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Sie alle kennen jenes tiefe Mysterium, das am Anfang der alttestamentlichen Offenbarung steht: die wunderbare Geschichte von der Versuchung und vom Falle des paradiesischen Menschen, von dem Erzengel und dem Schwerte, mit dem er die von der Last der Sünde gebeugten ersten Eltern des Menschengeschlechtes aus dem Gottesgarten hinausweist – hinaus zur Arbeit im Schweiße ihres Angesichtes –, hinaus zur Weltgeschichte. Nun – meine verehrten Anwesenden –, es gab schon lange vor dem Kriege für die Gesamtheit unserer Feinde so etwas wie ein Paradies, aus dem sie die neue Entwicklung Deutschlands, aus dem sie an erster Stelle die Maße und die Normen, welche der moderne deutsche führende Menschentypus, wie er sich insbesondere seit 1870 entwickelte, wie er sie in seiner Arbeit und Tat aufstellte und in alle Fernen trug, zu vertreiben drohte. Dieses Paradies sah für die verschiedenen Völker freilich inhaltlich ganz verschieden aus. Es war für unsere östlichen Nachbarn mehr Träumen, Sinnen, Fühlen, Beten und stilles Sichbeugen unter das Joch des Schicksals, aber auch Schnapstrinken, durch das Leben romantisch schlendern, gesetz- und ordnungsloses derbes Genießen und dann wieder heftig bereuen und sich prostatisch zu Boden werfen. Es war für die Engländer nach alter sieggewohnter Art leicht und in der Art alter vornehmer Kaufherrn kaufen und verkaufen, stolz auf die alt bewährte Warenform, ohne Anpassung an den Kundenbedarf des Weltmarktes, ohne zu große Sorge nach Fortschritten in rationeller wissenschaftlich geleiteter Technik; ohne anderes »System« als das, das die empirische Bewährung der Geschichte langsam wie von selbst geschaffen; es war aber auch das Leben breit, hell und voll zu genießen in Sport, Wette, Spiel, Landleben, Reisen, Freitag abends schon die Wochenarbeit abzuschließen und auf den Sportplatz zu fahren, den Sonntag absolut streng zu halten – alles dies aber zu tun im selbstverständlichen Gefühle einer Art göttlichen in Lage und Geographie der Insel mitgegründeten Auserwähltheit zum Herrn der Meere, eines vorsehungsmäßigen Berufes, nicht als Glied Europas, sondern als eine ganz Europa, ja der ganzen übrigen Welt gleichwertige Macht, die außereuropäischen Völker zu lenken, zu leiten und ihr politischer Schiedsrichter zu sein. Und dasselbe Paradies hieß für Frankreich steigender Finanzreichtum bei wenig Kindern, Rentnerdasein nach 20-30jähriger Arbeit, großes Kolonialreich, Zeit und edle Muße zu Luxus, Geist, Form, empfindungsreichen Abenteuern mit den schönen Frauen, hieß alte Gloire des »Führers der Menschheit« ohne neues, der neuen industriellen Arbeitswelt entsprechendes Erarbeiten und Verdienen dieser Gloire (z. B. auch im Besitzgefühl von Soldatenkolonien ohne wirtschaftliche Ausbeutung und nur zum Dienst für den Armeebedarf.) Wie immer aber das Paradies hieß und aussah, welche besonderen Züge es gemäß dem verschiedenen Ethos und Geschmack der Nationen und dem altüberlieferten Lebensstil ihrer vorbildlichen Gruppen an sich trug: die Völker hingen an ihm in glutvoller altererbter Besitzesfreude und gleichzeitig mit steigender Angst es zu verlieren. Da – verehrte Anwesende – erschien an ihrer aller Horizont – wenn wir einen Augenblick uns in sie einzufühlen versuchen – im Laufe der Entfaltung des modernen Preußen-Deutschlands das Bild eines neuen sonderbaren Erzengels, das Gesicht – so schien es ihnen – so hart und ehern als der alte des Mythos, sonst aber ganz anders, Es fehlte ihm der englische Glanz, es fehlte ihm der göttliche Strahl und die stumme Majestät, es fehlte ihm die Würde des Boten eines göttlichen gerechten Strafrichters für die Sünde, es fehlte ihm das Lächeln, das die göttlichen Boten auch noch besitzen sollen, wenn sie Strafe bringen. Er trug das Gepräge eines schlichten Arbeitsmannes mit guten derben Fäusten; es war ein Mann, der nach dem inneren Zeugnis seiner eigenen Gesinnung nicht um zu übertreffen oder um irgend eines Ruhmes willen, nicht auch um neben oder nach der Arbeit zu genießen, nicht auch um in der, der Arbeit folgenden Muße die Schönheit der Welt zu verehren und zu kontemplieren, sondern ganz nur versunken in seine Sache still und langsam, aber mit einer von außen gesehen furcht-, ja schreckenerregenden Stetigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit in sich selbst und in seine Sache wie verloren arbeitete, arbeitete und nochmals arbeitete – und was die Welt am wenigsten begreifen konnte – aus purer Freude an grenzenloser Arbeit an sich – ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende. Was wird aus uns, was soll aus uns werden – empfanden die Völker, empfand jedes Individuum, nicht nur das patriotische, nicht nur das politisch und national reife, nicht nur das gebildete, auch der einfachste Kommis und Arbeiter –, wenn der geheimnisvolle und unfaßbare Menschentypus dieser Erscheinung allmählich seine Menschen- und Lebensmasse über uns und die Erde verbreiten und aufhängen sollte, wenn er durch die Konkurrenz, die dieser Mensch faktisch nicht beabsichtigt – denn er arbeitet ja wesentlich um der Arbeit willen –, aber zu der er uns schicksalsmäßig auf allen Gebieten, sei es Handel, Industrie, Wissenschaft, im Erfolge zwingt und in die sein rastloses Tun und Wirken uns gleich einem Strudel hineinreißt –, wenn er uns und der Welt, sage ich, durch diese umumgängliche Konkurrenz diese Lebensmasse unwillkürlich aufdrängt? Wie sollen wir bestehen vor diesen neuen Massen? Uns ändern, es ihm gleichzutun suchen? Dreimal nein! Wir können nicht diesem neuen Soll gehorchen! Aber wir wollen und sollen es auch nicht! Wir können nicht leben mit diesen Massen – und wir wollen und sollen leben! Wir wollen und sollen nicht nur arbeiten! –
Verlassen wir das Gleichnis. Als ein paar Jahre vor dem Kriege einer unserer römischen Botschafter einen klugen Franzosen frug, warum die Deutschen so allseitig in der Welt gehaßt würden, antwortete er, das könne man in drei Worten sagen. Diese Worte hießen: »Ils travaillent trop«. Das ist des Pudels Kern und nur das, sofern es sich um jene gemeinsame Ursache handelt, welche der einheitlichen Dynamik des Hasses entspricht. – Sie werden bemerkt haben, daß ich bisher sowohl ein Werturteil unterließ, als ein Wort darüber vermied, wie es historisch zu diesem universellen Gefühl einer neuen Vertreibung der Welt aus dem Paradiese durch die Deutschen kam. Nun, wir sind an einem Punkte, wo es unmöglich geworden, an dieser grundsätzlichen Wertfrage vorbeizugehen. Heben wir darum die Schranke des Spinozasatzes auf, den ich vorhin aussprach.
Verehrte Anwesende: Zu leicht dürfen wir uns diesen sittlichen Konflikt fast mit einer ganzen Welt nicht vorstellen, in unserem Werturteil auf zu billige Weise ihn nicht, auch in Gedanken nicht, lösen wollen. Für die Tatsache, die ich anführte, gibt es ja nicht zwei, sondern hundert ganz verschiedene mögliche Werturteile – aber es gibt auch ein richtiges. Und auf das kommt es an.
Ein wenig zu billig und zu primitiv ist z. B. das vielgehörte deutsche Urteil: »Die Welt haßt uns wegen unserer Tüchtigkeit« oder »die Welt beneidet uns um diese Tüchtigkeit«. Der erste Satz ist nicht falsch, er ist vollständig wahr. Aber er bleibt tief unter der Größe der Frage, da ja eben der Wert rang in Frage steht, der dem zweifellos positiven Werte zukommt, der »Tüchtigkeit« heißt; da weiter die Ausdehnung, die im vielseitigen Ganzen des Menschenlebens der Tüchtigkeit zukommen soll und darf, gerade in Frage steht. Es gibt auch das Problem von Maria und Martha, der Liebreichen und der Tüchtigen, es gibt auch das Problem vom rechten Maße in Arbeit, Freude und Genuß, Arbeit und Anschauung, Arbeit und Gebet. Der zweite Satz dagegen ist nur halb wahr, wenn nicht geradezu falsch. Wahr ist an ihm: Die Welt beneidet uns um manche äußeren Erfolge unserer Tüchtigkeit, um die dinglichen Gütermengen, die ihr im Frieden entsprossen, um die rationelle Organisation und Einordnung, die sie möglich machte in Krieg und Frieden. Aber gerade um die menschlichen Eigenschaften, die nach der festen (gleichgültig ob falschen oder wahren) Überzeugung der Welt diese Sachen und Einrichtungen möglich machten, also auch um das, was wir »Tüchtigkeit« nennen, »beneidet« die Welt uns gar nicht. Zum Tatbestände des Neides gehört die positive Schätzung dessen, worum beneidet wird und der Wunsch, es selbst zu besitzen. Diese Schätzung und dieser Wunsch aber eben fehlen der Welt radikal. Die Welt erlaubt sich den sonderbaren Widerspruch, Produkte, Ergebnisse, Folgen uns zu neiden, deren menschliche Wurzeln und Ursachen sie gleichzeitig nicht nur zu verachten vorgibt, sondern wirklich verachtet. Z. B. sagte ich schon: gerade das steigerte den englischen Haß aufs äußerste, daß sich der englische Kaufmann nicht nur vielfach verdrängt fand auf dem Weltmarkt – das gebar puren Konkurrenzärger –, sondern daß nach englischer Meinung diese Verdrängung eintrat durch die innere Formlosigkeit unserer Waren, durch unsere im Verhältnis zu den Inlandspreisen viel zu billigen Auslandspreise gleicher Waren, und durch die allgeschmeidige Anpassung an den Bedarf der Käufer, die der englische Kaufmann nach seinem uralten Herrengefühl uns menschlich als »Servilität«, als »emporkömmlingshafte« Selbstpreisgabe anrechnet. Ist freilich diese zu einfache deutsche Deutung halbwahr, so ist die üblichste Auslandsdeutung und -bewertung derselben Tatsache geradezu unsinnig: das Urteil, wir seien so und lebten so, um die Welt wirtschaftlich zu erobern und alle anderen Völker auszustechen. Aber so unsinnig dieses Urteil ist: wie sehr ist diese Anschauung psychologisch doch begreiflich! Denn eben da alle anderen Völker vorwiegend Zweckarbeiter sind, nicht Liebesarbeiter – wenn Sie mir diese Worte erlauben –, so müssen sie notwendig, gemäß ihrer Denk- und Wertkategorien, unserer rastlosen Arbeit auch einen ganz bestimmten Zweck und Plan vorspannen. Die Form entnehmen sie wieder ihrem eigenen Bewußtsein: »Wenn wir so arbeiteten, so müßten wir einen ganz bestimmten Plan dabei verfolgen« ... Und da sagen sie nun »Welteroberung«! Daß es mit dem »Militarismus« ganz analog steht, sehen wir noch.
