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Emanuel Geibel

Rede, gehalten in der vom Verein »Berliner Presse« veranstalteten Gedächtnisfeier, 25. Mai 1884.

Als vor 22 Jahren Ludwig Uhland starb, da hat ihm Geibel das Grablied gesungen:

Es ist ein hoher Baum gefallen,
Ein Baum im deutschen Dichterwald;
Ein Sänger schied, getreu vor allen,
Von denen deutsches Lied erschallt.

Er nennt ihn einen Spiegel vaterländischer Sitte, einen Herold deutscher Ehren, beharrlich, stark und echt.

Geibel hat damit den Grundton angegeben, aus dem er selbst zu feiern ist. Auch er war ein Herold deutscher Ehren. Auch er gehörte zu den Auserwählten, die in unserem vielzerrissenen Volke von Zeit zu Zeit das Gefühl der Einheit wecken dürfen. Er hat oft das Wort gefunden, das in allen Herzen widerklang. Und noch sein Tod bewährt die einigende Kraft. Denn die Trauer, der wir heute feierlichen Ausdruck geben, wird im Süden wie im Norden und wo außerhalb des Vaterlandes Deutsche wohnen, sie wird im ganzen Volk geteilt. Und indem Geibel alle Stammgenossen um sein Grab versammelt, scheint seine schöne Stimme noch einmal zu ihnen zu reden und ihnen zu verkündigen die frohe und gewaltige Botschaft von dem Werte der Poesie, von dem Glanz unserer Sprache, von dem Priestertume der Kunst.

Die Deutschen, denen die Ehre zuteil wurde, den größten Dichter des modernen Europas den ihrigen nennen zu dürfen, haben es schnell verlernt, der Poesie einen enthusiastischen Kultus zu widmen. Ein großer Literarhistoriker erklärte, die Zeit der Dichtung sei zu Ende, und die Zeiten der Politik seien angebrochen. Sein strenges Wort war eine schmerzliche Prophezeiung. Die Zahl derer, die noch warm für Poesie empfinden, wird von Jahr zu Jahr geringer: Männer auf der Höhe des Lebens rechnen die Poesie nicht mehr zu den ernsthaften Angelegenheiten der Nation; selbst die Jugend, sobald sie der Schule entwachsen ist, wendet sich leichtherzig ab von den belebenden Quellen unserer Dichtkunst; und nur die Frauen bleiben den alten Lieblingen getreu. Wir haben eine einsichtige und weitblickende Pflege der Kunst und der Wissenschaft: daß auch die Poesie einer solchen fähig, wert und bedürftig sei, scheinen wenige zu wissen. Wir haben mehrere deutsche Akademien, welche Künstler und Gelehrte in ihrem Schoße versammeln: wir haben keine »Deutsche Akademie«, um diejenigen aufzunehmen, welche der kunstmäßigen Ausbildung der deutschen Poesie und Prosa eine ruhmvolle Lebensarbeit widmen.

Trotz der Ungunst der Zeit aber empfing Emanuel Geibel alle die äußere Förderung, deren er bedurfte; und er erlangte eine Stellung in der Nation, welche die äußeren Ehren entbehren konnte. Er hat nie den vorübergehenden Forderungen der Mode gedient, er hat nie dem Geschmacke der Menge geschmeichelt, er hat sich nie zum Sklaven einer literarischen oder politischen Parteimeinung gemacht – und dennoch einen mächtigen, in Deutschland seltenen Erfolg errungen. Er hat damit den Beweis geliefert, daß der Erfolg des schlichten Schönen nicht von der Mode, nicht von dem Beifall des Marktes und nicht von der Gunst der Parteien abhängt. Er weckt in uns die tröstliche Hoffnung, daß das Zeitalter der Poesie doch noch nicht zu Ende sei, und daß auch in Zukunft diejenigen nicht fehlen werden, welche das echte Talent zu erheben bereit sind. Er hat im Leben Schule gemacht, jüngere Dichter neidlos gefördert und ihnen die Wege gewiesen. Er wird auch nach seinem Tode ein Wegweiser und Zielzeiger – ein Führer, ein Erzieher, ein Lehrer seines Volkes bleiben: ein Führer zur Schönheit, ein Erzieher zum Maß, ein Lehrer der Form.

