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Gedächtnisrede, gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am Leibnizschen Jahrestage, den 3. Juli 1884.
Am 19. Februar 1884 ist Karl Müllenhoff für immer aus unserem Kreise geschieden; und wenn ich heut über ihn spreche, so geschieht es wie an einem frischen Grabe: ich kann nur versuchen, in leichtem Umriß anzudeuten, was die Wissenschaft an ihm verloren.
Müllenhoff trat in diese Akademie vor zwanzig Jahren, als Jacob Grimm ihr eben entrissen war; und unter allen Fachgenossen hat keiner das Werk Jacob Grimms mit solcher Energie fortgesetzt wie er. Früh wählte er sich eine große Aufgabe; unerschütterlich hielt er daran fest; und beinahe bis zum letzten Atemzuge hat er darin gelebt: er wollte eine deutsche Altertumskunde schreiben. Er wollte den Ursprung unseres Volkes erforschen, die heidnischen Germanen schildern und das deutsche Heidentum in seiner Wirkung auf die späteren Zeiten verfolgen. Alle wissenschaftlichen Arbeiten Müllenhoffs stehen mit wenigen Ausnahmen zu diesem Plan in Beziehung und dürfen als Vorarbeiten dazu angesehen werden. Von dem Buche freilich, dem er den Titel »Deutsche Altertumskunde« gab und das die Resultate lebenslänglichen Strebens zusammenfassen sollte, hat er nur den ersten Band sowie 22 Bogen des fünften noch selbst in den Druck gegeben und den zweiten Band nahezu, den dritten zum geringen Teil druckfertig hinterlassen. Aber es wird auf Grund seiner Vorlesungen, einiger handschriftlicher Aufzeichnungen und seiner gedruckten Schriften, wenn man nur allen darin enthaltenen Andeutungen sorgfältig nachgeht, im ganzen und großen wohl möglich sein, entweder das Bild des Werkes, wie es sich in seinem Geiste zuletzt ungefähr dargestellt haben muß, annähernd wieder zusammenzusetzen oder, was seinem eigenen Willen besser entsprechen würde, es auf Grund seiner Vorarbeiten und in seinem Sinne, aber mit selbständiger Ausführung zu vollenden.
Ethnographische Erörterungen machen den Anfang, für welche Kaspar Zeuß in seinem Buche »Die Deutschen und ihre Nachbarstämme« einen vortrefflichen Grund gelegt hatte. Aber Müllenhoff suchte den von ihm hochverehrten Vorgänger in allen Punkten zu übertreffen, indem er an den überlieferten Nachrichten strengere Kritik übte und die Probleme vertiefte. Die Frage nach dem allmählichen Bekanntwerden der Germanen glaubte er nur beantworten zu können, wenn er in die Geschichte der Erdkunde bei den Alten eingedrungen wäre. Die Frage nach dem Verhältnisse der Deutschen zu ihren Nachbarstämmen verwandelte sich ihm in die Frage nach der Art und Weise, wie Europa bevölkert oder wenigstens wie die Völker arischen Stammes in Europa ihre Sitze eingenommen hätten.
Im ersten Bande der Altertumskunde setzte er auseinander, wie das Zinn und der Bernstein frühzeitig die Seefahrer aus dem Mittelmeer in den Nordwesten unseres Weltteils lockten und wie dann auf ihrem Wege einem Griechen des 4. Jahrhunderts vor Christus, dem Pytheas von Marseille, die wissenschaftliche Entdeckung Britanniens und zugleich die Entdeckung der Nordseeküste jenseits des Rheins mit einer deutschen Bevölkerung gelang. Die Persönlichkeit des Pytheas bekam eine ungeahnte Klarheit: der Entdecker der Germanen war nach Müllenhoff der erste Gelehrte, welcher daran dachte, die Astronomie auf die Geographie anzuwenden; er war der erste, der die Polhöhe eines Ortes, die Polhöhe seiner Vaterstadt, zu bestimmen suchte; und seine Fahrt nach dem europäischen Nordwesten »war eine wissenschaftliche Erforschungs- und Entdeckungsreise, die er zunächst unternahm, um das wunderbare große Phänomen der Steigung des Pols und der Neigung des Kosmos gemäß der Veränderung des Horizontes nach Norden hin mit eigenen Augen zu verfolgen und zugleich die Ausdehnung unseres Weltteils und die Zugänglichkeit seiner Länder zu erkunden«. Müllenhoff glaubte aber später, wie er brieflich äußerte, ein Moment nicht richtig und hinlänglich hervorgehoben zu haben. »Wollte nämlich«, schrieb er mir, »Pytheas die Steigung des Pols verfolgen, so wollte er sich ohne Zweifel durch eigene Anschauung von der Kugelgestalt der Erde überzeugen, und seine Reise setzte dieses Theorem voraus.«