Also die Frage liegt weit hinaus über diese oberflächlichen beiderseitigen Urteile. Lassen Sie mich hier nur ein paar Gedanken zu ihr äußern, die die Sache nicht erschöpfen, aber vielleicht zum Nachdenken anregen: Einige zu unserer Rechtfertigung, einige zu unserer Selbstkritik.
Es ist wahr, daß wir die Welt aus ihren Paradiesen vertrieben haben. Es ist wahr, daß wir nicht an erster Stelle Enkel sind, sondern Ahnen eines noch nicht umgrenzbaren Geschlechtes – Ahnen einer Welt der Zukunft und eines neuen Morgenrotes. Welthistorische Emporkömmlinge, wenn Sie wollen. Emporkömmlinge freilich wie alle Menschen, mit denen neue Adelsgeschlechter beginnen.
Vor allem ist es nötig, daß man angesichts unserer Art zu arbeiten verschiedene Dinge unterscheide: 1. die besondere Art, wie Arbeit und Freude bei uns verknüpft sind, 2. die rationale Systematik, Ordnung und Organisation unserer Arbeit, 3. das Tempo unserer Arbeit, 4. ihren seelischen Motor, 5. ihr Verhältnis zur Form der Arbeitsprodukte und schließlich – das Wichtigste – Ort und Ausdehnung, welche die Arbeit und speziell die Fach- und Berufsarbeit im Ganzen des Lebens und innerhalb dieses Ganzen zu denjenigen menschlichen Betätigungsformen einnimmt, die man der Arbeit entgegenzusetzen pflegt: als da sind Kontemplation, Gebet und Frömmigkeit, geistiges Schaffen, Lebensgenuß, Pflege liebevoller Beziehungen aller Art (Familie, Freundschaft usw.), Geselligkeit, politisch-staatsbürgerliche Betätigung jenseits der eigentlichen Berufsarbeit.
Was die zwei ersten der genannten Punkte betrifft, Arbeitsfreude und Systematik und Ordnung der Arbeit, so verdienen wir hier so wenig den Haß unserer Feinde, daß da, wo er uns gleichwohl ob dieser Eigenschaften unserer Arbeit trifft, in der Tat nur von niedrigem, verächtlichem Neide, Ressentiment und Haß auf unsere Tüchtigkeit gesprochen werden kann. Dagegen steht es ganz wesentlich anders in bezug auf die anderen gesamten Merkmale, die unsere Arbeit charakterisieren. Hier haben wir – Selbsteinkehr zu halten.
Sind wir als Wirtschaftsvolk und Staat und selbst in Lebensformen auch welthistorische Emporkömmlinge und gleichsam die Jugend im europäischen Staatensystem – als geistige Menschen sind wir wenigstens in einer Richtung die Reifen, die Alten, und die, die uns hassen, sind trotz ihrer älteren Kultur Kinder gegen uns, die noch teilen müssen zwischen Schule und Vergnügen –, Kinder, die noch nicht reif genug sind, um im Akte des Sichfreuens zu arbeiten und im Akte der Arbeit sich zu freuen. Es gibt nicht nur für jedes Individuum die Stunde, in der es – wie Goethe einmal sagt – vertrieben wird aus dem Paradiese der warmen Gefühle, vertrieben wird, um ein Mann zu sein und im Werke ein neues, ein geistiges Paradies einst zu finden. Es gibt diese Stunde auch für Völker, ja es gibt sie für die Welt. Noch mehr: es gibt diese Stunde rhythmisch immer wiederkehrend im Laufe der Weltgeschichte, immer wiederkehrend, wenn sie ein Stück weiterschreitet. Die Ethnologie der primitiven Völker zeigt uns, wie schwer sich der Mensch an die regelmäßige Arbeit überhaupt gewöhnt, wie arbeitsscheu alle Naturvölker sind, und wie viel schwerer noch der Mensch in der regelmäßigen Arbeit eine gewisse dauernde Befriedigung fand. Lernt er dann arbeiten, so doch erst unter überaus strengen, autoritären Zwangsformen und fast überall unter dem Peitschenhieb äußerster Not. Und dieser harte Lernzwang zur Arbeit wiederholt sich –, wenn auch im allgemeinen in abnehmendem Maße, – historisch immer wieder und zehnfach da, wo die geschichtliche Entwicklung der Technik, der Betriebsformen und der sozialen Umlagerungen neue Formen und Weisen der Arbeit schaffen und an sie eine neue seelische Anpassung eintreten muß. Schon das stete, wenn auch im Maße und für die verschiedenartigen Gruppen verschieden große Wachstum der Erdbevölkerung, und voran ihrer Unterschichten (samt ihrem Lebensbedarfe) bringt das eigenartige gesellschaftspsychologische Gesetz mit sich, daß ein gewisses Quantum von Glücksgefühl innerhalb der Menschheit ceteris paribus nur erhalten werden kann, wenn die Freuden- und Glücksquellen in immer höherem Maße von ihrer anfänglichen Lage außer und neben der Arbeit in den Arbeitsakt und Arbeitsprozeß selbst hineinrücken.
Lesen Sie jetzt in W. Sombarts W. Sombart: »Die Entstehung des Kapitalismus«, I. Band, 2. Auflage, 1916. neuer Auflage seines »Kapitalismus« das Kapitel über die Beschaffung der Arbeitskräfte im Kapitalismus des 16. und 17. Jahrhunderts, in dem dieser Forscher zeigt, wie schwer der Bedarf des jungen aufstrebenden Kapitalismus an Arbeitskräften auch für höchste Löhnungen zu decken war, wie Vagabondage, Bettlertum usw., aber auch die gesamte ältere religiöse Weltanschauung auch noch im Zustande größten Elendes der Unterschichten seiner Entfaltung widerstanden. In allen Ländern, nicht nur bei uns, fand diese schmerzvolle Anpassung statt. Wir Deutsche, reif geworden durch die Askesis unerhörter Leiden, wie kein europäisches Volk sie erduldet, wir wurden auch reif zu einer neuen Stufe der emotionalen Auffassung der Arbeit, zu einem neuen Geiste in ihr, einer neuen Freude in ihr – nicht nur neben oder außer ihr.
Diese historischen Leiden, vereint mit der harte und stetige Arbeit fordernden Naturbeschaffenheit, besonders des nördlichen Deutschlands, und vereint mit der Herrschaft von Regierungsformen, die die weitaus überwiegende Mehrzahl der Menschen von lenkender, politischer, staatsleitender Betätigung ausschloß, haben uns durch eine Art fortgesetzter Askesis des arbeitenden Willens in einem Maße dazu disponiert, in der Arbeitsbetätigung selbst unsere wesentlichsten Freudequellen zu suchen, wie wir dies bei keinem anderen Volke der Welt finden. Und diese besondere durch die Jahrhunderte angesammelte seelische Disposition mußte in die überströmendste Fruchtbarkeit ausbrechen in dem Augenblick, da mit einer, sonst in der gesamten Geschichte der menschlichen Arbeit nie wieder gesehenen Schnelligkeit die technischen Arbeits- und Betriebsformen sich umstürzend veränderten. Wenn es der eigentliche konstante, sozusagen letzte und philosophische Sinn aller werkzeuglichen technischen Fortschritte und aller Fortschritte der Betriebsformen ist, Menschenarbeit zu sparen, oder frühere Ergebnisse von Menschenarbeit auf die Mechanismen der Natur abzuwälzen und eben hierdurch die Vernunft, den Geist, die Liebe, die Person im Menschen immer freier und freier zu machen, sich nach eigenen Gesetzen unter steigender Erhebung der Person über die Arbeitssphäre auszuschwingen und zu betätigen, so hat sich im Übergang Europas in das Maschinenzeitalter des Hochkapitalismus dieser Sinn in unserem Lande ohne Zweifel am allerwenigsten verwirklicht. Ja, der technische Umschwung, der vermöge der Rapidität seines Eintritts überall den Arbeitsbedarf und zwar vor allem den Arbeitsbedarf qualifizierter Arbeitskräfte erheblich vermehrte – hat bei uns zunächst das gerade Gegenteil dieses Sinnes erwirkt. Er hat die Menschenarbeit aufs äußerste gesteigert. Und er vermochte dies eben dadurch, daß er mit dem durch die neue politische Reichsform ermöglichten Tätigwerden dieser lange angesammelten, seelisch-moralischen Arbeitsdisposition zusammentraf. Jener dispositionell längst erregte Arbeitswille des deutschen Volkes stürzte sich mit einer Kraft, mit einer Vehemenz auf das Gefüge der neuen technischen Errungenschaften, dazu auf all jene neuen offenen Stellen, die durch die modernen technischen Arbeitsmethoden und Betriebsformen entstanden, daß diese Neuerungen nicht gemäß jenem ihrem konstanten Sinne auf Ersparung von Menschenarbeit hinwirkten, sondern – ceteris paribus – wie eine freudig ergriffene neue Gelegenheit wirkten, ein äußerstes Höchstmaß von Arbeitskraft zu betätigen. Nur so sind psychologisch insbesondere zwei Erscheinungen begreiflich: Die unerhörten Maße und die Schnelligkeit der Industrialisierung Deutschlands und die Tatsache, daß diese Industrialisierung, insbesondere die Tendenz zur Erweiterung der Betriebe und die mit der Spezifizierung der Industrialisierung verbundene Erweckung neuer Bedürfnisse weit hinausschritt über den nationalen Lebensbedarf und über die Grenze, welche das Prinzip der Bedürfniserweckung (im Unterschiede von dem Prinzip der bloßen Bedürfnisdeckung) an dem inneren Vernunftunterschied sinnvoller und berechtigter und sinnloser, unberechtigter, nur künstlich hervorgebrachter, den Konsumenten durch die Produktion erst aufgezwungener Bedürfnisse zu finden hat. Ein Führer unserer Großindustrie schrieb zwei Jahre vor dem Kriege: »Da, wo ein kühnes und gesundes Unternehmertum die Führung übernahm, sind aus den Elementen Technik und Organisation Erwerbskomplexe erwachsen, die fast über das Maß unserer wirtschaftlichen Berechtigung hinausragen. Denn unser Wohlstand, obgleich er sich in zwei Jahrzehnten verdoppelt haben mag, ist jung und nicht also gefestigt, daß wir, wie England zuvor, als Unternehmer für die Welt uns auftun dürfen. So ist denn Deutschland im Aufschwung seiner Kohlen- und Eisenindustrie, seines Maschinenbaues, seiner Schiffahrt, Chemie und Elektrizität bis an die Grenzen seiner Mittel vorgedrungen und befindet sich heute in der etwas unbequemen Lage eines Landwirtes, der in sein prosperierendes Gut für Meliorationen mehr als den Ertrag seines Jahres hineingesteckt hat«. (Walther Rathenau, Reflexionen, Leipzig 1912.)