Die Deutschen schätzen von alters her den Gehalt mehr als die Form, das innere Leben mehr als die Erscheinung. Erscheinung gilt ihnen allzuoft für Schein, und sie wollen nicht den Schein, sondern die Wahrheit. Geibel aber besaß die Kraft, durch den Gehalt seiner Dichtung zugleich den Wert der Form allem Volk eindringlich zu predigen. Vers und Sprache waren ihm untertänig. Im Ausdruck gab es nichts Schweres, nichts Unüberwindliches für ihn. Überall drang er zur vollendeten Klarheit durch. Der sprödeste Stoff ward bildsam unter seinen Händen. Er übte die ruhige Herrschaft des Meisters, die nicht blenden will, die nicht fürchtet gewöhnlich zu werden, die nicht hascht nach Originalität. Er empfand die strenge Form, den reinen Reim, das feste Metrum nicht als Zwang, sondern als Vorteil. Seine Sprache ist voll Harmonie und Rhythmus, reich an Vokalen ohne Härten und mißtönende Zusammenstellungen, voll Wechsel, Glanz und Leben des Lautes, wie bei den Minnesängern, und doch nicht allzu weich und süßlich, nicht allzu eifrig buhlend um die Gunst eines klanggierigen Ohres, sondern erfüllt mit Kraft und Mark und mit der Wucht ewiger Gedanken.

Denn der Adel der Form fließt aus dem Adel der Seele.

Zwar hat keine Theorie der Poesie bis heute die Grenzen zwischen Dichtkunst und Sittenlehre endgültig gezogen; und seit im vorigen Jahrhundert zunächst innerhalb des englischen Romans und dann in der ganzen europäischen Literatur gebrochen ward mit den stoisch-heroischen Tugendhelden, deren unnatürliche Festigkeit über jede Anfechtung ohne Mühe triumphierte – seit man darauf ausging, wahre, natürliche Menschen in all ihrer Fehlbarkeit dem Leben nachzubilden – seit die Losung der Natur und Wahrheit mit Nachsicht und Menschenliebe Hand in Hand ging: – seitdem wird die Abspiegelung des wirklichen Lebens an sich vielfach für ein würdiges Ziel der Poesie gehalten; und wer von einem moralischen Zwecke derselben redet, der macht sich der Philistrosität oder des Zopfes verdächtig. Aber wie dem auch sei und was die ästhetische Theorie darüber sagen, raten und meinen mag: so viel steht fest, daß die Poesie tatsächlich es seit Jahrhunderten als ihre Aufgabe betrachtet hat, eine sittliche Bildnerin der Völker zu sein und die Ideale zu stärken, auf denen die Gemeinschaft der Menschen, auf denen die Gesellschaft beruht. Von jeher hat sie Götterbilder aufgerichtet. Von jeher hat sie Gestalten geschaffen, zu denen die Menschen in Verehrung emporblicken sollten. Was durch die Flucht der Zeiten hin für groß und wertvoll galt, das hat sie verherrlicht mit der bildenden Kraft des Wortes.

Und dieser überlieferten sittlichen Mission der Poesie ist Geibel stets getreu geblieben, wie Ludwig Uhland. Fast alle, die sich in den Tagen des Schmerzes das Bild Geibels zu vergegenwärtigen suchten, mußten an das Gelübde erinnern, das er einst – gleichsam in die Hände König Friedrich Wilhelms des Vierten – ablegte:

So helfe Gott mir, daß ich walte
Mit Ernst des Pfundes, das mir ward,
Daß ich getreu am Banner halte
Der deutschen Ehre, Zucht und Art.

