eifrig, treu und redlich dienen werden.«
»Ich werde es, soweit nur immer meine Kräfte reichen,« entgegnete ich mit Wärme.
»Gut, ich glaube Ihnen, um so mehr, da Sie durch Förderung meiner Interessen Ihre eigenen fördern. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen. Halten Sie sich in allem und jedem an Herrn Bürger, der Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist und unter einer oft rauhen, noch öfter wunderlichen Außenseite große Tüchtigkeit, Geradheit und Güte verbirgt.«
Es lag selbst so etwas wie Güte in diesen Worten des Millionärs, zu welchem ich mich hätte hingezogen fühlen können, wäre nur sein wenig Zutrauen einflößender Blick nicht gewesen.
»Sie werden,« fuhr er fort, »in dem Kontrakt eine Bestimmung bemerkt haben, welcher zufolge Sie mittags an meinem Tische essen und in meinem Hause wohnen müssen. Ich habe es nämlich stets so gehalten, das heißt mit dem ersten Buchhalter, dem ersten Korrespondenten und dem Kassierer, damit ich dieselben immer bei der Hand habe, falls dies auch außer den Kontorstunden nötig wird, was bei einem großen Geschäftsbetrieb nicht selten vorkommt.«
Ich verbeugte mich schweigend, und Herr Kippling setzte noch hinzu:
»Sie übernehmen damit freilich die Verpflichtung, die Hausordnung einzuhalten, aber dieselbe ist keine pedantische. Sie werden eine Stube in der oberen Etage des großen Gartenpavillons erhalten, wo auch Herr Bürger und Herr Egli, der Kassierer, ihre Zimmer haben. Es ist mir lieb, wenn Sie am nächsten Samstag eintreten. Am Montag wird Sie dann Herr Bürger Ihren Kollegen vorstellen und in Ihre Verrichtungen einleiten. Er ist in jeder Beziehung meine rechte Hand, um so mehr, da die Geschäfte mich zu häufiger Abwesenheit von Haus und Stadt nötigen. Es ist notwendig, daß Sie alsbald nach Ihrem Eintritt auch die großen Etablissements kennen lernen, die wir unweit von hier, droben im Bihltal, besitzen. Herr Bürger wird Sie hinführen. Dann wäre alles vorderhand Nötige gesagt, und es steht jetzt bei Ihnen, den Kontrakt zu unterzeichnen oder nicht.«
Natürlich bedachte ich mich in betreff der Unterzeichnung nicht lange, und so war mein Schicksal für die nächste Zeit festgestellt.
Mein Abzug aus dem Hause Ziegenmilch geschah in aller Freundschaft. Frau Lelia veranstaltete am Tage zuvor mir zu Ehren ein solennes »Suppäh«, wie sie sich ausdrückte, und entfaltete dabei nicht nur alle Schätze von Küche und Keller, sondern auch die ihrer »immens gefühlvollen« Seele. Fand ich doch unter meiner Serviette ein Stammbuchblatt, welches einen kühnen Versuch meiner bisherigen Prinzipalin in der edlen Reimkunst enthielt. Leider habe ich es seither verloren, weiß aber noch ganz gut, daß darin »des Neids Gestichel« und der »Verleumdung Sichel« sehr genial auf »Michel« reimten. Auch die Herren Rumpel und Puff waren da und hielten um die Gunst der schönen und gefühlvollen Wirtin ein glänzendes Wort- und Witzturnier. Herr Ziegenmilch aber nahm gegen Ende des »Suppäh« seine Napoleonsstellung an und brachte einen wundervollen Toast auf die Freundschaft der praktischen Leute aus, welchen der Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« »pyramidalisch« schön fand, worauf mich Herr Ziegenmilch gerührt umarmte und mir dabei eine Erinnerung an die »enorme« Annoncenangelegenheit ins Ohr flüsterte.
Am folgenden Abend saß ich in meinem Zimmer im Gartenpavillon des Herrn Gottlieb Kippling und meldete dem Fabian in einem langen Briefe meine bisherigen Abenteuer in der Fremde. Ich erinnere mich, daß ich, halb im Scherze, halb im Ernste, diese Epistel mit einem Zitat aus einem englischen Gedichte schloß, dessen Verfasser, zugleich Poet und Kaufmann, in einer der meinigen einigermaßen ähnlichen Situation von sich gesagt hatte, er sei jetzt –
Des Nutzens grobem Dienst verkauft, wo wüst
Das Feld des Denkens liegt und nichts gedeiht
Als Gold ...