Wenn ich sage, daß die deutsche Industrialisierung über den »nationalen Lebensbedarf«, ja über allen sinnvollen »Zweck« überhaupt weit hinausschritt, so beziehe ich selbstverständlich die Deckung eines Teiles dieses Lebensbedarfes durch den Erlös unserer Warenausfuhr mit in die Rechnung ein. Denn die allzu stereotyp gewordene Wendung vieler Nationalökonomen, Volksaufklärer und eines großen Teiles unserer Presse, daß Maß und Schnelligkeit dieser Industrialisierung und der ihr folgende Außenhandel eine notwendige und gleichsam schicksalsmäßige Folge unseres Bevölkerungswachstums bei gleichzeitigem Ziel, ein Maximum von Deutschen im Lande wohnhaft zu erhalten, gewesen sei, bedarf erstens schärfster, hier nicht zu gebender Kritik und berührt zweitens unsere psychologische Frage nur wenig. Hier sage ich über diese Erklärung nur soviel, daß sie als Erklärung schon formell vermöge ihres teleologischen Charakters völlig unzureichend ist. Warum mußten denn die Auswanderungsziffern in dem Maße zurückgehen als sie zurückgegangen sind? Das Ziel, möglichst viele Deutsche im Lande zu erhalten, mag gut und löblich sein; eine Ursache ist es nicht. Daß die Erreichung dieses Zieles möglich war, setzt zum mindesten die psychologischen und sonstigen Kräfte für dieses Maß der Industrialisierung voraus. Auch darf man eine so allgemeine, allüberall konstant wirkende Regel für die Erklärung fortschreitender Industrialisierung nicht zur Erklärung einer konkreten historischen Erscheinung, wie unserer deutschen Industrialisierung, verwenden wollen. Ausdrücklich sagte ich daher, daß auch ceteris paribus d. h. unter Voraussetzung der Anwendung aller solchen allgemeinen Gesetze, nach denen sich Industrialisierung zu beschleunigen pflegt, auf unsere deutschen Zustände, bei uns vermöge einer besonderen seelisch-moralischen Disposition der technische Fortschritt nicht arbeitssparend, sondern arbeitssteigernd und dies in einem sonst ganz unvergleichlichen Maße wirksam war.
Gleichwohl, ja eben darum dürfen wir sagen: Soweit diese innere seelische Neu-Verknüpfung von Arbeit und Freudenquellen, und soweit unsere besonders hervorragende, unter steter Mitleitung der Wissenschaft geordnete rationell technische Systematik und Ausgestaltung der Arbeit allein in Frage kommen, waren wir den allgemeinen Fortschrittstendenzen, welche in der Richtung der europäischen Entwicklung überhaupt, ja der ganzen Welt im vergangenen und neuen gegenwärtigen Jahrhundert ohne Zweifel liegen und weiter liegen werden, nicht nur in höherem Maße angepaßt wie die übrigen Völker; wir waren sogar schon vorangepaßt einem allgemeinen Zustande der Dinge, der in etwa einem halben Jahrhundert das gern oder ungern ertragene Schicksal ganz Europas sein wird.
Wir Deutsche und unser Verhalten entsprachen damit nur in besonderem Maße einer Lage der Menschheit, die in stetem Wachstum begriffen zu einem immer größeren Teile satt sein will, und die auch um der Verwirklichung aller höheren überökonomischen Lebensziele und der Gewinnung und Auswahl der je Besten für diese Ziele aus den Massen, zu immer größerem Teile auch satt sein muß; die daher – wenn dies möglich sein soll – ihre Freudenquellen in immer gesteigertem Maße in ihre Arbeit verlegen muß, soll sie nicht ganz elend und unglücklich werden. Auch die rationelle »wissenschaftlich« geleitete Organisation unserer Arbeit (chemische Industrie, Elektrizitätsindustrie usw.), die uns das uns jetzt hassende Ausland als eine öde Utilisierung der Wissenschaft – hier darf man sagen aus purem Neide – auslegt, entsprach nur einem höheren Gesamtzustande des ökonomischen Daseins und einem höherem Stande des Ineinandergreifend geistiger und materieller Kräfte, einem Zustande, dem Europa und die Welt irgendwie einmal folgen muß, ob sie es »will« oder nicht. Die Ausfallserscheinungen in der Stillung des Bedarfs an chemischen Industrieprodukten, welche z. B. die Engländer trotz der Besitzergreifung unserer Patente jetzt darum nicht herzustellen vermögen, da sie die Patente nicht zu lesen verstehen, sind dafür ein klares Zeugnis. Verdienten wir Tadel, so könnte es nur der relative Mangel gleichbedeutsamer Leistungen auf rein wissenschaftlichem Gebiete sein – eine Frage die hier zurückgestellt sei – oder auch der im Verhältnis zu jenem Ineinandergehen von Wissenschaft und Praxis auf naturwissenschaftlich-industriellem Gebiete mehr als auffällige Dualismus, der bei uns zwischen geisteswissenschaftlicher, theologischer und philosophischer Betätigung und den ihnen entsprechenden Praktiken und Berufen besteht. Über diesen Dualismus von Geisteswissenschaften und politischer Praxis vergleiche auch Meineckes Urteil in dem Buche: »Vom inneren Frieden des deutschen Volkes«, herausgegeben von Thimme.
Gerade da wir so spät und plötzlich erst in die Phase des Hochkapitalismus, in Weltverkehr, in die Maschinentechnik usw. eintraten – waren wir hiebei ohne die nachschleppenden Paradiesestraditionen unserer Feinde, und konnten uns in allen Dingen darum auch eher und rascher einem Weltzustand seelisch anpassen, der diese Anpassung später und allmählich von der ganzen Welt fordern, ja erzwingen muss – auch von denen, die un hassen, weil wir den Weg zuerst beschritten. Auch sie müssen uns nachfolgen, hätten es auch müssen ohne diesen Krieg, zu dem das Anhangen an ihren Paradiesen sie greifen hieß.
Angesichts dieser zwei Punkte im Wesen unserer Arbeit können wir also nur sagen: Ja wir wissen es! Es ist etwas Tragisches darin, eine ganze Welt fast aus ihren Paradiesen vertreiben zu müssen; dazu noch ungewollt, nur folgend dem Gesetze und Schicksal eigenen Wesens. Und vielleicht hat das Herz auch jenes Engels des Mythos hinter seinem ehernen Gesicht geweint, als er Adam mit dem Schwerte den neuen Weg der Weltgeschichte wies. Aber er gehorchte seinem Herrn und Gott, so wie wir gehorchen der Idee und dem Stande der gegenwärtigen Welt, dem Gebote ihrer Stunde und der Notwendigkeit in unserem Busen. –
Aber nun das Wort zur Selbstkritik.
1. Schon das Tempo unserer Arbeit ist ungesund. Es ist ungesund in gleichem Maße, ob wir es innerhalb des Zeitrahmens des Tages, der Woche, des Jahres oder des ganzen Lebens und bei welchen Ständen und Berufen auch immer betrachten. Innerhalb des Tages fehlt durchschnittlich fast überall die Aufrechthaltung einer Lebensordnung, die dem für alles höhere Leben so wichtigen inneren Akte der Sammlung, die weiter der Erhebung der Seele zu Gott in Anbetung, Gebet, Meditation, die der Erholung und dem höheren Lebensgenuß genügend Spielraum ließe. Nirgends versteckte man leichter und durch eine kräftigere Selbsttäuschung als im modernen Deutschland seine Unfähigkeit und Unwissenheit, die Leeren sinnvoll auszufüllen, welche der objektiv geforderte Arbeitsprozeß läßt, hinter einer vermeintlichen »Pflicht«, weiter zu arbeiten. Man wußte nicht, wie man sonst die Zeit erfüllen sollte; darum arbeitete man weiter – bis die durch diese sich kumulierenden Impulse bewirkte Ausdehnung der Betriebe oder bis die neuen Verpflichtungen, die man durch solche »Notarbeit« eingeht, die zuerst nur als Narkose dienende Mehrarbeit erzwingt und nun zur Regel macht. Man kann so oft nicht mehr beten, betrachten, genießen – darum will man arbeiten und rechnet sich einen traditionell gewordenen Mangel noch zur Tugend an. So arbeiteten wir durchschnittlich 2 Stunden am Tage länger als andere Völker. Im Rahmen der Woche hatte die Sonntagsheiligung mit immer stärkeren und stärkeren Widerständen zu kämpfen. – Im Rahmen des Jahres ist selbst bei solchen Gruppen, die genug Geld und Zeit für Reisen, Landaufenthalte haben, die Inanspruchnahme dieser Gunst oder doch die zeitliche Ausdehnung dieser Mußezeiten nicht konform gewesen mit dem raschen Reicherwerden der oberen Klassen und ist nicht mit der Erhöhung ihres Lebensstandes proportional gestiegen. Kein Wunder! der so maßlos ins Spiel gesetzte Arbeitsimpuls geht auch auf dem Lande und auf Reisen automatisch weiter und läßt es zu einem tieferen Naturgenuß und einer geistigen Erfrischung nicht kommen. Darum kürzt man auch die Zeit dafür nach Möglichkeit ab. Im Rahmen des ganzen Lebens zeigt für die vorwiegend materielle Arbeit eine bekannte Enquête des Vereins für Sozialpolitik, wie früh (meist schon mit Beginn der 40) bei uns die Träger je höher qualifizierter Arbeit in die Schichten weniger oder kaum mehr qualifizierter Arbeit abgeworfen werden. Und es ist noch nicht sehr kurze Zeit vergangen, daß man wenigstens wissenschaftlich zur Einsicht kam (Professor Abbé in Jena hat den Gedanken bei uns zuerst entwickelt), daß zur Begründung der Forderung des elfstündigen Arbeitstages ein Rekurs auf ethische und sozialpolitische Grundsätze gar nicht notwendig ist, sondern daß sich diese Forderung als strenge Folge schon aus dem Prinzip möglichst ökonomischer Verwendung der zur Arbeit nötigen physiologischen Energie (bei gleichem Ertrage der Arbeit) ergibt. Welch ein Zustand, in dem Technik und Natur selbst moralisch sinnvollere Gebote stellen als vorgegebene Vernunft und Ethik! Von einer strengeren praktischen Durchführung der aus diesem Prinzip allein schon fließenden Forderungen hinsichtlich des Arbeitstempos ist noch keine Rede. Was die reicheren Klassen betrifft, so ist bei uns das Rentnerdasein mit einem Odium belastet, wie in keinem anderen Lande – relativ berechtigt freilich dadurch, daß bei uns der Rentnertypus am wenigsten Sinnvolles mit seiner Zeit und seinem Geld anzufangen weiß, z. B. für höhere kulturelle Aufgaben ja schon feinere Genußformen weniger Sinn und Freigebigkeit verrät als irgendwo sonst. Dieses Odium und dieser Mangel des Typus selbst unterstützen sich gegenseitig – und zudem treibt ihn unsere Steuergesetzgebung, die ganz unverhältnismäßig das Einkommen anstatt Mehreinkommen und Vermögenszuwachs des überbetriebsamen Typus belastet, nach Möglichkeit aus dem Lande.