Der zweite Band zerfällt wie der erste in zwei Bücher, das eine betitelt »Die Nord- und Ostnachbarn der Germanen«, das andere »Die Gallier und Germanen«. Es handelte sich um die frühesten nachweisbaren Grenzen Germaniens, und das Resultat sollte sein, daß das Gebiet der Oder und der Elbe unterhalb des Gebirges die älteste und eigentliche Heimat unserer Ahnen gewesen sei. In den Zusammenhang dieser Erörterungen gehört Müllenhoffs letzte akademische Abhandlung »Über den südöstlichsten Winkel des alten Germaniens«, deren Resultate er übrigens in einem Hauptpunkte mündlich mir gegenüber zurücknahm. In demselben Zusammenhange ward er zu einer genauen Erläuterung des dritten Kapitels von Jordanes' Getica geführt, worin er eine vermutlich von dem Herulerkönig Rodwulf herrührende, in sich wohlzusammenhängende Beschreibung Skandinaviens aus der Zeit um 500 nach Christus erkannte: eine Entdeckung, deren wesentliche Ergebnisse er in Herrn Mommsens Ausgabe des Jordanes eintrug. Ebenso konnte ich aus seinen Untersuchungen über die Westgrenze vor Jahren schon die schöne und vergleichsweise sichere Beobachtung veröffentlichen, daß der alte Keltenboden, in Deutschland durch die Flußnamen auf apa oder affa charakterisiert ist.
Der dritte Band der Altertumskunde sollte nach Müllenhoffs Absicht »aus der Stellung und dem sprachlichen Verhältnis der ältesten, historisch bekannten Völker des mittleren Europas in dem Striche von den Pyrenäen bis zum Kaukasus den Beweis führen, daß die Väter der Germanen nicht später jenen Wohnsitz (an der Oder und Elbe) eingenommen haben können, als die urverwandten Stämme der Italiker und der Griechen ihre Sitze in Italien und Griechenland«. Der Band sollte weiter »auf Grund der Nachrichten der Römer und Griechen die Ausbreitung und Verzweigung der Germanen um den Anfang unserer Zeitrechnung darlegen«. Hier griff Müllenhoffs Artikel über die Geten von 1875, hier griffen seine akademischen Vorträge über das Sarmatien des Ptolemäus und über die Abkunft und Sprache der pontischen Skythen und Sarmaten, hier griffen seine Untersuchungen über die römische Weltkarte und sein Anhang zu Herrn Mommsens akademischer Abhandlung über das um 297 aufgesetzte Verzeichnis der römischen Provinzen, hier griff endlich seine Quellensammlung Germania antiqua ein. Er wollte nachweisen, daß das Verhältnis der europäischen Sprachen untereinander der geographischen Stellung entspreche, welche die Völker in unserem Weltteile einnehmen. Dieser Stellung, meinte er, müsse auch die Ordnung des Zuges entsprochen haben, in der die europäischen Arier einmal von Osten her einrückten. Die Ahnen der Kelten an der Spitze, hinter ihnen nebeneinander, die Uritaliker und Urgermanen, hinter jenen die Urhellenen, hinter diesen (den Urgermanen) die Litauer und Slawen als ein zweigeteilter Haufe. Die Trennung der Germanen von den Italikern müsse am Fuße der Karpathen, nicht innerhalb des Gebirges erfolgt sein, und die Urgermanen müßten von da aus auf dem nördlichen Wege, um das Gebirge herum, das wilde, wald- und wasserreiche Gebiet an der Elbe und Oder erreicht haben, das so recht eigentlich erst ihre Geburtsstätte werden sollte, wo sie zu einem eigenen und nur sich selbst ähnlichen Volk erwuchsen.
