Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
1
Es gibt für den Menschen nicht eine Wahrheit, die als ein allgemein zugänglicher vernunftgemäßer Gedankengehalt von jedermann, wenn er nur will, erfaßt werden könnte. Die Wahrheit ist nicht ein aufgestelltes Ziel, in das die richtig zielende Erkenntnis zu treffen vermöchte. Wahrheit ist überhaupt nicht ein zubereiteter, denkbar geformter Inhalt, sondern eine gedankenvolle Bewegung, ein erfüllter Gedankengang, ein lebendiger Weg. »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Das sind ebenso viele gleichbedeutende Ausdrücke für ein wahrhaftiges Dasein, an dem der teilhaben kann, der ihm nachfolgt.
Wahrheit ist nicht eine Fahne, die führt, nicht eine ausgegebene Losung, an der die Wahrhaftigen einander erkennen, sondern die lebendige Gewißheit, auf dem Wege zu sein, fortzuschreiten, ohne zu stocken. Was man Wahrheiten nennt, sind Einzelerkenntnisse vorläufiger oder vereinbarter Einsicht, durch die Denkarbeit vieler Aufeinanderfolgender zustande gebrachte Gedankendinge, die jedermann, der die Kraft dazu in sich fühlt, in ihre Bestandteile aufzulösen, zu verfluchtigen befugt ist. Was der Verstand aus sich schöpft, ist immer seinen eigenen Zwecken gemäß: er hat nichts außer ihm selbst gleichsam auf die Erlösung durch ihn Harrendes zur Aufgabe. Der Verstand ist nichts als ein Mittel menschlicher Lebensfähigkeit, kein Schlüssel zu Rätseln, die sich ihm zu offenbaren geneigt wären. Er begreift die Wirklichkeit als sein Bild, nicht als für sich seiendes Wesen. Und was die Vernunft ihrer nach Vollständigkeit, Vollendung strebenden Natur nach vom kurzsichtigen Verstände fordert, kann er ihr nicht leisten. Sie hat eine nach allen Richtungen ausstrahlende Unersättlichkeit, die nur als auskreisende Bewegung sich selbst überhöht, ohne aus ihrem Mittelpunkt fallen zu können.
2
Die Wahrheit ist nicht ein sogenanntes Endziel. Der Weg, der die Wahrheit ist, ist ihr Leben. »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, sagte Christus, nicht: »Am Ende des Weges, den ich euch, der lebendige Christus, führe, ist die Wahrheit.« Das heißt: die Wahrheit ist nicht etwas zu Erreichendes, sondern etwas zu Erlebendes. Nicht durch das Denken, den Gedankengang, gelangt man zur Wahrheit, sondern das Denken ist nur als Leben Wahrheit und nur lebendig in der Wahrheit.
3
Die Wahrheit ist von Ewigkeit. Aber die Zeitlichkeit ist nicht außer der Ewigkeit. Und so ist die ewige Wahrheit wirksam in der Zeit. Die Ewigkeit erhält die Wahrheit in der Zeit, indem sie den Atem anhält. Und so erleben wir, immer wieder, die Wahrheit im Augenblick von Ewigkeit.
Nur der darf als Denker gelten, der begreift, ohne daß er in Begriffe verwandeln müßte, was sich an die Erkenntnisfähigkeit wendet. Die Begrifflichkeit fälscht nur zu leicht das mit feinerer Besinnlichkeit zu Erfassende. Man muß gleichsam den Duft, der unaufhörlich aus dem atmenden Leben des Geistes hervorgeht und sich nicht so sehr feststellen wie genießen läßt, zur Erkenntnis erheben. Es liegt immer am ganzen, das man so schaut, nicht am einzelnen, das man daraus sondern zu sollen vermeint und alsbald zerstreut.
Ebenso, aus dem eigenen Ganzen heraus, ist der wahre Denker, der sich äußert, zu vernehmen. Dazu ist freilich nicht nur höchste Empfänglichkeit überhaupt, sondern insbesonders wahlverwandte Art Voraussetzung. Wie ganz anders aber gehen einem alsdann Einheit und innerer Zusammenhang auf, die sich aus Gegensätzlichkeit und nur in ihr ergeben! Das heißt: man kann einen Denker nur so erleben, wie er selbst denkend erlebt, was ihn ausmacht, indem er es denkt. Alle Mißverständnisse gerade der Größten – Pascal, Spinoza, Leibniz, Malebranche, Lessing, Lichtenberg, Kant – rühren davon her, daß sie von unzuständigen Forschern, Menschen, die nur einseitig und leblos, nämlich an der Schnur zu denken imstande sind, dargestellt werden: man vergißt, daß, wenn irgendwo, so auf dem Gebiete des Denkens, die Ebenbürtigkeit das unverbrüchliche Gesetz der Nachfolge ausspricht.
Gewißheit ist der höchste Grad der Überzeugung, der – immer wieder verharrende – Augenblick der Überschattung des Subjektes durch das Objekt, das den Zenit erreicht hat. Niemals aber selbst Objekt. Es gibt keine als solche zu erfassende Gewißheit. Das, was man ewige Wahrheiten nennt, sind ohne Erklärung einleuchtende Tatsachen des Bewußtseins (nicht mit dessen Voraussetzungen zu verwechseln, die es in sich einsieht, gleichsam als seinen widerspiegelnden innern Umfang). Der Geist ist durchaus Subjektivität, kann sich nicht entrinnen ins Objektive, das er als seinen Gegenstand begreift, in sich hineinzieht, um ihn sich gegenüberzustellen. Jede Erkenntnis, auch die Gewißheit, ist ein Bewußtseinsakt, aber über die Gewißheit hinaus, »hinter« sie reicht die Selbsterstreckung des Geistes nicht.
Wer alle Erkenntnis auf die Vernunft zurückführen, auf sie beschränkt sehen will, verleugnet, blind gegenüber unbestreitbaren Tatsachen, das wirksame Dasein der wichtigsten Erkenntnisquelle, der unmittelbaren Gewißheit. Sie ist nicht Ergebnis vernünftiger Überlegung, sondern lebendige Geisteswirklichkeit, unerweisbares Erfassen der unerklärlichen Wesenheit. Ohne sie verlöre die Vernunft die Grundlage für ihr Gebäude. Man sollte dem Begreifen nicht das Empfinden entgegensetzen. Es sind zwei voneinander verschiedene Ordnungen unserer »Seelenkräfte«. Dagegen baut sich das Verstehen, das immer Grund braucht, um sozusagen erst Fuß zu fassen, auf einem – nicht mit Empfinden zu verwechselnden – Erkennen auf, das seinen Gegenstand gleichsam in sich faßt, nicht, wie das Verstehen, sich gegenüber haben muß.
Alle Aussagen über Gott und die Welt, gar die nach Grundsätzen geordneten (systematischen), taugen nicht mehr als unmaßgebliche Meinungen, Vorstellungen, Einbildungen sonst. Sie sind für den jeweiligen Denker mehr oder weniger bezeichnend – mehr oder weniger deshalb, weil alle voneinander in den Gedankengängen abhangen und wär's als Gegner –, tragen aber zur Erkenntnis des Gegenstandes nichts irgend Erhebliches bei. Weil der unerkennbar ist. Wir wissen nichts vom wahren Wesen Gottes und der Welt und können davon nichts wissen noch jemals erfahren. Wem Offenbarung mehr besagt als Eingebung überhaupt, nämlich verbürgte Kunde, mag sich getrost an diese Quelle halten. Sicherlich ist ihr in den Religionen überlieferter Ausdruck als ahnungshafte Entsprechung des Verborgenen befriedigender als alles von sich ausgehende Denken darüber, weil andere Seelenkräfte hier, bis zur Erlösung vom Meinen überhaupt, mitwirken.
Denken kann sich seiner richtig erfaßten Natur nach nur auf das Denkbare erstrecken. Das aber ist nicht ohne Grundlage im Erfahrbaren, also Anschaulichen, ergiebig. Daher ist Kants Kritik der reinen Vernunft – der sogenannten spekulativen »reinen«, denn schon die der sogenannten praktischen schwärmt unkritisch fordernd über die Grenzen – die einzige wahre und wahrhaftige, weil menschenmögliche und »würdige Philosophie. Sein eigenes Denkvermögen auszumessen, ist der Mensch als Vernunftwesen imstand und befugt. Alles andere, darüber hinausgehende Forschen, ein Grübeln und Worteln, ist zwar offenbar vernunftgemäß – sonst fände es nicht immer wieder statt –, aber aussichtslos. Und daran ist nichts Befremdendes: warum müßte, sollte, könnte, dürfte das irdische Leben des Geschöpfes Aufschlüsse erfahren, die dieser Spanne Vergänglichkeit das Zeitlos-Unvergängliche, das Unendliche anders als im Gleichnis und auf Augenblicke des Innehaltens im scheinbaren Ablauf näherten? Wie ein Blitz die Nacht erhellt, ohne dem rings einfallenden Dunkel wehren zu können, so besinnt sich das in uns, was mit dem Ganzen zusammenhängt, plötzlich seiner Unentrinnbarkeit: das ist alles.
