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Die Gräfin Clarissa ging am Sonnabend in ihrem Zimmer langsam auf und ab.
Ihr Kammermädchen stand am Fenster und blickte hinaus; draußen war Tauwetter.
»Das ist mehr«, sagte schließlich die Gräfin, »als ich erwartet habe. Jetzt habe ich beinahe Furcht. Ich bin nicht mehr so sicher wie vor acht Tagen. Der alte Herr hat zu viel erlebt. Und ich habe zu wenig erlebt. Das paßt nicht gut zusammen. Jetzt schmerzt mich auch meine verstauchte Hand.«
»Das liegt am Tauwetter!« rief das Kammermädchen sehr laut.
Und sie erneuerte darauf den Verband der Gräfin, während diese mit großen Augen zu dem Bilde des alten Münchhausen hinaufblickte, der über dem großen Spiegel auf einer Kanonenkugel ritt.
Es war noch nicht zwölf Uhr.
Aber da ward es unten im Hause sehr laut; die Gäste, die alle Tage erst des Abends ankamen, erschienen heute schon zum Frühstück.
Und der alte Münchhausen kam auch zum Frühstück.
»Clarissa«, rief er, als er sie sah, »Du siehst ja so traurig aus. Man darf aber nicht traurig aussehen; das schickt sich nicht.«
»Verzeih mir, lieber Münch!« erwiderte die Clarissa.
Der Baron aber sagte sehr lebhaft zur ganzen Gesellschaft gewandt:
»Meine Damen und Herren, wenn Sie meinen schlichten Erzählungen aufmerksam folgten, so werden Sie sich auch über die Musik, die in Melbourne komponiert wird, nicht mehr wundern. Man versucht dort nämlich so zu komponieren, daß der Zuhörer die Empfindung bekommt, Töne aus anderen fernen Geisterwelten zu hören; in Melbourne ist auch für die Musik das irdische Menschenleben nicht mehr ein führender Faktor. Die Musik soll eben ebenfalls zu einer Sprache fremder Welten gemacht werden. Leider kann ich Ihnen das nicht weiter illustrieren, da ich Ihnen mit meinen alten Händen nichts vorspielen kann; die sind in den hundertundachtzig Jahren so steif geworden, daß mit ihnen nichts mehr anzufangen ist.«
Natürlich bedauerten das alle Anwesenden sehr lebhaft, aber der alte Baron fuhr gleich darauf folgendermaßen fort:
»Wir kommen nun zu einem sehr schwierigen Thema: zu dem literarischen! Daß die Melbourne-Literatur nicht mehr das Bestreben hat, menschliche Zustände zu schildern, das brauche ich wohl nicht mehr feierlich auszusprechen; es versteht sich nach dem bislang Erzählten von selbst. Da sich die bildende Kunst fast ausschließlich dem Außerirdischen gewidmet hatte, so folgte die Literatur auch auf diesem Wege und schuf Werke, die das Leben auf anderen Sternen schildern. Aber die Literatur ging auch hier wieder gleich weiter und führte uns die ›lebenden‹ Sterne vor – nicht nur das, was auf und in den Sternen lebt. Wir finden in Melbourne eine lange Reihe von Romanen, die sich im Andromeda-Nebel entwickeln und uns dort Sterne vorführen in seltsamsten Formen – und diese Sterne führen ein eigenes Leben und stehen zu großen Sonnen in Beziehungen, und die Sonnen sind dort nicht mehr rund wie bei uns. Andrerseits wird auch unsre Erdensonne in die Literatur als selbständig denkendes Lebewesen eingeführt. Daß irgendein Stern ein totes dummes unorganisches Ding sein könnte – daran denkt in Melbourne wahrhaftig Niemand mehr; das wäre ja auch zum Lachen, wenn man das Größere so ohne Weiteres für das Dümmere halten wollte. Die Literatur steht also in Melbourne im innigsten Zusammenhange mit der bildenden Kunst; hier wie dort will man das Neue um jeden Preis. Mir formalistischen Sachen hält man sich darum in Melbourne nicht mehr viel auf; der Inhalt ist ja überall zu gewaltig. Es werden demnach in Australien nicht viele Verse geschrieben, und die ästhetischen Erörterungen sind von robuster Kürze: man will eben überall nur das Neue haben und fragt zunächst nicht viel danach, obs auch nach allen Seiten vollendet ausgebildet ist; dieses robuste Vorgehen der Dichter hat mich sehr sympathisch berührt, obschon einige Bildhauer behaupten wollten, daß man in der Literatur doch bald vorsichtiger vorgehen sollte. Na – ich glaube – die Vorsicht kommt mit dem Alter immer noch zeitig genug; das mutige Drauflosgehen ist doch in allen Dingen die Hauptsache, da ohne dieses gemeinhin garnichts geschieht und Alles stillsteht. Ja – das alte Stillstehen – ich kanns trotz meiner hundertundachtzig Jahre immer noch nicht begreifen.«
Hiernach redeten Alle durcheinander von der großen Bewegungslust unsrer Zeit, in der das Automobil überall an der Spitze ist.