2. Noch weniger als bezüglich des Arbeitstempos – das nur in der nordamerikanischen Arbeitsweise, hier freilich nicht aus dem vorwiegenden Motor des Pflichtgedankens, sondern aus jenem des individuellen Emporstrebens heraus ein Gleichnis hat – entsprach unsere Arbeitsart einem angemessenen Verhältnis von Arbeit und Form des Arbeitsproduktes. Gehört dieser Punkt auch nicht unmittelbar zur Frage, warum wir Haß erweckten, so doch zu der anderen nicht minder berechtigten Frage, warum wir so wenig Liebe und Anhang in der Welt gefunden haben. Es ist ja auch schon lange vor dem Kriege das auch von unseren tieferblickenden Führern des Volkes am ehrlichsten zugestandene Übel unserer Arbeit und zwar unserer Arbeit aller Art gewesen, daß ihren Produkten eine plastische nationale Eigen- und Existenzform im Grunde genommen fehlte, daß sie darum weder das Gefühl und die Liebe des Auslandes und seine Phantasie für sich gewann, beschäftigte, noch durch einen faßbaren überall sichtbaren Stempel eines eigentümlichen nationalen Wesens der Welt durch noch andere Qualitäten als jene allgemeinen Eigenschaften der Tüchtigkeit und Solidität zu imponieren verstand. Der gegenwärtige Kanzler, Herr Bethmann-Hollweg hatte in seinem bekannten Briefe Brief von Bethmann Hollweg an Lamprecht, Vossische Zeitung 12. Dezember 1913. Vergleiche dazu Ruedorffer's »Grundzüge der Weltpolitik«. Stuttgart, 2. Aufl. an Karl Lamprecht diesen Grundmangel, dem er die relative Erfolglosigkeit der deutschen ausländischen Kulturpolitik zuschreibt, vielleicht am schärfsten hervorgehoben. Daß aber da, wo eine plastische Warenform nur wenig entwickelt ist, man umgekehrt auch besonders leicht geneigt sein muß, auch die etwa noch vorhandene nationale Form je nach dem wechselnden Marktbedarf zugunsten eines maximalen Umsatzes völlig oder fast völlig zu verleugnen, ja preiszugeben – symbolisch preiszugeben aber damit auch das Ganze der Nation, der man angehört – das ist leicht verständlich. Ja, es sollte das verständige Ausland es eben darum vermeiden, uns jene berühmte berüchtigte rastlose »Anpassung an den Kundenbedarf« als Zeichen »servilen« Charakters anzurechnen. Ein solches Zeichen wäre diese Anpassung nur, wenn wir eine fester geschlossene nationale Warenform schon besessen hätten und dann gleichwohl diese Form je nach Bedarf verleugnet hätten. Aber eben jene Voraussetzung, unter der man allein ein mehr ästhetisches Übel zu einem moralischen machen dürfte, fehlt ja eben in weitem Maße bei uns. Sie fehlt im weitgehendem Maße auch unserer wissenschaftlichen Arbeit, die in Deutschland vor dem Kriege mehr wie je in älteren Zeiten Geschlossenheit, Konzentration auf das punctum saliens und vor allem eine edlere Form der Darlegung in Stil und Ausdruck vermissen ließ. Und hier sind wir es selber, die nicht nur – was nur der deutschen Sachlichkeit und Nüchternheit entspricht – solche Qualitäten eines wissenschaftlichen Werkes oder einer Abhandlung für unnötig halten, sondern die sogar in der Mehrheit ihrer gelehrten Vertreter dazu hinneigen, den ästhetischen und stilistischen Vorzug der Schreibweise eines Forschers ihm als moralische oder wissenschaftliche Untugend anzurechnen.
Woher nun dieser sonderbare Mangel eines Volkes, das auf einer so hohen Geistesstufe wie das unsrige steht? Außer einem wahrscheinlich konstanten Mangel nationaler Veranlagung für die Erfindung wohlgefälliger und gewinnender Formen auf den Gebieten, wo sich Schönheit und Zweck berühren (Kant nannte sie die Gebiete der »anhängenden Schönheit«), liegt die Ursache zweifellos darin, daß bei uns der heimische Konsument (im Gegensatze zum Kunden des Auslandes) wie in keinem Lande der Erde immer mehr der Sklave des Produzenten geworden ist. Die Form der Ware bildet sich aber niemals einseitig vom Produzenten her und kann es auch gar nicht. Ihr Ursprung, ihre Geburt liegt im Akte der gegenseitigen Einigung zwischen Produzent und Konsument d. h. in einem Zustande, wo der Konsument unter Umständen geistige Selbständigkeit genug hat, um die Berücksichtigung seines Formgeschmacks vom Produzenten zu erzwingen. Es liegt nicht an erster Stelle in dem Fehlen eines nationalen Formgeschmackes überhaupt bei uns Deutschen – mag er auch weniger geschlossen und einheitlich sein – sondern am Fehlen eines so gearteten Zustandes, daß unsere Ware so formlos ist, wie sie ist. Werfen Sie in Berlin z. B. einen Blick selbst auf solche geschäftliche Unternehmungen, die dem unmittelbarem Verbrauche (z. B. Speisehäuser) oder Gebrauche (Warenhäuser und Geschäfte) oder geradezu dem Vergnügen, feineren oder gröberen Genüssen dienen sollen. Im letzteren Falle ist der Zustand doppelt paradox. Sie werden überall das Prinzip darin verwirklicht sehen, daß die Konsumenten, daß ihr Geschmack, ihre Bedürfnisrichtungen fast keinen Einfluß auf die innere Gestaltung dieser Unternehmungen besitzen. Ausschließlich das Prinzip des Höchstverdienstes und des größten Umsatzes des Geschäftsinhabers und das Prinzip der durch Reklame unterstützten Bedürfnisweckung, (nicht der Bedürfnisdeckung) regiert bei der Wahl der Riesenräume und der Plazierung (z. B. der bekannten Berliner Speisegroßhäuser), des Dargebotenen nach Form und Inhalt, der Vorschriften, in welcher Form man etwas zu nehmen berechtigt sei. Ein Grund für diese nicht auf Berlin beschränkte Erscheinung ist ohne Zweifel die Tatsache, daß die Entfaltung der modernen europäischen Stadt, die nach W. Sombart überall die Richtung von der vorwiegenden Konsumtionsstadt zur vorwiegenden Produktionsstadt nahm, in keinem Lande so sprunghaft plötzlich und einseitig geschah wie bei uns – wo nicht gar die Städte oder doch ganze Teile ihrer schon als Produktionsstätten entstanden. Auch die Verbreitung eines ungeheuren Tandes und Flitters geschmacklosester Art, zu dem »Bedürfnisse« ausschließlich, um gewisse Industriezweige florieren zu machen, durch maßlose Suggestivreklame hervorgerufen werden, ist ausschließlich aus dieser seelischen Versklavung des Konsumenten durch den Unternehmer zu begreifen.
Es mag sein, daß das auf den zweckmäßigsten Mechanismus der Hervorbringung einseitig eingestellte 19. Jahrhundert überhaupt und in ganz Europa nicht sehr erfinderisch in der Herstellung neuer Formen der Waren gewesen ist und daß auch der Form-Vorzug der außerdeutschen Ware zum Beispiel bei Franzosen und Engländern in höherem Maße einer stärkeren Tradition aus dem 18. Jahrhundert verdankt wird, als sie bei der sprunghaften und plötzlichen Entstehung unseres Industrialismus wirksam sein konnte. Daß es in unserem Volke einen starken Formwillen gibt, zum mindesten einen weit stärkeren und klarerern als er in unserem Warentypus in die Erscheinung trat, daß also dieser Formwille nur durch die genannte Ursache künstlich niedergehalten wurde, das bezeugen die Bestrebungen, die sich schließlich im deutschen Werkbunde gesammelt haben, doch stark genug. Deutscher Werkbund.