Über den Begriff des buddhistischen Nirwana sind Bekenner der Lehre so wenig wie Gelehrte, die sie erforschen und darstellen, einig. Es kommt nicht so sehr auf den Begriff wie auf das Begreifen an. Dieses aber setzt eine der des Stifters der »gottlosen« Religion verwandte Geistesverfassung, die des unbedingten Denkens, voraus. Es ist nicht die Spur von Mystik in solcher Denkweise. So wenig wie von Dogmatik. Ihr Wesen ist die innere Folgerichtigkeit der Erkenntnis. Ihr Gegenstand, das unbedingte Sein, ist dem unaufhörlichen Denken unerreichbar. Nur durch fortwährende (im Bilde: stufenweise aufsteigende) Verneinung des scheinbaren Werdens, die aber nicht etwa, wie man immer wieder gemeint hat, das Nichts oder das Nichtsein – ein Unding – zum Ziel hat, sondern durch unausgesetzte Entspannung die Selbstauflösung des Denkens zum Inhalt, gelangt der unbeirrbare, weil überzeugte Denker über sich, das ist das Selbstbewußtsein und das Sein überhaupt hinaus, das er aufgibt, los wird in der Erlösung. Dieser Zustand, der nicht erst mit dem Übergang vom Leben ins Nichtmehrleben, durch den Tod, sondern schon im überlebten Leben, und zwar als zeitloser durch ein ewiges Nu anhebt, ist Nirwana, die gegenstandslose unerfühlte Seligkeit des Unpersönlichen im Mittelpunkt der Bewegung, der ewigen Ruhe.
Man muß sich, was abendländischen – aristotelischen, d. i. logischen – Denkern schwerfällt, ja unmöglich zu sein scheint, bei dem Versuch, die Metaphysik des Buddha zu erfassen, nicht nur der Vorstellung des naiven Realismus, den Kant ad absurdum geführt hat, sondern – abgesehen von jedem Psychologismus, der bei Kant noch beirrend mitspielt – auch des eigentlichen Logismus der sogenannten Erkenntnistheorie, d. i. der transzendentalen Selbst» oder Grenzbestimmung der Vernunft, als einer Vorläufigkeit, eines von selbst verständlichen Prolegomenon begeben, muß wie im Gegenstandslosen, weil Unwirklichen, so im Subjektlosen, dem als denkend aufgegebenen (selbstbewußtlosen) Bewußtsein, also in einem Seinlosen denkend bestehen können, eben in jenem Nu, das wie das ewige Ziel so das unmittelbare »Mittel« der Erlösung vom Denken und vom Gedachten, der Welt als Schein und ihrem Widerschein in einem sie erdenkenden Prinzip ist: denn nach dem Buddha »gibt es nichts«, was nicht heißt, daß es das Nichts gebe, sondern daß nichts sei, was als Etwas sei, ein »Nihilismus«, der nicht das Nichts setzt, sondern das Es wie das Ich in Selbstauflösung verneint. Nicht in einem Es geht das Selbst auf, sondern es zergeht durch die erlösende Betrachtung von selbst.
Nicht der Gedanke ist schöpferisch, sondern die Idee. Die Idee zeugt, der Gedanke empfängt. Die Idee ist das Urbild des Wirklich-Werdenden, der Gedanke ist das Abbild, der Widerschein des Seienden im Geiste. Die Idee ist ewig, der Gedanke ist in der Zeit. Die Idee ist Einheit, der Gedanke Vielheit, Ausdruck, Zeichen.
Der Gedanke beruht auf Übereinkunft des Denkens mit sich selbst, die Idee auf der Übereinstimmung des Wesens mit Gott. Alles, was ist, stammt aus der Idee, hat Zusammenhang, Sinn. Der Gedanke steht unbeweglich an seiner Stelle im Gefüge des Denkens, er bewegt sich nur mit dem ganzen Gefüge, das der Idee vom Denken entspricht. Die Idee ergibt sich aus dem göttlichen Urgrund immer wieder bis an ihren Umfang, das Wirkliche (weshalb jeder einzelne Baum immer wieder den Umfang seiner Idee, die Gattung, erreicht, immer wieder, so lang er lebt, der Idee des Lebens gemäß blüht, welkt, blüht).
Nur aus der Idee wird, wie Wirkliches in der Natur, Wirksames, Wahres in der Kunst. Im Werk ergibt sich die Idee an den Umfang der Form, seine Gestalt. Form ist von Idee (nicht von Inhalt) erfüllte Gestalt.
Nur vom lebendigen Mittelpunkt der Idee, von Gott, ist das Werk zu erfassen. Jedes Kunstwerk hat Ewigkeit in sich.
Gott ist die ewige Ruhe des alles enthaltenden Mittelpunktes der Bewegung.
1
Die glatte Fügung: »Alles hat zwei Seiten« ist die Zauberformel der Erkenntnis. Es kommt darauf an, daß man die zwei Seiten – die einander widersprechen – zugleich erblicke. Die Erkenntnis lähmt die Tatkraft. Nur solange man auf einer der zwei Seiten bleibt, die andere nicht sieht, ist Wirken möglich. Wer beide Seiten erblickt hat, lächelt schmerzlich. Aber nicht in diesem schmerzlichen Lächeln besteht die Philosophie; sie fängt erst an, wenn man nicht mehr lächelt, sondern die Antinomie, die man erschaut hat, die Voraussetzung zum Denken im höheren Sinn, allen Ernstes aufzulösen unternimmt. Und der Glaube, daß dies überhaupt möglich sei, macht den Philosophen, wie er den Künstler bedingt.
2
Es ist falsch, was das deutsche »Zeitalter des Humanismus«, von Kants künstlichem Gebilde einer »praktischen« Vernunft irrgeführt, behauptet, daß, wie Wilhelm von Humboldt es ausdrückt, die Philosophie den Menschen zum Zwecke habe: Platon und Aristoteles, Spinoza und Leibniz, Pascal und Malebranche zeigen, wie später, nach Kant, Schelling und Schleiermacher, Schopenhauer und Kierkegaard, jeder auf seine Weise, das wahre Ziel der Weltweisheit: das Ganze. Daß es, das die Überwelt begreift, unerreichbar ist, benimmt ihm nichts an seiner Wirklichkeit, ja, wie schon Lessing, der sein Jahrhundert gleich Lichtenberg an demütiger Einsicht überragt, es inbrünstig bekennt: nicht die Wahrheit, vielmehr das unablässige Ringen nach der Wahrheit, ist das dem Menschen nicht nur angemessene, sondern eben in seiner Unstillbarkeit ihn immer wieder befriedigende Wesen der Erkenntnis: der Weg ist die Wahrheit.
1
Wir haben, außer den Sinnen, die mit der Hilfe des Verstandes die Anschauung der verstandesmäßigen (gegenständlichen) Welt (Natur) bewirken, zweierlei Erkenntnisfähigkeit: die Vernunft und das Gefühl. Was immer wir mit der Vernunft betrachten, das heißt als vernünftige Vorstellung zu begreifen trachten, erfährt ihren, den gedankenhaften Ausdruck der Begrifflichkeit und der Schlußfolgerung des Gedankengangs. Wesentlich davon verschieden ist das unbedachte und unbegreifliche Fühlen. Wahrheit, das uns als Erkenntnis Faßliche oder Einleuchtende, ist nicht auf die Vernunfterkenntnis beschränkt.
Es ist eine Tatsache der Geschichte des Geistes, daß die Vernunft im Laufe der Entwicklung des abendländischen Vorstellens überhaupt das Übergewicht über das unmittelbare Gefühl erlangt hat. Während das Denken bis zu einem gewissen Zeitpunkt – als den wir das Auftreten des methodischen Zweifels (Descartes) ansetzen dürfen – zumindest in seinen Voraussetzungen oder in unbestrittenen Annahmen sich der Herrschaft des Gefühls unterwarf – Pascal ist der Höhepunkt dieser schon mit dem Zweifel bewußt ringenden, ihn aber gefühlsmäßig auf das Gebiet seiner Befugnis einschränkenden Weltbetrachtung –, verdrängt seither die vernünftige (abgezogene) Vorstellung das unvernünftige (naive) Erfassen der Wirklichkeit (Natur und Übernatur): an die Stelle des (auch unanschaulichen) Erlebens tritt das folgerichtige, vielmehr das Erleben berichtigende Denken.
