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Wolfram von Eschenbach

Aus der »Geschichte der deutschen Literatur«.

Wolfram war unbedingt der größte Dichter des deutschen Mittelalters und galt auch dafür. »Laienmund nie besser sprach«, sagte ein Poet, der Wolframs Gestirn bewundernd aufgehen sah, und die folgenden Jahrhunderte sagten es nach. Wolfram mußte nach der Ansicht seiner Landsleute nur hinter der Heiligen Schrift und den großen geistlichen Lehrern zurückstehen: alle weltlichen Schriftsteller übertraf er. Er scheint sich auch von allen zu unterscheiden. Jedes Wort, das aus seinem Munde kommt, hat einen persönlichen Stempel. Und doch lassen sich für die einzelnen Züge dieser Eigenart ältere verwandte sehr wohl aufzeigen.

Wolfram stammte aus Bayern, und getreu der literarischen Tradition dieses Landes vereinigte er ritterliche und volkstümliche, weltliche und geistliche Elemente. Während Hartmann sich von dem Tone des Nationalepos soviel als möglich zu entfernen suchte, immer vorsichtiger in der Wahl der Worte, immer gelassener in seiner Rede wurde, blieb Wolfram der älteren und populären Manier näher. Er mag ungefähr so alt wie Hartmann gewesen ein, wenn er auch etwa zehn Jahre später als Hartmann sich im Epos versuchte. Er mochte seinen Geschmack schon an Eilhard, Veldeke und ausgezeichneten Franzosen, wie Chrestien von Troyes, gebildet haben, als er Hartmanns »Ereck« kennenlernte. Er ist humoristisch, spielt auf Tatsachen der Heldensage an, setzt sich mit seinem Publikum in lebhaften Kontakt und verschmäht nicht die pathetische Weise der alten Lieder, welche die Herrlichkeit der Heroen unermüdlich hervorheben. Er ist seiner Sprache in einem Grade mächtig, den keiner seiner Zeitgenossen auch nur entfernt erreicht hat. Aber er macht davon auch rücksichtslos Gebrauch. Der Sprachgewaltige mag sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Er ist ein wildes Wasser, das sich nicht ein enges Bett anweisen und sanftes Strömen vorschreiben läßt. Er verleugnet jede Schulbildung. Er gibt an, weder lesen noch schreiben zu können, und will nicht zu den zünftigen Poeten gerechnet werden. »Zum Schildesamt bin ich geboren«, sagt er stolz. So spottet er der Schranken. Seine Reime sind zuweilen unrein. Sein Stil verrät keine kunstmäßige Rhetorik. Seine Syntax ist die natürliche der freien Rede. Sein Vers wird ihm zu kurz, die Überfülle der Gedanken drängt ihn; er hat nicht gelernt, sie auseinander zu nehmen und glatt vor den Leser hinzulegen. Was ist das Streben nach Bildung und Feinheit oft für ein Popanz! Wie unterdrückt es warm ursprüngliche Natur! Wolfram hat den Mut, überall seinem eigenen Gefühle zu folgen. Er ist nicht schüchtern, bezeichnende Worte geradeheraus zu sagen, wo es nötig. Er ist nicht ängstlich besorgt, alles zu vermeiden, was ein zartes Ohr beleidigen könnte. Wie er die Damen auch mit ihren Schwächen neckt, wo andere nur verehren, so mutet er ihnen die Wahrheit des Lebens zu, wo andere zart verhüllen. Die Bayern waren nach dem Urteile der Alemannen im Ritterwesen zurück; das hatte für sie den Vorteil, daß sie die Allmacht der Etikette noch weniger empfanden. Bei den Alemannen Hartmann und Gottfried sehen wir die Welt nur aus den Fenstern eines eleganten Salons; bei dem Bayer Wolfram sind wir in der frischen Luft, im Wald und auf den Bergen. Dort dürfen wir nur aus der Ferne bewundern; hier können wir herantreten und den Marmor befühlen.

Während Hartmann dem Chrestien von Troyes gegenüber alle humoristischen Wendungen und Vergleiche, welche zuweilen aus dem Tone fallen, aber stets anregend wirken, ängstlich wegließ, scheint Wolfram gerade von Dichtern wie Chrestien die humoristische Kühnheit gelernt und, einem tiefgewurzelten Bedürfnisse seiner eigenen Natur gemäß, voll ausgenutzt zu haben. Gutmütiger Scherz steht ihm überall zur Seite und gestattet seinem Triebe, die Dinge anschaulich zu machen, oft die seltsamsten Sprünge. Er kennt, wie Chrestien, keine Würde des Gegenstandes. Er ist imstande, den schlanken Wuchs einer schönen Dame mit einem ausgestreckten Hasen am Bratspieß und mit einer Ameise zu vergleichen oder zu anderem Zwecke gar ein junges Gänselein herbeizuziehen. Den Zopf einer häßlichen, übrigens gelehrten Frau nennt er weich wie eines Schweines Rückenhaar. Von einem Ritter, der vor Freude weint, sagt er: seine Augen taugten nicht zu einer Zisterne, denn sie hielten das Wasser nicht. Die Grenze der Geschmacklosigkeit, die er hier streift, hat er zuweilen auch wirklich überschritten. Er will, wie Chrestien, um jeden Preis darstellen. Und er tut es mit einer unvergleichlichen Frische. Wolfram scheut sich nicht, gleich Gottfried, mit seinen Vorgängern zu wetteifern in der Beschreibung von Turnieren, Kämpfen und Festen. Besitzt er doch die dichterische Kraft, dem hundertmal Gehörten einen neuen Reiz zu geben. Er ist leidenschaftlich, lebt in den Ereignissen, die er schildert, und möchte sie uns immer gewaltig unter die Augen rücken. Alles bei ihm atmet, handelt, bewegt sich; und zwar wörtlich: denn die Kräfte des Gemütes und die Erde, das Unsichtbare und das Leblose wird bei ihm Person, steigt zu Pferde, ergreift die Lanze, siegt und unterliegt. Aus dem Ritterleben nimmt er mit Vorliebe Vergleich und bildlichen Ausdruck. Aber er nimmt ihn nicht bloß daher: ihm steht alles zu Gebote, was je in seinen Gesichtskreis trat. Sein Reichtum ist unübersehbar, und er kommt dem Bilde wie der Sache zugute. Wolfram gibt mehr Detail als Hartmann und Gottfried, und auch insofern mehr Wahrheit, mehr das greifbare Leben. Wieder steht er hierin zu Chrestien und unterscheidet sich von dessen Übersetzer. Chrestien hatte z. B. Erecks Heilung mit medizinischen Einzelheiten beschrieben. Hartmann ließ diese Einzelheiten weg. Wolfram aber schildert ganz ausführlich die vergeblichen Versuche, um die Wunde des Königs Amfortas zu heilen; und er muß dafür einen mißbilligenden Seitenblick von Gottfried hinnehmen, der, wie er sagt, um Tristans Heilung zu schildern, seine Worte nicht aus der Apothekerbüchse langen mag.