Freilich der letzte Grund der Formlosigkeit unserer Ware und insbesondere das Fehlen einer plastischen nationalen Eigenform liegt in der tieferen Ursache, die auch in dieser Sphäre der Satz: Le style c'est l'homme andeutet. Wir werden eine deutsche Warenform besitzen, wenn wir ein plastisches Gesamtideal und Gesamtvorbild deutscher Menschlichkeit besitzen werden. Wie diese Dinge zusammengehören, das lehrt uns nicht nur die Strukturidentität, z. B. des Gentlemanideals und der englischen Warenform, sondern auch die Tatsache, daß so wie der Biedermeierstil unser letzter nationaler Stil war auch der »Biedermann« unser letztes menschliches Gesamtvorbild. Seit dieser Zeit besaßen wir keines mehr. Nichts von der Art eines volklichen idealen Personvorbildes, wie es der Gentleman für England, der gentil homme und der homme (resp. femme) honnet für Frankreich, der Cortegiano für Italien, bushido für Japan, der »fürstliche Mensch« für China gewesen, schwebt unserer Jugend als personhaft geformter bildhafter Maßstab ihrer Bildung, ihres Tuns und Unterlassens vor. Nur sich paralysierende, ja grundverschiedene halbmythische Bilder von wirklichen historischen Individuen wie die Gestalt Luthers, Bismarcks, Goethes usw. leiten diese und jene Kreise. Kein nationales Gesamtideal, das sich aus dem inneren Leben des Volkes selbst natürlich herausgebildet hätte, erspart es dem mittleren Individuum, ganz von sich aus und ab ovo gleichsam sich ein Bildungsideal zu suchen. Kein Wunder denn auch, daß unsere menschliche Erscheinung wie unsere Ware im Auslande von den Leuten des betreffenden Landes weit weniger von positiven Anschauungsmerkmalen her als »deutsch« festgestellt wird – wie der englische und der französische Mensch und seine Ware – sondern entweder nur an einem selbst noch sichtbaren Mangel irgendeiner bestimmten Form als »deutsch« kenntlich wird oder gar erst durch eine Art logischen Ausschlußverfahrens: Dieser Mann oder diese Ware »müsse wohl« deutsch sein, da sie nicht englisch, nicht französisch usw. sei. Was den Franzosen allein schon am Deutschen ärgere – bemerkt Nietzsche mit gleichzeitiger feiner Charakteristik der Definitionssucht des Franzosen und der Unbestimmtheit des Deutschen – ist, daß »man ihn nicht definieren kann.« Und Schiller erhofft für Europa und die Welt vom »Tage des Deutschen« in seinem viel mißverstandenen Worte nicht eine eigenartige positive Neuproduktion deutschen Wesens, sondern er hofft nur, dieser Tag werde sein »die Ernte der ganzen Zeit«. Vom deutschen politischen Nationalismus vor dem Kriege aber urteilt ein feiner Beobachter und Diplomat, unter dem Pseudonym Ruedorffer – auch hier die formlose Unsicherheit erspähend – er habe einem jungen Hunde geglichen, der noch nicht weiß, wann er bellen soll und wann nicht.
Diese Tatsache uns nur zu unseren Gunsten anzurechnen, sie nur auf unseren Reichtum von Stammesanlagen oder auf unsere sogenannte volksmäßige »Jugend« zu schieben, geht nicht an. Ein Reichtum an Anlagen, der nie zu einem einheitlichem, plastischem Werke führte, ein Reichtum, der nur im Streit und Protest gegen Fremdes und abwechselnder Nachahmung dieses Fremden sich selbst gewänne, wäre kein Reichtum gewesen, sondern Chaos; eine »Innerlichkeit«, die sich dauernd nicht darzustellen wüßte, wäre keine echte »Innerlichkeit«. Was Gott vom Chaos scheidet, ist der positive Gehalt dieser Idee. Gewiß ist es wahr, daß späte Reife, wie sie ein Charakteristikum ist der höchstgearteten Organismen, dem deutschen Menschen als großem Einzelnen wie als Volk besonders zugeteilt scheint. Aber es ist schließlich die Tat dieser deutschen Wesensprägung und die Erscheinung der Reife, die es entscheiden, was Jugend ist und was nur Verkümmerung. Für die Frage nach dem Verhältnis des Deutschen zur Form gilt also hier dasselbe, was für das Verhältnis der russischen Slawen zur Organisation gilt: Wir wissen noch nicht genau, was Jugend und Unreife und was Mangel der nationalen Veranlagung ist.
3. Aber auch mit dem eigenartigen Verhältnis von Arbeit und Form ist der entscheidende Zug unserer Arbeitsauffassung noch nicht getroffen, insbesondere auch nicht derjenige Zug, der in seiner praktischen Auswirkung zum allgemeinen Hasse der Welt auf uns führen sollte. Er liegt tiefer. Er besteht in dem inneren seelischen und moralischen Motor, der uns zur Arbeit treibt und in dem Verhältnis, das die Arbeit zum Gesamtleben des Menschen bei uns allmählich gewonnen hatte. Um aber diesen modernen deutschen Arbeitsgeist, wie er sich seit 1870 langsam gestaltet hatte, voll zu verstehen, ist es notwendig, ihn in seine wesentlichen Komponenten zu zerlegen und deren geschichtliche Herkunft aufzudecken.
Eine ganz allgemeine Voraussetzung für sein Werden – eine Voraussetzung, die aber noch fast unendlich viele und grundverschiedene Spielräume für die konkrete deutsche Lebensgestaltung offen läßt, ist eine Urmitgift germanischen Wesens. Es handelt sich um eine Mitgift, in der gleichzeitig die höchsten und edelsten Tugenden wie die tiefsten, unausgleichbarsten Fehler dieses Wesens keimhaft beschlossen liegen: Seine Größe und Erhabenheit wie alle Arten seiner Disharmonie.
Diese Urmitgift – zugleich dasjenige Element des deutschen Geistes, das seit den Germanen des Tacitus bis zum heutigen Tage das weitaus konstanteste Element, ja vielleicht das einzig Konstante in der vielgewandten Ereignis- wie Geistesgeschichte unseres Volkes gewesen ist, ist der aufgeschlossene Sinn für die Idee des Unendlichen und Lust und Glück im Sichverlieren in diese Idee. Ob wir auf die Philosophie und Wissenschaft, ob auf die Kunst, ob auf die Lebenspraxis germanischen Ursprungs blicken, überall tritt uns dieser wunderbare Zug des deutschen Geistes entgegen, alles Endliche, Gestaltete, Geformte ebensowohl im Sein als im Wollen, Handeln, Bilden (deutsche Gotik) als eine bloße Einschränkung einer zuvor gegebenen oder doch intendierten unendlichen Bewegung zu erleben, als Not und fast unfreiwillig übernommenen Tribut an die menschliche Enge. Dieser Sinn steht im äußersten Gegensatze zu dem ebensowohl griechischen als lateinischen Sinn für Maß, Form, Gestalt, Grenze, Geschlossenheit der Formen. Dilthey sagt vortrefflich schon angesichts der Germanen des Tacitus: »Ihr Handeln ist nicht durch eine rationale Zwecksetzung bestimmt und begrenzt; ein Übermaß von Energie, das über den Zweck hinausgeht, ist in ihrem Tun.« Und das ist nun das Merkwürdige: dieser Grundzug findet sich in allen klassisch gewordenen Formulierungen des germanischen Ethos; er findet sich in einer Grundkategorie wieder, die in ihren tausenderlei Ausgestaltungen immer formal dieselbe bleibt: In der Kategorie des »unendlichen Strebens.« Schon für den an den ersten deutschen Theoretiker des »Unendlichen«, an den Cusaner anknüpfenden Leibniz, ist eine unendliche Bewegung der individuellen Vervollkommnung, nicht also ein idealer, zu erreichender Zustand der Vollkommenheit (wie etwa die visio beatifica der katholischen Theologie) das höchste Gut: der Schritt der Vervollkommnung, nicht die Vollkommenheit. Lessing will die vom Vater angebotene Wahrheit in die Hände des Vaters zurückgeben, auf daß er auch fernerhin »ewig nach ihr streben« dürfe. Goethe macht die Idee immer neuer Opfergabe des »schönen Augenblickes« zugunsten dessen, der »ewig strebend sich bemüht«, zum moralischen Grundgedanken und zum Springpunkt seines Faustdramas. Kant entwickelt, der alten deutschen Idee ein preußisches Vorzeichen gebend, aus dem Gedanken einer zuvor dem Geiste gegebenen unendlichen Pflicht (die schon Luther die moralischen Kategorien des Verdienstlichen und Erlaubten abweisen ließ) das Postulat der Unsterblichkeit als Möglichkeitsbedingung, solcher unendlichen Pflicht zu genügen, und gibt der Idee, der Leibniz einen individualistischen Gehalt gab, eine gattungsmäßige Bedeutung. Fichte, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche geben derselben Kategorie gleichfalls nur verschiedene Inhalte, verschiedene Dynamik, verschiedene Gefühlsfärbungen und Wertprädikate. Für Fichte schon wird sie unendliches Streben nach Formung und Bearbeitung, das sich erst nachträglich einen Gegenwurf, einen Stoff schafft: die Natur. Für Hegel ist sie ein durch Kampf und Widerspruch fortschreitendes, in der Gattungsgeschichte sich darlegendes unendliches Sichbewußtwerden der göttlichen Idee. Für Schopenhauer wird sie (hier zuerst mit negativer schroff pessimistischer Betonung) das unendliche Triebrad eines blinden Lebenswillens, der Sisiphos gleich den ewig zurückrollenden Stein wieder emporrollen muß. Für Nietzsche, Schopenhauers Schüler und Widerpart, wird sie zum dionysisch bejahten Willen zu end- und grenzenloser Macht. Das sind nur ein paar Beispiele, die eine Monographie über die Abwandlungen dieser moralischen Grundkategorie deutschen Wesens fast beliebig vermehren könnte. Über den endgültigen Wert und die Wahrheit dieser Idee philosophisch und theologisch zu urteilen ist nicht dieses Orts. Nur soviel ist gewiß: Sie ist die Voraussetzung der erhabensten Tugenden wie der schwersten Fehler unseres Volkes – dem Gesetze gemäß, daß es in jedem geistigen Wesen einen Tiefpunkt gibt, aus dem seine Tugenden und Fehler mit derselben Notwendigkeit hervorzufließen scheinen. Und nur diese ganz allgemeine Voraussetzung ist sie auch für den Arbeitsgeist des modernen Deutschland. Aus ihr allein folgt freilich noch Nichts für diese besondere historische Erscheinung – es folgt dafür sowenig wie aus dem Energieprinzip folgt, daß ein bestimmter Stein von einem bestimmten Hause fiel.
