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Wilhelm Scherer (geb. 1841 zu Schönborn in Niederösterreich, gest. 1886 in Berlin) vereinigt in seiner menschlichen und wissenschaftlichen Persönlichkeit die besten Seiten des norddeutschen und österreichischen Wesens. Schon früh für germanistische Studien begeistert, fand er als Student der Wiener Universität bei dem Hauptvertreter seines Lieblingsfaches, Franz Pfeiffer, einem trocknen, eigensinnig verbohrten Buchgelehrten, nicht die erwünschte Anregung und setzte seine Studien in Berlin fort, wo er durch Jacob Grimm und Karl Müllenhoff in die fruchtbare Methode wissenschaftlichen Forschens eingeweiht und von letzterem schon als titelloser Student zu verantwortungsvoller Mitarbeit berufen wurde. Der tiefgründige Ernst, mit dem er alle Probleme an der Wurzel faßte und sich durch umfassende Quellenstudien schon in jungen Jahren eine staunenswerte Gelehrsamkeit erwarb, verbunden mit temperamentvoller geistiger Beweglichkeit und künstlerisch-schriftstellerischer Begabung, sicherten ihm eine außergewöhnlich rasch aufsteigende wissenschaftliche Laufbahn.
Nach Wien zurückgekehrt, habilitierte er sich als Privatdozent an der dortigen Universität. Schon sehr bald (1868) wurde er, nach Pfeiffers Tode, erst 27jährig, zum ordentlichen Professor der germanischen Philologie ernannt. Ein begeisterter Zuhörerkreis scharte sich um den jungen geistsprühenden Universitätslehrer, und die gediegenen wissenschaftlichen Werke, die er gleichzeitig veröffentlichte, zeugten von seinem rastlosen Weiterstreben. Allem österreichischen Partikularismus abhold, sah Scherer in der kräftigen Entwicklung Deutschlands unter Preußens Führung die sicherste Gewähr für die gedeihliche Zukunft des Deutschtums. Dieser Überzeugung gab er vom Katheder herab und im geselligen akademischen Verkehr freimütigen Ausdruck, unbekümmert um die preußenfeindliche Stimmung, die seit den Ereignissen von 1866 in den österreichischen Regierungskreisen herrschte. Dadurch erwarb er sich die Mißgunst seiner Vorgesetzten, und als er in der 1871 geschriebenen Vorrede zu seiner Neuausgabe von J. Grimms »Deutscher Grammatik« die Gründung des neuen deutschen Kaiserreichs begeistert pries, sollte sogar ein Disziplinarverfahren gegen ihn anhängig gemacht werden.
Diesen peinlichen Verhältnissen entriß ihn ein Ruf an die Universität Straßburg, wo er fünf Jahre lang (1872 – 77) zu den Zierden der neugegründeten Hochschule gehörte. Dort auf dem Boden, der durch die Erinnerung an den jungen Goethe geweiht ist, wandte er sich besonders dem Studium der deutschen Klassiker zu, und die Herrschergestalt Goethes rückte immer mehr in den Mittelpunkt seiner Universitätsvorträge und der Forschungen des von ihm geleiteten Seminars. Die ganze Vielseitigkeit seines Wirkens entfaltete er aber erst als Professor in Berlin (1877 – 86), wo der Nimmermüde, Schaffensfreudige den breitesten Boden für seine Tätigkeit als Forscher, Schriftsteller und Jugendlehrer fand. 1884 wurde er zum Mitglieds der »Akademie der Wissenschaften« gewählt und in feierlicher Sitzung, am Leibniztage (30. Juni), als »der Gelehrte und Schriftsteller reicher Frucht und reicherer Hoffnung« begrüßt. Diese Hoffnung sollte nicht in Erfüllung gehen. Schon nach zwei Jahren starb er, erst 45jährig, zusammengebrochen unter der gewaltigen Arbeitslast, die er sich mit seinem leidenschaftlichen Schaffenseifer aufgebürdet hatte.