Wolfram ist kein objektiver Epiker; wir sehen in seinen Werken nicht bloß die Puppen, sondern auch den, der sie lenkt und ihnen Sprache leiht, um uns zu rühren oder zu erheitern; aber er tritt doch nur selten vor, um uns die Dekoration und die Kostüme zu erläutern. Wir schauen, was seine Helden schauen; wir beobachten, wir staunen, wir verwundern uns mit ihnen; wir erraten die Beschaffenheit der Orte aus ihren Reden und Handlungen; und aus Reden und Handlungen zumeist wird uns ihr inneres Wesen bekannt. Indessen merkt man bald, daß der Dichter sich an keine Regel der Darstellung unbedingt bindet, daß er aber mit natürlichem Takte seinen Zweck überall erreicht, daß er – wenigstens in den Jahren seiner vollen Kraft – nie breit und langweilig wird, unsere Aufmerksamkeit immer wach hält und uns alles deutlich macht, was er deutlich machen will.

Wolfram von Eschenbach ist der letzte große Dichter der Weltliteratur, der nicht die Anfangsgründe der literarischen Bildung besaß. Und er ist wohl der einzige, bei welchem dieser Mangel nicht auf dem allgemeinen Bildungsstande seiner Nation beruhte. Aber wie in schriftlosen Zeiten die Volkssänger ihr Gedächtnis auf eine hohe Stufe bringen, so daß sie viele Tausende von Versen mühelos behalten, so nahm Wolfram die vielverzweigten Stoffe, die er behandeln wollte, und alles, was einem Laien, der nur Deutsch und etwas Französisch konnte, aus dem Wissensschatze jener Zeit, aus Poesie, Theologie, Astronomie, Geographie, Naturkunde zugänglich war, – er nahm alles, was ihm liebevolle Beobachtung aus der Breite des Lebens zuführte, was der Ritter in Schlacht und Turnier, der Jäger in Wald und Feld, der Mensch in Haus und Gesellschaft ersah und erlebte, – er nahm alles dies in treuem Gedächtnis auf und bot es seiner regen Phantasie und seinem raschen Witz als reiches, stets bereites und zu überraschenden Kombinationen williges Material des Erfindens und Gestaltens. Anstatt zu lesen und zu schreiben, mußte sich Wolfram vorlesen lassen und diktieren. Daß er keinen Buchstaben kannte, gab ihm eine Kraft, Freiheit, Unabhängigkeit ohnegleichen. Im Lesenlernen liegt stets eine zähmende Gewalt, und der mittelalterliche Mensch pflegte diese Kunst überdies nur aus geistlicher Hand zu empfangen. Wolfram ist nicht dadurch geknickt worden; er hat seine natürliche Wildheit, wenn man es so nennen darf, ungeschmälert behalten; nirgends hängt ihm die Klosterschule an, und seine Seele ward nie durch eine Schnürbrust beengt.

Da Wolfram nach allem greift, was ihm naheliegt, und auf alles anspielt, was ihm gerade bezeichnend vorkommt, so erfahren wir aus seinen Epen mehr von seinen Lebensverhältnissen als etwa von Hartmanns Leben aus dessen Liedern. Seine spezielle Heimat war der bayerische Nordgau. Eschenbach liegt südöstlich von Ansbach. Abenberg, Wassertrüdingen, Nördlingen, Dollnstein, lauter noch heute wohlbekannte Orte, die Wolfram kennt und nennt, liegen in der näheren oder ferneren Umgebung. Auf der Burg Heilstein im Bayerischen Walde hat er Gastfreundschaft genossen und verkündet den Preis der Markgräfin von Vohburg, der Schwester des Herzogs Ludwig von Bayern, welche bis 1204 dort residierte. Wiederholt und lang verweilte er beim Landgrafen Hermann von Thüringen, dessen er in seinen Werken mehrfach gedenkt. Ein Wildenberg aber erwähnt er in einer Weise, daß man dort sein Haus suchen möchte. Da lebte er mit Frau und Kind, nicht in glänzenden Verhältnissen; aber er scherzt ohne Bitterkeit über seine Armut.