»Wenn nur nicht«, meinte da die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein, »grade das Automobil, das so oft als Symbol der Bewegungslust bezeichnet wird, in unsre geistige Bewegung einen Stillstand hineingebracht hätte.«
»Zweifellos ist das so«, sagte Münchhausen, »aber das ist doch nur für den Augenblick so; in Australien ist die Ruhepause im geistigen Leben bereits überwunden und hat dort eine neue geistige Beweglichkeit erzeugt, die doch wieder alles gutmacht. Eine zu starke Bewegung nach der einen Seite hat immer ein Zurückbleiben auf der anderen Seite zur Folge. Aber das gleicht sich alles bald wieder aus. Sehen Sie nur diese Melbourne-Literatur an! Man sagte dort unten sehr bald, daß man sich vor dem rein Äußerlichen der neuen Kunst sehr zu hüten hätte – und begann sofort eine rein innerliche Literatur nebenbei zu erzeugen; mit bewunderungswürdiger Beweglichkeit ging man gleich weiter als die bildende Kunst und sagte sich, daß die allerfeinsten Beziehungen der Lebewesen untereinander auch unabhängig von aller äußerlichen Gestalt behandelt werden könnten – und daß man auch die Beziehungen feinster geistiger Menschen untereinander so reich und prickelnd darstellen könnte – wie die Beziehungen großer Sonnen untereinander. Kurzum: man glaubte, daß das Allerkomplizierteste auch in die rein menschliche Sphäre gesetzt werden könnte. Selbstverständlich dachte man dabei nicht an alte Potentaten – sondern an die Menschen, die durch außerordentliche Weiterentwicklung wirklich hervorragende Lebewesen geworden sind. Nun ging man aber natürlich nicht den daseienden Menschen nach – sondern denen, die mal da sein könnten. Die Literatur mußte somit auch auf diesem Wege den Zusammenhang mit der Wirklichkeit aufgeben; die Menschen, die die Melbourne-Literatur uns vorführt, sind nur noch dem Äußeren nach, das nicht weiter geschildert wird, sogenannte Menschen – innerlich sind diese Menschen viel mehr als Menschen.«
Hier sagte die Clarissa:
»Davon müssen wir jetzt aber mehr hören.«
Der Baron lächelte und sprach weiter:
»Was sich das einzelne Lebewesen selber geben kann, ist immer nur ein kleines Stück gegenüber dem, was sich die Lebewesen untereinander in Wechselwirkung geben können. Doch dieses trifft natürlich nur dann zu, wenn wir von Lebewesen sprechen, die Schaffende im besten Sinne des Wortes sind – sonst kann selbstredend ein Schaffender allein sich selber viel mehr geben – als Billionen Nichtschaffende mit dem Schaffenden zusammen untereinander – da jene diesen irritieren und herunterziehen. Nun ist es für die Melbourne-Literatur ein Kardinalthema, zu zeigen, wie sich Schaffende gegenseitig günstig zu beeinflussen vermögen. Zu dieser Beeinflussung ist natürlich ein Zusammenleben nicht notwendig – ja man erklärt sogar, daß das Zusammenleben in den meisten Fällen störend ist, da durch dieses die Originalität der Einzelnen zu heftig bedrängt wird. Andre sagen aber, daß ein zeitweiliges Zusammenleben auch sehr förderlich sein könnte. Die Hauptsache bleibt natürlich, derartige Wechselwirkungen an deutlichen Beispielen vorzuführen. Und das ergibt nun die kompliziertesten Künstlerromane. Daß in diesen das sexuale Element kaum gestreift wird, werden Sie, meine Damen und Herren, ja nur als gerechtfertigt empfinden – da ja die plumpen Annäherungsversuche, die wir zwischen den männlichen und weiblichen Lebewesen auf der Erdrinde konstatieren dürfen oder konstatieren müssen, nur der Fortpflanzung dienstbar und mit feineren geistigen Elementen gleichsam nur überzuckert sind. Kratzen wir den Zucker des Geistigen vom Sexualen runter, so hat dieses keine weiteren Reizmittel. Und wir tun daher gut, wenn wir diesen Zucker mit den andern Süßigkeiten der geistigen Existenzsphäre vermischen und das Sexuale zu vergessen suchen.«
»Bravo!« rief da die Clarissa.