Scherer ist der letzte Germanist gewesen, der mit dem Gedanken der Zusammenfassung aller Disziplinen der Deutschkunde Ernst gemacht hat und diesem Ziel durch sein universales Wissen wenigstens nahe gekommen ist. Die in kleinlicher Einzelforschung immer weiter auseinanderstrebenden Wissenschaften der deutschen Sprachforschung, Philologie und Literaturgeschichte wollte er in einer Gesamtwissenschaft des deutschen Geisteslebens zusammenfassen. Schon in einer Jugendarbeit, der Biographie Jacob Grimms, weist er auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und des Zusammenschlusses von Philologie und Geschichte hin: »Wenn es aber in jener älteren Periode erlaubt und, wollen wir hinter Jacob Grimm nicht zurückbleiben, notwendig ist, die verschiedenen Richtungen der Geistestätigkeit in eins zu zwingen: muß nicht die Zeit der ausgebildeten Kultur in ihrer allmählichen Vollendung derselben Behandlung unterliegen? Muß nicht auch hier das gesamte Geistesleben in Betracht gezogen weiden und die Aufgabe der Philologie sich gestalten als die Erforschung des Ganges, in welchem die menschlichen Gedanken sich aufsteigend entwickeln? Nichts anderes aber ist die Aufgabe der Geschichte. Und in der Tat, der menschliche Geist ist nur einer, wie könnte es zwei menschliche Wissenschaften vom Geiste geben? So erkennen wir in Jacob Grimm ein Vorbild, in welchem sich erfüllt hat, was wir anstreben müssen: die möglichste Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Philologie und Geschichte.« Von diesem Geiste durchweht ist auch seine Mitarbeit an den von ihm und Müllenhoff herausgegebenen »Denkmälern deutscher Poesie und Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrhundert«. Scherer war darin die Aufgabe zugefallen, die kleineren deutschen Prosadenkmäler von den ältesten Zeiten bis zum 11. Jahrhundert herauszugeben und zu erläutern – eine mühevolle und scheinbar undankbare Sammlerarbeit, handelte es sich doch meist um Aufzeichnungen rein praktischen Charakters: Beichtspiegel, Glaubensformeln, Gebete, Markbeschreibungen, Gesetze, Kapitularien, Eides- und Verlöbnisformeln, selbst Rezepte. Aber unter des geistvollen Sammlers Hand kommt Leben in diese toten Bruchstücke ferner Vergangenheit, seine umfassende Kenntnis der altdeutschen Gesamtwelt, verbunden mit einer genialen Kombinationsgabe, deutet und wertet sie alle als Ausstrahlungen des Geisteslebens unserer Vorfahren. Wie der jugendliche Germanist dabei nicht nur die Spezialgebiete des Historikers, sondern auch des Juristen und Theologen beherrschte, erregte Aufsehen in der wissenschaftlichen Welt. Dabei wurde wohl bemerkt und bald lobend, bald tadelnd hervorgehoben, daß auch der wissenschaftlich geschulten Phantasie ein nicht geringer Anteil am Gelingen des Werkes gebühre. Scherer ließ diese ihm von der Natur verliehene Gabe ganz bewußt auch in seiner Forscherarbeit walten, getreu den Forderungen seines Lehrers Müllenhoff, von dem er in seiner Gedächtnisrede sagt: »Phantasie verlangte Müllenhoff ausdrücklich von dem Forscher, der die Zustände verschwundener Völker in einem einheitlichen Gemälde darstellen will. Phantasie, d. h. nicht Phantasterei, sondern die Kraft der inneren Vergegenwärtigung, durch welche wir die überlieferte Tatsache nicht als etwas Totes anschauen, sondern sie ins Leben zurückversetzen und sie nach unserer allgemeinen Kenntnis menschlicher Dinge zu dem seelischen Grund alles Lebens und zu der Gesamtheit der sonst überlieferten und lebendig aufgefaßten Tatsachen in Beziehung setzen.«