Diesen Bildungsprozeß der Nation verfolgte er an der Hand der Sprache, indem er die Lautverschiebung aus dem harten verzweifelten Kampfe des Volkes mit einer lieblosen Natur und das germanische Akzentgesetz aus der einseitig kriegerischen Charakterbildung, mit der die Germanen in die Geschichte eintraten, zu erklären suchte. Die Germanen schieden sich nach ihm in Ost- und Westgermanen. Zu den Ostgermanen gehörte der vandalisch-gotische Stamm und die Skandinavier; zu den Westgermanen die übrigen Völker, die Ahnen der Deutschen, Niederländer und Engländer, welche schon in der von Tacitus überlieferten Genealogie der Söhne des Tuisto als ein unter sich näher zusammenhängendes Ganze erscheinen. Die genaue Untersuchung dieser Genealogie führte unseren verewigten Kollegen zu wichtigen Beobachtungen, welche einen Grund- und Eckstein seiner gesamten Ansicht des germanischen Altertums ausmachten, aber erst im fünften und sechsten Bande seines großen Werkes sich völlig entfalten sollten.
Der vierte Band mußte zunächst den Zustand der Germanen, welchen die Nachrichten der Alten vor Augen stellen, innerhalb der weltlichen Sphäre, in Staat und Recht, in Wirtschaft und Sitte darlegen und die gleichzeitigen Berichte fremder Beobachter aus der einheimischen Überlieferung, aus den späteren Verhältnissen erläutern und ergänzen. Schöne Muster für dieses Verfahren stellte er in der mit Herrn v. Lilieneron gemeinsam verfaßten Schrift zur Runenlehre und in der Abhandlung über den Schwerttanz auf. In jener suchte er die frühe Existenz der Runen und ihren Gebrauch bei der von Tacitus geschilderten Prophezeiung durch das Los nachzuweisen und vertrat beiläufig den wichtigen Satz, daß die germanischen Personennamen die sicherste Quelle seien, aus der wir die Lebensideale unserer Vorfahren entnehmen können. In dieser zeigte er die Fortdauer des von Tacitus beschriebenen Schwerttanzes in zahlreichen jüngeren Zeugnissen auf und gewann zugleich ein genaueres Bild dieses kriegerischen Spieles, als es der Taciteische Bericht für sich allein gewähren würde. Die ganze unsterbliche Schrift des Tacitus wußte er so lebendig zu machen. Vielfach berührte er sich hierbei mit Herrn Waitz' deutscher Verfassungsgeschichte; und mit einem Aufsatz über die deutschen Wörter der Lex salica hat er sich selbst an diesem gelehrten Werke oder wenigstens an einer Beilage desselben beteiligt. Wenn auch Recht und Verfassung ihn nicht in erster Linie anzogen, so glaubte er doch gefunden zu haben, daß die germanische Urverfassung mit der römischen und keltischen identisch gewesen sei, und er vermehrte sonst unsere Kenntnis durch manche glücklich bemerkte Einzelheiten. Aber sein eigenstes Gebiet, an dem er mit ganzer Seele hing, betrat er, wo irgend germanische Poesie in Frage kam. Er achtete auf die ältesten Spuren der Alliteration. Er erörterte in wesentlicher Übereinstimmung mit seinem Lehrer Lachmann die Urform des germanischen Verses in der Abhandlung De carmine Wessofontano. Er stellte in einer anderen lateinisch geschriebenen Untersuchung De antiquissima Germanorum poesi chorica fest, daß die älteste germanische Poesie im wesentlichen strophischer Chorgesang gewesen und die Keime der epischen, der lyrischen und der dramatischen Dichtung, unentwickelt, aber entwickelungsfähig, in sich enthalten habe. Er zeigte, wie hieraus eine gemischte Form, Prosa mit eingefügten Versen, und zuletzt das Epos mit fortlaufenden, nicht strophisch gegliederten Langzeilen hervorging.
Der Inhalt der ursprünglichen Chorpoesie aber war mythologisch; der Inhalt des Epos war halb mythisch, halb historisch. Dort haben wir es mit den germanischen Göttern, hier mit den deutschen Heroen zu tun. Dort galt es, sich mit Jacob Grimms »Deutscher Mythologie«, hier galt es, sich mit Wilhelm Grimms »Deutscher Heldensage« auseinanderzusetzen. Die Religion sollte im fünften, die Heldensage im sechsten Bande der deutschen Altertumskunde abgehandelt werden.
Zu den wichtigsten Quellen der altgermanischen Mythologie gehören die altnordischen Überlieferungen heidnischen Inhaltes, wie sie hauptsächlich in der älteren und jüngeren Edda vorliegen. Ihnen hat Müllenhoff jahrelange, tief eindringende Untersuchungen gewidmet und einen Teil derselben in dem, was vom fünften Bande der Altertumskunde gedruckt ist, ausgearbeitet. Im weiteren Verfolge wäre dann eine Entdeckung zur Sprache gekommen, die er zum Teil schon 1847 in dem Aufsatz über Tuisco und seine Nachkommen vortrug, die er später unablässig ausbildete und welche nach der Seite der Ethnographie, der Verfassung, der politischen Geschichte, der Religions- und Literaturgeschichte ein gleich helles Licht verbreitete. Ich habe schon vorhin darauf hingedeutet.