In seinen Liedern, deren wir nicht viele besitzen, drückt er einmal Hoffnung, einmal Ungeduld aus. In anderen, verlorenen, hatte er gescholten und seinem Zorn gegen eine Ungetreue Luft gemacht; er bekennt später, daß er zu weit gegangen, obgleich er seine Erbitterung nicht fahren lassen will. Viermal schildert er balladenartig in sogenannten Tageliedern oder Tageweisen den Abschied zweier Liebenden: warnende Treue, auflodernde Leidenschaft in drohender Gefahr, Tränen und Klagen, ergreifende Bilder selbstvergessener Zärtlichkeit, welche durch die Situation zu stärkster Wirkung gebracht wird. Solche Tagelieder waren mit Anlehnung an den Morgengesang des Turmwächters in der Provence erfunden und in Deutschland schon früher nachgeahmt, aber in die etwas konventionelle Form von Scheideduetten gebracht worden. Wolfram schloß sich näher an die provenzalische Form an, behielt die Gestalt des Wächters bei und stattete die Lieder mit einer Glut und Wahrhaftigkeit aus und brachte einen künstlerischen Ernst und Geradsinn hinzu, der ihn als den größten Meister dieser Dichtungsgattung erscheinen läßt. Doch nahm er in einem besonderen Liede Abschied von der Tageweise. Er nahm Abschied von dem Liebesabenteuer, um das Glück der Ehe zu preisen. Leicht vermutet man, daß diese Wendung seines Dichtens mit einer Wendung seines Lebens zusammenhing. Damals mag er sich sein Haus gegründet haben.

Wolfram hat das Weltleben gekannt und geliebt wie Gottfried von Straßburg, aber er ging nicht darin auf, das Weltleben erschien ihm nicht wie der Gipfel aller Seligkeit. Er hatte auch nicht, gleich Hartmann von Aue, eine weltliche und eine geistliche Provinz in seiner Seele, welche miteinander in selten getrübtem Frieden lebten. Er war von der Unzulänglichkeit der weltlichen Bildung überzeugt. Er suchte über dem Irdischen das Ewige. Er war dabei kein Aszet nach dem Herzen der Kirche. Er war ein selbständiger Mensch mit eigenen Überzeugungen, aber eine religiöse Natur. Seine großen Epopöen »Parzival« und »Willehalm« haben beide einen religiösen Hintergrund. Der »Parzival« schöpft aus französischen Gedichten keltischen Ursprunges; der »Willehalm« beruht auf französischer Nationalpoesie. Der »Parzival« bietet märchenhafte Züge, wie sie uns im Artusroman und im »Tristan« begegnet sind; der »Willehalm« trägt den historischen Charakter an der Stirn. Aber beide Gedichte beschäftigen sich mit dem Verhältnisse der Christen zu den Heiden, und der »Parzival« enthält außerdem noch tiefere religiöse Motive von einer ganz eigenen Art.

Der »Parzival« zeigt uns einen Christen und einen Heiden als Brüder. Die Lebensgeschichte von Parzivals Vater führt uns in Zustände ein, wo, wie in Spanien, die Christen und Heiden sich gegenseitig hatten ertragen, ja schätzen und achten gelernt: hervorragende Heiden sprechen Französisch; Rittertum und Frauendienst herrschen im Orient wie im Okzident, und der ritterliche Herrendienst verbindet die Religionen. Gahmuret, ein christlicher Prinz von Anjou, dient dem Kalifen von Bagdad, dem Papste der Heiden, wie Wolfram erläutert. Er wird unter den Sarazenen berühmt. Er verschmäht es nicht, sich mit einer Mohrin namens Belakane zu vermählen, deren edler, reiner Sinn ihm das Christentum zu ersetzen scheint. Doch nimmt er, sehnsüchtig nach Ritterwerk, bald den Unterschied der Religion zum Vorwande der Untreue. Er verläßt sie, erstreitet sich auf einem Turnier in dem Lande Valois die Königin Herzeloide und wird, nicht ohne ein Gefühl des Unrechtes gegen die Heidin, ihr Mann. Aber der Dienst des Kalifen ruft ihn in den Orient, und er fällt im Kampfe. Der Kalif läßt ihm ein prächtiges Grabmal errichten, wobei das Kreuz nicht fehlt. Herzeloidens Sohn ist Parzival; Belakane aber hat einen Sohn von weiß und schwarzer Farbe geboren, der Feirefiß heißt und von welchem Parzival später in einem sehr verhängnisvollen Augenblicke seines Lebens zum ersten Male hört. Mit diesem Bruder trifft er gegen Ende des Gedichts unerkannt in dem schwersten Kampf zusammen, den er je gekämpft. Sein Schwert, das er einst in jugendlicher Unerfahrenheit durch Leichenraub gewonnen, zerspringt wie durch Gottes strafende Fügung gerade jetzt, bei einem Hiebe, den er gegen seinen Bruder führt; und ohne die edelmütige Schonung des Heiden wäre er verloren. Aber da tritt die Erkennung ein, und Feirefiß bewährt eine Treue wie irgendein Christ, obgleich durch Christus die Treue in die Welt gekommen, wie der Dichter sagt. Bloß aus Liebe zu einer Christin läßt Feirefiß sich schließlich taufen und trägt das Christentum nach Indien, das er jedoch nur durch friedliche Mittel verbreitet. Von den Berührungen mit dem Heidentume wird die Geschichte Parzivals gleichsam umrahmt. In ihrem Mittelpunkte aber steht der Gral, um den sich das ganze Schicksal des Helden dreht. Der Gral! Es klingt geheimnisvoll und ist es auch. Ein altes Märchending hat sich in ein geistliches Symbol verwandelt und bleibt doch abseits von allem offiziellen Christentum. »Gral« an sich bedeutet eine weite, sich stufenweise vertiefende Schüssel, in welcher verschiedene Speisen zugleich vorgesetzt werden. Der Gral der Sage ist ursprünglich ein Gefäß, das jederzeit eine volle Mahlzeit spendet, eine Art Tischleindeckdich. Nach einer geistlichen Auffassung soll der Gral beim Abendmahl Christi als Gefäß gedient und dann in ihm Joseph von Arimathäa das Blut des Heilandes aufgefangen haben. Bei Wolfram besteht der Gral aus einem kostbaren Edelstein, der, wie es scheint, gleich dem schwarzen Stein in der Kaaba zu Mekka, vom Himmel gefallen ist. Ihn haben zuerst die Engel bewacht und behütet; dann ward er geistlichen Rittern, den Templeisen, übergeben. Er ist ein Symbol der Erlösung und des ewigen Lebens. In ihm verjüngt sich der Phönix. Wer ihn sieht, kann nicht sterben und bleibt jung. Der Ort, an dem er aufbewahrt wird, heißt der wilde Berg «Munsalväsche« bei Wolfram, ursprünglich vielleicht Mons Salvationis »Berg der Erlösung«. In das Gebiet, das ihn umgibt, kann niemand aus eigener Macht eindringen. Niemand kann den Gral suchen und finden. Eine Schrift, die an ihm selbst erscheint, beruft die Menschen, die ihm dienen dürfen. Die Erwählten müssen der weltlichen Minne entsagen, und nur der König darf vermählt sein. Dessen Reich erstreckt sich über die ganze Erde. Die Brüderschaft, der Orden der Erwählten, besteht aus Männern und Frauen, Rittern und Knappen, Priestern und Laien. Sie brauchen nicht für ihren Unterhalt zu sorgen, der Gral spendet Speise und Trank.