Denselben Grundsätzen folgte Scherer auch in der sprachwissenschaftlichen Forschung, besonders in seiner vielumstrittenen » Geschichte der deutschen Sprache«, einem Erzeugnis seiner Wiener Lehrtätigkeit (erschienen 1867). In der Grimm-Biographie hatte er die Forderung aufgestellt: »Die Grammatik soll eine Geschichte des geistigen Lebens sein, insoweit dieses in die Sprache sich hineinschlägt. Sie muß die letzten geistigen Gründe für alle sprachlichen Erscheinungen aufsuchen.« Jetzt will er selbst den feinsten geistigen Extrakt aus der Arbeit seiner Vorgänger ziehen. Mit jugendlichem Ungestüm ruft er aus: »Wir sind es endlich müde, in der bloßen gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken ... Die Entstehung unserer Nation, von einer besonderen Seite angesehen, macht den Hauptvorwurf des gegenwärtigen Buches aus.« Diesem Programm entsprechend macht er besonders im ersten Drittel des Buches, »Zur Lautlehre« betitelt, den großartigen Versuch, die charakteristischsten Erscheinungen in der lautlichen Entwicklung der deutschen Sprache (z. B. die Zurückziehung des Hochtons auf die Wurzelsilbe, die gesetzmäßige Verkürzung des Wortauslauts, die sog. Lautverschiebung u. a. m.) aus dem deutschen Nationalcharakter und der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes zu erklären. Viele, ja die meisten dieser geistvollen Deutungen hat er in reifen Jahren als allzu kühne Hypothesen selbst verworfen. Dennoch ist die Bedeutung des Werkes sehr groß, denn es wies über die unfruchtbare Kärrnerarbeit des Sammelns und Sichtens hinaus auf die höchsten königlichen Ziele echter Wissenschaft und hat besonders unter Scherers Schüler reiche Keime der Anregung gestreut.
Scherers Hauptarbeitsgebiet wurde aber mit den Jahren immer mehr die deutsche Literaturgeschichte. Eingehende Einzeluntersuchungen gingen der späteren Gesamtdarstellung voraus. Hatte er für Müllenhoffs »Denkmäler« die ältesten Erzeugnisse des deutschen Schrifttums analysiert, so durchforschte er mit gleicher Gründlichkeit, unmittelbar aus den Quellen, auch die folgenden Epochen deutschen Geisteslebens. Zeugnisse dafür sind seine »Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert«, seine Abhandlungen über die Anfänge des Minnesanges, die geistlichen Poeten der deutschen Kaiserzeit, das geistige Leben Österreichs im Mittelalter u. v. a., nicht zum wenigsten aber seine zahlreichen Rezensionen, in denen er die innigste Vertrautheit mit den behandelten Gegenständen beweist und oft zu ganz neuen, überraschenden Ergebnissen gelangt. Aber Scherer lag alle romantische Schwärmerei für das Mittelalter fern, das Studium dieser vergangenen Epochen war ihm nur eine Vorstufe für die Erkenntnis der Gegenwart. So sehen wir denn seit der Straßburger Zeit das 18. und 19. Jahrhundert, vor allem Goethe als den Kulminationspunkt deutschen Geisteslebens und deutscher Dichtung, immer mehr in den Mittelpunkt seiner Forscherarbeit rücken. Auch auf diesem Gebiet wendet er die historischphilologische Methode an, die sich bei seinen mittelalterlichen Forschungen als so fruchtbar erwiesen hatte. Unter Benutzung der gesamten zeitgenössischen Literatur und des gewaltigen (teilweise noch ungedruckten) Materials von Briefen, Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen gewinnt er Klarheit über das, was die einzelnen Dichter an Typen und Motiven ihrer Umwelt verdanken, was sie aus Eigenem hinzugetan und wie alle diese mannigfaltigen Strömungen sich kreuzen und gegenseitig befruchten. Er tritt in die Werkstatt des Dichters und belauscht ihn bei seiner Arbeit; aus den Textänderungen der verschiedenen Auflagen zieht er Schlüsse auf seine innere Entwicklung, aus dem Stilwechsel oder manchen Rissen und Sprüngen im Aufbau der Dichtungen gewinnt er Einblick in ihre Entstehungsgeschichte und eine sichere Unterlage zu ihrer Erklärung. Unendlich viel Kleinarbeit wird so von ihm und seinen Schülern in den Seminarien von Straßburg und Berlin geleistet, nie aber wird diese Kleinarbeit zum Selbstzweck, das hohe Endziel wird unverrückt im Auge behalten.
