Johannes Scherr
Brunhild
Johannes Scherr

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7. Erkämpft.

Ein leises Geräusch in dem Zimmer über ihr störte sie auf. »Er rüstet sich zu dem verhängnisvollen Gange,« sagte sie. »Ob er auch jetzt nicht versucht, mir ein Abschiedswort zu sagen?«

Er schien es nicht versuchen zu wollen. Brunhild öffnete vorsichtig die Türe ihres Zimmers und lauschte hinaus. Das fahle Zwielicht des ersten Morgengrauens lag auf dem Korridor. Sie hörte nach einer kleinen Weile die beiden Freunde geräuschlos die Treppe herabkommen.

Am Fuße derselben standen sie still, und Brunhild, deren Seele in ihren Ohren war, vernahm die flüsternde Stimme Schwarzdorns: »Und du willst also deiner Frau kein Wort sagen?«

»Nein, entgegnete Siegfried. »Es wäre schade, ihren Morgenschlummer zu stören. Ist die Schnurre vorbei, so oder so, magst du ihr in deiner Weise gelegentlich erzählen, daß Alter nicht vor Torheit schütze, das heißt daß ein alter Burschenschafter nicht ruhig habe mit anhören können, wie so ungalant man mit der armen alten Mutter Germania umsprang.«

»Aber –«

»Wir haben wahrhaftig keine Zeit mehr zum Plaudern, komm! Im übrigen ist ja alles –« Seine Stimme verklang im Fortgehen.

Brunhild zog den Kopf zurück und schloß die Türe. »Er wollte mich nicht sehen,« sagte sie in bitterem Groll und Trotz. »So mag er denn gehen.«

Sie versuchte mit aller Gewalt in diese trotzige Stimmung mehr und mehr sich hineinzuarbeiten. Aber es ging nicht. Siegfrieds Worte: »Es wäre schade, ihren Morgenschlummer zu stören,« hatten sie etwa kalt oder gar spöttisch geklungen? O nein! Aber er hatte sie nicht sehen und sprechen wollen. Sie konnte ihm doch nicht nachlaufen und darum, meinte sie, wäre es das klügste, sie kleidete sich aus und legte sich zu Bette.

Aber es ging nicht. Eine furchtbare Beklemmung bemächtigte sich ihrer und drohte sie zu ersticken. Sie riß das nächste Fenster auf, und von der großen Nußbaumallee her, auf welche dasselbe hinausging, schlug ihr die kühle Morgenluft entgegen. Sie beugte sich tiefaufatmend hinaus, und da erhaschte ihr Auge zwei Männergestalten, welche von der Allee rechts ab auf den Fußweg bogen, der über die große Matte nach der entgegengesetzten Seite des Talbodens führt. In demselben Augenblicke rasselte ein Wagen von der Freitreppe des Hotels weg und fuhr eilends die Allee hinab.

Da quoll ein Gedanke heiß in ihrer Seele auf und erfüllte widerstandslos ihr ganzes Fühlen und Sein. Nur im Umsehen raffte sie Hut und Schal auf und enteilte dem Zimmer, sprang die Treppe hinab, glitt an dem aus verschlafenen Augen verwundert sie anblickenden Portier, welcher im Begriffe war, die Haustüre wieder zu schließen, vorüber durch den Portikus, den Perron hinab, in die Allee hinaus und lief dieselbe entlang bis zu der Stelle, wo der erwähnte Fußpfad sich abzweigt.

Diesen schlug sie ein und verfolgte ihn geflügelten Ganges. Da, wo an der andern Seite des Tales der Bergwald anzusteigen beginnt, mündet der Fußweg in eine Fahrstraße, welche zwischen der Gebirgswand und dem Ufer des Stromes knapp sich hinwindet. Hier erschaute sie durch den leichten Morgennebel hindurch nur etliche hundert Schritte vor sich die rasch ausschreitenden Gestalten Siegfrieds und seines Freundes, und kaum von ihr erblickt, schlugen die beiden einen linkswärts in den Wald hinaufführenden Seitenweg ein. Als sie an diesen herangekommen, bemerkte sie, daß wenige Schritte darüber hinaus ein Zweispänner auf der Straße hielt. Er war leer. »Sind die Herren in den Wald hinauf?« fragte sie den Droschkenführer.

»Myni Engelländer? Jo, sie heiget gäng dä Weg g'no,« gab der Mann gleichgültig zur Antwort, mit dem Ende seines Peitschenstils auf den Waldweg deutend.