Die Existenz von vier urgermanischen Stämmen, zu denen der skandinavische als fünfter kommt, steht durch die Zeugnisse der Alten unzweifelhaft fest. Müllenhoff war in wesentlicher Übereinstimmung mit Herrn Waitz der Ansicht, daß wir die Istävonen in den späteren Franken, die Ingävonen in den Eroberern Englands und ihren deutschen Verwandten, die Herminonen teils in den Thüringern und Hessen, teils in den Alemannen wiederfinden dürfen, und daß in den Bayern sich vandilisch-gotische Elemente, wenn auch nicht unvermischt, erhalten haben. Uralte Scheidungen also leben in diesen noch heute kräftigen und für unser öffentliches Leben nicht gleichgültigen Stammesverhältnissen fort. Von welcher Art aber waren die Stämme zur Zeit des Plinius und Tacitus? Was hielt die Völker zusammen, die sich zu einem Stamme rechneten? Müllenhoff antwortete: die Religion, ein gemeinsamer Kultus. Sie verehrten eine Stammesgottheit, von der sie abzustammen glaubten und deren Heiligtum sie von Zeit zu Zeit an großen Festtagen in Massen aufsuchten. Müllenhoff aber ging weiter. Er sagte: wir brauchen die Stammkulte nicht bloß vorauszusetzen; wir haben von allen vier Stammkulten deutliche Berichte. Die Göttin Nerthus hielt die Ingävonen zusammen; der Kultus der Tanfana vereinigte die Istävonen; ein Gott, der sich leicht als der Kriegsgott zu erkennen gibt und dessen Heiligtum im Gebiete der Semnonen lag, war der Stammgott der Herminonen; und die germanischen Dioskuren, von denen Tacitus berichtet, gaben den Mittelpunkt für die vandilisch-gotischen Völkerschaften her. Aber damit nicht genug! Müllenhoff wußte wahrscheinlich zu machen, daß uns auch die Mythen, die sich an jene Gottheiten knüpften, noch erhalten seien. Insoferne die Stammgottheiten auch Stammväter oder Stammütter sind und genealogisch an der Spitze der sie verehrenden Stämme stehen, insofern insbesondere das Priester- oder auch spätere Königsgeschlecht, das ihrem Kultus vorstand, seinen Ursprung in gerader Linie von ihnen herleitete, insofern traten entweder sie selbst oder mythologische Personen, die sich von ihnen abtrennten, aus der Reihe der Götter in die Zahl der Heroen über, und an solchen Helden haftet dann der Mythus in nach und nach immer menschlicherer Gestalt ohne Bewußtsein der alten Bedeutung. So ist nach Müllenhoff Siegfried und sein Mythus aus der Stammesreligion der Istävonen oder Franken in die Nibelungensage aufgenommen worden. So lebt der ingävonische Hauptmythus in dem altenglischen Epos vom Beowulf fort. So gingen die vandalischen Dioskuren in die Sagen von Ortnit und Wolfdietrich über. So wurden Figuren des herminonischen Mythus in die Sage vom Untergange des thüringischen Reiches verflochten.
Hiermit war ein bedeutungsvoller Schritt über Jacob Grimms Mythologie hinausgewagt. Verfolgte man Grimms Darstellung, so bekam man wohl von einzelnen Göttergestalten ein mehr oder weniger deutliches Bild, aber im Gegensatze zur reich entwickelten Mythologie des Nordens fiel die deutsche Mythenarmut auf. Müllenhoff zeigte, daß ein Teil wenigstens dieser Mythen und gerade der wichtigste, mit den öffentlichen Einrichtungen am meisten verknüpfte in der späteren Heldensage, in den mittelhochdeutschen Volksepen gerettet sei. Auch in der Gudrun, auch in dem Gedichte von Orendel erkannte er uralt-mythologischen Stoff, überall suchte er historische und mythische Bestandteile strenge zu scheiden und den zerstreuten Anspielungen auf unsere Heldensage, die Wilhelm Grimm gesammelt hatte und die er selbst zu sammeln fortfuhr, möglichst viel für die geschichtliche Entwicklung der deutschen heroischen Epik abzugewinnen.
