Paul Scheerbart
Münchhausen und Clarissa
Paul Scheerbart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Montag

Am Montag, dem sechzehnten Januar, fiel sehr viel Schnee, und die vom Grafen vom Rabenstein geladenen Gäste kamen des Abends allesamt in Schlitten, sodaß die verschiedenen Glocken der Pferde immerzu durch die Abendluft klangen und auch auf der anderen Seite des nun ganz verschneiten Wannsees zu hören waren.

Es kamen über hundert Gäste an – und sie hatten fast Alle berühmte Namen; Erfinder und Dichter, Künstler und Gelehrte, Ärzte und Architekten, Politiker und andere Leute betraten die großartige Villa des Grafen vom Rabenstein. Und Alle bewunderten die großartige Villa, die auch äußerlich von durchbrochenem Rankenwerk aus edlen Steinen umgeben war, sodaß sie auch äußerlich wie eine indische Elfenbeinschnitzerei wirkte. Innerlich war in den dreißig großen Empfangsräumen auch alles mit durchbrochener Schnitzerei umrankt – aber in der Innenarchitektur gabs mehr Holz, Bronze und Metalle – und nur wenig Arbeiten aus Stein.

Die meisten Gäste kamen schon nach fünf und fanden in den kleineren Zimmern gedeckte Tische mit Delikatessen, Tee, Rum, Cognac und Limonaden.

Und berühmte Damen waren natürlich auch da.

Und im großen Galeriesaal, in dessen Seitenwänden große Bogen waren mit köstlich geschnitzten Säulen und Balustraden, sollte der alte Baron Münchhausen feierlich empfangen werden.

Und der alte Herr erschien Punkt sieben Uhr in seinem Automobilschlitten vor der großen Prunkpforte der Villa, wurde vom alten Grafen persönlich empfangen und sofort in den Galeriesaal geführt. Eine Vorstellung fand nicht statt; alle Anwesenden ließen dem Baron ihre Photographieen mit Widmungsinschriften überreichen. Die Gräfin Clarissa überreichte ihre Photographie eigenhändig, und der alte Baron sah, daß die Gräfin ihren linken Arm in schwarzer Binde trug, und erkundigte sich, was das zu bedeuten hätte.

Da sagte die Gräfin lachend:

»Herr Baron, ich habe mich über Ihre Ankunft so sehr gefreut, daß ich gestern beim Schlittschuhlaufen garnicht ans Gestern und nur ans Heute denken mußte. Und diese Verwechslung der Tempora brachte es mit sich, daß ich den Wannsee plötzlich für einen Divan hielt und mich darauf niederließ – wobei ich mir den Arm verstauchte. Verzeihen Sie, daß ich so lange rede, aber ich bin so furchtbar glücklich, und der Arm tut garnicht weh.«

»Das freut mich«, sagte der Baron, »entschuldigen Sie sich nicht Ihrer langen Rede wegen: ich werde noch länger reden.«

Und der Baron fing gleich an:

»Meine Damen und Herren«, rief er laut, »wir wollen uns gleich zwanglos hinsetzen, und ich werde Ihnen gleich von der Weltausstellung in Melbourne erzählen. Ich muß mich ein wenig beeilen, da ich heute Abend noch mal nach Potsdam muß.«

Nach diesen Worten schrieb der Baron emsig in seinem Notizbuch und sprach dann, während die Gesellschaft ganz lautlos dasaß und kaum zu atmen wagte, das Folgende:

»Als ich vor dreizehn Monaten aus der Südsee nach Melbourne kam, wollte ich dort natürlich sofort die neue Große Weltausstellung sehen. Da hörte ich denn zunächst, daß nur Wochenbillets ausgegeben würden. Und ich kaufte mir ein Billet für eine Woche und fuhr an einem Montag noch vor Sonnenaufgang zur Ausstellung, die gute sechs Meilen nordwestlich von Melbourne liegt. Eine Bahn fährt nicht zur Ausstellung, sämtliche Ausstellungsbesucher werden in alten, sehr bequemen Postkutschen hinbefördert, die den großen Postkutschen des achtzehnten Jahrhunderts nachgebildet sind. Die Fahrt dauert sechs Stunden, aber man fährt in diesen alten Fahrzeugen so recht gemütlich, die Postillione blasen öfters, man sitzt auf weichen Lederpolstern, raucht so seine Morgencigarre in die Morgenluft hinein und blickt in die Landschaft hinaus, in der alles ländlich und friedlich aussieht, sodaß man ganz ruhig wird und sich so ganz aus allen Zeitverhältnissen herausgehoben fühlt. Und wenn man dann sein Ziel erreicht hat, so wird man empfangen – wie in einem Gasthofe des achtzehnten Jahrhunderts – von lauter bezopften Lakaien. Und danach fährt man im Fahrstuhl nach oben, wird in ein behagliches kleines Zimmer geführt und sieht einen kolossalen See in der Tiefe. Man setzt sich ans Fenster, bekommt ein gutes Frühstück, die Morgenzeitungen und die neuesten Bücher und Broschüren – und kann den See bewundern, den neun große Berge zusammen in Ellipsenform umlagern. Man hat garnicht die Empfindung, in einer Weltausstellung zu sein. Die Nerven fühlen sich so recht beruhigt. Man fühlt sich wie zu Hause und möchte garnicht wieder aufstehen. Und – meine Damen und Herren, das hat man da auch garnicht nötig, denn das Panorama, das man vom Fenster aus genießt, verändert sich allmählich: man sieht plötzlich riesige Fontänen aus dem See heraussteigen, dann sieht man, wie sich große Inseln nähern, sieht schwimmende Paläste und weite Parkanlagen und Wasserkünste und Terrassen und Türme und weite Alleen. Kurzum: die Zimmer des Hotel sind so eingerichtet, daß man in ihnen durch die ganze Ausstellung fahren kann. So recht was für bequeme Leute, die da gerne sagen ›Fahre zu Hause!‹ – Man fährt, ohne zu bemerken, daß man fährt. Und man sieht sich dabei alles in bequemster Situation vom Fenster aus an und ißt sein Frühstück dabei, liest auch ein bißchen, raucht und trinkt Limonade oder was Andres – ganz wie man will. Die Bedienung ist jeder Zeit zur Hand. Man kanns einfach nicht bequemer und angenehmer haben. Und langweilig ist es auch nicht, denn es kommt immer wieder was Neues, während man langsam um den ganzen großen See herumfährt. Und dann fährt man auch über den See weg und sieht die neun Berge fast von allen Seiten. Und nach dem großen Diner kommt man in die Mitte des Sees. Und da kann man sein Zimmer mal verlassen.«

Der Baron hielt aufatmend inne, steckte sich eine Cigarre an und bat die Anwesenden, doch auch zu rauchen – was denn auch die meisten taten.

Darauf fuhr der alte Münchhausen in seiner Erzählung fort:

»Wenn man diese Ausstellungsgeschichte erlebt«, sagte er leiser, »so wirkt sie ganz ruhig; wenn man sie aber erzählt, so strengt es doch sehr an, da die andauernde Bewegungskunst, die man zur Mitempfindung bringen muß, nicht zur Ruhe kommen läßt. Wenn man in der Mitte des Sees sein Zimmer verlassen darf, so wird man nicht an einer Stelle gelassen, an der man in Ruhe bleiben kann. Dreißig Riesentürme umgeben da in drei Kreisen einen mittleren Kolossalturm, der hundertfünfzig Stockwerke besitzt, während die anderen Türme nur hundertzwanzig, achtzig und vierzig Stockwerke haben – entsprechend den drei Kreisen, von denen der äußerste der niedrigste ist. Nun denken Sie sich diese sämtlichen Stockwerke durch lange Brücken miteinander verbunden. Und dann müssen Sie sich im Innern dieser Stockwerke Salons denken, die wie Fahrstühle auf und ab und auch über die Brücken fahren. Dazu dreht sich jeder Turm ständig um sich selbst. Und in dieser Drehscheibenarchitektur können Sie nun in einem einzigen Zimmer überall herumfahren. Das nennt sich natürlich ›bewegliche Architektur‹. Und wenn Sie bei dieser immerhin langsam wirkenden Fahrt zum Fenster hinausblicken, während Sie auf einem bequemen Sessel sitzen oder auf einem Divan liegen, so sehen Sie draußen immerfort eine sich langsam verschiebende Architektur wie langsam sich bewegende Kaleidoskope. Wenn mans erzählt, kann man eine kleine Drehkrankheit bekommen. Wenn mans aber erlebt, wird man von dieser beweglichen Architektur immer neue köstliche Eindrücke empfangen – und stundenlang habe ich an meinem ersten Montag hinausgeblickt und immer wieder die neuen Brücken und Galerien, die Balkons und die neuen Konstruktionen bewundert. Eine unbeschreibliche Fülle von Linien- und Flächenkompositionen tut sich bei solchen Fahrten auf. Sie dürfen natürlich nicht annehmen, daß eine Brücke so aussieht wie die andre – jeder Turm ist ein apartes architektonisches Kunstwerk und – jede Brückenverbindung ebenfalls. Die Brücken sind natürlich fest und machen die rotierende Bewegung der Türme nicht mit. Stellen Sie sich das Alles nur einmal mit geschlossenen Augen vor.«

Alle schlossen die Augen, und der Baron goß sich ein Glas Wein währenddem ein und schmunzelte, als er sah, daß man seinem Trinken nicht zusah; er goß sich noch ein zweites und drittes Glas ein und bemerkte dabei, daß die Gräfin Clarissa die Augen geöffnet hatte; er trank ihr lächelnd zu, und sie nickte und drückte dann ihr Spitzentaschentuch gegen ihren Mund.

Die Clarissa zog danach schnell ein kleines Notizbuch aus ihrer Tasche und schrieb da hinein:

 

»Sehr sehr verehrter Herr Baron! Seien Sie doch bitte so freundlich und kommen Sie morgen schon am Vormittag zu uns. Sie glauben ja garnicht, wie erlösend Ihr Erscheinen in Europa wirkt. Es ist durchaus nötig, daß wir Verschiedenes noch näher besprechen. Bleiben Sie nicht zu lange in Potsdam. Überhaupt: ich bin eigentlich sehr eifersüchtig auf Potsdam. Ich will natürlich nicht fragen, was Sie da machen – aber – ich denke mir natürlich eine ganz tolle Potsdamer Geschichte zusammen.

In Eile und in Begeisterung

C. v. R.«

 

Das Notizbuch mit diesen Zeilen überreichte die Gräfin dem Baron – er las, verbeugte sich und sagte leise:

»Es soll geschehen.«

Nach diesen Worten taten die Gäste des Grafen vom Rabenstein sämtlich wie dieser selbst wieder die Augen auf, und der Baron fuhr in seiner Erzählung folgendermaßen fort:

»Als ich gerade die Empfindung hatte, nicht mehr weiter die bewegliche Architektur verfolgen zu können, wurden wir hinausgerufen und standen danach gleich auf dem obersten Turmplateau in der Mitte der Ausstellung – sechshundert Meter über dem Seespiegel – und sahen, daß die Sonne bereits untergegangen war; ich hatte nach meiner Uhr volle fünf Stunden ohne Unterbrechung die bewegliche Architektur genossen. Der Rundblick war großartig; man sah die neun Berge ringsum wie neun große Ungeheuer daliegen. Die Berge waren, wie wir jetzt hörten, nicht viel höher als tausend Meter. Aber nun stieg auf jeder Bergspitze ein ungeheurer Fesselballon auf, und aus dem See stiegen ebenfalls ringsum neun große Fesselballons auf. Und als die achtzehn Ballons oben in großer Höhe schwebten, wurden sie von der untergehenden Sonne beleuchtet, daß sie oben wie große Weltbälle aussahen.