Diese Verschiebung in der Rangordnung der als gleichberechtigt andauernden Quellen oder Mittel der Erkenntnis ist – von den Erlebnissen abgesehen – als geistige Haltung ebenso unverkennbar wie als Verhalten bedeutsam. Es erklärt sich daraus die völlige Veränderung in der Stellung des Menschen zu seinen geistigen Notwendigkeiten sowohl wie zu seinen bewußten Aufgaben. Er ist zugleich gescheiter wie flacher, einseitig und ahnungslos, schwächer geworden: sein Schwerpunkt hat sich veräußerlicht, sein Gleichgewicht ist ins Schwanken geraten. Er ist aus dem Ganzen gefallen und hat das eigene Ganze eingebüßt.
2
Das Denken war im ganzen sogenannten Altertum vorzugsweise mystisch oder symbolisch. Es war auf das Entstehen, also auf das Unerfaßliche gerichtet. Es schuf Mythologien und Weltsysteme. (Psychologie als Beobachtung der inneren Vorgänge bleibt auch in späteren Zeiten ein Nebengebiet des eigentlichen Denkens, selbst der Sittenlehre, deren Ausgang höher liegt, dient sie nur als Behelf oder Beleg.) Das Christentum, das als Glaubenslehre auf der Weissagung, der Vorausverkündigung des Ein- und Ausschließlichen gründet, verzichtet auf jede andere als die seiner geistlichen Deutung des Ganzen genügende Ursprungsbetrachtung: es hat ein, über alles Leben hinaus, hinaufweisendes Ziel, das zugleich vor allem Anfang ist. Sein Sinn ist jenseits der Erfahrbarkeit. Damit ist seine Geistigkeit als ein Ganzes im Gefühl bestimmt. Das christliche Denken ist Gottesweisheit, sei's Mystik oder Denküberschwang, Denkergießung, sei's Dogmatik oder Lehre von den Glaubenswahrheiten. In dem Augenblick, da das reine Denken – im Gegensatz zu dem vorangehenden, das von der Theologie als Inbegriff weder loskann noch losverlangt, – auftritt und mit seiner Forderung nach der menschlichen Wahrheit (die nicht die unbedingte sein kann) sich selbst aller Voraussetzungen zu begeben vermeint, versinkt eine bis dahin in ihrer Unsichtbarkeit dennoch als Gewißheit im Glauben gegebene Welt. (Ganz so wie mit der ernüchternden Bewußtheit die gewisse Welt des Kindes, ein Wunder an erlebter Wirklichkeit, versinkt.) Nunmehr geht das Denken (das überall anfangen kann, somit am sichersten beim Zweifel an allem beginnt) seinen geradlinigen Weg und zieht den ganzen Menschen in seinen die Welt verödenden Bann. Auf ein entschwebendes, sich versagendes Ziel gerichtet, verliert er den Weg unter den Füßen. Bis er einsieht, daß er bestenfalls sein Denken erdenken kann, und die eigene Denkspur zurückmißt in den Mittelpunkt ... Die meisten aber tappen im rings andringenden Dunkel weiter, ins Endlose. Das klägliche Stümpchen ihrer halbschlächtigen Vernunft wirft nur flackernde Schatten verwirrend über den von unzähligen Schritten ausgetretenen Pfad.
Die »richtige Mitte« in Denken und Handeln ist nicht, wie es scheinen will, die Halbheit als der »Durchschnitt« der »unvereinbaren Gegensätze«. Gegensätze sind keineswegs unvereinbar, sondern machen die Einheit des unbefangenen, das heißt, nicht einseitigen Geistes aus. Das Richtige aber ist das unmittelbare Gewissenhafte, das, was dem Wahrhaftigen und Redlichen als Erlebnis der Wahrheit und der Rechtlichkeit Selbstverständlichkeit und Bedürfnis bedeutet. Richtig heißt das Rechtmäßige, weil es die Übereinstimmung der vernünftigen Erkenntnis mit dem Gewissen (conscientia = Gewißheit des unerkannten, aber einleuchtenden, sozusagen instinktiven Gewissens = certum) bekundet.
Ich halte nichts von Programmen, weder auf dem Gebiete des Sittlichen, des Wirklichen, noch auf dem der Kunst, der höheren Wirklichkeit oder des Unwirklichen. Das, was mir für jedes Programm, die Aufzählung eines Vorhabens, steht, ist der Mann, der etwas ist, in sich hat, was ihn ausmacht! Das beste Programm ist der zu sich selbst entschlossene Wille. Wille geht aus Vermögen hervor. So wie Glaube aus der Gewißheit. Ohnmächtiger Wille ist ein Widerspruch. Schwankender Glauben Unglauben, Zweifel. Wer will, weiß, was er kann. Daß er nicht erreicht, was er erzielt, liegt nicht an ihm, sondern am Widerstand. Der Staatsmann, der Held, der Künstler, der Heilige sind ganz, was sie sind, und überzeugen von sich, ohne von sich auszusagen, vorauszusagen, noch vom Erfolg die Antwort auf ihr sich selbst herausforderndes Dasein zu erwarten.
Anders scheint es mit dem Denker bestellt. Sein Gebiet ist die Wahrheit, nicht wie das des an den Dingen und ihren Verhältnissen schaffend oder deutend Tätigen die Wirklichkeit des Natürlichen, nicht wie das des die Natur überwindenden Heiligen die Wirklichkeit des Übernatürlichen, sondern der ringsum in die Unendlichkeit aufflatternde Spiel-Raum des aus sich und in sich kreisenden Gedankens, der Raum, der spiegelnd die Wirklichkeit umspannt. In der Wahrheit sollte, scheint es, die Aussage gelten, und sie müßte, weil gewußt, als Voraussage sich selbst vorwegnehmen können. Aber dem ist mitnichten also. Auch der Denker ist nicht außer seinem Dasein, in seinen vernehmlichen Gedanken, so wenig wie der Tätige in seinen Taten, der Schöpfer in seinen Werken besteht, auch er gilt nur als die Einheit seiner Gedanklichkeit. Für keinen dieser fünf Wirklichen hat das Programm, die Inhaltsangabe, irgend Bedeutung.
»Man geht niemals weiter, als wenn man nicht weiß, wohin man geht.« Robespierre, dem dieser Spruch zugeschrieben wird, scheint die Erfahrung für sich zu haben. Aber hat nicht eben er, der weiter ging, als selten einer gegangen ist, er, der »Logiker«, der kühlste aller Rhetoriker, zumindest zu wissen gemeint, wohin er ging, wenn er so weit ging, wie er gegangen ist? Vielleicht geht einer, der »weiß«, wohin er geht, weiter als einer, der daran zweifelt, ob er auf dem »richtigen« Wege sei. Alle, die »bis ans Ende gehen«, zumal die Denker der geraden Linie, die Folgerichtigen, gehen weiter, als es die Sache will, das heißt: zu weit. Glaube setzt ein Ziel voraus. Aber es »erreicht« zu haben, erweist sich als Aberglaube. Der Gläubige fängt immer wieder von vorn an.
Viel Treffliches ist seit Plato, zumal von Deutschen, über den Staat geschrieben worden, aber, unerschöpflich, lockt der Begriff immer wieder, seinem Wesen auf den Grund zu sehen. Weltweisheit und Schulklügelei haben ihn um- und umgeschliffen, aber seinen lebendigen Inhalt hat er jeweils nur dem unbewußt Tätigen ergeben: ebensowenig wie die Dichter haben ihn die Staatsrechtslehrer (im biblischen Sinn) »erkannt«. Er ist ein ewig Werdendes und so den Werdenden, das ist den Wirkenden, verwandt; dem still auf sein Erdenken Gesammelten entwindet er sich, ein wechselnd Weben.
Etwas andres ist es, Wirkliches, das die Vernünftigkeit der Tatsache besitzt und Meinungen gegenüber sich selbst bestätigt, zu beurteilen und zu behandeln, etwas andres, im Luftleeren des Möglichen Ideen gestaltend zu bannen. Reizend, unsäglich reizend ist für den Denker, den Untätigen, diese Weise, sich vor dem Wirklichen als Schöpfer zu behaupten, ergiebiger freilich, zumindest für den Augenblick, der recht hat, jene. Es ist der Unterschied zwischen Politik und Erkenntnis (im philosophischen Sinn).