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, schlug Brunhild denselben ein. Er führte anfänglich gemächlich, dann steil und steiler bergan und endlich auf eine dicht mit Tannen bestandene Ebene. Hier aber teilte er sich, und zwar dreizackig. Brunhild stand in peinvoller Ungewißheit eine Sekunde lang still. Rings um sie waltete lautloses Schweigen, da die Zeit der Sonnenwende längst vorüber und der Vogelsang demnach verstummt war. Plötzlich fiel ein helles Leuchten in die graue Waldesdämmerung, und als Brunhild aufschaute, sah sie die Tannenwipfel rötlich angeglommen. Das Tagesgestirn mußte also über die Gebirgsspitzen im Osten herauf sein.

Es trieb sie mächtig vorwärts, aber wohin? Sie tat nacheinander auf jedem der vor ihr liegenden drei Pfade etliche Schritte vorwärts und ebenso rasch wieder zurück. Endlich warf sie sich hastig auf den mittleren, geradeaus führenden und eilte vorwärts mit der Elastizität eines um Tod und Leben rennenden Rehes, nicht achtend, daß nach einer kurzen Strecke der Weg in vielfachen Wendungen wiederum jäh bergan führte. Dann sprang er mit scharfer Biegung plötzlich nach rechts um, führte in dichtes Unterholz und Gestrüppe und ging hier ganz aus.

Verzweifelnd hielt die Eilende inne. Ihr Busen flog, Tropfen kalten Schweißes rollten von ihren Schläfen herab, und ihre Augen starrten in die sie umgebende Waldwildnis, als ob sie vor Bangen aus ihren Höhlen springen wollten.

In diesem Augenblicke kam das geahnte, das gewußte Gefürchtete. Zwei Schüsse fielen dort rechtshin so rasch hintereinander, daß es wie nur ein Knall durch den Wald hallte.

Der Atem stockte in Brunhilds Brust. Dann brach ein Schrei aus ihrem Munde, grell und gell wie die Verzweiflung, und im nächsten Augenblicke flog sie unaufhaltsam durch das Gebüsche dahin, woher der Schall gekommen.

Die gesuchte Stelle war nahe beian. Brunhild fand sich unversehens am Saum einer Lichtung, von welchem der Boden rasch gegen ein schmales Tälchen abfiel, welches hier in den Wald eingeschnitten war. Auf dem grünen Wiesengrund konnte sie, etwa fünfzehn Schritte voneinander entfernt, zwei Gruppen wahrnehmen, jede aus drei Figuren bestehend. Und je eine derselben lag, und je zwei standen. Sie konnte in dem einen Daliegenden den englischen Kolonel erkennen, der jetzt ein sehr stiller Mann, und – doch nein, sie erkannte, sie sah nicht ihn, sah nichts und niemand außer dem einen – Siegfried.

Und »Siegfried! Siegfried!« schrie sie auf, in wahnsinnigen Sätzen den Abhang hinunterfliegend, und im nächsten Augenblicke lag sie ihm zur Seite auf den Knien und schlug die Arme um den sterbenden Mann. Denn ein sterbender war er. Die Gegner hatten, wie bestimmt worden, auf kurze Distanz a tempo gefeuert und in demselben Moment, wo Siegfrieds tödliche Kugel dem Kolonel in die rechte Schläfe geschlagen, war ihm das Blei desselben seitlings in die Brust gefahren.

Aschfarben im Gesicht, faßte Schwarzdorn den Arm des Arztes, welchen die Engländer mitgebracht hatten, und gepreßten Atems, fast pfeifend stieß er die Frage hervor: »Keine Rettung, Doktor?«

Der Arzt schüttelte den Kopf und flüsterte zurück: »Keine. Er hat nur noch Sekunden zu leben.«

»Siegfried, mein Siegfried!« flehte in Tönen bebender Zärtlichkeit Brunhild. »Ich bin da, Brunhild, dein Weib, deine Sklavin, die den Staub von deinen Füßen küssen, die für dich leben, die für dich tausend Tode sterben will!«

Der tödlich Getroffene, den man mit dem Rücken an eins der bemoosten, über die Matte hingestreuten Felsstücke gelehnt hatte, erhob das Haupt und öffnete die schon von den Schatten des Todes umflorten Augen. Ein heller Freudenblick leuchtete in denselben auf. Er machte einen Versuch, die Arme zu heben, als wolle er sie um das im Jammer vergehende Weib legen, und das schreckliche Röcheln seiner Brust bewältigend sagte er mit einem herzzerreißenden Lächeln: »So bin ich also doch glücklich noch durch Waberlohe gedrungen und habe dich erkämpft, du schöne, stolze, hochgeliebte Walküre – erkämpft

Sein edles Haupt sank herab, und ein Zittern überlief sein geisterbleiches Antlitz. Sie umklammerte ihn, sie preßte ihre Lippen auf seinen Mund, als wollte sie den entfliehenden Odem zurückhalten. So starb er unter ihrem, ach, zu spät gegebenen Brautkuß.

