Johannes Scherr
Brunhild
Johannes Scherr

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6. Ein Mann.

Die kleine Reisegesellschaft hatte ein halb Dutzend Tage lang jene Alpenlandschaft durchzogen, die unbedingt zu den erhabensten und zugleich anmutigsten Landschaftsdichtungen der Schöpferin Muttererde gezählt werden muß. Auf der Heimkehr zum Schloß am See hatten die Reisenden einen Rasttag in dem berühmten Fremdenstandlager und Kurort gemacht, allwo vor Jahresfrist die erste Begegnung zwischen Siegfried und Brunhild stattgehabt.

Schwarzdorn, dessen scharfer Blick in dem Benehmen, welches die stolze Schöne während der Gebirgsfahrt eingehalten, gelesen hatte, daß etwas in ihr arbeitete, was vielleicht eine glückliche Veränderung zugunsten seines bedauerlichen Freundes zuwege bringen könnte, war auf den Einfall gekommen, gerade an diesem Orte, wo die beiden einander zuerst gesehen, einen entschiedenen und entscheidenden Versuch zu machen, sie zusammenzubringen. Er hatte daher den Vorschlag gemacht, etliche Tage hier zu verweilen, um altvertraute, erinnerungsreiche Pfade wieder zu begehen, wie er andeutungsvoll sagte. Der Vorschlag war gebilligt worden und der pastorliche Mephisto, welcher, aller seiner Skeptik und Sarkastik zum Trotz, gleich allen seinen »engeren Vaterlandsleuten« ein gut Stück Romantik im Leibe hatte, mühte sich mit dem Gedanken ab, wie es zu machen wäre, daß er die beiden möglichst zwanglos und unversehens zu der Burgruine an dem kleinen Hochsee hinaufbrächte, wo er seinen »großen Schlag« tun wollte.

Die beiden Freunde waren bei hereingebrochenem Abend nach dem Zeitungslesekabinett gegangen, und Brunhild saß, nach dem heißen Tage die Nachtkühle zu genießen, auf der kleinen Veranda, auf welche sich eine Türe ihres Zimmers öffnete, das gegen den Garten des Hotels hinauslag, welcher sich mit seinen Blumenbeeten und Gebüschen in die Schatten der Nacht hindehnte. Es war still. Das Gesumme der Schwärme von den in der großen Allee bei Laternenschein Lustwandelnden drang nicht hierher. In das leise Rauschen des hinter dem Garten vorbeiströmenden Flusses mischten sich, von der Anlage beim Kurhause herabkommend, einzelne verlorene Geigen- und Flötentöne.

Brunhild, hinter der Fülle des Laubgewindes der wilden Rebe, welches die Veranda bekleidete und bedachte, in sich zusammengeschmiegt, ließ die Erlebnisse der letzten Tage an ihrer Seele vorübergehen und sie sträubte sich, wie ihr Stolz noch vor wenigen Monaten oder Wochen getan hätte, schon nicht mehr gegen die wohlige Nachempfindung der Befriedigung, womit das zartsinnige Gebaren Siegfrieds sie erfüllt hatte. Sie empfand es daher mißmutig als einen störsamen Eingriff in ihre Träumerei, als eine Gesellschaft von Engländern, der sonstigen steifleinenen ungeselligen Gewöhnung dieser »rothaarigen Barbaren« ganz entgegen, unten im Garten an einem Tische lärmend debattierend sich etablierte. Kellner stellten Kerzen mit Glasglockenschirmen auf den Tisch, brachten Weinflaschen und eine dampfende Grogbowle. Die Gentlemen, samt und sonders schon über das jugendliche Mannesalter hinaus, mochten alte Bekannte sein, sich zufällig am hiesigen Orte getroffen haben und in der Freude hierüber zu dem Entschlüsse gekommen sein, »die Flasche herumgehen zu lassen«, wie dieselbe vorzeiten zu Oxford oder Cambridge unter ihnen herumgegangen war. Ein stattlicher Mann von militärischer Haltung, dem von jeder seiner Wangen eine ungeheure brandrote Haarkotelette herabhing und den die andern mit »Kolonel« anredeten, war augenscheinlich der Mittelpunkt und sozusagen die Respektsperson des Kreises, in welchem es hinlänglich laut herging.

Brunhild war aufgestanden, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, als der Gegenstand des Gespräches der Engländer – sie verstand Englisch – sie zurückhielt, obschon sie gar nicht hatte hinhören wollen. Sie bedauerte aber sofort, einer mechanischen Regung von Neugier nachgegeben zu haben.