Der Politiker sieht etwas Gegebenes vor sich, dem er irgendwie beizukommen strebt. Er sucht, ihm Gelegenheiten abzugewinnen, die Absichten taugen. Seine Vollendung erlangt er im Lenkertum: er meistert (oder verpfuscht) ein ihm gefügiges oder sich spreizendes Etwas, mit dem er sich eines Wesens fühlt.
Der Erkennende will das im Tatsächlichen ihm Entrinnende im Denken ergreifen; unbekümmert um die durch Wirksamkeit verbürgte Gegenwärtigkeit seines Objektes, sucht er es aus sich – dem ewigen Subjekt – zu entwickeln, anders als der Politiker eins mit seinem »Nicht-Ich«, das er nicht wie jener vorgefunden hat, sei es auch nur als Stoff zu seinem Entwurf, sondern das er neben, hinter, jenseits der Wirklichkeit wie den Himmel über stets sich neu ergebenden Bergen hin verfolgt.
Der Politiker hat mit zwei Gefahren zu rechnen: daß er, auf dem Fleck tretend, in seinen eigenen Standpunkt gleichsam versinkt, und der andern, daß er sich außerhalb des Tatsächlichen, unwirksam, verläuft. Der Erkennende hat bloß die eine, wie die Flamme unwiderstehliche vor sich: sich, scheinbar am Ziele, wiederzufinden, mit leeren Händen.
Es hat Erkennende gegeben, die sich mit der Macht ihrer Vorstellungsfähigkeit ganz an die Zeit, ja an die Kulissen der Zeitbühne hergaben: sie täuschten sich über ihre Wirksamkeit durch ihre Wirkung, die nur geistige Resonanz war. Sie sind, so sehr man sie hinterher als Vorsprecher, Aussprecher empfindet, doch bloß sehr edle Gefäße für vorhandenen, unzählige minder kostbare überschäumend erfüllenden Inhalt, das Zeitgemäße.
Anders steht der Politiker, der Mann der mehr oder weniger Raum greifenden Schritte, vor dem Zeitgemäßen. Er spricht es nicht in dauernder Form an, die Lesenden später, fälschlicherweise, der Antrieb zu historischen Geschehnissen scheint, sondern er geht kurzerhand mit ihm um, unbefangen trotz aller Zeitbefangenheit (und eben darum mit ihr vertraut wie mit einer Gattin, die nicht mehr Mädchen, das ist Geheimnis, Umworbenes, ist); er nennt die Dinge, denen der Denker, befangen von ihrer Gewalt, bewundernde Namen ersinnt, nicht beim Namen, sondern er tut sie; er glaubt an das (nicht als Ausdruck durchschaute und zerschaute, sondern von ihm mit andern, meist ebenso Namenlosen, plötzlich zum Mittel herangewälzte) Schlagwort, das er mit seinem ganzen Ich vertritt und – unbekümmert wieder verläßt: er lebt in handelnder Gegenwärtigkeit, der er bedenkenlos aufbäumende Vergangenheit zerstörend opfert; seine ganze Zukunft ist im Ziel erschöpft, das er sieht, das er ergehen kann, mindestens ergehen zu können meint (und darauf kommt es dem Tätigen an, das macht ihn dazu); die passende Formel wächst ihm in der Hand.
Der Denker steht vor dem, was ihm Staat heißt, wie vor einer unbekannten Gottheit, der er, sich selbst in Rauch verzehrend, Brandopfer des endlosen Denkens bringt. Der Politiker will etwas, dessen gedankenmäßiger Grund ihn nicht mehr bekümmert, als er davon zu praktisch-polemischen Argumenten benötigt. Und was diese Maurer und Architekten zustande bringen, wird dem Denker, der sie in ihrer Bewußtlosigkeit sinngemäß nacherleben will, späterhin zu ihrem Postulat, das er im Zusammenhang der Entwicklung aus sich selbst als dem erschaffenden Mittelpunkt zu erfassen strebt, im andern Material, dem zur bewußtlosen Tat unzulänglichen, überwertigen, des sich selbst im wachsenden Kreis ausdenkenden Gedankens.
Das, was man als Freisinn ebenso rühmt wie verfemt, ist je nach seinem Ursprung und seiner Berufung durchaus verschieden geartet. Es gibt einen Freisinn der freigebornen Geistigkeit, der sich den Fesseln der Vorurteile und der gedankenlosen Obliegenheit aus adeligern Unabhängigkeitsgefühl zu entledigen bestrebt ist und, einmal ihrer ledig, nichts mehr scheut als ihre noch so schmeichelnde und genugtuende Annäherung. Es gibt aber auch einen Freisinn des Vorurteils, der von vornherein sich allem, was Ordnung und Überlieferung bekennt, widersetzt und erklügelten oder nur vermeintlicherweise eigenen, in Wahrheit angelernten und nicht genug überprüften Gedankengängen überläßt, die ihn, ohne daß er es merkt, um alle Fähigkeit zur wirksamen Betätigung seiner entarteten oder verkümmerten Freiheit betrügen. Beide, Stiefbrüder, sind dem allgemein Geltenden gegenüber Ketzer; aber während jene ihr eigenes Reich, einen gewichtlosen Regenbogen, durch alles schwerfällige Dasein über ihm errichten, durchsichtig mitten drin stehen und dennoch nirgends an- und zusammenhangen, sind diese nur jeweilige Widersacher einer ebenso jeweiligen Tatsächlichkeit, reiben sich an allem, was Macht hat und behalten will, und wünschen nichts sehnlicher, als selbst zur Macht zu gelangen, um ihrerseits das, was sie als verjährten Mißbrauch nicht genug herabsetzen zu müssen meinen, die eingelebte und überlebte Gewohnheit, durch eine neue, ebenso veraltende zu ersetzen. Jene kämpfen, wenn sie kämpfen und nicht vielleicht nur aufmerksam beobachten und beurteilen, für etwas, was sie als unerreichbar, aber maßgebend an- und sich nach, emporzieht, diese für eine vorläufige Auskunft, die sie in ihrer wütigen Kurzsichtigkeit als das Heil verkennen. Jene sind unterweilen Propheten und Schwärmer, sind und bleiben, zumal von Anhängern und Nachfolgern, mißverstanden, diese werden als Neuerer von der unerbittlichen Zeit zum alten Eisen geworfen. Beide bringt man als Führer auf einen gemeinsamen Nenner, obwohl jene niemals wirklich Geführte hinter sich haben, diese als Verführer den Zulauf abschwenken sehen würden, wenn sie wiederkehrten.
Unbefangenheit, Vorurteilslosigkeit ist nicht Voraussetzungslosigkeit. Freiheit ist nicht Ungebundenheit, Zügellosigkeit. Jedes Urteil, das nicht gedankenlos ausgesprochen wird oder, als Unsinn, Mangel der Urteilsfähigkeit verrät, beruht auf einem Ganzen erworbener Bestimmungen persönlicher Geistigkeit, das Anschauung und, auf das Ganze der »Welt« (des Gegenständlichen) gewendet, Weltanschauung heißt. Die persönliche Geistigkeit »an sich«, die durch jenen Erwerb bestimmt wird, die geistige Anlage oder Veranlagung des persönlichen Einzelwesens, der Person, ist als »Gegebenheit« unerklärlich, Erbe und Einmaliges zugleich. Der »Erwerb« aber erschöpft sich nicht in der persönlichen Erfahrung, sondern ist zum guten Teil seinerseits fremde Anschauung, die durch Selbstdenken aus Angeeignetem persönliches Eigentum geworden ist.
Dazu kommt, in mehr oder minder hohem Grade das Ganze der erworbenen Bestimmungen mit seinem eigentümlichen Licht erhellend, der Glaube oder das über die Vernunft hinausgehende (weder unvernünftige noch vernunftwidrige, aber sich nicht im Vernünftigen erschöpfende), das »spirituelle« Denken.
Diese vielfältig-einheitliche Voraussetzung der Urteilsbildung – ganz abgesehen von der dem Wesen der Vernunft entsprechenden Form des Urteils überhaupt – schließt aber Unbefangenheit, Vorurteilslosigkeit nicht aus.
Denn Vorurteilslosigkeit heißt der Zustand geistiger Selbständigkeit, der das eigene Urteil ermöglicht.
Was man dagegen Voraussetzungslosigkeit zu nennen beliebt, ist eine Selbsttäuschung. Es soll besagen, daß dem Urteil nichts von vornherein gegeben sei, daß es sich von nichts herschreibe.