Hierin bewährte er sich als Lachmanns Schüler. Lachmanns Vorlesungen hatten sein Augenmerk auf die Geschichte der deutschen Heldensage und Heldendichtung gelenkt; und bald wurde sie ihm der Mittel- und Ausgangspunkt seiner Studien. Allen mittelhochdeutschen Heldenepen widmete er spezielle Untersuchungen. Er zog ihren Stoff ebenso sorgfältig in Betracht wie ihre Form und ihre Überlieferung. Er wandte Lachmanns kritische Prinzipien auf die Gudrun an. Er suchte in der Streitschrift »Zur Geschichte der Nibelunge Not« Lachmanns Ansichten über die Entstehung des Nibelungenliedes fortzubilden und die dagegen erhobenen Einwendungen zu entkräften. Er gab in Gemeinschaft mit seinen Schülern Martin, Zupitza, Jänicke, Amelung, denen sich noch Steinmeyer anschließen sollte, das »Deutsche Heldenbuch«, eine Sammlung mittelhochdeutscher Heldengedichte mit Ausnahme des Nibelungenliedes und der Gudrun, heraus. Und er wandte jene vorsichtige Scheidung des Mythischen und Historischen, welche Lachmann in seiner Kritik der Sage von den Nibelungen gelehrt hatte, auf die sämtlichen deutschen Heldensagen und auf den Beowulf an.
Es zeigt sich nun, weshalb seine Altertumskunde mit einer Geschichte der deutschen Heldensage schließen mußte. In dem mittelhochdeutschen Volksepos gelangte uralter geistiger Besitz unserer Vorfahren zu neuer und zum Teil glänzender Wirkung. Das Christentum vernichtete scheinbar die alten Götter; aber den Heroen konnte es nichts anhaben, und unter diesen Heroen bargen sich Götter. Dagegen vor dem romanischen Geiste, der uns im 12. Jahrhundert viele neue Stoffe zuführte und die ritterlichen Dichter des Mittelalters für das höfische Epos gewann, hielten die heimischen Helden nicht stand. Sie verfielen einem weniger gebildeten Publikum; die Lieder, die ihnen galten, verklangen im 16. Jahrhundert; und erst die literarhistorische Bewegung, die zur romantischen Poesie und Wissenschaft führte, blies ihnen von neuem den Hauch des Lebens ein.
Müllenhoff war nun aber weit entfernt, die deutsche Poesie außerhalb der Heldensage zu vernachlässigen. Er hatte sich eine klare und umfassende Vorstellung von der ganzen Entwicklung unserer Dichtung bis ins 13. Jahrhundert gebildet und setzte dieselbe seinen Zuhörern auseinander. Er las außerdem über die ältesten Lyriker, über Walther von der Vogelweide, über Wolframs Parzival, und es versteht sich von selbst, daß seine Beschäftigung mit diesen Dingen nicht unfruchtbar blieb, sei es, daß er neue Ansichten aufstellte, sei es, daß er unberechtigte Einwendungen gegen Lachmannsche oder sonstige frühere Meinungen zurückwies. Aber im Vordergründe seines Interesses und seiner produktiven Tätigkeit stand immer die volkstümliche Dichtung. In den »Denkmälern deutscher Poesie und Prosa«, die wir zusammen herausgaben, beschränkte er sich auf poetische Stücke und wählte fast nur solche, die der volkstümlichen Poesie angehören, das Wessobrunner Gebet, das Hildebrandslied, ein Runenverzeichnis, Zaubersprüche und Segen, Rätsel und Sprichwörter, Denkmäler ethnographischen und mythologischen Inhalts oder Gedichte, bei denen es darauf ankam, die mythologische Deutung zurückzuweisen, wie er denn auch durch einen Aufsatz über Reinhart Fuchs dem sogenannten Tierepos im Gegensatze zu Jacob Grimm den volkstümlichen Ursprung absprach und so das Material, aus dem wir unsere Kenntnis der Popularpoesie schöpfen, kritisch zu reinigen und vorsichtig abzugrenzen bemüht war.
Der Anteil an volkstümlicher Poesie und ein starkes Heimatsgefühl führte ihn auch über den Kreis des Mittelalters hinaus, indem er die Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig-Holstein sammelte und sie mit einer bewunderungswürdigen Einleitung versah, welche den ganzen in einem starken Bande vereinigten Stoff unter literarhistorische Gesichtspunkte brachte und in die Geschichte der deutschen Poesie einordnete. Er ließ sich dabei von einem Begriffe des echten Volkstümlichen leiten, dessen historische Richtigkeit vielleicht bestritten werden kann, den er aber mit den Brüdern Grimm und Uhland teilte und der als ein Ideal in unserer Literatur des 19. Jahrhunderts seine Früchte getragen hat. Eine der schönsten dieser Früchte hat er in ihrem Reifen mit wahrer Liebe und Teilnahme verfolgt, den Quickborn von Herrn Klaus Groth, dessen Orthographie er feststellen half, zu dem er Einleitung, Grammatik und Glossar hinzufügte und den er zum Teil ins Hochdeutsche übertrug.