Fast alle, die Geibel feierten, haben ihn als eine priesterliche Gestalt empfunden, als einen Priester nicht bloß des Schönen, sondern auch des Guten. Aus einem Priesterhause ging er hervor, und der ehrenfeste Geist des protestantischen Pfarrhauses ruhte auf allem seinem Wirken. Seine Seele lebte mit den Besten seiner Zeit in beständigem Einklang. Er ging die gerade Straße des Heils; kein Irrweg verlockte ihn; kein Mißlingen schreckte ihn; er wußte zu hoffen, er wußte zu glauben. Alles, was sich stetig entwickelte in unserem nationalen Leben, daran nahm er den freudigsten Anteil; alles, was einen Bruch, eine Verzerrung, einen plötzlichen Umschlag bedeutete, das fand an ihm einen Gegner: Festigkeit und Treue verließen ihn nie. Jedem, der ihn kannte, erschien er, wie ihn Berthold Auerbach einmal, unter dem unmittelbaren Eindruck des Wiedersehens, bezeichnete: »Geibel ist ständig eine im Besten lebende Seele von wahrem und warmem Pathos.«

Er war eine geschlossene Persönlichkeit, wie Ludwig Uhland, und noch mehr als dieser ganz der Poesie ergeben. Er war kein aktiver Politiker wie Uhland; er war kein Fachgelehrter wie Uhland. Als Politiker, als Gelehrter blieb er immer Dichter. Sein reines und richtiges politisches Denken ging in Poesie auf; sein reiches literarisches und ästhetisches Wissen ward nur in Versen niedergelegt. Aber sein dichterisches Schaffen kam, wie bei Uhland, nicht zu breiter Entfaltung. Seine wie Uhlands sämtliche Werke umfassen wenige Bände, Gedichte und Dramen, keine Prosa, keine Novellen, keinen Roman. Er wußte ausgezeichnet zu erzählen; aber hatte keine eigentliche Lust zu fabulieren. Das glücklich begonnene Epos »Julian«, worin deutsches und russisches Wesen sich berühren, blieb Fragment. Erzählungen wie der »Morgenländische Mythus«, »Die Blutrache«, »König Sigurds Brautfahrt«, die sogenannten »Idyllen« und andere, schließen sich in engerem Rahmen knapp zusammen; »Der Tod des Tiberius« ist eine Geschichte von symbolischem Gehalt. Die halblyrische Form der Ballade war ihm innerhalb der epischen Dichtung am meisten gemäß. Aber auch diese pflegte er weniger eifrig als Uhland; und viel lieber hing er den eigenen Erinnerungen nach, um, was ihn einst in Freud' und Leid bewegt, ins Licht der Gegenwart heraufzuholen. Das »Buch Elegien«, der Anfang einer poetischen Selbstbiographie, ist vielleicht sein am meisten charakteristisches Werk. Sein Liebeslied malt nur die eigene Empfindung, nicht das Wesen der Frauen, welche diese Empfindung erregten. Er war stets mehr nach innen als nach außen gewandt. Seine Lyrik hat wie Uhlands Lyrik selten den dramatischen Zug, der uns zum Miterleben zwingt. Sie spiegelt einen Zustand ab; sie blickt in die Vergangenheit zurück. Im Drama selbst ruht auf dem Monolog der Nachdruck. Nicht die Handlung, nicht der sinnfällige Konflikt, nicht Begehrungen und Leidenschaften, die zornig aufeinander stoßen, sondern nur der Seelenkampf, der eine Tat gebiert, fordert seine höchste Kunst heraus.

Der Widerstreit entgegengesetzter Empfindungen in derselben Brust, das ist sein höchstes tragisches, ja fast das einzige tragische Thema, das er behandelt: eine Verwirrung des Gefühls, wie sie Heinrich von Kleist so oft seinen Figuren mitteilt. Geibels Brunhild vernichtet, wie Kleists Penthesilea, den Helden, den sie liebt. Geibels Sophonisbe liebt den Feind ihres Volkes, den sie töten möchte. Brunhild fühlt sich beschimpft von dem einzigen Manne, dem ihr Herz entgegenschlug. Sophonisbe glaubt, daß ein solcher Schimpf ihr drohe, und steht entwaffnet, da sie sich getäuscht. Geibels Loreley hat Untreue zu rächen; auch ihre Liebe wandelt sich in Haß und treibt den einst Geliebten in den Tod. Ja selbst Geibels Lustspiel, das eine freie und reine Heiterkeit um sich verbreitet, hat eine Verwirrung des Gefühls zum Gegenstande: der zerstreute Meister Andrea wird, nach einem bekannten, von Shakespeare und Holberg gebrauchten Motive, zur Strafe für seine Zerstreutheit an sich selbst irregemacht und in den Wahn versetzt, er sei ein ganz anderer Mensch.