So versammelt der Gral eine Gemeinde, unbeschadet der Kirche, aber auch unabhängig von der Kirche. Offenbar schwebt ein Ritterorden vor, und mit dem Namen der Templeisen sind geradezu die Tempelherren bezeichnet. Aber diese waren nicht von solchem Geheimnis umgeben, und ihr Oberhaupt war kein König der Welt. Der Orden des Grales, in die wirkliche Welt hineingedacht, könnte nur als ein Geheimbund existieren, dessen Einfluß die ganze Erde umfaßt und der durch ein wundertätiges Symbol unmittelbare Gesetze vom Himmel selbst empfängt. In diesen Bund der Auserwählten und Begnadigten aufgenommen zu werden, wäre dann freilich das Höchste, was einem Menschen auf Erden zuteil werden könnte; und das Königtum des Grales wäre die Spitze des Höchsten, eine überirdische, paradiesische Seligkeit auf Erden; eine Macht und eine Würde neben dem Papsttum und höher als das Papsttum, zugleich um das Papsttum unbekümmert.

Parzival ist zu dieser Würde bestimmt. Und Parzival wird der Gnade teilhaftig, obgleich er schwere Sündenschuld auf sich geladen hat. Das ist unwissentlich wie beim heiligen Gregorius geschehen. Aber während Gregorius seine Schuld durch ein hartes Büßerleben sühnt und geistliche Mittel dafür in Bewegung gesetzt werden, vollzieht sich die Reinigung Parzivals bloß durch einen Wechsel seiner Gesinnung, ganz innerhalb der weltlichen Sphäre. Ja noch mehr: Hartmann von Aue sagt in der Vorrede seines »Gregorius«, es gebe keine Sünde, deren man nicht durch Reue ledig werden könnte; nur der Unglaube, der »Zweifel« sei mit nichts gutzumachen, der führe unbedingt zur Verdammnis. Wolframs Epos dagegen beginnt mit der Behauptung, daß Zweifel allerdings der Seele schade, daß jedoch, wo er einem unverzagten Manne nahe trete, dieser dennoch selig werden könne; Himmel und Hölle hätten an ihm teil, und es liege nur an ihm, den Himmel zu ergreifen. Bloß die Unbeständigkeit, die Charakterlosigkeit führe notwendig zur Verdammnis, wie die Stetigkeit zum Heil. Und Wolfram spricht damit den Grundgedanken seines Gedichtes aus. Er gibt wie Goethe im »Faust« eine weltliche Antwort auf die Frage: wer kann Erlösung finden? Goethe sagt: wer immer strebend sich bemüht. Wolfram sagt: der Stete und der Treue. Es klingt anders und ist doch verwandt: der stete Gedanke an seine Frau und an den Gral, das ausschließliche Streben nach den Idealen des Hauses und der Welt, verbunden mit dem wiedergewonnenen Vertrauen auf Gott, das ist Parzivals »Treue«, die ihn zum Heile führt. Parzivals Geschichte erzählt uns die Schuld und Läuterung des Helden. Wir sehen ihn aus Dunkel und Verworrenheit zur höchsten Vollendung vordringen. Seine Mutter will ihn seinem natürlichen Beruf entziehen. Sie läßt ihn im Wald, in der Einsamkeit ohne Kenntnis von ritterlichem Wesen aufwachsen. Aber eine zufällige Begegnung mit Rittern und deren Hinweis auf Artus genügt, um die adelige Natur zum Durchbruch zu bringen. Indem er fortstürmt, bricht er seiner Mutter das Herz, die ihm nachblickend stirbt, sowie er ihren Augen entschwindet. Mit dieser Schuld beladen, aber keck und selbstgewiß, mit Narrenkleidern angetan, die Lehren seiner Mutter allzu wörtlich befolgend, der Welt ein Spott, aber schon gefährlich, so kommt er an König Artus' Hof. Unbekannt mit seiner Familie, unbekannt mit den Gesetzen der ritterlichen Ehre, erschlägt er einen Verwandten und begeht an ihm Leichenraub. Ritter Gurnemanz lehrt ihn erst, was für einen höfischen Mann sich schickt im Frieden und im Streit, und warnt ihn unter anderem