Wie er sich als einen Meister in der Darstellung seiner heimatlichen Mundart bewährte, so hat er die Geschichte unserer Sprache durch die Vorrede zu den »Denkmälern« gefördert, indem er uns die fränkischen Dialekte des Althochdeutschen unterscheiden lehrte, die Entwicklung einer deutschen Gemeinsprache von Karl dem Großen bis auf die luxemburgischen Kaiser verfolgte und so die Wurzeln der neuhochdeutschen Schriftsprache bloßlegte. Er zeigte, wie man die Eigennamen der Urkunden als sicher datierte Sprachquellen benutzen und danach undatierte Denkmäler chronologisch bestimmen könne. Er gehörte zu denjenigen, welche den Anstoß zu einer neuen, von Grimm und Bopp abweichenden Auffassung des arischen, zunächst des europäischen Vokalismus gaben. Er trug die deutsche Grammatik in beständiger Fühlung mit der vergleichenden Sprachwissenschaft vor. Er war in allen germanischen Sprachen fast gleichmäßig zu Hause, übte Textkritik auf dem nordischen und altenglischen Gebiete ganz ebenso wie auf dem althochdeutschen und mittelhochdeutschen, nicht minder aber auch auf dem griechischen und lateinischen. Er war ein kundiger Etymolog, in jüngeren Jahren sehr vorsichtig und zurückhaltend, im Alter zuweilen kühn, immer aber streng methodisch und jeden Schritt, den er wagte, durch Analogien belegend. Er war insbesondere ein großer Kenner der germanischen Personennamen, die er für grammatische und antiquarische Zwecke auf Grund eigener reicher Sammlungen in umfassender Weise und höchst feinsinnig herbeizog. Er griff, wo es nötig war, über das germanische Gebiet hinaus, gewöhnte sich früh, mit Zeuß' Grammatica celtica zu operieren, schrieb in unseren Monatsberichten über die Geschichte des Auslautes im Altslowenischen, arbeitete sich, um die Nationalität der Skythen festzustellen, in die Sprache des Zendavesta ein und bewies überall dieselbe methodische Sicherheit.
Wenn er zeitlebens mit der vergleichenden Sprachwissenschaft in Fühlung blieb, so hatte er auch im Anfang seiner mythologischen Forschung alle Resultate der vergleichenden Mythologie akzeptiert und darauf fortgebaut, ward aber je länger je mehr daran irre, hielt nur wenige Punkte für sicher, legte größeren Wert auf die unter ähnlichen Umständen ähnliche Entwicklung der Mythen und Sagen, und verbreitete im Sinn einer solchen Betrachtung, ausgerüstet mit den reichen Erfahrungen seiner germanischen Sagenforschung, über den Stoff der Ilias und Odyssee ein neues Licht. Er wußte Naturmythen glücklich zu deuten, deutete aber nie nach der Schablone, begünstigte weder die Sonne noch das Gewitter und hielt sich stets an die besonderen Umstände und an die zuverlässige Etymologie.
Er war ein ausgezeichneter Kritiker und Interpret. Er baute immer von unten auf, nach peinlichster und gewissenhaftester Untersuchung der Fundamente. Er war gewohnt, nach Lachmanns Beispiel auf die innere Gliederung zu achten, und das konnte ihn auch wohl einmal zu weit führen, wie bei seiner Abhandlung über den Bau der Elegien des Properz. Er war gewohnt, sich nach den Grundsätzen einer strengen Interpretation ein jedes literarische Produkt darauf anzusehen, ob es einheitlich aus der Hand eines Autors hervorging, oder die Spuren nicht einheitlicher Abfassung, Widersprüche, ungeschickte Verbindungen, Kennzeichen nachträglicher Zusätze, an sich trug. Er rechnete ebensowohl mit der vielleicht unterbrochenen und unaufmerksamen Arbeit eines Verfassers, wie mit der Möglichkeit fremder Einmischung oder der Zusammenschweißung von Werken verschiedenen Ursprungs. Er übte diese Methode der sogenannten höheren Kritik an der Gudrun, am Beowulf, an den Liedern der alten Edda, an anderen Gedichten der Volks- und Kunstpoesie und fast überall mit gleichem Glück.