Am großartigsten aber und an dem gewaltigsten Stoffe kommt die Neigung, den inneren Zwiespalt darzustellen, in dem Monologe »Judas Ischarioth« zur Geltung, der den Keim zu einer ganzen Tragödie enthält. Judas spricht darin das Gefühl aus, das ihm Jesus einflößt. Er zweifelt nicht, daß er der Messias ist. Aber er hat sich den Messias anders gedacht. Er wollte einen Kriegshelden, einen nationalen Führer, einen Befreier von den Römern. Et hat sich einst in diese Rolle geträumt; er würde zurückstehen, wenn nur Jesus sie übernehmen wollte; aber diese Demut, diese holdselige Sanftmut, diese weltumfangende, friedenatmende Liebe, die ihn so tief ergreift und doch so tief empört – er, Judas, ist einst auf eines Berges Gipfel an ihn herangetreten und hat ihn an sein Amt gemahnt und ihm das Land gezeigt, das seines Fürsten harrt – »Hinweg, Versucher!« rief ihm der Heiland zu, und seitdem ist er von ihm geschieden; ein tödliches Gefühl wächst in ihm auf wie Haß, und dunkle Stimmen locken zum Verrat. Jedermann sieht, wie genial hier Geibel die Überlieferung umbildete: er hat den Verräter gehoben, indem er ihm ein national-politisches Pathos verlieh; und er hat das Motiv der Versuchung vom Satan auf ihn übertragen. Den Kampf von Gut und Böse, den Kampf von Licht und Finsternis hat er in das Innere der Menschenbrust verlegt und so uns menschlich nahegerückt. Mit einer hohen sittlichen Gesinnung sucht er die Entstehung des Bösen auf und zeigt, wie das Übermaß einer einzigen, an sich vielleicht edlen Empfindung ins Verderben führt. Er kennt die Gefahr und glaubt zu wissen, wie sie beschworen wird. Er kennt den Kampf und glaubt zu wissen, wo man den Frieden findet. Wen der Zaubergesang törichter Leidenschaft verwirren will, wem zweifelnd die Seele schwankt, dem rät er ans Meer zu flüchten oder in den Wald und zu horchen auf des Meeres Tosen und des Waldes Brausen und des endlichen Reizes Lockung zu erproben am Gefühl der Unendlichkeit.

Vor der großen Natur heiligem Frieden hält
Nichts Unlauteres stand; von den befangenen
Sinnen streift sie den Irrtum
ie ein lastend Gewand herab;

Und wie plötzlich entfacht einst am gesegneten
Nachtmahlskelche des Grals feurige Schrift erschien,
Glänzt ein göttlicher Wille
klar in deinem Gewissen auf.

Aber wer das Leben kennt, wird zugeben, daß dieser schöne Gedanke nicht ebenso wahr, daß der Rat, den Geibel hier erteilt, nicht allgemeingültig ist. Nur in harmonischen Seelen löst Natur die sittlichen Dissonanzen. Jene grellen inneren Konflikte, die Geibel darstellen will, den tödlichen Kampf von Haß und Liebe, den hat er nicht erlebt, sondern höchstens im schwachen Abglanz vorempfunden. Denn er war eine harmonische Seele; in ihm lösten sich die Dissonanzen; und so war die breit austönende, die stet verweilende Empfindung sein eigenstes Gebiet, das was ein Herz bedrückt, erschüttert – erhebt, entflammt, das Träumen und das Sinnen, das Hoffen und das Glauben, das Jubeln und das Trauern; Religion und Vaterland, Natur und Liebe – die uralten Gegenstände jeder Dichtung.