vor unnützen Fragen. Er leiht der bedrängten Königin Condwiramurs zu Pelrapeire seinen Schutz und wird ihr Mann. Er zieht von ihr auf Abenteuer fort und will nach seiner Mutter sehen. Da gelangt er zum Gral und wird kostbar bewirtet: er sieht den König Amfortas trank; er sieht eine blutende Lanze hereintragen, bei deren Anblick alles jammert; er sieht viel Wunderbares und Herrliches; er empfängt von Amfortas ein Schwert zum Geschenke mit einem Hinweis auf das Unglück des Königs: aber er fragt nicht, was das alles bedeute; er hat keine Frage des Mitgefühls für seinen gütigen Wirt. Sein natürlich-gutes Herz, das einst um die Vögel trauerte, die er im Walde schoß, das auf dem Wege von der Mutter weg eine jammernde Frau, die arme Sigune, mit Fragen bestürmt und ihr Hilfe, Rache angeboten hatte, ist jetzt unterdrückt durch die konventionellen Schicklichkeitslehren des Ritters Gurnemanz, die er in seiner Unschuld ebenso wörtlich befolgt wie einst die Vorschriften seiner Mutter. Wie die mütterliche Weisheit sich als Hindernis im Verkehre mit der Welt erwies, so steht jetzt die Etikette im Wege, wo es auf einfache Menschlichkeit ankommt. Parzivals Benehmen ist eine Kritik der höfischen Zucht und Sitte überhaupt. Die Erziehung des Ritters reicht so wenig aus wie die Erziehung der Mutter. Parzival hat eine Sünde auf sich geladen und sich selbst gestraft. Die einfache Frage menschlichen Mitgefühls, die von ihm erwartet wird, hätte nach der Bestimmung des Grales den Amfortas geheilt und dem Fragenden das Gralkönigtum verschafft. Nun scheidet er mit Schande von der Burg. Und eben da ihn Artus in seine Tafelrunde aufgenommen hat und seine weltliche Ritterschaft die oberste Stufe erklimmt, da erscheint die Gralsbotin und hält ihm sein Unrecht vor. Aber er beharrt auf seiner Schuldlosigkeit; er sagt sich los von Gott: gäb' es eine göttliche Macht, so hätte sie solche Schande nicht über ihn kommen lassen; mag Gott ihn strafen: immerhin! Er will mit Treue an seine Gattin denken; die soll ihn im Kampfe stärken; von Gott erwartet er keine Hilfe mehr. Er sucht den Gral, er will ihn wiedersehen, erringen. Fünf Jahre irrt er so umher. Da, an einem Karfreitag, führt ihn ein pilgernder Ritter zur Einkehr in sich selbst und verweist ihn an einen frommen Laien, den Einsiedler Trevrizent. Der klärt ihn erst über das Wesen Gottes und über das Wesen des Grales auf. Der Held lernt von ihm Demut und Unterwerfung unter Gottes Fügung. Er wird seiner Sünden ledig und verläßt den Einsiedler als ein verwandelter Mensch. Gottvertrauen leitet jetzt alle seine Taten. Indem er seinen Freund Gawan besiegt, mit dem er unwissentlich kämpft, siegt symbolisch das höhere, durchgeistigte Rittertum über das weltliche. In dem schwereren Kampfe mit seinem Bruder zeigt er die neugewonnene Tugend. Er wird jetzt zum Gral berufen, tut die einst versäumte Frage, tritt das Königtum an und vereinigt sich mit Condwiramurs und seinen beiden Söhnen.

Im Zustande der Verzweiflung ist Parzival unseren Blicken entzogen. Aber auch nach dem Aufenthalte bei Trevrizent taucht er für einige Zeit ins Dunkel zurück, und auf der Bühne steht ein anderer. Der Roman hat zwei Helden, ohne uns je vergessen zu lassen, daß Parzival der Hauptheld ist. Wiederholt werden wir an ihn erinnert und bekommen Andeutungen seiner Taten; und gleich, nachdem er wieder eingetreten ist und sich mit dem Freund im Zweikampfe gemessen hat, gelangen Gawans Abenteuer, und was damit zusammenhängt, durch vier Vermählungen zum Abschluß.