Durchweg kam ihm sein eminent historischer Sinn zugute. Er war, wie wenige, geübt, das Sein aus dem Werden, oder vielmehr im Sein das Werden zu erkennen. Sind wir in der Lage, an der Hand einer chronologisch feststehenden Geschichte der Rechtsquellen einen juristischen Satz zu verfolgen und seine Veränderung zu beobachten, so gehört in der Regel nicht sehr viel dazu, um das Prinzip der Veränderung zu ermitteln. Besitzen wir die Quellen, die ein mittelalterlicher Annalist ausgeschrieben hat, so ist es nicht sehr schwer, sein Werk auseinanderzunehmen, es in seine Bestandteile aufzulösen und uns an die ursprünglichen Quellen statt der vielleicht unter Mißverständnissen und willkürlichen Kombinationen daraus abgeleiteten, zu halten. Schwieriger wird schon die Aufgabe, wenn sich der Verdacht solcher Ausschreiberei aufdrängt, aber die ausgeschriebenen Quellen ganz oder zum Teil verloren sind. Es gibt jedoch Mittel, um auch hierüber annähernd ins reine zu kommen, und Müllenhoff hat zahlreiche Stellen antiker Geographen oder Historiker durch Anwendung des feinsten und scharfsinnigsten Verfahrens auf ihre ursprünglichen Quellen zurückgeführt und demgemäß kritisch benutzt. Drang er hier in die Entstehungsgeschichte kompilierter Geschichtswerke ein, so war seine höhere Kritik nichts anderes als ein Versuch, die allmähliche Entstehung von literarischen Kunstwerken zu ermitteln. Aber auch die niedere Kritik, die bloße Textkritik verlangt oft ähnliches Verfahren: die Geschichte der Überlieferung müssen wir zuweilen aus Handschriften ablesen, die alle gleich gut oder gleich schlecht sind und uns durch kein äußeres Merkmal das Geschäft erleichtern, sondern uns allein auf das Urteil, auf die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten, auf die Beobachtung des Prinzips der Entstellung, kurz auf mehr oder minder glaubliche Vermutungen, verweisen. Müllenhoff hat auch hierin die schwersten Aufgaben siegreich bewältigt; und der Takt, der ihn im kleinen sicher leitete, blieb ihm bei den größten Problemen getreu. Aus den Nachrichten des Tacitus über die germanische Religion wußte er herauszulesen, daß die bestehenden Zustände auf einer weitreichenden Umwälzung beruhten, welche den alten arischen Himmelsgott entthronte und den Wodan an seine Stelle setzte. Und so hatte es seine ganze Altertumskunde im tiefsten Grund auf Geschichte abgesehen. Die innere Entwicklung der Germanen, welche vor der zeitgenössisch beglaubigten Historie liegt, wollte er erkennen und anschaulich machen und vertraute darauf, daß es gelingen müsse, d. h. er vertraute auf die Macht seiner scheidenden und verbindenden, seiner auflösenden und aufbauenden Methode; er vertraute auf die Macht der wissenschaftlich begründeten Vermutung.
Müllenhoff haftete nirgends an der überlieferten Tatsache. Er wollte stets über die Tradition hinaus auf einen höheren Zusammenhang kommen. Er begnügte sich nicht mit den Einzelheiten, sondern strebte zum Ganzen. Das war aber auf den Gebieten, die er bearbeitete, nur durch Vermutung zu erreichen, und die fruchtbare Vermutung setzt eine wissenschaftlich geschulte Phantasie voraus. Der hohe Rang, den Müllenhoff als Gelehrter einnahm, beruht auf dem Werte seiner Hypothesen und auf der Kraft seiner Phantasie.
Phantasie verlangte er ausdrücklich von dem Forscher, der die Zustände verschwundener Völker in einem einheitlichen Gemälde darstellen will. Phantasie, d. h. nicht Phantasterei, sondern die Kraft der inneren Vergegenwärtigung, durch welche wir die überlieferte Tatsache nicht als etwas Totes anschauen, sondern sie ins Leben zurückversetzen und sie nach unserer allgemeinen Kenntnis menschlicher Dings zu dem seelischen Grund alles Lebens und zu der Gesamtheit der sonst überlieferten und lebendig aufgefaßten Tatsachen in Beziehung setzen.