4. Denn der jeweilige Gehalt, den dieses formal unendliche Streben und Wirken sich vorspannt, hat in der Geschichte unseres Volkes gar sehr und oft plötzlich gewechselt. Bleiben wir hier nur beim 19. Jahrhundert. Während seines ersten Drittels warf sich dieses unbegrenzte Streben auf Denken, Dichten, Nachleben, Nachfühlen alles Menschlichen in allen Zonen und Zeiten. Es ist die Zeit unserer hyperideologischen, die Spezialwissenschaften entrechtenden spekulativen Philosophie, Fichtes, Hegels, die Zeit aber auch unserer Größten, Goethes, Schillers, Herders und der Romantik. Kein Volk hat sich je so im Äther des Gedankens verloren, keines hat dabei gleichgültiger – ruchlos gleichgültiger – geblickt auf seine materiell-realistische, ökonomische und politische Lebensbasis als wir damals. Nach Verlauf von dreißig Jahren, etwas mehr als einer Generation, – tausendfach Vergleiche etwa die packende Schilderung, die Albert Lange in seiner »Geschichte des Materialismus« von diesem Umschwung gibt. ist dies geschildert worden – schien, besonders von außen gesehen, dieses selbe Volk in all seinen Grundeinstellungen so radikal verwandelt, wie keinerlei analoges Beispiel aus der Geschichte bekannt ist. In derselben Aktionsform »Unendlichkeit des Strebens«, aber auch mit derselben einseitigen Maßlosigkeit und ekstatischen Verlorenheit in die Sache schien dieses Volk jetzt aufzugehen in der Arbeit an seinen politischen, militärischen und ökonomischen Daseinsgrundlagen. Furchtbarer Spott und ätzende, über alles berechtigte Maß hinausschießende Kritik traf seitens der neuen deutschen Führer, der Staatsmänner, der neuen Naturforscher und Materialisten, der neuen Führer des Wirtschaftslebens seine ältere hyperideologische, vorwiegend kosmopolitisch gesinnte Daseinsform. Bei Hebbel sagt einmal Holofernes: »Ich haue den heutigen Holofernes in Stücke und gebe ihn dem Holofernes von morgen zu essen.« So ähnlich schien es damals Deutschland mit sich selbst zu tun. Seit unserem glorreichen Siege von 1870/71 trat aber ein neues, das Ethos unseres Volkes nicht minder stark veränderndes Moment hinzu. Nicht etwa nur – wie das Ausland ganz einseitig sieht und ganz irrtümlich beklagt – eine starke Durchsetzung aller deutschen Stämme mit der auf preußischem Boden zuerst groß gewordenen Energieanspannung des rationalen zweckhaften organisatorischen und disziplinären Willens: Dies allein – dies bedurfte Deutschland gar sehr – bedurfte der gefährliche Individualismus und Partikularismus von Stämmen und Fürsten von ehedem und die oft zu weichliche, ja zu schlaffe Art mittel- und süddeutschen Wesens. Nicht nur dies! Viel wichtiger war, daß sich diese gekennzeichnete Strukturform des aufs äußerste gespannten rationalen Willens andere inhaltliche Ziele als die altpreußischen gab, daß sie sich von vorwiegend politischen, staatlichen Macht- und militärischen und verwaltungsmäßigen Organisationszielen (deren Vorherrschaft im älteren Preußen mit einer überaus feinen, spröden, hellen Geistigkeit in Kunst – z. B. Baukunst: Schinkel, Schlüter usw. – Wissenschaft und Geselligkeit bis zum Jahre 1870 einen Daseinsstil gebildet hatte) stärker loslöste und sich vorwiegend mit dem neuen Inhalt wirtschaftlicher Berufs- und Facharbeit des arbeitenden Bürgertums erfüllte. Ich habe diesen wenig in seinem Wesen erkannten Wandel anderwärts einmal so ausgedrückt: Die Form jenes bei passenden adäquaten Zielen – herrlichen heroischen unbedingten Ordnungsgeistes, Staatssinnes, jenes Ethos unendlicher Hingabe an die Pflicht – nicht nur ohne Blinzeln nach Glück, sondern mit fast gesuchter heroischer Glücksverachtung – jenes Geistes, wie ihn der große Friedrich bis an sein Ende betätigt, wie ihn Kant im kategorischen Imperativ formulierte, wurde aus der politischen, militärischen und moralischen Sphäre in die ökonomische und technische übertragen: d. h. aber in eine Wertsphäre, die ohne fortwährende Rückbeziehung auf Erhaltung, Glück, Behaglichkeit, Genuß des sinnlichen Menschen im Grunde keinerlei ratio ihres Daseins hat. Ist schon das Erste, die Pflichtidee der kantischen Philosophie – von der Kant sagt, daß sie weder »im Himmel noch auf Erden irgendwo aufgehängt« gedacht werden dürfe – eine bei aller inneren Größe sehr bedenkliche Erscheinung der moralischen Welt: Das Zweite, ihre gefühlsmäßige Übertragung auf die Sphäre ökonomischer Arbeit als Hauptmotor für sie ist eine geradezu groteske Erscheinung. Man kann und soll sein Glück, ja sein Leben hingeben – gegebenenfalls – für seinen Staat, für dessen Ehre und vor allem nach dem Worte des Evangeliums für seinen Glauben im Sinne des »Märtyrer,« endlich auch für sein Heil und für höchste geistige Kulturwerte – man soll es nicht für eine maximale Kartoffel- und Nähnadelproduktion hingeben. Der Märtyrer seines ökonomischen Arbeitsimpulses ist nicht erhaben/ er ist komisch. Vom Erhabenen zum Lächerlichen und Grotesken ist auch hier nur ein Schritt. Ich sagte anderseits: Mit demselben heroischen Pathos und mit derselben leidenschaftlichen Unbedingtheit, mit der stolz gelassenen Gleichgültigkeit gegen Leben, Wohl, Glück, mit der Kleists Prinz von Homburg in die Schlacht stürmt – bewundernswert, da er es tut für seinen Staat und seinen König – darf man einfach nicht Semmeln, Würste und Nähnadeln usw. produzieren, wenn man nicht entweder selber grotesk-komisch und als eine neue Form und Auflage des Ritters von La Mancha erscheinen will, dazu Gefahr laufen, ob der kapital-enorm-kolossalen Wurst- oder Nähnadelleistung, mit der kein anderer Fabrikant dieser Dinge mehr konkurrieren will (nicht »kann«), allen Wurst- und Nähnadelmachern der ganzen Erde tief hassenswert zu erscheinen – oder wenn man nicht radikal mißverstanden sein will als Welteroberer. Das Ausland wählte letzteren Weg – den Weg eines radikalen Missverständnisses deutschen Wesens. Schon an sich ist auch der ältere preußische Geistestypus – so heldisch und herrlich er nach tausend Beziehungen ist – vermöge seiner sehr partikularen Daseinsbedingung nicht geeignet, ausschließlich für deutsches Wesen vorbildlich zu sein. Die Voraussetzungen seines Ursprunges als Typus waren vor allem drei: Ein ziemlich armes, nur dürftig von der Natur bedachtes, zur Bewunderung wenig einladendes, aber um so mehr arbeitheischendes Land, ein einzigartig geniales, alles um sich herum mächtig nach sich selbst und seinem Bilde formendes Herrschergeschlecht mit seinem zum Offizier und Beamten langsam bezwungenen, kraftvollen, ostelbischen Grundadel und eine leichtfügsame, dienstwillige, stark slawisch durchsetzte Unterschicht, eine im Verhältnis zu anderen deutschen Volksteilen sehr weiche und zähe Masse, die sich also formen und prägen ließ – lauter Dinge, die im Guten und Schlimmen nicht überall und auch nicht bei allen deutschen Stämmen zu finden sind. Ganz gewiß! Niemand kann und darf sagen, daß ohne die Führung des aus diesen Elementen gewordenen preußischen Geistes eine gesunde politisch-deutsche Einheit möglich gewesen wäre – und ich kann darum Ideen, wie sie jüngst Hugo Preuß in seinem Buche »Die Deutschen und die Politik« vertreten und verbreitet hat oder gar Ideen, wie sie Fr. W. Förster in seinem vielbesprochenen Aufsatz – ich muß schon sagen unter beklagenswerter eigener Ansteckung des gegen uns gerichteten Ententehasses – geäußert hat –, ich kann Ideen, die es prinzipiell in Frage ziehen, ob die Gründung des deutschen Reiches unter preußischer Führung auch mit innerem historischen und sittlichen Rechte erfolgte, nur äußerst dilettantisch finden. Das aber scheint mir wahr zu sein, daß die zwei Hauptkräfte, die unser neues Reich ursprünglich und in gegenseitiger Durchdringung ihres Ethos und Geistes schufen und die allein es nach der realen Lage der Dinge schaffen konnten: Die Verbindung der preußischen Machttendenzen und des alten preußischen Militärethos mit dem nach Einheit und freiem Verkehr strebenden wirtschaftlichen Unternehmertum aller Größenklassen und seinem ökonomischen Erwerbstrieb, nicht die einzigen bleiben dürfen, die dieses Reich auch fürder erhalten, weiterbilden und vor allem nicht die einzigen, die Deutschlands Gesamtantlitz nach Seite der Außenwelt fürderhin bestimmen dürfen. Denn eben aus dieser sehr einseitigen Verbindung dieser großen, aber sehr einseitigen Kräfte entsprang jene sinnlose unbegrenzte Arbeitshast, die ich als Hauptursache des universalen Hasses bezeichnete; entsprang das Bild jener Maße, an denen die Welt sich gemessen fühlte, jener Menschentypus, den die Welt nicht ertragen wollte. Von Preußen kam die edle, aber dem neuen Gehalte nicht entsprechende Ethos form, vom deutschen Unternehmer der neue Inhalt.
Daß sich dieses aber fürderhin auch ändere, dafür bürgt uns mehr als Eines. Zuerst bürgt uns dafür die Tiefe, der Reichtum, die Unausgetrunkenheit des deutschen Wesens und Geistes. Ich habe Ihnen schon gesagt, was uns gegenüber dem Haß unserer, an ihren alten Paradiesen haftenden Nachbarn zutiefst rechtfertigt: daß wir glauben, daß auf unsere Art der Arbeit – nicht Tempo usw. – besser und dauernder die Menschen, alle Menschen satt werden können, um ihre höchsten geistigen Anlagen freier und freier und immer individueller zu entwickeln, und daß wir Deutsche uns reifer und angepasster wissen an die Ansprüche des neuen technischen, wirtschaftlichen, organisatorischen Weltalters – des Weltalters, das jenes vorwiegend nur die unteren Kräfte entbindende Weltalter der sogenannten »Neuzeit« begraben wird. Aber das wissen nun alle unsere Besten – und nicht nur unsere Forscher und Künstler, der sogenannte »Geist« – gleichfalls, daß die Aufgaben und die Leistungen, die unsere Väter seit 1870 notwendig zu tun gezwungen waren, weder die schönsten noch die dem deutschen Wesen angemessensten Aufgaben und Leistungen waren, die ein göttlicher Zuschauer einer einmal vollendeten Geschichte der Deutschen unter den mannigfaltigen Aufgaben und Leistungen der Epochen dieser Geschichte gewahren dürfte. Herbe Notwendigkeit war es – mehr nicht! In seinem Neujahrswunsch 1915 schrieb der jetzige deutsche Kriegsminister von Stein: »Unserem Volke würden schnelle und leichte Siege nicht zum Glücke gedient haben. Die nach den Erfolgen der Feldzüge 1870/71 hervorgetretenen Auswüchse würden sich noch stärker geltend gemacht haben. Seit jener Zeit hat der gewaltige Aufschwung einen größeren Ausschlag zur materiellen Richtung verursacht. Der Ausgleich zwischen geistigen und materiellen Kräften war noch nicht vermittelt.« Noch nicht! Das wollen wir uns merken! Wir können auch hinzufügen: Auch der Ausgleich zwischen Arbeit und Freude, Genuß und Schönheit, zwischen Arbeit und Kontemplation, zwischen Arbeit und Gebet, zwischen Arbeit und Form! Und demgemäß haben wir auch eine doppelte Zusammenfassung von Arbeit, Macht und von Geist zu erhoffen und zu gewinnen. Eine historisch-zeitliche Zusammenfassung, welche die so schroff und so plötzlich nacheinander sich entfaltenden einseitigen Tendenzen des alten und des neuen Deutschlands, Goethes und Hegels einerseits, desjenigen Krupps und Ballins anderseits, sich neu durchdringen läßt und gleichzeitig eine soziale Synthese, die Geist und Staat, aber auch Geist und materielle Arbeit sich neu durchdringen und aneinander befruchten läßt.