Nur durch Gawans Einführung und breite Behandlung wird der »Parzival« ein Totalgemälde des ritterlichen Lebens. Der Gegensatz zwischen Kindern Gottes und Kindern der Welt lebt in Parzival und Gawan fort. Parzival ist tief, Gawan oberflächlich. Parzival ist seiner Gattin treu, Gawan eilt von einer Liebschaft zur anderen. Parzival wird des Grales gewürdigt, Gawan sucht ihn vergeblich. Um Parzival gruppieren sich ernste Männer, wie Gurnemanz, der pilgernde Ritter und Trevrizent; um Parzival gruppieren sich die treuen keuschen Frauen: seine Mutter Herzeloide, die freiwillig arme, den Gatten betrauernde, den Sohn behütende; seine Cousine Sigune, die mit ihrem unsinnigen, aber gut höfischen Verlangen nach einem Nichts, nach der Aufschrift einer Hundeleine, ihren geliebten Schionatulander in den Tod getrieben hat und sich ihm nun ins Grab nachweint; seine Frau Condwiramurs, die unschuldige Bedrängte, die in rührendem Vertrauen den Unbekannten um Hilfe anfleht, ihn mit naiver Entschiedenheit wählt, in der schweren Trennung geduldig wartet und den Wiederkehrenden gar lieblich empfängt. Es ist Morgen, sie schläft noch mit ihren beiden Söhnen an der Seite; ihr alter Oheim tritt mit Parzival herein und klopft auf ihre Decke. Sie schlägt die Augen auf und erblickt ihren Mann; sie hatte nur das Hemde an, rasch schwingt sie die Decke um, springt auf den Teppich vor dem Bett herunter und umarmt ihren Parzival: »man sagte mir, sie küßten sich«, bemerkt der Dichter ... Gawan dagegen ist nicht bloß von den Märchenwundern des Artusromanes, sondern auch von lauter weltlicher und zum Teil etwas zweifelhafter Gesellschaft umgeben, die aber doch wie er selbst zu einer Art von Läuterung geführt wird. Die Frauen, mit denen er in Berührung kommt, der entzückende Backfisch Obilot, die spröde, zuletzt von Gefühl überwältigte Obie, das sichere Wesen Antikoniens, die herausfordernde Koketterie der dämonischen Orgeluse, die schwärmerische Verliebtheit seiner Schwester Itonie – alles dies hält sich in den Grenzen der Liebenswürdigkeit, wie es die schickliche Ehrfurcht vor den Damen verlangte, aber auch in den Grenzen dessen, was die Welt anerkennt und was in der Gesellschaft gefällt. Man sieht, Parzival und seine Gruppe, Gawan und seine Gruppe repräsentieren zwei Hemisphären der ritterlichen Welt, wovon uns der Artusroman und Tristan nur die eine zeigte, während Wolfram sie beide vorführt und mit einer Reihe charakteristischer Gestalten erfüllt, die uns wahre Lebenstypen überliefern und sich weit entfernen von den vagen Idealen eines Hartmann von Aue. Aber Parzival und Gawan sind Freunds, und wenn der Dichter jenem den Preis erteilt, so fällt es ihm doch nicht ein, diesen zu verdammen. Er mag den Stoff für beide in der eigenen Brust gefunden haben. Ein höheres und ein niederes Rittertum unterscheidet er; aber Rittertum überhaupt ist doch für ihn die einzig lebenswerte Lebensform.

Wolframs »Parzival« ist, wie Gottfrieds »Tristan«, die klassische Gestaltung des Stoffes innerhalb der mittelalterlichen Literatur. Ein schriftunkundiger Deutscher hat den tiefsten Gehalt des europäischen Rittertums künstlerisch verewigt. Und er hatte nicht mit namenlosen Erzählern zu wetteifern, deren Erfindungen erst die Seele einzuhauchen war. Kein Geringerer als Chrestien von Troyes hatte den Stoff zu bearbeiten angefangen und Parzivals Geschichte bis zu dem Aufenthalte bei Trevrizent, Gawans Abenteuer bis kurz vor dem Kampfe mit Parzival in derselben Folge und im ganzen so übereinstimmend erzählt, daß Wolfram unmittelbar oder mittelbar (etwa in der Form einer ergänzenden Überarbeitung, worin die Vorgeschichte und der Schluß hinzugefügt war) den Roman gekannt haben muß. Aber Chrestiens Perceval ist wohl sein schwächstes Werk; und vielleicht hätte seine beste Kraft für diesen Stoff nicht ausgereicht. Durchweg übertrifft Wolfram den Franzosen. Er übertrifft ihn in der Gesinnung, und er übertrifft ihn in der Kunst. Wie hoch steht Wolfram über einem Manne, der auf die »tollen Juden« schimpft, die man »wie Hunde erschlagen sollte«! Welche Fülle des poetischen Details und seiner Züge hat er vor Chrestien voraus! Um wieviel besser hat er alles verbunden und motiviert! Wie sorgt er dafür, daß Personen und Motive nicht zu lange verschwinden, daß sie nicht bloß an einer Stelle oder an weit getrennten Orten auftreten, daß sie gleichsam nicht wie Flecke wirken, sondern sich wie Fäden durch das Gewebe schlingen! Mit welcher Liebe umfaßt er alle seine Gestalten, und wie weiß er uns für sie zu gewinnen, indem er uns ihre Schicksale mitteilt und uns einen Blick in ihre Seele tun läßt! Um wieviel bedeutsamer tritt bei ihm der Gral hervor! Nur bei Wolfram ist offenbar, daß Parzival eine Frage des Mitleides unterlassen hat, daß sein menschliches Gefühl vergebens angerufen ward. Mit welcher Gewalt hat Wolfram das Unheil hereinbrechen lassen über den glänzenden Kreis der Tafelrunde! Wie macht er uns den Gemütszustand Parzivals nach allen Seiten klar, der nun in Trotz gegen Gott versinkt! Bei Chrestien gibt der Held nur die Absicht kund, das zu erfahren, was er über den Gral zu fragen versäumt. Erst hinterher bei dem Einsiedler erzählt er, daß er fünf Jahre lang Gott nicht geliebt und an Gott nicht geglaubt; und der Einsiedler gibt ihm zur Besserung äußerliche Vorschriften über Gebet und Kirchenbesuch. Welche ernsten, tiefen Gespräche hat Wolfram statt dessen eingelegt, und wie weiß er über die arme, nackte Hütte in der Wildnis einen Hauch von gemütlicher Häuslichkeit zu breiten! Wolfram hat den Stoff mit freier, kühner Künstlerhand ergriffen und ihn reich und schön, voll Farbe, Glanz und Leben gemacht. Ihm gelingt alles, das Naive wie das Bewußte, die Idylle wie das Hoffest, das Melancholische wie das Heitere. Er ist ein sicherer Menschendarsteller wie Shakespeare und ein Dichter der Duldung und Versöhnung wie Goethe.