Und die andern Anwesenden riefen auch »Bravo!«
»Nun möchte ich aber doch«, fuhr die Clarissa fort, »ein kleines Bild von dem Zusammenwirken und Zusammenleben der schaffenden Geister haben. Du erzählst heute so trocken, lieber Münch. Dürfte ich Dich nicht mal für ein paar Augenblicke allein sprechen? Vielleicht käme dann etwas mehr Leben in die interessante Geschichte vom Zusammenwirken und Zusammenleben.«
Darauf gingen die Beiden ins Liqueurzimmer.
Im Liqueurzimmer waren sie ganz allein, und die Clarissa sagte hastig:
»Münch, Du hast vorhin gesagt, daß zwei schöpferische Menschen in Melbourne nicht zusammenleben – oder so ähnlich sprachst Du; willst Du damit sagen, daß wir eigentlich vom nächsten Montag ab auch nicht zusammen leben können?«
»Sind wir«, erwiderte darauf der alte Herr, »zwei schöpferische Naturen? Ich erzähle doch nur von Dingen, die ich erlebt habe, biete nur ein einfaches Tatsachenmaterial; denkst Du denn, liebe Clarissa, ich hätte mir alle meine Ausstellungsgeschichten nur so zusammengedacht?«
»Nein! Nein!« rief die Clarissa.
»Also«, versetzte lächelnd der Baron, »bist Du beruhigt. Alles wird so arrangiert, wie wirs abgemacht haben, nicht wahr?«
»Ja! ja!« rief die Clarissa. Und sie tranken schnell zwei Glas Chartreuse auf das Wohl des kommenden Montags.
Und dann kehrten sie Arm in Arm zur Gesellschaft zurück, und der alte Herr fuhr fort:
»Daß die Kunst in Melbourne nicht im rein Äußerlichen versinkt, dafür sorgt schon die Literatur; das Thema von den Beziehungen der Lebewesen untereinander – was sie verbindet und wieder trennt – das muß ja mit allen nur denkbaren Intimitäten ausgestattet werden – und das zwingt natürlich immer wieder zur allerstärksten Innerlichkeit. Stellen Sie sich die Beziehungen von vielen Blütenwesen zu dem ganzen Baumwesen vor – auf andern Sternen – aber analog dem Pflanzencharakter unsrer Erdrinde – welche Perspektiven von entzückenden Zusammenklängen tun sich da vor uns auf. Andrerseits führt man uns in Melbourne auch Geschichten vor, in denen sich ein feineres Wesen mit vielen banalen zusammenschließt – und durch die Überwindung der Banalitäten neue Kräfte in sich erzeugt. Wir sehen dann auch, wie eine Fülle von Mißverständnissen einer großen Sache neue Seiten gibt – wie ein bewegter Wasserspiegel die oberen Bilder wohl verzerrt, aber auch gleichzeitig interessanter macht. Ein Hauptthema bleibt natürlich immer das Zusammenkommen, Zusammenbleiben oder Voneinandergehen zweier oder mehrerer Schaffenden – wie dadurch diesen Alles in neue Beleuchtung gerückt wird – und wie sie durch ein derartiges Intermezzo wieder neuen Schwung und neue Schaffenskraft empfangen. Dabei wird natürlich sehr eifrig beleuchtet, wie sich Schöpfertum und Entwicklungstum öfters feindselig gegenüberstehen und dann wieder freundlich Hand in Hand gehen. Es ist den Künstlern in Melbourne durchaus nicht so ohne Weiteres klar, daß der Schaffende tatsächlich eine selbständige Natur ist – man nimmt zumeist an, daß andre Geistersphären die Entwicklung des Schaffenden leiten – und daß das ganze Selbstbewußtsein des Schaffenden vielleicht nur ein köstlicher Traum sein könnte.«
»Aha«, rief die Clarissa aus, »jetzt mußt Du von den Geistersphären erzählen.«
»Liebe Clarissa«, sagte dazu der Baron, »daß Du immer nur das Allerschwierigste haben willst, spricht ja für Deinen sehr gut gebildeten Geschmack. Aber vergiß dabei nicht, daß man sich mit allzu scharfem Paprika sehr leicht den Magen und auch das Gemüt verderben kann. Natürlich bringt die Melbourne-Literatur auch Geschichten, die weit über die gewöhnliche Gespenstersphäre hinausgehen und uns Dinge sagen, in denen das Unerhörte und das Haarsträubende stecken. Da man mit den gewöhnlichen spiritistischen Phänomenen literarisch nicht allzuviel anfangen kann, so macht man sie natürlich interessanter, indem man sie verändert. Da bekommen wir dann die Übermedien, die neuen Odsphären und so weiter. Da wird natürlich an den schweren Pforten der Natur mächtig gerüttelt. Und schließlich sehen wir prächtige Sachen – die aber doch nur Paprikawert haben, solange sie sich nicht in die Sphäre der allergründlichsten Deutlichkeit rücken lassen. Wer zu viel haben will, bekommt am Ende garnichts – oder ein Ding, mit dem er nichts anzufangen weiß.«
Hiernach sagte der Baron ganz leise zur Gräfin Adolfine vom Rabenstein, daß er Hunger verspüre.