Als der in tiefster Seele erschütterte Freund eine Stunde später auf die Unglücksstätte zurückkam, Tragbahre und Träger mit sich bringend, fand er Brunhild regungslos am Boden sitzend, Siegfrieds Haupt, das sie mit am Waldsaum gepflückten Eichenzweigen umwunden hatte, in ihrem Schoße haltend. Ihr Antlitz war fahler als das des Toten, auf dessen friedvollen Zügen ihre brennenden Augen hafteten, die keine Tränen gefunden hatten. Sie schrak zusammen, wie aus einem Traume geweckt, als die Männer herantraten. Dann aber fiel sie sofort wieder in ihre steinerne Regungslosigkeit zurück.

Dem armen Schwarzdorn schien das Bekränzen des Toten einen peinlichen Eindruck zu machen; es mochte ihm profanierend, affektiert, theatralisch vorkommen, und daher sagte er fast rauh: »Madame, es ist Zeit –«

Sie ließ ihn nicht aussprechen, obgleich sie sich nicht an ihn wandte. Ohne aufzublicken, murmelte sie, die Hände Siegfrieds in den ihrigen pressend: »Ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein. – O, er hatte Ehre, Ehre, Ehre bis zum letzten Hauch, er, mein Held!«

Und halb singend brach sie in die eddaische Strophe aus:

»So war Sigurd
Bei Giukis Söhnen,
Wie hoch über Halme
Die Tanne sich hebt,
Wie der Hirsch über Hasen
Hochbeinig ragt
Und glutrotes Gold
Über graues Silber.«

»Die unselige Tragödie schließt mit einem würdigen Finale,« rief Schwarzdorn aus. »Sie ist wahnsinnig geworden!«

Er irrte. Sie war es nicht geworden und wurde es nicht. Noch am Abend desselben Tages hatte sie die gewohnte ruhig stolze Fassung und Haltung wiedererlangt, und fest und klar ordnete sie, was zur Heimführung des toten Gemahls nach seinem Schloß am unteren See zu ordnen war.

Aber gerade in ihrer Gefaßtheit hatte die Schloßherrin mit den tränenlosen, brennenden Augen und den marmorblassen und marmorstarren Zügen etwas Furchtbares, etwas, das Schwarzdorn gefrorene Verzweiflung nannte. Der Freund hielt es in ihrer Nähe nicht länger aus. Am Tage nach Siegfrieds Bestattung ließ er sich bei Brunhild melden und sagte ihr: »Gnädige Frau, ich bin kraft des Testaments meines hingegangenen Freundes zum Vollstrecker desselben ernannt.«

Sie saß still und stumm und wandte nicht das Haupt.

»Madame,« fuhr er fort, »ich bedaure, Sie mit dieser Sache behelligen zu müssen; aber ich kann und will meine Abreise nicht länger verschieben und wünsche daher, wenigstens das Wichtigste dessen, was mir aufgetragen ist, möglichst rasch zu erledigen. Das Geschäft ist auch einfach genug. Der arme Siegfried hat nämlich, mit Ausnahme verschiedener, allerdings nicht unbedeutender Legate, welche er seiner Dienerschaft aussetzte oder gemeinnützigen Anstalten zuwandte, sein ganzes Vermögen, liegende und fahrende Habe, Schloß, Gut und Geld Ihnen vermacht.«

»Das Schloß?« entgegnete sie mechanisch, als hätte sie nur das eine Wort aufgefaßt. »Es mag in Trümmer fallen; sein Herr ist tot.«

»Sie werden darüber zu verfügen haben, wie es Ihnen beliebt. Was das übrige Vermögen –«

»Gebt es den Armen. Gebt es, wem ihr wollt. Aber sagen Sie mir, verehrter Freund, sind der Architekt und der Bildhauer noch immer nicht aus der Stadt angelangt?«

»Doch, eben vorhin; allein ich bitte –«

Brunhild stand rasch auf und schritt an Schwarzdorn vorüber aus dem Zimmer.

Das war nun ihre Sorge, ihre Arbeit, das einzige, wofür sie noch Sinn hatte, des Toten Grab zu schmücken. Als Hauptschmuck wurde zu Füßen desselben ein gewaltiger, unbehauener Granitblock aufgerichtet mit der Inschrift:

Siegfried von Lindenberg,

Gefallen im Zweikampf für seines Landes Ehre.

August 1864.



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