Es war gerade die Zeit, wo das moderne Karthago sich einbildete, für die »Rose von Dänemark« zu schwärmen, und der britische Leopard in mehr oder weniger künstlicher Erhitzung seine Flanken kriegerisch mit dem Schweife peitschte, mit demselben Schweife, welchen er bald darauf, als es hätte zum Klappen kommen sollen, so kläglich-schmählich zwischen die Hinterbeine geklemmt hat. Kein Wunder daher, daß die zechenden Gentlemen das »feigste und niederträchtigste Volk der Erde« – so betitelten ja die englischen Zeitungen die vierzig und mehr Millionen Deutsche Tag für Tag – zum Gegenstand ihrer Unterhaltung und zum Stichblatt ihres Groghumors machten. Allen voran der Kolonel, welcher seinen Kumpanen im Groteskstil die Erlebnisse einer Reise schilderte, welche er soeben in deutschen Landen gemacht hatte. Da er sehr laut sprach, konnte Brunhild hinter dem Laubvorhang der Veranda alle die Hohn- und Schmachreden, womit er Deutschland bedachte, deutlich verstehen, und nun ging etwas Seltsames in ihr vor.

Patriotisch zu fühlen gehört bekanntlich in der Regel nicht gerade zu den Erfordernissen einer vornehmen Anschauung und Führung des Lebens. Man überläßt das der »Roture« und der »Kanaille«. Die vornehme Gesellschaft Europas hat einen kosmopolitischen Schliff und steht behufs der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien in einem stillschweigenden Kartellverhältnis. Brunhild hatte daher kaum jemals über den Sinn des Wortes Vaterland nachgedacht, und erst in neuester Zeit, erst seit ihrem Aufenthalt in Siegfrieds Hause hatte sich ihr das Vaterlandsbewußtsein mehr und mehr aufgedrungen. Wie das gekommen, sie wußte es selbst nicht zu sagen. Siegfried stimmte doch keineswegs in den deutschen Modeton unserer Tage ein, des nationalen Nichts durchbohrendes Gefühl mit dem Phrasenbalsam selbstgefälligster Selbsttäuschung zu überstreichen und zu schwichtigen. Im Gegenteil, er geißelte, was er das deutsche Maulheldentum und die liberalisierende Impotenz nannte, bei jeder Gelegenheit, und erst heute noch hatte er, als zwischen ihm und Schwarzdorn von der schleswig-holsteinischen Sache die Rede war, die bittere Spottäußerung getan: »Da werden wir uns mal wieder hübsch blamieren! Weil die Nation, und zwar ganz durch ihre eigene Schuld, als solche nichts ist und nichts kann, so mußte jeder Deutsche mit sehenden Augen und gesundem Menschenverstand von Anfang an wünschen und, was an ihm lag, auch wirken, daß die einzige vernunftgemäße und praktische Lösung der Frage, das heißt die Einverleibung der Herzogtümer in Preußen, möglichst rasch zu einer vollendeten Tatsache würde. Statt dessen schwatzen die ewigen Schwätzer zugunsten irgend eines beliebigen Thronprätendenten und begeistern sich dafür, an das bunte Kleinstaatereinarrenkleid der armen Germania einen neuen Lappen zu platzen. Ach, unsere Landsleute sind wie die Priester des altägyptischen Tierdienstes! Sie können der heiligen Geschöpfe nie genug haben und kommen vor Freude und Jubel ganz außer sich, so in Dolzig oder sonstwo ein neues aufgefunden wird.«

Und doch hatte der feine weibliche Instinkt Brunhild unschwer erkennen lassen, daß Siegfried unendlich viel mehr Vaterlandsgefühl verbarg, als Hunderte liberaler Stichworthelden und patriotischer Gemeinplätzetreter mitsammen aufzuzeigen sich beflissen. Einzelne gelegentlich hingeworfene Äußerungen des scheinbar gehaßten und heimlich mehr und mehr heißgeliebten Mannes waren, eben weil sie von ihm kamen, für Brunhild zu fruchtbaren Anregungen geworden, über Wesen und Charakter, über die wahren Vorzüge und die wahren Mängel der Nation nachzudenken, welcher sie entstammte.

Allein so recht als eine Deutsche sich empfunden hatte sie doch noch nie bis zu dieser Stunde, wo vor ihren Ohren ihr Vaterland so gröblich beschimpft wurde.