Die Gestalten des »Parzival« waren ihm so lieb geworden, daß er noch nicht von ihnen lassen konnte. Insbesondere Sigune zog ihn an, die jungfräuliche Witwe, die Parzival auf seiner ersten Fahrt ins Leben und dann wiederholt in großen Augenblicken belehrend, strafend, tröstend und zuletzt tot auf dem Sarge des Geliebten findet. Wolfram hatte ihr Leid geschildert, er wollte auch ihre Liebe schildern. Er hatte den toten Schionatulander dargestellt, er wollte auch den lebenden vorführen. Er wählte dazu eine Form, die sich an das Volkslied anschloß: Strophen und abgeschlossene Episoden mit dem Ausblick auf die ganze Sage. Er suchte seinen Stil der Weise des Nationalepos noch mehr zu nähern, entlehnte Wendungen daraus und ließ seinen Scherz beiseite. Man pflegt diese Lieder Wolframs »Titurel« zu nennen; denn das erste beginnt mit Titurel, dem Gralkönig, dem Urgroßvater Sigunens und Parzivals. Der eigentliche Gegenstand aber sind Liebesbekenntnisse Schionatulanders und Sigunens, Gespräche unter sich, womit sie den Erwachsenen nachreden, Geständnisse an ihre vertrauten Erzieher, Schionatulanders an Gahmuret, Sigunens an Herzeloide; alles voll zarter Poesie. Gahmuret und Herzeloide billigen ihre Gefühle; nur wird es als selbstverständlich angesehen, daß der junge Held Sigunens Liebe erst durch tapfere Taten verdienen müsse. Da zeigt wieder die höfisch konventionelle Lebensansicht ihr verhängnisvolles Gesicht; und im zweiten Lied erfahren wir, wie Sigunens törichtes Gelüst entsteht, womit sie den Geliebten ins Verderben jagt: wie Schionatulander im Wald einen Jagdhund fängt und Sigune auf dessen prächtigem Leitband eine Inschrift zu lesen beginnt und sie nicht zu Ende lesen kann, weil das Tier entspringt, und wie Schionatulander durch Gestrüpp und Dornen vergeblich nachlaufen muß und dann noch einmal ausgeschickt und der Preis der Liebe darauf gesetzt wird und so, wie der Dichter sagt, die Zeit seines Unglücks anbricht. Auch an Sigune rächt sich die despotische Etikette jener Zeit wie an Parzival. Wenn die kleine Dame glaubt, von ihrem dienenden Ritter alles verlangen zu dürfen, so ist das ebenso toll, wie wenn Parzival glaubt, nach nichts fragen zu dürfen. Wir haben gesehen, wie ängstlich Hartmann von Aue bemüht ist, sich vor dem höfischen Schicklichkeitsideale jederzeit zu verbeugen. Wolfram von Eschenbach protestiert dagegen hier wie im »Parzival« im Namen der Menschlichkeit. Auch dabei kam ihm wohl zugute, daß Bayern in der höfischen Bildung zurück war.

Denselben menschlichen Zug offenbart Wolframs zweites Hauptwerk, der »Willehalm«, wieder nach der Seite der religiösen Toleranz.

Willehalm ist der heilige Wilhelm, Graf Wilhelm von Aquitanien, der im Jahre 793 zwischen Carcassonne und Narbonne gegen die Sarazenen focht und in einer blutigen Schlacht zwar besiegt wurde, aber gleichwohl das Vordringen der Feinde hemmte. Französische Lieder besangen diese Schlacht und das Leben ihres Helden in sagenhafter Ausschmückung. Er hat eine Heidin entführt, welche in der Taufe den Namen Giburg erhielt. Er kämpft bei Aliscans gegen ihren Vater und ihren früheren Mann. Er sucht nach der Schlacht Hilfe bei König Ludwig und ist in einer neuen Schlacht siegreich, in der sich hauptsächlich Renouart (Rennewart bei Wolfram) auszeichnet, ein heidnischer Prinz, Willehalms Schwager, der unerkannt am königlichen Hof als Küchenjunge lebte, jetzt mit einer ungeheuren Stange tapfere Taten verrichtet und sich schließlich taufen läßt.

Wir besitzen Wolframs Quelle oder doch ein sehr nahe verwandtes Gedicht. Er hat es nicht mit der Freiheit und dem Glücke bearbeitet wie den Stoff des »Parzival«. Er hat die langen Kampfschilderungen noch länger, die breiten Reden noch breiter gemacht, aber rohe Gewalttat gemildert, das allzu Martialische gemäßigt und in eine Sage, welche dem religiösen Fanatismus ihren Ruhm verdankte, in ein Gedicht, welches ein Seitenstück zum Rolandslied bildete, seine duldsame Ansicht des Heidentums hineingetragen.