Geibel wurzelt, wie Uhland, fest in der engsten Heimat; aber die Schranken der Heimat durchbricht die Liebe zum gemeinsamen Vaterland; und über das Vaterland hinaus huldigen sie beide dem Genius bei Menschheit. Geibel indessen ist eine mannigfaltigere, reichere Lebensbahn gewandelt als Uhland; die Gegensätze unseres Volkes und die Gegensätze unserer nationalen Bildung waren in ihm völliger versöhnt und vermittelt. In Norddeutschland geboren und erzogen, hat er entscheidende Jahre in Süddeutschland verlebt, um zuletzt nach dem Norden zurückzukehren. Lübeck gab ihm das Leben; in Bonn und Berlin hat er studiert; nach den Wanderjahren kam er in München zur schönsten und frischesten Tätigkeit; und in der geliebten Vaterstadt ruhte sein Alter aus. Drei deutsche Fürsten aus dem Norden und aus dem Süden haben nacheinander sich an ihm als großmütige Freunde der vaterländischen Dichtkunst erwiesen: König Friedrich Wilhelm der Vierte, König Max von Bayern und Se. Majestät unser Kaiser. Im Norden wie im Süden war die beste Gesellschaft stets bereit, ihn sympathisch zu empfangen; und bei der Aufführung seines »Meister Andrea« erneuerten sich die Traditionen von Weimar, wo Herzog Carl August in Goethes »Iphigenie« mitspielte.

Während Uhland viele Jahre vor seinem Tode schon aufhörte, ein aktiver Dichter zu sein, und ausschließlich der Wissenschaft lebte, floß für Geibel die poetische Quelle fast bis zuletzt, und die Weisheit des Alters kam seiner Dichtung zugute. Et nahm einen stetigen Weg nach aufwärts. Welcher Fortschritt von 1840 bis 1877, von den frühesten »Gedichten« zu den »Juniusliedern«, zu den »Neuen Gedichten«, zu den »Gedichten und Gedenkblättern«, zu den »Heroldsrufen« und endlich zu den herrlichen »Spätherbstblättern«! Welcher Fortschritt von seiner ersten Tragödie, dem jugendlich unvollkommenen »König Roderich«, zur »Brunhild« und »Sophonisbe«! Nicht nur, daß er die Formen immer freier beherrschte, daß er immer mehr seinen eigenen Ton fand und aus dem Schüler ein Meister ward: er ist auch innerlich immer freier und größer geworden. Die Zeit wuchs mit ihm; sie hob ihn auf eine immer höhere Warte; immer lauter erklang seine Stimme, und in immer weiteren Kreisen ward sie vernommen.

In religiösen Dingen machte die Befangenheit der Jugend einer freimütigen Kritik Platz. Wohl durfte er einst sagen: »Mir quillt der Dichtung heil'ger Bronnen am Felsen, der die Kirche trägt.« Wohl gab er in einem Gedichte, wie »Der Bildhauer des Hadrian«, die Sehnsucht des Künstlers nach einem festen Glauben kund. Wohl wußte auch er, wie alle christlichen Sänger vor ihm, den hebräischen Psalmen prachtvolle Weisen nachzusingen. Wohl feierte er im Liede kirchliche Feste mit. Wohl vertiefte er sich in die Anschauung der erhabenen Milde Jesu und betete bei dem um Frieden, vor dem die Stürme schweigen. Aber im Alter konnte er sagen: »Meiner Brust ist jener Gottesfrieden, der kein Bekenntnis hat noch braucht, beschieden.« Und der Kirche rief er zu, sie solle nicht nur der Mumie, sondern dem Phönix gleichen. Er warf ihr vor, daß sie alternd erstarre:

Statt sich des Wissens der Welt zu bemächtigen, zieht sich die
Kirche
Von den Gedanken des Tags weiter und weiter zurück,
Lebt in vergangener Zeit und spricht in verschollenen Zungen,
Ach, und verwundert sich dann, daß sie der Tag nicht versteht.

Er klagte: »Religion wird Theologie und Glaube Bekenntnis.« Er meinte: Theologie sei eine künstliche Leiter zum Himmel, Religion die angeborene Schwinge. Der Glaube ist ihm ein schöner Regenbogen, der zwischen Erd' und Himmel aufgezogen, ein Trost für alle, doch für jeden Wanderer je nach der Stelle, da er steht, ein anderer. Und er gibt den Rat:

Wollt ihr in der Kirche Schoß
Wieder die Zerstreuten sammeln,
Macht die Pforten breit und groß,
Statt sie selber zu verrammeln.