Die Quintessenz aller dieser mühseligen Einzelforschungen ist Scherers » Geschichte der deutschen Literatur«, zuerst 1880 – 83 in Lieferungen erschienen, dann in zahlreichen Neuauflagen verbreitet, auch jetzt, nach fast vier Jahrzehnten, immer noch die anerkannt beste Gesamtdarstellung der deutschen Dichtung. Die Grundlinien der Entwicklung klar herauszuarbeiten, die führenden Geister zu charakterisieren und ihre reifsten Werke nicht durch bequeme Nacherzählung des Inhalts, sondern durch Erfassung ihres Gedankengehalts zu analysieren, betrachtet Scherer als seine Hauptaufgabe. Er setzt gebildete Leser voraus, die über die Haupttatsachen bereits unterrichtet sind; daher kann das Werk auch nicht in landläufigem Sinne populär genannt werden. Aber auch alles gelehrte Rüstzeug ist entschlossen über Bord geworfen oder in die kurzen Schlußanmerkungen verwiesen worden, wobei eine bei Gelehrten nicht eben häufige Selbstentäußerung geübt wird. Man wird an Moriz Haupts bekanntes Wort erinnert: »Das Nötigste für den Philologen ist der Papierkorb«, wenn man erfährt, daß Scherer ganze Berge von Exzerpten bei dem Studium einzelner Epochen aufgehäuft hatte, um später doch nur wenige Seiten oder gar Zeilen seiner Literaturgeschichte daran zu wenden. Er wollte eben überall mit eigenen Augen sehen und unmittelbar aus den Quellen schöpfen; aber was er als unbedeutend oder belanglos für die Gesamtentwicklung erkannt hatte, wurde erbarmungslos ausgeschaltet, wobei er nicht selten von dem Urteil seiner Vorgänger abwich, wie er anderseits Erscheinungen oder Persönlichkeiten, die früher unbeachtet geblieben, stärker in den Vordergrund rückte. Großen Wert legte er auf die künstlerische Gruppierung des Stoffes und besonders auf die Sprache. In einer Akademierede (1884) sagte er u. a. über die Aufgaben der deutschen Philologie: »Es geziemt ihren Vertretern, daß sie die Sprache, die sie forschend ergründen sollen, auch kunstmäßig zu handhaben und sich einen Platz unter den deutschen Schriftstellern zu verdienen wissen.« Dieser »kunstmäßigen Handhabung« der Sprache hat Scherer selbst stets liebevolle Pflege gewidmet. Sein Stil hat mit den Jahren manche Wandlungen erfahren. In der letzten Periode seines Schaffens, so besonders in der »Literaturgeschichte«, strebt er nach möglichster Knappheit des Ausdrucks; durch ein treffendes Beiwort, einen glücklichen Vergleich ersetzt er oft langatmige Auseinandersetzungen. Freilich geht er in der Häufung kurzer »mörtelloser« Sätze manchmal wohl etwas zu weit.
Scherers »Geschichte der deutschen Literatur« reicht nur bis zu Goethes Tode. An der Ausarbeitung eines geplanten zweiten Bandes, der die Dichtung der Gegenwart behandeln sollte, ist er durch den Tod verhindert worden. Unvollendet blieben auch seine Studien für den Aufbau eines neuen Systems der Poetik. In einem vielbesuchten Universitätskolleg der letzten Zeit seines akademischen Wirkens legte er die Hauptmomente seiner Anschauungen nieder; diese Vorträge sind auch nach seinem Tode veröffentlicht worden, doch fehlt ihnen natürlich, inhaltlich und sprachlich, die letzte Feile. Statt der deduktiven Konstruktionen über Wesen und Formen der Dichtung, wie sie bisher allgemein üblich gewesen, will Scherer auf empirischer Grundlage eine neue Ästhetik, gleichsam eine »Naturgeschichte der Dichtung«, aufbauen. Er untersucht den Ursprung der Poesie in den primitiven Zuständen der Naturvölker, wo sie noch eng mit anderen Äußerungen der Lebensfreude (Singen, Tanzen, Springen usw.) verbunden waren, und den Reflex dieser Entstehungsweise bis in die späteren Zeiten verfeinerter Lebensformen; er verfolgt die Entstehung des dichterischen Prozesses und die Vererbung und Wandlung dichterischer Motive, schildert das Verhältnis von Dichter und Publikum u. v. a. – überall neue Gesichtspunkte weisend und Altbekanntes oft in ganz neuer Beleuchtung zeigend. Seine Auffassung hat neben begeisterter Zustimmung auch viel abweisende Kritik erfahren, man muß aber berücksichtigen, daß er selbst nicht mehr die letzte Hand an sein Werk legen konnte und in der Schlußredaktion vielleicht manche Gedankenreihe gestrichen oder anders begründet hätte.