Sie fühlte, daß ihr das Blut zornheiß in die Wangen und Schläfe strömte. Ihre Hände ballten sich krampfhaft, und mit dem Fuße aufstampfend, murmelte sie vor sich hin: »O, wär' ich ein Mann!«

In demselben Augenblicke zuckte sie empor, und ihr Auge schoß einen Blitz, halb peinlichster Spannung, halb Frohlocken, durch die Blätterwand in den Garten.

In den scharfabgeschnittenen Kreis der Lichthelle, welche von dem Tische der Engländer ausging, war die Gestalt Siegfrieds getreten, während hinter derselben die des Pastors nur in dämmernden Umrissen erschien.

Brunhild sah, daß ihr Mann – denn in diesem Moment nannte ihn ihr stolzes Herz in völliger Selbstvergessenheit also – hinter den Kolonel trat und demselben die Rechte auf die Schulter legte. Sein Gesicht war bleich, seine Nasenflügel dehnten sich, unter den dicht zusammengezogenen Brauen blickten die Augen groß, klar und stolz. Der Kolonel, mitten in einem Satze unterbrochen, wandte sich um, seine Gesellschafter schauten auf.

»Sir,« sagte Siegfried langsam in englischer Sprache, »ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein.«

Mehr verstand die Lauscherin nicht, aber das Metall dieser Worte wurde zu einem stürmischen Jubelton in ihrem Herzen. »Er ist ein Mann, mein Siegfried, ein Held!« jauchzte es auf in ihr. Sie stürzte in ihr Zimmer, um die Treppen hinab und ihm an den Hals zu fliegen. Aber da schlug es wie ein lähmender Blitz vor ihr nieder: »Er wird kämpfen! Er kann fallen!« und halb ohnmächtig warf sie sich auf das Sofa.

Dann kroch aus einer Seelenfalte des unglücklichen Weibes der Gedanke: »Aber dürfte, würde er sein Leben an einen elenden Prahlhans wagen, so er mich liebte, auch nur so viel liebte, wie ich seinen alten treuen Karo liebe?«

Nach einer geraumen Weile, während welcher sie vergeblich nach Fassung rang, hörte sie in dem über dem ihrigen gelegenen Zimmer Siegfrieds die beiden Freunde mitsammen auf und nieder gehen. Dann wurden droben Stühle gerückt, es trat Stille ein, es war schon tief in der Nacht.

»Er kommt nicht,« sagte sie bebend, »er will mich nicht mehr sehen, mir nicht ein armes Abschiedswort sagen!«

Sie sprang auf, öffnete leise die Türe und schlich auf dem dunklen Korridor bis zum Fuße der nach oben führenden Treppe, ohne sich klar zu sein, was sie denn eigentlich wollte. Da ging droben eine Türe auf, ein Lichtschein blitzte über die Treppenstufen, und sie vernahm Siegfrieds Stimme, welcher zu dem Freunde sagte: »Verschlaf dich nicht, Alter, und sei pünktlich, damit wir mit Sonnenaufgang auf dem Platze sind.«

Von einer tödlichen Angst angefaßt, floh sie in ihr Zimmer zurück. »Mit Sonnenaufgang – auf dem Platze.« Also wäre das Furchtbare wahr? Ihr Herz hämmerte hörbar laut in der Brust. Und er kam nicht zu ihr! Aber hatte sie es denn um ihn verdient, daß er zu ihr käme? Nein! Wohl aber geziemte es ihr, zu ihm zu eilen, sich zu seinen Füßen zu werfen, seine Knie zu umklammern und ihn anzuflehen: »Verzeih mir, oder kannst du mir nicht verzeihen, so laß mich wenigstens mit dir sterben!«

Sie fühlte das, und schon hatte sie die Türklinke erfaßt, als sich der Stolz und Hochmut zum letztenmal triumphierend in ihr aufbäumte. »Wie, wenn der stolze Mann die Flehende verachtungsvoll von sich stieße? Wenn er die Gelegenheit willkommen hieße, an der bis zum äußersten sich Demütigenden den tödlichen Schimpf zu rächen, welchen sie in jener unseligen Hochzeitnacht ihm angetan?«

Der Gedanke, so sinnlos er sein mochte und wirklich war, verwandelte ihr kochendes Blut in Eis. Sie ging nicht in das Zimmer Siegfrieds hinauf, aber sie verwachte den Rest der Nacht in verzweiflungsvollem Brüten.


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