Und danach ward es dunkel.

Und dann schossen aus den Gondeln der Ballons mächtige bunte Scheinwerfer heraus und beleuchteten die Ballons, daß die ganz merkwürdig gefleckt aussahen – wie Schlangenhaut.

Und dann bewegten sich diese Schlangenhautballons, die immerfort anders gesprenkelt wurden, langsam weiter, sodaß sie unser Turmplateau umkreisten – wie riesige Planeten.

Zu diesem neuen Bewegungsspiele bemerkte ein alter Ausstellungsdirektor Folgendes:

›Meine Herrschaften‹, sagte er, ›wir wohnen doch bekanntlich auf einem Stern, der nicht einen Augenblick im Weltenraume stillsteht; wir fahren nicht nur mit der Sonne zusammen rasend rasch in einer großartigen Kurve weiter, wir drehen uns auch immerzu umeinander – die Erde um die Sonne, der Mond um die Erde und so weiter. Demnach müssen wir auch darauf bedacht sein, auf unsrer Erdoberfläche ein ähnliches Fahrten- und Drehungsspiel zu veranstalten. Es ist doch allzu einförmig, immerzu auf einem Punkte zu sitzen und dabei immerzu dieselbe Aussicht zu genießen. Wir müssen Bewegung in unsre Natur- und Kunstgenüsse hineinbringen. Und Sie werden sich wohl überzeugt haben, daß es auf unsrer Weltausstellung in Melbourne gelungen ist, Bewegung in unser ganzes Leben zu bringen. Sehen Sie sich doch die Vögel an: sitzen die immerzu auf denselben Zweigen? Nun ja, und – sind wir Menschen nicht viel mehr als die Vögel?‹

Während aber der Herr Direktor in dieser Weise weiter redete, sah ich plötzlich zum See hinunter und erblickte da lange leuchtende Streifen, die sich immer höher heraushoben. Was sich nun zwischen unserm Mittelturm und den neun Bergen entwickelte, läßt sich einfach garnicht mit ein paar Worten beschreiben: es entstanden in einer halben Stunde kolossale Wände, die vielfach durchbrochen waren und das Seegebiet in neun Riesenzimmer verwandelten. Nun – und diese Riesenwände teilten sich bald – wurden magisch von unten aus beleuchtet – es bildeten sich Dächer – Balkons, Terrassen – aus lauter fächerhaft dünnen Wänden – es entstand eine bewegliche Kulissenarchitektur, die aller Beschreibung spottet. Ich bin erschöpft, meine Damen und Herren, und muß eine Pause machen.«

Die Gäste des Grafen vom Rabenstein erhoben sich von ihren Plätzen und verbeugten sich dreimal feierlichst vor dem alten Baron. Und der Baron stand auch auf, verbeugte sich ebenfalls und sagte lachend:

»Der Herr Graf wird uns jetzt zunächst ein wenig erfrischen. Es ist doch nichts so anstrengend als das Genießen.«

Da kamen denn sofort die Diener mit allen möglichen Getränken, mit Kaviar und Appetitbrötchen.

Und alle sprachen in den nächsten Augenblicken so laut und heftig zueinander, daß der Graf vom Rabenstein ganz erschrocken den Baron fragte:

»Wollen Sie heute noch weiter sprechen?«

»Allerdings! Allerdings!« versetzte der Baron. Da rief die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein:

»Meine Damen! Meine Herren! Trinken Sie um Himmelswillen so vorsichtig wie möglich. Der Herr Baron von Münchhausen will nachher noch weiter erzählen. Da müssen wir sehr vorsichtig sein, daß wir nachher auch dem alten Herrn folgen können.«

Diese Worten hatten natürlich nur die Nächststehenden gehört – aber sie wurden weitergegeben – und danach tranken alle ganz vorsichtig nur ganz wenig, um dem alten Münchhausen nachher auch noch ganz ordentlich folgen zu können.