Nichts hat neben den realen Entwicklungen und der Plötzlichkeit des deutschen Geisteswechsels im Laufe kaum einer Generation so sehr den Haß der Welt scheinbar begründet erscheinen lassen als zwei Dinge: Die für das Auslandsauge total unsichtbar gewordenen, faktisch freilich sehr wohl innerlich bestehenden, von Troeltsch, Joël und mir jüngst vielseitig geschilderten Fäden, die das alte, große, geistige Deutschland mit dem modernen technischen, ökonomischen und politischen verknüpften. Und an zweiter Stelle der überaus geringe Beitrag, den unser gegenwärtiges, wirklich vornehmes und gutes geistiges Deutschland zu der Bildwirkung des Gesamtantlitzes beisteuerten, das Deutschland der Welt nach außen darbot. Das Erstgenannte kommt ja in der formell etwas kindischen Gegenüberstellung des Auslandes von Weimar-Potsdam, Goethe-Krupp deutlich genug zum Ausdruck. Überhaupt ist psychologisch der Haß des Auslandes schon vor dem Kriege in ein noch anderes Gefühl als Haß gleichsam eingesenkt gewesen: Man könnte es eine Art Scheu, ja Grauen nennen vor Deutschlands Unheimlichkeit und Unbestimmbarkeit. Unheimlich und unfaßlich, rätselhaft, ja grauenerweckend erschien Franzosen und Engländern jenes Bild des Wechsels, sowohl vermöge seiner scheinbaren Größe, wie vermöge seiner Rapidität, und dies doppelt darum, da das rohe und nur für das je Auffälligste eingestellte Auge des Auslandes nur die oberflächlichsten Anfangs- und Endphasen dieses Wechsels sah – nicht aber den in der Tiefe der deutschen Seele liegenden kontinuierlichen Prozeß, der diese Phasen unsichtbar zusammenhielt. So frug man sich denn auch überall: Ja, was ist denn nun an diesen Deutschen die echte Seele, die wahre – und welche von beiden ist künstlich aufgepfropft und gemacht? Diese für das gesamte Ausland schon überaus charakteristische Fragestellung war zum Beispiel auch jene, mit der das Haupt der Académie française, Emile Boutroux, seinen berühmten Vortrag vor dem Kriege an der Berliner Universität über die französische und deutsche Seele einleitete. Boutroux war – wohl schon vermöge des Ortes, an dem er damals sprach – so entgegenkommend, uns im Fortgang seiner Darlegungen schließlich zwei gleich echte Seelen zuzugestehen, eine ideale und eine realistische Arbeitsseele. Nach Kriegsbeginn hat sich aber auch Boutroux – er gilt in Frankreich als der beste Kenner Deutschlands – in seinen vielfachen Reden zu derselben Einseelentheorie entschlossen, die auch derjenige Mann, der als alter Göttinger Student und Hegelianer in England als der beste Kenner Deutschlands gilt, nämlich Lord Haldane (er hielt gelegentlich seiner Berliner Mission gleichfalls eine Rede über englischen und deutschen Geist) zu der seinigen gemacht. Nach beiden Herren ist das sogenannte wahre und echte Deutschland, die einzig »echte« deutsche Seele, die Seele des Deutschlands Goethes, Beethovens, Schillers, Hegels, Herders usw. Dies Deutschland sei aber durch Preußen und seinen Militarismus – auf Grund der politisch unselbständigen Natur der Deutschen – von seinem wahren Wesen künstlich und grundsätzlich abgelenkt worden und sei durch die sogenannte »Preußische Machtphilosophie« verführt und vergiftet worden. Boutroux will sogar finden, daß der deutsche Gottesgedanke dadurch grundsätzlich mitberührt worden sei und daß an Stelle des hellenischen Weisengottes, des jüdischen Rechtsgottes und des christlichen Liebesgottes, deren Färbungen in der älteren deutschen Gottesidee gebunden waren, ein preußischer purer Macht- und Kraftgott – ein bloßer Heldengott getreten sei. Die übrigens sicher ehrlich gemeinte Folgerung, daß die Vernichtung des sogenannten preußischen Militarismus auch eine erlösende Liebestat für die Wiederherstellung der allein echten deutschen Seele sei, ergibt sich hieraus von selbst. Nun, ich brauche nicht zu sagen, wie unsinnig, wie einseitig pro domo, wie cantgeleitet und hypokritisch diese typisch gewordene deutsche Geschichtsphilosophie unserer Hasser ist. Ich führe sie hier nur an, um zu zeigen, wie rätselhaft auch den vergleichsweise besten ausländischen Kennern Deutschlands dieser rapide, scheinbar völlig sprunghafte Übergang des alten und des neuen Deutschland gewesen ist und noch ist – mit seiner höchst praktischen Folge, die alten vornehmen eingesessenen Firmen langsam im Weltmarkt beschränkt zu haben.
Ich setze aber gleich hinzu, daß es auch bei uns Deutschen eine Art Gegentheorie dazu gibt – ich finde sie mehr oder weniger ausgesprochen bei einer ganzen Reihe Historiker und Nationalökonomen, Politiker und Publizisten – die gleichfalls die schärfste Verurteilung verdient. Nach ihr – kurz gesagt – dichtete, dachte, schaute, fühlte das ältere Deutschland eigentlich nur aus dem äußerst banalen Grunde – oder wie man hier gerne sagt, lebte in den »Lüften der Phantasie« – weil der Deutsche kein sogenanntes »politisches Heim« hatte, weil er wenig zu essen hatte und keinen großen praktisch-politischen und ökonomischen Wirkspielraum besaß. Nach dieser Auffassung gilt auch eine Art Einseelentheorie, nur die umgekehrte! Nein, verehrte Anwesende, das müssen wir uns doch ganz erheblich verbitten, die Großzeit deutschen Geistes auf Mangel an Nahrung und auf mäßiges »Heim« zurückzuleiten – als seien es nicht freie, positive, spontane herrliche Anlagen und in ihrer Kraft nie versiegte, wohl aber durch die spezifischen Aufgaben des Zeitalters vor dem Kriege und die notwendige, tragisch einseitige Energieanspannung für diese Aufgaben gewaltsam und schmerzhaft zurückgedrängte ewige Kräfte des deutschen Wesens gewesen, die in der Zeit der Klassik und Romantik sich in bewunderungswerten und die Liebe der Welt gewinnenden Werken der Kunst und des Geistes Form gegeben haben. Goethe – karikiert gesagt – wäre auch zur Zeit des Herrn Du-Bois Reymond nicht Physiker geworden – wie jener typische Wortführer seinerzeit so naiv meinte; er hätte Faust das Gretchen nicht heiraten und ein wohlbestalltes »Heim« gründen lassen; er wäre auch in Berlin geboren nicht Physiker geworden, im modernen Essen und Hamburg nicht eine Art Ballin und Krupp geworden und diese ausgezeichneten Herren wären auch im alten Weimar geboren nicht Goethes geworden. Beide – nicht nur einer von beiden – hätten es nicht gekonnt und beide hätten es nicht gewollt. Also fort mit dem billigen Gegenspiel dieser falschen Auslands- und dieser falschen Inlandstheorie und zugestanden, daß das deutsche Wesen reich und kraftvoll genug ist, um die herbe, oft tragische Spannung dieser alten dualistischen Anlage – schon in Luther wurde sie tragisch für die Deutschen – samt der alten germanischen Maßlosigkeit in der Ausbildung immer nur je einer dieser Seelen fürderhin durch die Einheit deutschen Geistes und Willens zu einheitlicher Fruchtbarkeit zu bringen; ja um sie zur Springfeder einer höheren konkreten, vorbildlichen und harmonischeren Daseinsform zu machen, als es uns bisher zu gelingen schien. Und das Gleiche gilt für denselben Gegensatz von Macht, Arbeit und Geist in der anderen Dimension der sozialen Gleichzeitigkeit. Nicht nur eine uferlose, machtscheue und verantwortlichkeitsfeindliche Kritik um der Kritik willen seitens eines Teiles der sozialdemokratischen Presse und eines Teiles der damaligen Führerschaft – daß dies anders wird, das sehen wir schon jetzt, – nicht nur törichtes Machtgerede und groteskes, unchristliches Kraftgeprotze der alldeutschen Literatur und Presse – wir kommen auf beides noch zurück – hat vor dem Kriege unser dem Ausland zugekehrtes Antlitz hassenswürdig gemacht; noch weit mehr als dies mußte sich dies üble Bild unseres Wesens dadurch gestalten, daß sich Alles in kleine, immer fester sich abschließende Kreise verbarg, was in Deutschland wahrhaft noch Geist und Hoheit genug besaß, um ohne amtlichen, künstlich gemachten sogenannten »Imperialismus des Geistes« und ohne amtlich abgestempelte Austauschprofessuren, welche die Wissenschaft in den ihrer Würde nicht gemäßen Dienst der internationalen Politik stellten, rein durch seine und seiner Werke Gehalt und Gestalt liebeerweckend auf das Auge der Welt zu wirken. Das übergeschämige – freilich aus der Natur der deutschen Öffentlichkeit vielfach begreifliche – Sichverbergen des Guten hat genau so fälschend auf unser Bild gewirkt als die freche Aufdringlichkeit der Phrase und der großmäuligen Worte und Gesten unserer Marktschreier aller Art. In immer engere von der Luft schon der deutschen und darum erst recht des internationalen Daseins abgeschlossenere Geheimzirkel und sogenannte »Kreise« schloß sich, ja flüchtete sich alles Gute, dessen offensichtliche Erscheinung uns selbst wie dem Auslande die Verbindungsfäden hätte aufweisen können, die zwischen dem alten und neuen Deutschland bestanden – von der vollendeten politischen Interesselosigkeit dieser geistig höchststehenden Kreise Deutschlands gar nicht zu reden. So wars im Religiösen, so in Kunst, Philosophie, Dichtung, Musik. Ich schrieb anderwärts: Verschiedene Dinge wären notwendig, dies zu ändern: 1. Müßten an erster Stelle das öffentliche politische Leben und die ihm dienenden Institutionen, an zweiter Stelle die Schule so gestaltet werden, daß nicht nur nach des Kanzlers Versprechen »allen Tüchtigen freie Bahn wird«, sondern auch so, daß das öffentliche Dasein und Wirken Geist und Talent wieder an sich zu ziehen vermöchte. Das aber kann es nur, wenn den politischen und geistigen jetzt noch verborgenen Kräften neue Verantwortungen und wahrhaft tätige Mitwirkung an der Mitgestaltung des nationalen Lebens zugesichert oder von uns erkämpft werden. 