Als ob ein Urteil überhaupt möglich wäre, ohne daß der Gedanke, den es erfaßt, sich an Gegenständen gebildet hätte, Gegenständen, sei es der Anschauung, sei es der Vorstellung, sei es – des Denkens. Auch das »reinste« Denken ist nicht ohne »Inhalt«. Und aus sich selbst kann ihn der Denkende nicht nehmen. Er setzt vielmehr den Denkenden voraus.
Die Menschen im allgemeinen haben Meinungen, Ansichten, Gesinnungen, hie und da auch wirklich so etwas wie Ideale, das heißt irgendwie wiederum nach Ansichten und Gesinnungen geformte, wie man sagt umschriebene Ziele, die nicht eigentlich Ziele, jemals zu Erreichendes, sondern stetige, aber vor dem Annahenden zurückweichende Sterne oder Sternbilder sind, vielmehr ihren Verfolgern oder Anbetern als solche gelten. Die bedeutenden unter ihnen haben eigene Anschauungen und stellen mehr oder weniger selbständig, d. h. willkürlich Lehren auf, nach denen jene unbedeutenden sich zu richten, in die sie sich wenigstens einzudenken, einzuleben trachten.
Es gibt aber andere, ganz andere Menschen, Menschen, die allen diesen Meinungen, Ansichten, Gesinnungen, Lehren und Anschauungen nicht eben fremd – weil sie sie ja je nach Gelegenheit und Lust kennenlernen, auffassen und beurteilen –, aber doch im Eigentlichen unberührt gegenüberstehen, Menschen, denen Denken und Leben, also Darüber- und Darinsein in eines fließen, die nichts von all dem, was an sogenannten Ergebnissen sich als Weltanschauung oder gar zum System versammelt und staut, wenn es sie auch unterweilen lebhaft beschäftigt, gelten lassen, denen aber das Wirkliche, das ist das Ganze, Untrennbare und dennoch je nach Standpunkt und Anwandlung zu Unterscheidende, unendlich viel, das ist unerschöpflicher Gegenstand, Rätsel und Ahnung zugleich ist, Menschen, die davon nichts zu verstehen, nichts zu wissen im Grund überzeugt sind, Menschen, die, mit einem Wort, immer schauen und nie erblicken, immer denken und nie erkennen, aber sich dieses Zustands als ihrer Stärke, keineswegs ihrer Schwäche, ohne Überhebung und doch mit Überlegenheit, sozusagen traurig erfreuen, weil er ihnen in all seiner Vorläufigkeit oder, wenn man will, Unendlichkeit gültiger dünkt als jene streckenweise oder teilweise erreichte Endgültigkeit der Anderen, der Meinenden, Wissenden, mit sich Einigen, die sie immer wieder zwar geradezu bewundern oder, besser, anstaunen, aber nicht eigentlich hochachten oder gar über sich ergehen lassen, hinnehmen können. Solche niemals mit sich und mit dem, was sich ihnen darstellt, anbietet, aufdrängt, Fertigen werden, wenn sie schaffen, nur Bruchstücke, diese freilich jeweils aus einem Stück, das heißt aus ihrem eigenen Ganzen gebrochen hinstellen und stehenlassen, unerschöpflich gleich ihnen selbst, den Unerschöpfenden, dem, woraus sie als Schaffende schöpfen, Gemäßen. Das menschliche Denken hat nämlich nach der Erfahrung dieser abseitigen, niemals zufriedenen und dennoch entsagenden Denker keinerlei Halt in sich selbst und spiegelt seinen Gegenstand, das Ganze, nur insofern, als auch es selbst wie dieser Zusammenhang, aber in einem anderen Sinn als dieses Ganze anfangs» und endlos, also unendlich ist. (Die Wirklichkeit ist als solche geworden und muß als solche »mit dem Ende rechnen«; das Denken, obwohl selbst im Wirklichen inbegriffen und daher dessen Schicksal überantwortet, ist »als solches«, per essentiam, weil nur im Denkenden, nicht an sich wirksam, frei.) Das Denken – das ist sein Verhängnis – ist als sein eigener Zusammenhang nicht nur ablösbar vom Ganzen, sondern ohne Verbindung damit (so wie der Spiegel nicht in Verbindung steht mit dem, was er spiegelt). Der im vorstehenden gekennzeichnete unbefangene Denker trägt diesem Verhältnis des Denkens durch sein Verhalten gegenüber seinen »Ergebnissen« Rechnung, er schätzt sie nicht anders denn als flüchtige Spiegelungen einer »Oberfläche«, vielmehr ihrer Teilansichten und kann ihnen nicht Erkenntniswert einräumen. Nicht daß er zweifelte an der Wirklichkeit, er »mißtraut« auch nicht dem Denken, er nimmt es nur als das, was es ist, etwas sich selbst Gleiches, niemals aus sich selbst Fallendes, eine Ordnung nicht der Willkür, aber der Unwirklichkeit. Die große Zeit des Denkens, die nach den kühnen Weltdeutungen der Vorsokratiker bei den Griechen in Aristoteles den Gipfel erreicht hat und in der Scholastik sich gleichsam übergipfelt, hat mit der »Entdeckung des Menschen« in der Renaissance und der Entdeckung des Subjektes durch Descartes ihr Ende gefunden, der Gipfel des Denkens hat sich in einen Abgrund verwandelt, der allmählich das Wirkliche in sich hineinschlang. Die Menschen zerfallen in die ungeheure Menge der aus dieser »Entwicklung« hervorgegangenen, mehr oder weniger dieses Zustandes bewußten Gefangenen des »subjektiven« Denkens und ein kleines Häuflein sozusagen überlebender Nachzügler der »großen« Zeit, da das Denken sich selbstherrlich und dennoch demütig an der Wirklichkeit als dem der Wahrheit Entsprechenden maß. Die dazu gehörige Unbefangenheit einer »höheren« Befangenheit – wir sehen vom Glauben als einer anderen Ordnung des »Gemütes« ab – wirkt als das, was sie ist, eine Erscheinung der Geistesgeschichte.
So herrlich das Gebäude des Thomismus in seiner durchsichtigen Klarheit, seinem von sich selbst überzeugenden Maß dasteht, es ist, wie Dantes unsterbliches Gedicht, nicht aus seiner Zeit zu entfernen: es ist, wie dieses der vollendete künstlerische, der vollendete vernünftige Ausdruck einer in Gott ruhenden, der spirituellen Anschauung des christlichen »Mittelalters«, einer nicht »finstern«, sondern im Geistigen überhellen Epoche menschlicher Geschichte. Wir können uns heute, nach dem Humanismus, der Renaissance, der Reformation, dem Zeitalter von Descartes, Spinoza und Malebranche (Leibniz zählt noch als ihr letzter glänzender Ausläufer zur Scholastik), nach der Aufklärung, die sich schon in Lessings unbestechlichem Geist als fragwürdige Gestalt bricht, nach Kant und Hegel nicht mehr ohne Gewaltsamkeit auf den Standpunkt jener »unbefangenen Befangenheit« und Unbefangenheit zurückschrauben: wir müssen und sollen uns mit uns selbst abfinden ohne die Stützen einer geschichtlichen, einer unerlebten Überlieferung. Pascal, der den vernünftigen Schluß der überzeugenden Tatsache opfert, ist, bis auf die theologischen »Rückstände« der »Apologie«, die ihn zu bezeichnen scheinen, aber nicht ausmachen, der erste neue Mensch nicht des Zweifels, sondern – Schüler Montaignes, des »Epikuräers«, gegen dessen auflösenden Einfluß er sich gefühlsmäßig sträubt – der Unverfänglichkeit, der Unverführbarkeit, der vollkommenen geistigen Unbefangenheit (Descartes ist im selbsterzeugten Subjektivismus befangen); der zweite ist Kierkegaard, der »Einzelne« als Gottfinder, der dritte Rimbaud, der unbedingte, rücksichtslose, der aller Beziehungen entkleidete, der ganz einsame Einzige. Der neue Mensch, unter Nachzüglern und »Lebewesen«, wie gesagt, eine vereinzelte Erscheinung, geht nicht von »Gegebenem« – sei es nun der Gegenstand der Wirklichkeit oder die »letzte« Empfindung, gar das an Münchhausen gemahnende sich selbst setzende Ich – aus, er geht überhaupt nicht »aus«, sondern ist und bleibt, er nimmt und benimmt sich als der, den er sich vorfindet. Er ist sich selbst nicht klarer als sein »Gegenüber«. Er versucht, immer wieder vergebens, aber darum nicht enttäuscht, denn er weiß von dieser »immanenten« Vergeblichkeit, sich innerhalb dessen, was er als Dauer des Wirklichen empfindet, als Wechsel, das heißt in seiner Unwirklichkeit zu erfassen: die Gegenwart, die ihm entschwindet, sucht er im Augenblick zu bannen: er wurzelt im Sein als Werden, das nicht dessen Gegensatz, sondern sein Ausdruck ist. Er ahnt zu viel »über« sich, als daß er sich als »Maß der Dinge« empfinden könnte. Aber er kann nicht anders, als sich, nicht wie einer, der begreift, aber wie einer, der erlebt und bedenkt, urteilt, mit allem abgeben, was in ihn, der nicht aus sich heraus kann, ohne »Übergang« eingeht; er trachtet, beim Schein des Endchens Vernunft sich auf eine Strecke, eine Weile zurechtzufinden im Labyrinth, das ihn erst entlassen wird, wenn er nicht mehr Werden erleidet, sondern im Sein, das alles Gewordene, Endende überwölbt und untergreift, endlich seinen »Namen«, sich erfährt.