Der Baron sprach dabei mit der alten Gräfin Adolfine vom Rabenstein.

»Wir können uns garnicht genug wundern«, sagte sie kopfschüttelnd, »daß Sie so jung aussehen. Man könnte Sie für achtzig Jahre alt halten. Aber daß Sie hundertundachtzig Jahre alt sind – nein!«

»Oh«, versetzte der Baron, während er ein ganz altes vergilbtes Papier hervorzog, »aus diesem meinem Taufschein können Sie ersehen, daß ich wirklich so alt bin, wie ich sage.«

Und die Gräfin nahm ihre Lorgnette und studierte den Taufschein.

Und währenddem erklärte die Gräfin Clarissa dem alten Baron, daß sie schon jahrelang an ihn gedacht habe – und daß sein Kugelritt über ihrem großen Spiegel der einzige bildliche Schmuck ihres Zimmers sei.

Der Baron lachte dazu und streichelte ihre linke weiße Hand mit seiner alten tausendfältigen braunen.

»Sind Ihre Kopfhaare«, frage die Clarissa dabei, »auch wirklich ganz echt?«

Da nahm der Baron der Gräfin Hand und legte sie sich auf den Kopf und sagte schmunzelnd:

»Meine weißen kurzen Haupthaare sind so echt wie meine weißen Schnurrbarthaare – und auch so echt wie meine buschigen Augenbrauen. Alle meine Haare sind eifrig beschnitten worden in den hundertundachtzig Jahren. Das können Sie sich wohl denken.«

»Das kann ich mir denken!« sagte die Clarissa, während sie ihre Hand vorsichtig aus des Barons Hand herauszog.

Hiernach bat der Baron abermals ums Wort und sprach also:

»Die Kulissenarchitektur auf dem Weltausstellungssee zu Melbourne war von unbeschreiblicher Großartigkeit, aber diese wurde, als die Sterne am Himmel erschienen, durch eine Lichtarchitektur, die sich oben über uns in der Luft langsam entwickelte, einfach übertrumpft. Es scheint überhaupt in der ganzen Welt notwendig zu sein, daß selbst das Großartigste immer noch übertrumpft wird. Warum das so ist, weiß ich nicht – doch ich finde es sehr nett, da wir auf diese Weise niemals an ein Ende gelangen wir werden nie das Allergroßartigste erblicken – dazu ist die unendliche Welt allzu großartig. Doch entschuldigen Sie meine Abschweifung! Sie werden sich von der Lichtarchitektur eine kleine Vorstellung bilden können, wenn ich Ihnen erzähle, daß die achtzehn Fesselballons durch unzählige Drähte untereinander und mit dem Erdboden verbunden waren – und daß diese Drähte elektrische Lichter trugen – und zwar so viele, daß die Zahl der im Teleskop sichtbaren Sterne dagegen nicht allzu groß erscheint. Und wie unzählige bunte Sterne flammten nun oben die elektrischen Drahtlichter auf. Und das gab schließlich eine Sternenkrone ––– die unbeschreiblich ist. So was kann man nicht schildern. Das ist überwältigend. Stellen Sie sich noch vor, daß immer wieder andre elektrische Flammen aufleuchteten, daß die Flammen immer wieder andre Farben bekamen, daß dazu noch die farbigen Scheinwerfer aus den Gondeln wie riesige Kometen hineinfuchtelten – und daß sich die riesigen Ballons auch mit kleinen bunten Flammen bedeckten, die wie Brillantengeflechte die großen Kugeln umgarnten – und daß sich diese ganze Sternenkrone in ständiger langsam rotierender Bewegung befand ––– so haben Sie ein Nachthimmelsbild, das Ihnen für einige Zeit den Schlaf rauben dürfte.«

Münchhausen hielt erschöpft inne.