Wie Geibels politischer Gesang sich erhob, ist uns allen in frischem Gedächtnis. Auch er hatte in seiner Jugend von dem schlafenden Kaiser im Kyffhäuser gesungen; und er durfte erleben, daß die alte Sehnsucht sich erfüllte, daß die alten Träume Wahrheit wurden; er durfte als ein Herold des neuen Reichs den Norddeutschen Bund begrüßen, nach der Brücke über den Main verlangen, den Schirmvogt Norddeutschlands in Lübeck mit dem Wunsch empfangen, daß übers Reich ununterbrochen vom Fels zum Meer sein Adler ziehe. Und er sah auch diesen Wunsch sich noch erfüllen und rief dem Vaterlande zu:

Nun wirf hinweg den Witwenschleier,
Nun schmücke dich zur Hochzeitsfeier,
O Deutschland, mit dem grünsten Kranz!
Flicht Myrten in die Lorbeerreiser!
Dein Bräut'gam naht, dein Held und Kaiser,
Und führt dich heim im Siegesglanz.

Er hatte einst für Lübeck und Schleswig-Holstein gegen Dänemark gesungen; er hatte vor dem Feind im Westen gewarnt: er durfte noch vom deutschen Ulanen in Frankreich berichten, Deutschlands Schlachtendenker preisen und am 3. September 1870 den Triumphgesang erheben:

Nun laßt die Glocken
Von Turm zu Turm
Durchs Land frohlocken
Im Jubelsturm!

Zur Friedensfeier sprach er gewichtige Worte vom deutschen Geist, der sein hohes Tagewerk aufs neue beginne:

In Kirch' und Staat, in Wissenschaft und Kunst
Erlöst vom Bann des Fremden, sucht er sich
Die eigne Bahn und schafft sich selbst die Form.
Die Satzung heimatlosen Priestertums
Durchbricht der Denker, daß sich Glauben wieder
Und Leben sühne; freudig ziehn die Boten
Des Reichs dahin, um auf dem Fels der Macht
Der Freiheit Haus in Treuen auszubauen.

Und in einem jener prägnanten Epigramme seines Alters leitet er aus einem geistreichen Vergleich einen ernsten Mahnspruch ab:

Wie aus Jupiters Stirn einst Pallas Athene, so sprang aus
   Bismarcks Haupte das Reich waffengerüstet hervor.
Tu es der Göttin gleich, Germania! Pflanze den Ölbaum,
   Sei dem Gedanken ein Hort, bleibe gewaffnet, wie sie!

Aber die großen Interessen der Menschheit wurden unserem Freund über den vaterländischen nicht fremd. Auch ihm scholl der Name der Freiheit süß ins Ohr. Für die Aufhebung der Sklaverei hat er mit dem ganzen Pathos seiner edlen Natur das Wort ergriffen. Und in einer Tragödie des nationalen Kampfes läßt er den siegreichen Römer zur besiegten Karthagerin, den Scipio zur Sophonisbe, von dem freien gottgegebenen Erbteil schöner Menschlichkeit versöhnend sprechen, das an keines Stamms Geschlecht und Art gebunden sei.

Und die völkerverbindende Menschlichkeit hat Geibel selbst als Dichter praktisch bewährt. Auch er ist ein Zögling jenes literarischen Universalismus, den wir seit Herder als einen Vorzug der Deutschen ansehen dürfen und der sich in Übersetzungen wie in stilistischen und formalen Nachbildungen betätigt. Auch in seinen Poesien erklingen die Stimmen der Völker. Der politische Gegensatz hinderte ihn nicht, die französische Lyrik von André Chénier bis Victor Hugo und François Coppée uns in meisterhaften Proben anzueignen. Und so übersetzte er aus Lord Byron. So übersetzte er spanische Romanzen und Lieder. So übersetzte er aus den Griechen und Römern. Und die Geister, die er in deutschen Laut, in deutsche Verse bannte, halfen ihm an der eigenen Arbeit. Seine reiche literarische Bildung spiegelte sich in den mannigfaltigen metrischen und stilistischen Formen, über die er verfügte. In ihm waren Klassisch und Romantisch keine Gegensätze. Merkt man in seinen Jugendpoesien den Einfluß des Volksliedes, den Einfluß von Uhland, Heine, Lenau, Eichendorff, so macht sich daneben doch bald das Muster von Platen geltend. Die Antike bestimmte von früh auf seinen Geschmack; und ein gütiges Schicksal erlaubte ihm, den Homer und den Sophokles auf griechischer Erde, auf griechischem Meere zu lesen. Dieselbe kunstreiche Hand, welche Goethes Bildnis enthusiastisch wie keine andere schmückte, schloß ihm die Pforten von Hellas auf: Bettina von Arnim war die Vermittlerin, durch welche seine Sehnsucht nach Griechenland erfüllt wurde. Dort am Ilissos tat er das ernste Gelübde, wie er sagt, mutig im Dienste der Kunst nach dem einfach Schönen zu ringen, wahr zu bleiben und klar, und, was immer verwirrend die Brust und die Sinne bestürme, stets das geheiligte Maß fromm zu bewahren im Lied.