»Intellektuelle« nennen sich selbst, und zwar mit einiger Überheblichkeit, Leute mit sogenannten geistigen Interessen. Ein Intellektueller ist ein Mensch, an dem der Intellekt, die intelligente, einsichtige, verständige Auffassung der Dinge die andern Gemütskräfte auf übertriebene, also krankhafte Weise überwiegt. Das Wort als begriffliche Kennzeichnung eines vorherrschenden, ihren Inhaber von andern unterscheidenden Merkmals ist eine dem französischen intellectuel falsch nachgesprochene zweifelhafte »Errungenschaft« der leidigen Fremdwörtelei. Intellectuel (= intellectualis) heißt: »relatif à l'intelligence«, was zur Intelligenz (= action de comprendre), dem Verstehen gehört, und im weiteren: »empfänglich für Verstandesmäßiges«; es bezeichnet einen Menschen, der, im Gegensatz zum künstlerischen, dem Menschen der Anschaulichkeit, Sinn und Vorliebe für das Begriffliche, zu Begreifende, Abstrakte hat. Man sieht die Verschiebung, ja die Entstellung der Bedeutung: was nichts anders als Neigung und damit zugleich sich entwickelnde Fähigkeit, nämlich zu einem Gebaren des Geistes, ausdrückt, wird zur »Geistigkeit«, und zwar in (scheinbar) auszeichnendem Sinn. Der Intellektuelle ist, seinem Bedünken nach, ein Bevorrechteter des Geistes. Ja, man hat dafür bereits das Wort »Geistiger« erfunden. Als ob alle andern Geistbegabten unter ihm ständen, der den Geist gleichsam gepachtet hat, sich seiner als der Befugte bedient.
Aber die Ironie der Sprache – die denen nicht aufgeht, die an ihrer Oberfläche hindenken – will, daß der Intellektuelle denen, die mehr als Pächter des Geistes, nämlich seine gebornen Herren sind, eben um dieser »Intellektualität« willen als ein geistig Minderwertiger sich dartut. Diese wahrhaftigen Geisteskinder, Kinder des Geistes, der weht, wohin er will, sind im Gegensatze zu jenen unechtbürtigen, die sich dafür ausgeben, weil ihnen an der Fülle des Geistes das Wichtigste, seine Selbstbestimmung, abgeht, nichts weniger als »geistig«, also, richtig verstanden, unnatürlich, weil einseitig, auf Geistigkeit eingeschworen, sondern allem, was sich der Erkenntnis als ihr Gegenstand darbietet, ohne Vorliebe und Vorurteil für das »Denkmäßige« gleich geneigt. Ihre Neigung ist nicht wie die der engherzig spitzfindigen Folgerichtler eine eitle, snobistische und dünkelhafte Liebelei mit dem vermeintlichen Vernünftigen, sondern die wahre und wahrhaftige Liebe zum Wirklichen, das sich in ihrem klaren, weil aus der Quelle strömenden Geist als das Wahre spiegelt. Sie sind nicht gescheit, sondern weise, das heißt, sie bekennen sich zu ihrer Dummheit, der Unmittelbarkeit und der Unbefangenheit ihrer Aufnahmefähigkeit, sehen die Welt und das Leben, dessen Sinn sie ahnen, weil sie ihn in sich selbst tragen, durchaus nicht als etwas Errechenbares, Auseinanderzulegendes und Abzuteilendes, sondern als ein »irrationales«, das ist der Vernunft im menschlichen Sinn entbehrendes, aber ihrer nicht ermangelndes, einheitlich-dichtes Gefüge an und erachten den dieser Welt, diesem Ganzen der Welt gegenüberstehenden und dennoch mit ihm durch geheimnisvolle Innerlichkeit verbundenen Geist nicht als ein unfehlbares Mittel, es zu ergründen, sondern als ein in seltsam spielerischer Beweglichkeit sich ihm anschmiegendes und wieder von ihm sich ablösendes Wesen, in dessen Freiheit und Unbedingtheit ein nichts weniger als »maßgebendes« Gesetz wirksam sei. Die Intellektuellen, seien sie »Positivisten« oder »Doktrinäre«, sind Menschen, deren beschränkter Auffassung das, was in ihr geistiges Liniensystem eingeht, sich so, wie es ihnen geistig feststeht, auch als wirklich erweist. Sie verwechseln die unendliche, nicht nur sinnlich wirksame, also zwar scheinende, darum aber keineswegs unwirkliche, sondern auch dem Gemüt sich mitteilende Erscheinung mit dem dafür bereitliegenden, sich ihr erkenntnismäßig annähernden Begriff, den sie alsbald in sie hineindenken: sie erdenken, umgekehrte »Realisten«, buchstäblich das nicht nur Denkbare, Unausdenkbare. Die Intellektuellen, Positivisten gleich wie Doktrinäre, gehen als Denker vom »Gegebenen« aus, vom Bedingten, sei es nun, daß sie »voraussetzungslos« das (relative) Objekt als das »Letzte« erachten, ihre Empfindung nämlich oder das, was sie Erfahrung nennen, sei es, daß sie ihr (relatives) Ich voraus- oder voransetzen und von ihm aus, der Denkform, den Inhalt, die »Wirklichkeit« zu erfassen meinen. Sie sind alle, auch die Ideologen oder Wortgläubigen, »induktive« Logiker.
Die wirklichen, die geistbewegten, die lebendigen Denker – Plato wie Thomas, Pascal wie Leibniz, Malebranche wie Kant (trotz der »Kritik der reinen Vernunft«, einem Prolegomenon), Schelling wie Adam Müller, Kierkegaard wie Lagarde – gehen vom Unbedingten, Gebenden, der Idee aus, als Gläubige, vielmehr Glaubende, vom Ersten, Unwirklichen, also Gewissen, sie sind Absolutisten oder deduktive Logiker (»induktive Logik« ist ein Denkwiderspruch, ein Unsinn; es gibt ja auch nichts Unsinnigeres als das Denksystem eines Spencer).
So treten sie, begabt, nicht auf künstliche Weise verarmt, erfüllt, nicht ausgeleert, überzeugt, nicht zweifelnd, an die Welt – der wirklichen Dinge und der Gedankendinge – hinan. Sie denken, dank der befruchtenden Idee, mit lebendigen, das heißt aus der Tiefe des ganzen Gemütes sich erhebenden Gedanken, nicht wie jene mit fertigen, das heißt toten Begriffen, sei es positiven, der Wirklichkeit entnommenen (vielmehr ihr aufgezwungenen, doktrinären), sei es abstrakten, d. h. abgezogenen. Sie steigen zum irrationalen Ganzen hinab, dem die Idee als das Unbedingte, die höchste Vernunft, gerecht wird, weil es ihr, der allmächtigen Weisheit, Werk ist, während jene sich vom vernunftgemäß vorweggenommenen rationalisierten Ganzen zurückziehen ins (postulierte) System.
Es ist eine Binsenwahrheit, daß sich alles von verschiedenen Standpunkten betrachten lasse. Binsenwahrheiten sind ebensowenig verächtlich wie Binsen. Aber sie fördern, als Anfangsgründe, nicht die Erkenntnis, die erst auf höherer Stufe einsetzt.