Zum Schluß sei noch zwei Freunden Scherers das Wort gegeben zur Schilderung seiner menschlichen und wissenschaftlichen Persönlichkeit.
Erich Schmidt, sein Meisterschüler und Nachfolger in der Berliner Professur, schreibt im 9. Bande des Goethe-Jahrbuchs: »Für seine Schüler war das unmittelbare Hervortreten der Persönlichkeit, die man immer zugänglich und mitteilsam fand, ein unvergeßlicher Segen. Es lag etwas Anglühendes und Fortreißendes in Scherer. Sein Vortrag und sein Gespräch verzichteten auf alle rhetorischen Mittel, aber der rasche, manchmal allzu hastige Fluß hielt den Zuhörer stark in Atem und machte ihn zum Teilnehmer einer ununterbrochenen Produktion. Sein behender Geist verschloß sich nirgends, brachte überall das Lieblingswort ›Gesichtspunkt‹ zur praktischen Geltung und drang, auch wo der Wechsel jeweiliger Beschäftigung an nervöse Unruhe streifte, in den Kern der Probleme. Diese künstlerische und gesellige, jeder Pedanterie abholde Natur haßte die ängstliche Küstenschiffahrt und pries ein Wachsen und Freiwerden des auf hoher See segelnden Menschen mit weiter Umschau und tiefem Einblick in allgemeinere Erfahrungen, denen sich die einzelne Erscheinung als besonderer Fall einordnen läßt, aber sie vertrat auch die vielberufene ›Andacht zum Unbedeutenden‹, kannte keine Nachsicht gegen Trägheit und Schlendrian, hochmütiges Geistreicheln und tiefsinniges Orakeln, das der treuen Arbeit enthoben zu sein wähnt, und schied höhere journalistische Fähigkeiten von dem landläufigen dreisten Zusammenraffen arrangierter Tatsachen und Einfälle. Auch den redlichen Arbeiter kleinen Schlages wußte er aufrichtig zu schätzen, während er den Rhetor, der Trivialitäten aufdonnert und unter dem Beifall der Menge auskramt, gründlich verachtete ... Scherer war sehr selbstbewußt, aber gar nicht eitel, denn die Eitelkeit ist kleinlich, und sein Tun und Fühlen hatte kein kleinliches Fäserchen. Auch weiß, wer ihm einmal näher trat, daß der Mann, der hier und da kühl und hochfahrend erscheinen mochte, viel lieber lobte als tadelte, liebte als haßte und Familienpietät wie Freundschaft warmherzig, zart und weich gehegt hat.«
Der Wiener Professor R. Heinzel, sein österreichischer Landsmann und Studiengenosse, urteilt über Scherers Einfluß auf seine Schüler: »Er war ein pädagogisches Genie, von einer erweckenden Kraft, wie sie begeisterten Predigern oder Missionaren oft eigen ist. Mit dem sichersten Blick entdeckte er jedes Talent und wußte es auf das geeignete Arbeitsfeld zu führen. Er fand, was in den Leuten steckte, mochten sie auch noch so unreif und unwissend sein, auch selbst noch nicht ahnen, daß in ihnen der Keim zu etwas lag, was über das Durchschnittsmaß der akademischen Leistungen hinausging. Er hatte die Gabe, das Beste aus dem Menschen herauszuziehen, das ihm selbst unbewußt in der Seele schlummerte. Und alle Güte und Liebe, welche seiner Natur eigen war, seine menschlichen Eigenschaften traten im Verkehr mit seinen Schülern ans Licht.«