Und die Zuhörer und Zuhörerinnen wagten kaum zu atmen und bewegten sich nicht. Es war mäuschenstill.

Und der Baron fuhr wiederum fort:

»Dieses alles«, sagte er, »bildete nur den äußeren Rahmen der Ausstellung. Aber das Innere der Ausstellung war deshalb nicht minderwertig. Wir fuhren in kleinen halboffenen Wagen auf Drahtseilbahnen um den ganzen See herum und bekamen dadurch zunächst einen Begriff von der architektonischen Ausgestaltung der neun Berge. Da hatte man kolossale Terrassenbauten – ganz steile und ganz schräge – angelegt – solche mit beleuchteten Wasserwerken – und auch solche, die stellenweise nur mit Blumen und Bäumen bedeckt waren – andre wieder, die nur mit spiegelnden glänzenden Glasflächen und Glaskuppeln wirkten – und abermals andre, die nur einfach Steinarbeiten zeigten. Es waren auch Architekturen da, die ganz in der Bildhauerkunst aufgingen – und auch solche, die nur im Ornament sich auslebten. Und welche Ornamentik sah man da! Die Kaleidoskopornamentik übertrumpfte die symbolische, und die kecke Linienornamentik übertrumpfte die kaleidoskopische! Und in Schluchten sahen wir öfters hinein – in Schluchten, die einfach ins veritable Jenseits zu führen schienen.«

Hier bat der Baron den Grafen um eine Cigarre, und er steckte sie sich umständlich an, während alle Gäste die Augen schlossen, um sich eine Vorstellung zu bilden von dem, was der Baron soeben erzählt hatte.

»Ich hätte«, sagte er, »Ihnen eigentlich ein paar Schock Photographieen zeigen müssen. Sie hätten dann ohne Weiteres ein paar anschauliche Bilder von dieser großen Weltausstellung gehabt. Indessen – wie das so auf Reisen zu gehen pflegt – der Kasten, in dem ich meine Photographieen untergebracht hatte, ist verlorengegangen. Es ist sehr ärgerlich und traurig.«

Da riefen alle »Ach!« und »Oh!« und die Damen taten ganz untröstlich. Die Herren steckten sich aber währenddem sämtlich Cigarren an.

»Ich will Ihnen nun«, sagte Münchhausen, »heute nur noch so viel von meinem ersten Montag erzählen: um Mitternacht fuhren wir mit unsern kleinen Drahtseilwagen – auf Zahnraddrahtseilen zu den großen Fesselballons empor. Und oben fuhren wir um alle achtzehn Ballons herum – mit rasender Fixigkeit – durch die ganze Lichtarchitektur. Und diese Fahrt da oben in der Lichtarchitektur war die herrlichste Fahrt meines ganzen Lebens. Jetzt muß ich aber nach Potsdam fahren.«

Der Baron sprang plötzlich wie ein Jüngling auf, küßte der alten Gräfin und auch der jungen Gräfin die Hand und verbeugte sich vor den Anwesenden, die plötzlich stürmisch ausriefen:

»Lange lebe Münchhausen!«

Die Gräfin Clarissa überreichte darauf dem alten Herrn eine kostbare Orchidee.

Und danach verließ der Baron mit dem Grafen die Gesellschaft und setzte sich in seinen Automobilschlitten.

Und dann fuhr er nach Potsdam.

Der Mond schien ganz hell.

Und der Schnee knirschte unter den Schienen des Schlittens; es war kalt auf der Erde. Aber die Schneeflocken, die jetzt fielen, funkelten nun auch wie unzählige Brillanten.

Und der alte Baron sah die funkelnden Schneeflocken, die durch das helle Licht seiner elektrischen Schlittenlampen zum Funkeln kamen, und er dachte an die Sternkronenfahrt, von der er soeben erzählt hatte.


 << zurück weiter >>