Der Spruch »Jedes Ding hat zwei Seiten« hat bereits Erkenntniswert. Denn die Einseitigkeit der Betrachtung – das Kennzeichen der Meinung, auch der sogenannten öffentlichen, die nur eine veröffentlichte ist – setzt die Einseitigkeit des Dings voraus. Hier umzulernen ist Fortschritt in der Denkgebarung. Aber tiefere Einsicht wie in die Natur der Dinge so ins Wesen des Denkens selbst gewährt erst die entscheidende Aufklärung über den Standpunkt, der, indem er in verschiedener Richtung liegt, zwar derselbe bleibt, sich jedoch in sich selbst geändert hat, vielmehr als ein anderer, im äußersten Fall als der entgegengesetzte sich erweist. Freilich nur für den, der, ohne deshalb einseitig zu sein, seine grundsätzlich andre Richtung schon an seinem Ausgangspunkt festzustellen vermag. Dieser Ausgangspunkt scheint bei wahrheitsliebenden Denkern stets die Überzeugung zu sein, kann aber in Wirklichkeit nur dann darauf berechtigten Anspruch erheben, wenn der Denkende sich bewußt geworden ist, daß er, um von Überzeugung sprechen (oder nur denken) zu dürfen, dem Wahn der Voraussetzungslosigkeit abgesagt haben müsse. Überzeugung als die treibende Grundlage lebendigen Denkens weiß sich aller – der allgemeinen wie der eigentümlichen – Voraussetzungen versichert. Nur das gewährt ihr, was sie ausmacht: Sicherheit. Auf spirituellem (übernatürlichem) wie auf gesellschaftlichem Gebiete der persönlichen Interessen. Sowohl die – vermeintlicherweise – voraussetzungslosen Denker wie die, die sich ihrer Überzeugung, so sehr sie sie zu vertreten bemüht sind, nicht bemächtigt haben, denken auf demselben Standpunkt, den der überzeugte in seiner, der andern, der entgegengesetzten Richtung eingenommen hat, von ihm grundverschieden: deshalb können sie niemals mit ihm zusammenkommen, der im Gegenteil, als der durch bewußte Überzeugung ihnen überlegene, ihren Standpunkt, der auch seiner ist, aber in anderer Richtung liegt, sich ihm daher notwendigerweise anders darstellt, übersieht, also begreift, aber als in die Irre führend ablehnt.
Es ist das »existenzielle« Denken Kierkegaards, das auch das des heiligen Thomas war und das bis ans Ende der Welt von denen nicht begriffen werden kann, die vom Leben der Wirklichkeit absehen zu müssen meinen, wenn sie sich dem Denken hingeben.
Träumen ist Erinnern. Der Traum erbaut aus dem die Seele flutend erfüllenden, ihr unverlierbaren Stoffe von Eindrücken, Ahnungen, Ansätzen seine Welt. Sie ist mitnichten dem Bewußtsein entrückt; bloß der auf das Wachsein und seine Bedürfnisse eingestellte, die auch sonst chaotisch nur in Strömungen lebendige Seele zur lebensgemäßen Form eindämmende, der zweckdienlichen Vernünftigkeit gehorchende Verstand ist ausgeschaltet, nicht beseitigt: er ist gefesselt, die Seele wogt frei, nach ihren unbehinderten Gesetzen. Wie weit sich das Erinnern des Träumenden erstreckt, wie fest es mit dem unmittelbaren Tageserleben verknüpft bleibt, ist je nach Artung, Stärke und Grad der persönlichen Seele verschieden.
Leben ist Kreisbewegung; jedes einzelne Leben ist konzentrisch im höheren beschlossen. Und je nach Stimmhaftigkeit des einzelnen Umfangs erwidert Kreis auf Umkreis. Träumen kann »Vorlebens« Erinnerung so gut wie Vorerleben sein, denn der Kreis hat keinen Anfang, er wallt aus dem Mittelpunkt unaufhörlich auf, verbreitet sich und verläuft, verliert sich im Allkreisen. Träumen kennt den Tod nicht (wohl aber das Erlebnis des Sterbens), kennt keine der erfahrungsgemäßen, vom Verstand gefügten Schranken: das Ufer des Traumes ist nicht wie das der Besinnung eine nach der Zeitvorstellung vorwärts zugleich und rückwärts ins Unendliche gleichlaufende Einfassung, sondern die dem Wesen nach unbeschränkte, dennoch dem Traumbewußtsein als »Grenze« vertraute Kugel (wie auch das künstlerische, das religiöse »Schauen«, vom Mittelpunkt beherrscht, die Unendlichkeit und die dennoch als Sicherheit empfundene Gesetzlichkeit der Kugel hat).
Alle »wirklichen« Erkenntnisse sind gleichsam von Kugelgestalt, sie umfassen das unerschöpfliche Gleichzeitig-Beisammen, während der durch die Erfahrung beschränkte Verstand »zu Ende« denkt, linear wirksam ist.
1
Sich Gedanken machen: sonderbares Bedürfnis des Denkfähigen, dem es doch nicht im Traum einfiele, sich Gefühle zu machen. Der Gedanke ist etwas Zufälliges, ja Willkürliches, durchaus nicht Lebensnotwendiges. Selbst die klügsten Geschöpfe außer uns, denen offenbar die Vernunft fehlt, ohne daß sie ihrer entbehrten, sind von dem auch dem Dümmsten unter uns auf seine Weise verfügbaren Denken unbehelligt. Wozu gereicht uns und eben den Gescheitesten unter uns diese aus sich laufende und in sich mündende geistige Bewegung? Etwa zur Einsicht in die Natur der Dinge? Gar zur Erkenntnis einer geahnten übernatürlichen Wirklichkeit? Mitnichten. Das Höchste, was das unaufhörliche Denken, versammelt und zugespitzt, leistet, ist seine Selbstdurchdringung, die merkwürdige Tatsache, daß es seine eigene Fähigkeit erfaßt. Aber zu seinen Voraussetzungen gelangt es nicht. Das tiefste Denken hört wohl die Quellen des Unbewußten in der Stille der Besinnung rauschen, aber es schwebt wie ein Nebel über diesen Abgründen einer Weisheit, die nicht weiß, sondern west.
2
Ich kann und will nicht zu Ende denken. Den Mangel eracht' ich als Gabe, die Hartnäckigkeit als Demut. Zu Ende denken die Geradlinigen, die Einseitigen. Ich bin ein Krummliniger, ein Vielseitiger. Mein Denken, wie es, sich überhöhend, die Richtung nicht aufs Ziel, sondern zu sich selbst, also zurücknimmt, hat auch, sozusagen, keinen Anfang. Denken entsteht an seinem Gegenstand, den es, wenn er ihm überhaupt taugt, nicht erschöpft.
3
Die Ansicht, man könne nichts denken, was nicht schon gedacht worden sei, ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil die Gegenstände des Denkens als ihm gemäß immer dieselben bleiben. Falsch, weil es nicht darauf ankommt, was, sondern wie einer denkt, nicht auf das Gedachte, sondern den Denker. Ergebnisse des Denkens sind immer nur Gedanken, nicht das, was sie fördert, das zu Bedenkende, das immer aufs neue bedenklich bleibt. Man verkennt Philosophie – auch die Philosophen verkennen sie, die sie ausmacht –, wenn man von ihr Lösungen erwartet. Lösen kann man nur Aufgaben. Durch Handlungen. Womöglich unbedachte.