2. Muß der Haltung eifersüchtig ängstlicher Abschließung von aller Öffentlichkeit seitens unserer geistig Besten, die zur Zeit noch die Wertgebung stolzer »Vornehmheit« und besonderer Feinheit trägt, der Unwertstempel demutloser, verwegener Selbstgerechtigkeit aufgedrückt werden. 3. Ist noch ein heikler Punkt in diesem Zusammenhange zu erwähnen. Er betrifft unsere jüdischen Volks- und Landesgenossen. Eine der merkwürdigsten Haßthesen unserer Feinde – breit sind sie von Suarez und Verhaeren entwickelt worden – ist die Behauptung, daß das moderne Deutschland in seiner Erscheinung ganz wesentlich bestimmt war durch den »preußischen Unteroffizier und einen hyperkritischen, überall Zersetzung suchenden und bewirkenden jüdischen Geist.« Daß dies vom wirklichen Deutschland nicht gilt, darüber ist kein ernstes Wort zu sagen. Aber auch dieser so oft wiederholte Unsinn bedarf einer psychologischen Erklärung. Warum ist es gerade dieser Unsinn und kein anderer aller möglichen Unsinne? Wie kommt man darauf? Haben wir prozentual und durchschnittlich so viel mehr Juden wie unsere Feinde? Durchaus nicht. Sind unsere Juden von minderer Qualität, menschlich, bürgerlich? Dafür gibt es keine Spur eines Beweises. Haben sie mehr Einfluß bei uns als bei unseren westlichen Nachbarstaaten? Von Rußland sei hier abgesehen. Auf diese Frage gilt je ein Ja und Nein, nämlich je nach dem Ziel und der Art des Einflusses. Was die Art betrifft, so haben sie bei ihrer prinzipiellen Ausschaltung vom Offiziers- und Verwaltungsberuf weniger, viel, viel weniger verantwortlichen Einfluß, aber sie haben sehr viel unverantwortlichen. Was das Ziel betrifft, so haben sie auf die offizielle politische verwaltungsmäßige und militärische Wirklichkeitsgestaltung weit weniger sichtbaren Einfluß als in Frankreich und England, aber gleichzeitig einen durch ihre Arbeitsverteilung und Stellungsverteilung, zu der sie durch die überlieferte Regierungsgewohnheit genötigt sind, nämlich durch ihre überaus dichte, den Geist kapitalistischer Überbetriebsamkeit norddeutschen Ursprung noch befeuernde Zusammendrängung im mittleren und höheren Kaufmannsberuf einerseits, in den geistigen freien Berufen der Wissenschaft, Kunst, der Presse, des politischen Führertums, der Rechtsanwaltschaft usw. anderseits, (besonders vermöge der letztgenannten ihrer Arbeitslagen) allerdings einen Einfluß auf die Bildgestaltung deutschen Wesens nach außen hin, den auch ich nicht anstehe, weit größer und stärker zu finden, als in irgendeinem anderen europäischen Lande. Diese Bildgestaltung ist ja zwanzigfach stärker bestimmt als durch das, was in Deutschland ist und geschieht, z. B. in aller inneren Verwaltung, in Kunst, Wissenschaft usw., durch die Art, wie dies Seiende und Geschehende genannt, öffentlich hervorgehoben, ausgezeichnet oder unterdrückt, und damit für Auslandsaugen über die Schwelle der Perzeption gehoben wird. Die Art aber, wie dies geschah und die Auswahlgesetze, nach denen es geschieht, entsprechen nur dem immer noch bestehenden inneren Ghettogeiste und dem durchaus nicht unberechtigten Gefühl des inneren racheheischenden, zum mindesten stark auf alle negativen Werte des Landes eingestellten Beleidigtsein unserer Juden – doppelt gefährlich durch den berechtigten welthistorischen Stolz des hochbegabten Volkes, dessen Gottesidee Europa eroberte. So ergibt sich die sonderbare Lage, daß das Germanische in Deutschland in Heer und Verwaltung und in allen verantwortlichen Stellen nur allzu breitbeinig dasteht, das jüdische Element eifersüchtig fernhält, daß aber in der geistigen deutschen Sphäre und zwar eben jener Sphäre, die den Dingen für das Ausland Bild, Wort, Namen und Gestalt gibt, eher das germanische Element in seinen besten Vertretern ängstlich herumschleicht, ja häufig sogar schon traditionell zurückgestoßen von dieser Sphäre, sich wenn nicht überhaupt höherer geistiger, außerfachlicher Interessen und Anteilnahme begibt, so doch sich des Anspruches auf öffentliche Teilnahme an seinen Leistungen so sehr und so prinzipiell begibt, daß es für das Auslandsauge sehr wohl so erscheinen kann, daß bei plötzlicher Ausschaltung der deutschen Juden überhaupt nicht allzuviel an »deutschem Geist« übrig bleiben würde. Die einzige dauernde Abhilfe von diesem Übel besteht nun aber im geraden Gegenteil der bekannten antisemitischen Rezepte. Sie besteht in einer anderen Verteilung der Juden über das Ganze der deutschen Arbeit, die wenigstens bis zu einem gewissen Maße automatisch von selbst einträte, wenn die Schranken fielen, welche die Juden vom höheren Verwaltungsdienst, Offiziersberuf usw. ausschließen und wenn zweitens verantwortlicher Einfluß an Stelle eines übermäßigen unverantwortlichen Einflusses gesetzt wird. Und sie besteht in der schon durch die bloße Offenheit dieser Stellen, nicht erst durch ihre wirkliche Besetzung moralisch bewirkte Aufhebung jenes für unser gesamtes geistiges Leben so gefährlichen Gefühls der Beleidigtheit und des »inneren Ghettos«, mit deren notwendigen psychischen Folgen zu negativer hyperkritischer Einstellung.
In anderem Sinne – aber gleichfalls die negativen Züge unseres Bildes wenn nicht steigernd so doch nicht herabmindernd – wirkte das Verhalten der deutschen Katholiken. Die stark im Übernatürlichen verankerte, den kontemplativen Faktoren des Lebens mehr Recht gebende, harmonischere und kosmopolitischere Weltanschauung der Angehörigen der katholischen Kirche hätte – wie man denken sollte – gegenüber dem Überarbeitsgeiste ausgleichend wirken können: Marienhaftere Züge hätte unser Gesicht dadurch erhalten können. Aber die deutschen Katholiken haben sich vor dem Kriege nicht nur praktisch dem neuen extremen Arbeits- und ausschließlichen Erwerbsgedanken immer stärker hingegeben – dies mußten sie, wenn sie nicht allen Einfluß verlieren wollten, – sondern sie haben sich trotz kirchlicher Prinzipienfestigkeit, der Modernismus z. B. spielte in Deutschland keine nennenswerte Rolle – unbewußt auch den neudeutschen Idealen, nur allzusehr gebeugt, an denen sie sich selber immer mehr unter Verleugnung ihrer eigenen zu messen gewöhnten und sich darum selbst »ökonomisch inferior« fanden. Jetzt sehen sie, daß die ganze Welt an diesen Maßstäben gemessen, sich inferior, so inferior gefunden hat, daß sie uns eben so maßlos haßt, wie sie uns haßt; und vielleicht bestimmt sie diese Erkenntnis dazu, fürderhin in schärferer Weise die weicheren, liebevolleren Züge ihres religiösen Menschenideals geltend zu machen als bisher und so auch eine mit bildende Wirkung auf das deutsche Antlitz auszuüben, nicht aber sich ausschließlich damit zu begnügen, unter der Herrschaft von dem Katholizismus wesensfremden Idealen nur praktisch vorwärts zu kommen. Eingehendes findet sich über diesen Punkt in meinem Buche »Krieg und Aufbau«: »Die soziologische Neuorientierung der deutschen Katholiken und der Krieg«.
2. Außer dieser Umgruppierung von Macht-Arbeit und Geist bürgt uns für die weniger haßerregende Gestaltung des Antlitzes Deutschlands jene stärkere Durchdringung Österreichs und des Reiches auch in Hinsicht auf das Ethos beider Teile. Es ist ganz richtig, was Naumann in die plastische Formel prägte: »die österreichischen Völker müssen etwas schneller gehen lernen und wir etwas langsamer«. Und gleichzeitig haben wir in allen Fragen der Lebensformen und der Verwaltungskunst von Österreich zu lernen. Dazu kommt das Wichtige, daß auf der breiteren gemeinsamen äußeren Lebensbasis Mitteleuropas (zuerst der militärischen und erst sekundär der wirtschaftlichen) nicht nur die österreichischen Nationen und Völker in Österreich – so wie wir es jetzt schon für Galizien sehen, dem Böhmen bald folgen muß – sondern auch die Stämme und Einzelstaaten des Deutschen Reiches, samt den fremdnationalen Annexen, z. B. Preußisch-Polen, Dänen und Elsässer eine stärkere Selbständigkeit gegen Preußen zurückgewinnen, als sie bisher besaßen, eine stärkere Selbständigkeit ganz besonders in Kulturfragen, in Religion, Sitte, Ethos. Stärkerer und auf Mitteleuropa erweiterter Zentralismus und kraftvollere Organisation in allen Dingen der materiellen und militärischen Lebensbasis und gleichzeitig energische Dezentralisierung in allen die höheren geistigen Lebenswerte betreffenden Gesinnungen und Betätigungen, auch Verminderung der, Individualität und Person zu stark bindenden Organisationen: das ist eine sehr allgemeine Formel, aber eine Formel, die ich momentan nicht genauer zu spezifizieren für tunlich halte. Laufen die Dinge nach ihr, so muß die Musik, die wir dem Auslandsohr fürderhin darbieten, ja von selbst wieder sowohl polyphoner als harmonischer werden, als sie bisher gewesen ist.