Auch hier sind Heiden und Christen durch ein Familienband umschlungen. Um Giburg ist der Kampf entbrannt wie um die griechische Helena. Ihr heidnischer Vater, ihr heidnischer erster Mann, ihr heidnischer Sohn aus erster Ehe stehen gegen ihren christlichen Entführer im Felde. Und Giburg, die heilige Frau, wie sie der Dichter nennt, verleugnet ihre Vergangenheit keinen Augenblick. Sie bekennt, daß Tybald, ihr erster Mann, von jedem Makel frei war. Sie ermahnt die Christen, Gottes Kreatur zu schonen: Adam, Enoch, Noe, die heiligen drei Könige seien auch Heiden gewesen; nicht alle Heiden seien verdammt. Mit den Augen seiner Giburg, die er so herrlich schildert und so hoch verehrt, sieht Wolfram selbst die Heiden an. Er hält es für große Sünde, die Heiden wie das Vieh zu schlachten, die doch nie vom Christentum gehört. Er sucht sie im Gegensatze zu seinem Original überall zu heben. Er setzt zu, ändert ab, erfindet. Er mildert die Furchtbarkeit, indem er edle und feine Züge anbringt. Einen hochmütigen, frechen Perser macht er aufopferungsvoll für die Damen und für seine Freunde. Eine Nebenperson, die in seiner Vorlage nur genannt war, charakterisiert er mit Behagen als einen eleganten Frauendiener, als eine Blüte der Ritterschaft, und kommt wiederholt auf ihn zurück. Erwidert Willehalm in der Quelle eine Schmährede seines heidnischen Stiefsohnes mit der Behauptung, die Heiden seien Hunde, und wer einen von ihnen töte, vernichte einen Teufel, so schweigt er bei Wolfram und vermeidet den Kampf mit dem Sohne seiner Gemahlin. Giburgs Vater bekriegt bei Wolfram seine Tochter nur, weil der Kalif und die heidnischen Priester es so verlangen; er möchte, wenn es nur auf ihn ankäme, lieber für sie in den Tod gehen.

Der Heide Rennewart ist bei dem Franzosen ein gefräßiger, trunksüchtiger, plumper Riesenflegel, der seinen Gesellen zur Zielscheibe ihres rohen Spottes dient und ihnen dafür tüchtig Schläge versetzt. Aber Wolfram nimmt ihn von vornherein als einen Edelstein, der in den Schmutz gefallen ist. Und das muß er sein, wenn man ihm die liebliche Königstochter gönnen soll, die ihm in der Sage als Braut zufällt. Wenn Wolfram die rohen Ausbrüche Willehalms gegen seine Schwester, die Königin, nicht wörtlich anführen will, so hat er vielleicht charakteristische Naturwahrheit gedämpft, indessen nur billige Rücksicht auf ein gebildetes Publikum walten lassen. Die Liebe hat in dem ernsten Gedichte nur wenig Raum. Aber wie zwei Gatten treu zusammenhalten, hat Wolfram an Willehalm und Giburg schön gezeigt. Und wundervoll strahlt das Glück der Ehe in mildem, erwärmendem Licht, wenn der unglückliche, schlachtmüde Mann, verzweifelt, zum Tode erschöpft nach Hause kommt und Giburg ihm die Waffen abnimmt und seine Wunden verbindet und ihm einen Augenblick der Ruhe in ihren Armen schenkt, wenn er sein Haupt auf ihre Brust legt und entschläft und sie in Gebet und Klagen sich versenkt und ihre Tränen herabfließen auf den schlafenden Mann, der ihr dann, erwachend, Mut einspricht.

Wolfram hat, indem er den »Willehalm« bearbeitete, dem Rittertum gerade wie im »Parzival« eine religiöse Färbung gegeben. Ja, er meldet, wovon die Quelle nichts weiß, daß die Christen sich vor der Schlacht mit dem Kreuze bezeichneten. Er stellt dadurch die Verbindung, die sein Gegenstand schon innerlich mit den Kreuzzugsgedichten des 12. Jahrhunderts hatte, auch äußerlich her. Kein Wunder, daß die Ritter vom Deutschen Orden dieses Gedicht wie kein anderes außer dem Rolandslied verehrten.

Das letzte, was Wolfram an seinem »Willehalm« dichtete, ist ein Akt der Versöhnlichkeit und Großmut des Helden, der für ein würdiges Begräbnis der gefallenen Heiden nach ihrem eigenen Ritus Sorge trägt. Bald nachdem der Poet Willehalms edle Worte diktiert, ist er wohl selbst ins Grab gesunken; denn der Schluß fehlt.

Man setzt seinen Tod gegen 1220 an. Er dürfte immerhin ein hoher Fünfziger geworden sein. Im »Willehalm« scheint gesunkene Kraft zu spüren. Er hat ihn vor 1217 begonnen und am »Parzival« hauptsächlich während des ersten Dezenniums des 13. Jahrhunderts gearbeitet. Als er aber dieses tiefsinnige Werk unternahm, war er gewiß schon ein reifer Mann.

Wolfram ward in der Frauenkirche zu Eschenbach begraben. Der Ort ging im Laufe des 13. Jahrhunderts an den Deutschen Orden über, und sorgfältig wurde das Grab des Dichters gepflegt. Im 15. Jahrhundert konnte der oberbayerische Ritter Jakob Püterich von Reicherzhausen, ein glühender Verehrer Wolframs und der mittelhochdeutschen Gedichte, deren er eine große Bibliothek gesammelt hatte, eine Wallfahrt dahin unternehmen. Und noch im Jahre 1608 am 5. August las der Nürnberger Patrizier Hans Wilhelm Kreß auf dem Grabsteine die freilich jüngere Inschrift: Hie ligt der streng Ritter herr Wolffram von Eschenbach ein Meister Singer.


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