In antiken Formen hat er den tiefsten persönlichen Lebensgehalt ausgesprochen und seine größte Originalität entfaltet. Aber die sangbaren Jugendreime hatten den breitesten äußeren Erfolg. Der Beifall, den das einzelne Lied findet, hängt nicht von dem Grade der Originalität ab, sondern von dem reinen und starken Klang, der im Gemüte des Hörers einen lauten Widerhall weckt. Die Lieder des jugendlichen Dichters wurden von der Jugend vor allem mit Freuden ergriffen; und wie in Deutschland so oft der erste Eindruck entscheidet, wie etwa Grillparzer ein Vertreter der Schicksalstragödie bleiben mußte, weil er als solcher begonnen hatte, und wie ihm alle späteren reiferen Leistungen lange nichts dagegen halfen: so behielt Geibel den Stempel eines Dichters für die Jugend, obgleich er nach und nach viele Schätze seines Geistes in melodischen Strophen und Rhythmen niederlegte, deren Wert nur ein Mann ganz zu würdigen weiß.

Ein weicher, sehnsüchtiger Laut, wie ihn die Jugend liebt, findet sich allerdings auch später noch leicht bei ihm ein. Er würde immer, wenn man die überwiegende Masse seiner Produktion ins Auge faßt, nach Schillers Einteilung zu den sentimentalischen, nicht zu den naiven Dichtern gezählt werden müssen. In Griechenland sehnt er sich nach Deutschland; in Deutschland schaut er mit dankbarer Liebe nach Griechenland hin. Er geht selten im Jetzt und im Hier auf: er braucht einen Klang aus der Ferne, einen Schimmer aus einer anderen Welt. Die Gegenwart und der Besitz machen ihn nicht so beredt, wie die Vergangenheit und der Verlust. Im Rückblick erst gewinnen die Gestalten ihr frischestes Leben: da geht ihm bezeichnende Situation und charakteristische Handlung auf. Vielleicht hat nie ein Dichter so stark in der Erinnerung gelebt. Wie tauchen die alten Bilder fort und fort wieder auf: der deutsche Rhein, die griechische Reise, die Tage, die er in Lindau mit seiner Frau verlebte, und vor allem Lübeck mit seinen Türmen, Toren und Giebeln, seinen blühenden Wällen, seinen Masten und Wimpeln – Lübeck, Travemünde, Eutin, Ostsee, die ganze heimische Landschaft, Stadt, Wälder und Meer!

Die landschaftlichen Motive bei Geibel stammen vielfach aus dem hergebrachten Material. Den Wechsel der Jahreszeiten konnte er nicht umgehen. Das gehört nun einmal zum echten Lyriker, daß ihm jeder neue Frühling so schön erscheint und seinen Sinn erregt, als ob er ihn zum erstenmal erlebte. Aber darüber hinaus hat Geibel viele ganz individuelle Landschaftsbilder gezeichnet. Mögen zwei statt vieler Beispiele dienen: die südliche Natur in der Elegie »Charmion«, die nördliche Heimat in der Epistel »Aus Travemünde«; beides Produkte des Alters und ausgestattet mit der vollen Reife der Kunst.

Die Landschaft kommt bei Geibel in der Regel charakteristischer heraus als die Menschen. Sein Liebeslied scheint großenteils dem Gesetz unterworfen, das er selbst einmal aufstellt:

Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist,
   Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf;
Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge
   Leihn, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.