Da wurde denn sofort an kleinen Tischen gefrühstückt, und das Gespräch drehte sich um die kulinarischen Genüsse und um die Behaglichkeit.
»Ach«, sagte der Baron, »gehen Sie mir mit der Behaglichkeit ab, die führt zu nichts; sie ist ganz nett nach großen Taten, aber sonst so schwer wie Blei – oder wie Gold. So was Schweres gibt keine Flugkraft. Man muß die träge Behaglichkeit ebenso zu vermeiden trachten – wie man die allzu komplizierten Empfindungssphären zu vermeiden trachtet. Deshalb hat man auch in Melbourne eine große Abneigung gegen das Zuweitgehen der Überspiritisten, die immer gleich den Kern des Kerns sehen wollen. Wenn man die äußeren Erscheinungen längere Zeit hindurch ganz außer acht läßt und nur das Wesentliche – nur das Innerlichste – haben möchte, so kanns einem passieren, daß man so zerstreut wird, daß man plötzlich garnichts mehr hat und ganz idiotisch dreinschaut, als wenn überall nur ein ödes Einerlei existiere. Wenns uns mal auch so geht, so müssen wir gleich wieder zum Handgreiflichen greifen und uns sagen, daß der Weg zum Allerfeinsten keine grade Linie ist.«
»Wie stellt sich«, fragte nun die Clarissa, »die Literatur zur Philosophie und Religion?«
»Das ist ja«, erwiderte der alte Herr lachend, »das Allerschwierigste; sie kann sichs doch nicht abgewöhnen, nach dem Paprika zu verlangen. Na – gleich sollst Du haben, was Du willst. Ich wollte zum Vorigen nur noch bemerken, daß das astrale Außerirdische für die Literatur immer noch als das Solideste erscheint. Bringt man auf andern Sternen Wesen mit andern Organen – oder bringt man diese Sterne mit den andern Organen – so ergibt sich durch diese das neue Weltbild ganz von selbst – und man arbeitet mit festen bestimmten Faktoren – und schwebt nicht im ermüdenden Ahnungsreiche. Na natürlich, liebe Clarissa, ich weiß ja schon, was Du sagen willst: den Dichtern und Künstlern paßt es natürlich nicht, immerzu nach dem Einfachen, Erreichbaren zu streben. Das weiß ich. Und daher spielt natürlich alles Religiöse auch eine große Rolle in der Melbourne-Literatur – und das Philosophische desgleichen.«
»Rede doch erst vom Philosophischen!« rief die Clarissa lebhaft.