Die Kraft der inneren Vergegenwärtigung machte ihm auch abgeschiedene Menschen lebendig, den Pytheas, den Eratosthenes, den Polybius, den Strabo, den Verfasser oder die Verfasserin der Völuspa, den Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide. Zu ihnen gewann er ein ganz persönliches Verhältnis, in Feindschaft und Freundschaft, in Haß und Liebe, in Verachtung und Verehrung. Wie es ihm im Leben begegnen konnte, daß ihm seine Phantasie die Menschen plötzlich verdunkelte und ihm Karikaturen derselben entwarf, gegen die er sich ereiferte, so fing er den »guten« Strabo, wie er ihn nennt, einmal zu schelten an, erklärte ihn für einen Mann von stumpfen, ja groben Sinnen, von kurzem Verstande, geringer Verschmitztheit und mäßigem Wissen und schließlich für einen argen Tölpel. Das Organ der Verehrung war stark in Müllenhoff ausgebildet, und das, was er verehrte, hielt er wie ein Heiligtum hoch. Was ihn an Strabo empörte, war dessen vorschnelle Polemik gegen Eratosthenes. Und so hat er im Nibelungenstreite die Gegner Lachmanns statt der überlegenen Ironie, die vollkommen ausreichte, mit der schwersten Rüstung des sittlichen Zornes bekämpft. Er sah und suchte stets den ganzen Menschen und seinen sittlichen Kern. Das Kleinste hing ihm mit dem Größten zusammen; und so war auch er selbst in jedem Augenblicke ganz. Sein innerstes Wesen erzitterte sofort, wo ihm ein heiliges Prinzip bedroht schien; und das war oft der Fall, wenn er in der geringsten Sache etwas geschehen sah, was gegen seine Überzeugung lief. Dieser leidenschaftliche Ernst, der den ganzen Mann im Innersten aufwühlen konnte und alle seine Kräfte, Gefühl, Verstand, Willen in Gärung brachte, hat ihm manche bittere Stunde bereitet und seine wissenschaftliche Laufbahn fast zu einer tragischen gemacht.
Denn war es nicht ein tragisches Geschick, das Werk eines ganzen, wohlangewandten Lebens als Fragment hinterlassen zu müssen? Die schwere Gründlichkeit seiner Natur ließ ihn bei der Altertumskunde nicht aus der Stelle kommen. Sie zwang ihm eine solche Vertiefung in die Einzelheiten auf, daß das Ganze, das seinem Geiste vorschwebte, überhaupt nicht zutage trat. Er mochte wohl theoretisch zugeben, daß der Forscher, der neue Gedanken einzusetzen habe, diese nicht zu lang und zu ängstlich zurückhalten dürfe, sondern die Arbeit der anderen rasch zu befruchten habe. Er bestritt nicht, daß hier die Pflicht des entschlossenen Mitteilens höher als die Pflicht der durchgängigen Vollendung stehe. Er mußte anerkennen, daß die mächtig anregende Kraft, die von Jacob Grimm ausging, zum Teil darauf beruhte, daß er den Mut des Fehlens hatte. Er räumte bereitwillig ein, daß die Altertumskunde, vor 20 oder 30 Jahren mit einem kühnen Wurfe vielfach unfertig hingeschrieben, jetzt längst mindestens die dritte Auflage erlebt haben würde und daß diese dritte Auflage wahrscheinlich doch viel besser als die mit solcher Gründlichkeit vorbereitete erste wäre. Aber er war praktisch nicht imstande, solchen Mahnungen zu folgen; und das letzte Aufflammen seines Geistes, mit dem er sich, halb erblindet, entschließen wollte, unter Beihilfe jüngerer Freunde endlich herzugeben und zu redigieren, was er habe, und die noch vorhandenen Lücken seines Wissens unbekümmert stehen zu lassen – dieses letzte Aufflammen ging nur um wenige Tage der letzten, entscheidenden Erkrankung vorher, von der er sich nicht mehr erholte. Aber seine Wirkung auf die Nachwelt soll darum nicht geringer sein. Der fragmentarische Zustand seines Lebenswerkes enthält eine Aufforderung zu strenger, weiterführender Arbeit in seinem Sinne. Die, welche nach ihm auf der Stelle zu wirken bestimmt sind, die er ehemals unter uns einnahm, werden sich noch lang als seine Schüler fühlen und seinen bahnbrechenden Gedanken gerne jene folgsame Versenkung entgegenbringen, die jedem zum Heile gereicht, der sie übt, und auf die er gern mit den Worten Lachmanns hindeutete: »Sein Urteil befreit nur, wer sich willig ergeben hat.«