Das Besondere ist in vielen Liedern völlig verwischt und nur das Allgemeine geblieben. Typische Verhältnisse werden geschildert, die tausendmal besungen wurden und tausendmal wiederkehren und tausendmal noch den Gesang herausfordern und nie erschöpft sein werden: wie sich zwei Herzen finden – wie sich zwei Herzen scheiden. Aber auch hier überwiegt der Sehnsuchtslaut, der schmerzliche Rückblick, Abschied und Trauer.

Doch nicht ganz ist das Persönliche verwischt. Mindestens zweimal blicken wir auf eigenartige Verhältnisse durch, auf besondere Erlebnisse von individueller Farbe; und beide – so stimmt Leben und Dichtung zusammen – beide konnten nur die Elemente der Sehnsucht in Geibel verstärken. Liest man das Gedicht »Wie es geht« in den Jugendpoesien, so kann man nicht zweifeln, daß die Herzen, die hier durch fremde Einflüsterung auseinandergerissen wurden, nicht erfunden sind, sondern daß ein selbsterlebter Schmerz in den bewegten Strophen nachzittert. Und den zweiten Fall – alle Freunde des Dichters kennen ihn: das kurze Glück von München und Lindau, das kurze Glück seiner Ehe.

Es gab auch für diesen Schmerz ein Verklingen – kein Vergessen. Auch er ward Erinnerung, treu gepflegt, wie jedes Erlebnis des treuen Mannes, und tiefer nachempfunden als irgendein andres. Doch eine holde Gegenwart konnte zu Zeiten die Vergangenheit auslöschen; das Leben konnte den Tod verdunkeln. Wir lesen in einem poetischen Briefe der späteren Jahre, der aus dem Krankenzimmer geschrieben sich des Abends in Erinnerung verliert und bei dem See von Lindau stillesteht:

        Wo sind sie hin,
Die goldnen Tage? Wo die Treuen, die mit mir
Den Segen ihres Strahls geteilt? Ach, fröstelnd rinnt
Durch meine Brust der Schauer der Vergänglichkeit,
Und tiefe Wehmut füllt mich an –

        Doch plötzlich rauscht
Der Pforte Vorhang; leise mit der Kerze tritt
Mein Kind herein, ein lieblich Bild der Gegenwart,
Und wie es sorgsam mit beschwingter Hand mir nun
Die Kissen ordnet und sich zärtlich an mich schmiegt:
Da weicht der Schatten, der mein bangend Herz beschlich,
Und dankbar fühl' ich, ausgesöhnt mit meinem Los,
Wie reich ich noch gesegnet bin, und lebe gern.

Wie hier die Dissonanz sich löst, das ist des Dichters Wesen ganz. Die Harmonie ward ihm nie dauernd getrübt. Harmonisch schlossen sich Anfang und Ende zusammen. Wo seine Wiege stand, da liegt sein Grab. In sein Leben und Sterben klangen die Glocken von Lübeck bedeutend herein.

Als ich ihn dort zum letzten Male sah – es war an einem Herbstabend vor drei Jahren, er hatte seine engste Familie um sich versammelt, nur wenige Fremde waren hinzugetreten – da belebte Musik den kleinen Kreis, und viele Lieder wurden gesungen. Eins, von Franz Schubert, rührte ihn zu Tränen. Es war der kurze Text von Claudius, in welchem ein Mädchen angstvoll den Tod abwehrt: »Ich bin noch jung, geh, Lieber, und rühre mich nicht an!« Der Tod aber erwidert: »Bin Freund und komme nicht zu strafen. Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, sollst sanft in meinen Armen schlafen.«

Auch ihm, den wir feiern, ist der Tod als ein sanfter Freund erschienen. Und er hat ihn nicht im Jugendglanz dahingerafft: sein Tagewerk war vollbracht. Die verehrende Liebe seines Volkes umgab ihn; sie schmückt nun sein Grab; und er wird nicht aufhören, unter uns zu wirken. Wir rufen ihm nach, was er von Uhland sang:

Segnend walte sein Gedächtnis,
Unsterblich fruchtend um uns her;
Das ist an uns sein groß Vermächtnis,
So treu und deutsch zu sein wie er.


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