»Vollendeter Optimismus«, sagte der Baron, »herrscht im philosophischen Teile der Melbourne-Literatur. Die unerschöpfliche Fülle von Großartigkeit wird einerseits überall nachgewiesen – und andrerseits wird nachgewiesen, daß das, was kläglich zu sein scheint, es von höheren Gesichtspunkten aus nicht ist. Und dann wird überall auf die Bedeutung der Erkenntnistheorie hingewiesen, die uns lehrt, daß das, was wir als Wirklichkeit anzusehen gewohnt waren, nur eine Scheinexistenz hat – und daß dieser einen Scheinexistenz noch unzählige andere im großen Weltleben folgen. Das wird schon in den Volksschulen gelehrt.«
Da sagte die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein:
»Lieber Münchhausen, es ist aber nicht richtig, daß Du Dich derartig anstrengst. Du kannst Dir doch so leicht schaden. Man merkt Dir zuweilen eine kleine Ermüdung an, und das ist ja bei Deinen hundertundachtzig Jahren nicht verwunderlich.«
»Oho«, erwiderte Münchhausen, »wenn ich ein wenig müde aussehe, so hat das einen natürlichen Grund; das meiste von dem, was ich erzähle, ist mir derartig in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich garnicht mehr darüber reden mag, da ichs für selbstverständlich halte. Es ist ohne Frage nicht anders zu machen: was ich für selbstverständlich halte, kann ich nicht mit den glühenden Augen der Begeisterung vortragen, wenns auch an sich sehr großartig ist. Nehmen Sie mirs nichts übel, meine Damen und Herren, aber mir muß nach dem, was ich in Australien erlebte, doch hier in Europa stets so zumute sein, als wenn ich in einer Kinderstube sitze und artigen Mädchen und Knaben lustige Märchen erzähle. Es lebe Melbourne! Stoßen wir an!«
Da stießen alle Anwesenden mit ihren Gläsern zusammen und tranken dem Baron zu und sangen schließlich auf Clarissas Wunsch die australische Nationalhymne »Melbourne! Melbourne über alles – über alles auf der Welt.«
Danach ward es sehr lustig in der Villa des Grafen vom Rabenstein, und es ließ sich auch beim Diner, das dem Frühstück gleich folgte, lange Zeit kein vernünftiges Gespräch zustande bringen, da sich alle in einer seltsamen Ekstase befanden.
Aber als der Kaffee herumgereicht wurde, fuhr der alte Baron in seinen Erzählungen fort und sagte heftig, während Alle gleich mäuschenstill waren:
»Ich kanns mir ja denken, daß mich manche Leute heute nicht mehr für so unterhaltend erklären werden, wies einst die Leute im achtzehnten Jahrhundert taten. Aber das rührt mich nicht, denn ich weiß ganz bestimmt, daß ich heute viel großartigere Geschichten erzählen kann als damals. Meine liebe Clarissa wollte vorhin auch etwas von dem religiösen Element in der australischen Literatur hören. Nun – das ist sehr einfach gesagt: man spricht selbstverständlich niemals von einem Allgott – aus religiöser Scheu – indem man erklärt, daß die Welt viel zu groß sei, um über das zu reden, was sie als Ganzes zusammenhält – der nach allen Seiten unendliche Himmelsraum ist ja zudem nur eine einzige Erscheinungsform der Welt, der ja unendlich viele andre Erscheinungsformen in andern Sphären entsprechen könnten. Wie man derartigen Großartigkeiten gegenüber eine einfache Bezeichnung wie ›Gott‹ gegenüberstellen kann, begreift man in Melbourne nicht mehr. Man begreift aber sehr wohl, daß wir alle das Bedürfnis haben, vor der Großartigkeit der Welt in glühender Begeisterung zu knieen. Und dieses kann man in Melbourne in prächtigen Tempeln, in denen aber nicht gepredigt wird; man hört nur zuweilen eine wundervolle Musik in diesen Tempeln. Priester im europäischen und asiatischen Sinne gibts in Australien nicht, da man überall das Heiligste, was man empfinden kann, doch nur in den Werken der Literatur findet. Und da spricht man viel von dem großen Unbekannten – und von den großen Geistern in den weiter ab gelegenen Weltsphären – und auch von den sichtbaren Höhlengeistern der Tiefe. Aber alle diese großen Dinge werden mit einer so großen religiösen Scheu behandelt, daß man nur sagen könnte, man lese und schreibe davon – aber man spreche nicht davon. Es gibt in den Tempeln natürlich Tempeldiener, die aber nur für das Äußerliche zu sorgen haben. Gesprochen darf in den Tempeln nicht werden, hineinkommen kann man immer – auch in der Nacht. Aber etwas, das unserm Gottesdienste entspräche, gibt es in diesen Tempeln nicht – sie wirken allein durch ihre erhabene Architektur und durch die große Stille, die nur von Zeit zu Zeit von feiner Orchester- und Orgelmusik unterbrochen wird. Nicht einmal Gesangsstimmen dürfen hörbar werden in diesen Tempeln. Ein paar großartige kosmische Gemälde und Skulpturen sind zuweilen in den Tempeln zu sehen – aber das Sichtbarzumachende wird immer seltener gezeigt, da es nicht in Einklang mit den überwältigenden Gefühlen der Weltverehrung zu bringen ist, wenn zu oft auf Einzelnes und Bestimmtes hingewiesen wird. Eine Religion des Großen Schweigens haben wir in Melbourne. Und wenn davon auch viel in die Literatur übergeht, so kann man doch sagen, daß dort das Schweigen wirklich nicht zum Geschwätz wird. Man kann ja auch über die erhabensten Dinge so reden, daß es sich anhörte als spräche man mit einer nicht hörbar zu machenden Stimme.«
Der Gesellschaft wurde nach diesen Worten sehr feierlich zumute, und man wagte während der nächsten Minuten nicht eine Silbe zu sprechen.
Dann aber unterbrach der alte Graf Adolf vom Rabenstein das große Schweigen, indem er sagte:
»Wir wollen doch nicht den ganzen Abend schweigen. Ich erkläre, daß meine Villa kein Melbourne-Tempel ist.«
Da lächelte der Baron, und da lächelten auch die Gäste des alten Grafen.
Und dann sprach man weiter, doch es wollte mit den Gesprächen garnicht recht vorwärts kommen.
Schließlich meinte die Gräfin Clarissa:
»Münch, Du hast uns noch nichts vom Theater erzählt.«
»Richtig«, sagte Münchhausen, »das hätte ich beinahe vergessen. Die Geschichte ist natürlich sehr einfach. Die Theaterkunst ist eine Kunst wie die anderen Künste; ihr Darstellungsmaterial besteht ans agierenden Menschen und der dekorativen scenischen Umgebung. Diese kann nun aus einfachen drei Wänden bestehen – oder sie kann der Scenerie auf fernen Sternwelten entsprechen. Das erstere ergibt das rein-seelische, psychologische Tiefsinnsdrama, das man ja in Melbourne momentan nicht ›allzu‹ gerne sieht – die andere scenische Umgebung mit der naturalistischen Scenerie, die wir auf fernen unbekannten Sternwelten finden, zwingt natürlich den Schauspieldichter, im Geschmacke der australischen Bildhauerkunst und Malerei vorzugehen. Von dieser erzähle ich Ihnen morgen, jene aber kennen Sie bereits – und somit wird Ihnen das, was die sogenannte Theaterkunst in Melbourne liefern kann, wohl so ziemlich klar sein. Die Theaterkunst ist dort natürlich nur ein Stück der Literatur. Man will natürlich auch in Melbourne auf dem Theater ganz besonders die Entwicklung oder die logische Veränderung der einzelnen Lebewesen in raschen Bildern verfolgen. Auch der Dramatiker geht dort dem Geschmacke seiner Zeit nach und bringt das Neue in ähnlicher Form wie die anderen Künste. Nur noch eines möchte ich über die äußere Form der Bühne sagen: in Europa ist die Bühne des zwanzigsten Jahrhunderts aus der französischen Bühne des achtzehnten Jahrhunderts hervorgegangen, und in diesem liebte man die effektvollen äußeren Perspektiven – daher die schräggestellten Seitenkulissen. In Melbourne hat man natürlich das Bestreben, die Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert wegzuwischen – man spielt also nur vor einfachen rechtwinkligen Wänden – oder vor vollen Landschaften, die wie Panoramen rechts und links und nach oben und auch zuweilen nach unten weitergehen. Der sogenannte Bühnenboden fehlt sehr häufig, da in sehr vielen Stücken nur schwebende Gestalten erscheinen. Aber heute muß ich früher nach Berlin. Es ist zwar erst sieben Uhr – doch ich kann nicht anders.«
Der Baron stand auf und verbeugte sich. Alle standen ebenfalls auf und bedauerten sein Fortgehen.
»Wo warst Du«, rief da die Clarissa, »heute morgen? Das hast Du uns noch nicht erzählt.«
»Beim Kultusminister«, erwiderte der uralte Münchhausen, »er hat mir versprochen, die Erkenntnistheorie in den Volksschulen lehren zu lassen, und in den höheren Schulen soll der Kunstunterricht dem Turnunterricht gleichgestellt werden.«
»Ah!« riefen da Alle ganz laut.
Da küßte der Baron der Clarissa die Hand, und dann fuhr er von dannen.
An diesem Sonnabend fuhr der Baron aber nicht auf seinen Schlittenschienen, sondern auf seinen Rädern, da es Tauwetter war.