Man kann die Gegenstände der Erkenntnis – Natur und Geist oder Erfahrungs- und Gedankendinge – entweder als gegebene Tatsachen behandeln – auch unanschauliche oder Vorstellungen im engeren Sinn mögen einem als Tatsachen auf- und eingehen – oder zu Begriffen entkörpern. Das erste ist der Fall des unerwogenen Erlebens, ja des täglichen Lebens überhaupt: man gebart mit den zuströmenden Vorstellungen, Eindrücken und Einbildungen als mit den unüberprüften Mitteln des bewußten Daseins. Das zweite ist die eigentliche Denktätigkeit, das denkmäßige Auffassen des, sei's von außen, sei's von innen, sich Darbietenden. Den Dichter, wie das Kind, wird in seinem nachbildenden Bestreben, auch noch unausgesprochen, nur vergegenwärtigt, das gegenständliche Abbild der wechselnden Vorstellungen im Spiegel des Bewußtseins leiten: er hat mitzuteilen, klarzustellen, möglichst deutlich, was sich ihm als darstellbar, mitteilungsfähig erweist, und zwar mit Notwendigkeit, dem Gesetze seiner Persönlichkeit gemäß, sich ihm aufdrängt. Der Denker kann nichts von diesem Flüchtigen, das, dennoch unverlierbar der beschwörenden Aufmerksamkeit, sich in seinem alles erfassenden Selbst sammelt, sobald er es herausgreift und an die Besinnung hebt, ungeprüft, ununtersucht fallen lassen. Er muß sich klar werden über Gehalt und Fug der ihm mit allen andern gemeinsamen, jedoch immer nur von einem so und nicht anders zu erfahrenden Gegebenheit. Er kann nichts von diesem strömenden geistigen Besitz unerworben hinnehmen wie ein unüberprüfliches Geschenk des unbedankt ausstreuenden unbekannten Lebens: er muß, was, weil nicht mehr unbewußt empfangen, ihm schon als gedacht gilt, zum Gedanken ausbilden, indem er es von innen aushöhlt (während es der Dichter von außen zu sich selbst verdichtet und so gleichsam noch einmal mit belebendem Hauche durchdringt). Mitten zwischen den beiden steht der unschöpferisch und undenkerisch, darum aber nicht geist-, weil nicht bewußtlos Erlebende. Ihm bleibt das Leben ein Traum, aus dem ihn nur von Zeit zu Zeit das unausweichliche Gebaren der zwei andern befremdend aufscheucht. Der nur Lebendige liebt weder den überflüssigen Dichter, der ihn drängen will, noch einmal und auf fremde Weise zu erleben, noch den lästigen Denker, der ihm das Lebendige durch Verständnis unverständlich zu machen droht. Er, der Lebendige, weiß ja, woran er ist: er glaubt.
Wenn uns Menschen auch das Wissen von den anderen Geschöpfen (angenommenermaßen) unterscheidet, wäre dieser scheinbare Vorzug (als Ergebnis der zweifelhaften Auszeichnung der Vernunft) geradezu als eine um so schwerere Beeinträchtigung zu erachten, wenn wir in unserm Dasein nur darauf angewiesen sein sollten. Glücklicherweise kündigt sich eine Ahnung von etwas Besserem, Dauernderem als das Wissen (des Zufälligen) in der sich selbst belauschenden Seele an: eine Gewißheit, die, unsäglich, aber unverlierbar, wenn auch bei den meisten getrübt und entstellt, von uns und über uns aussagt.
Das Geschehen läßt sich nicht (vernunftgemäß) einordnen. Weil es nicht im Vernünftigen aufgeht. Daher ist »pragmatische« Geschichte eine unerfüllbare Forderung. Wohl aber läßt es sich werten. Sub specie aeterni, das im Menschen wie in jedem Geschöpf lebt, aber vom Geist nur selten auf seiner Scheitelhöhe erlebt wird. Könnte die Unvernünftigkeit des Tieres oder der Pflanze sich, ohne ihrer Gnade (durch die Erkenntnis) verlustig zu gehen, vernünftig äußern – ein innerer Widerspruch des von vornherein Sichwidersprechenden, weil anders An- und Eingeordneten –, würde sich das Ewige als der offenbare Grund auch des Geistigen erweisen. So aber, unter Menschen, bleibt diese Tatsache (alles Tatsächlichen) als offenbares Geheimnis auf die Dauer der allgemeinen Vernunft verborgen.
Eine sogenannte Erweiterung in sich auskreisender Umfänglichkeit – konzentrische Begriffsbildung – täuscht über das Irrationale des wirklichen Gegenstandes, der als Anschauung immer aus der Natur stammt. Ein Stammbaum wie eine Ahnentafel z. B. geht, wenigstens nach oben – da nach unten Aussterben Tatsache werden kann – grundsätzlicher-, das ist vernünftigerweise ins Unendliche. Die Wirklichkeit muß irgendwo dem Erleben, auf das für den Lebenden alles ankommt, ein Ziel setzen, einen Halt geben. So bedeutet jeder vom Mittelpunkt eines Einzelwesens über die eigentliche Verfassung ausgehende Kreis nicht mehr als einen beliebig über sich hinaus fortzuführenden Begriff. Irgendwo muß Nähe das Erlebnis feststellen, das einzig als Wirkung standhält und Stand gibt.
Zugunsten der vorweggenommenen Form die Tatsachen zu übersehen, ist die Berufskrankheit des Publizisten, des Schreibers aus Gewohnheit. Wer dagegen als Denker schreibt, kämpft mit seinen Gedanken, will sie überwinden. Er hat nicht das Bedürfnis, sich selbst durch ihr Niederschreiben seine Gedanken zu vergegenwärtigen, wie es dem Gestalter, dem Dichter für seine Vorstellungen Gesetz ist. Der Denker zwingt schreibend seine Gedanken, ihm Rede zu stehen: sie sind da, er muß erst dann schreiben, wenn ihr Bewußtsein ihn dazu herausfordert. Ist der Denker auch Gestalter, so wechselt die Natur seines Schreibens je nach dem Überwiegen einer Seite seines Doppelwesens: er wird als Denker sich zum Schreiben entschließen, während er als Dichter sich im Schreiben erst erringt. Das Schreiben des Dichters beginnt immer in einer Art von Unbewußtsein, um nicht zu sagen Bewußtlosigkeit und wird erst allmählich, im Gestalten, bewußt. Der Dichter antwortet auf Klänge aus einer Überwelt und verkörpert sie, die traumhaft in ihm selbst widerhallen, in der (notwendigen) Schöpfung zur eigenen Musik.
Es gibt Vorgänge in der Erfahrung, die die Grenze des Denkens überschreiten. Denn, obwohl die Erfahrung das Ergebnis unserer Erkenntnis der Wirklichkeit ist, bleibt diese als Wesentlichkeit irrational. Genau so wie das Erlebnis als solches irrational ist. Aber obwohl ihm solche rein erlebnishafte, also wirkliche, jedoch nicht erkenntnismäßige Vorgänge entgehen, folgt das Denken der spurlosen Richtung ins Unbegreifliche. Sie als Wunder zu erfassen, widerstrebt der Vernunft, die ratlos hinter ihnen zurückbleibt.
Das Wunder besteht nicht darin, daß in der Natur Unnatürliches, Widernatürliches geschieht, sondern daß die Übernatur sich in der Natur als Übernatur offenbart. Gott greift nicht in den gesetzmäßigen Ablauf des Natürlichen ein: ihre Wirklichkeit ist ein vernunftgemäßes Abbild Seiner Überwirklichkeit. Aber Er mag in seiner Unbegreiflichkeit, die sonst mittelbar sich verwirklicht, einmal unmittelbar wirklich werden. Nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern in einem Erlebnis, das der Vernunft das natürlich Unmögliche als das übernatürlich Mögliche erweist. Wir nennen solche Tatsachen unsres Bewußtseins mystisch.
Auch im Denken soll man lieben können und darf lieben müssen. Denken ist nicht Von-sich-Absehen, Denken ist im Gegenteil Aus-sich-heraus-Schauen, das heißt Ganz-in-sich-Sein. Man kann das Problem der Welt nur mit einem unerhörten In-sich-geballt-Sein – Bild der versammelten Feder – auf »Augenblicke« erfassen. Das behaglich-entbundene Schweben und Grasen des »Erscheinungen« bedenkenden Geistes ist, weil ohne Kraftzentrum, ohne eigentliche Kapazität. Nur vom Symbol aus, das eine gestraffte Intuition in sich selbst spürt, kann das Dynamische der Welt erkannt werden. So wird das, was Stendhal an einem Voltaire, dem typischen grasenden Bedenker der Peripherienwahrheiten, kindisch nennt, einem als abschreckendes Gegenteil der tiefern Besinnung deutlich. Die Religion in ihrer kraftspeichernden Technik des Symbolischen ist viel weiser, als noch so kühn entspannte, also impotente Denkenergien es ahnen.
Man mag sich jeweils noch so sehr über die Welt »hinwegsetzen«, solange man darinnen steht, hängt man von ihr ab. Zumindest, indem man dem Bedürfnis nachgibt, ihr »die Meinung zu sagen«. Auch Verachtung ist nicht die richtige Art der Weltverneinung. Verachtung ist eine einseitige Gesinnung.
Um frei von ihr zu sein, muß man sie aufgeben. Daß man es könne, das heißt: sie nie mehr entbehren werde, muß man vorher wissen. Reue darf einen niemals anwandeln. Es darf nicht ein Opfer sein, das man einer »Überzeugung« gebracht hat. Von Erkenntnissen kann man nicht zurückkommen, nur in ihnen höher hinauf oder tiefer hinab; von Überzeugungen kann man geheilt werden.
Überwindung (mit dem Maß am Überwundenen) ist leicht. Das Schwerste ist die innere Umkehr ohne äußeren Schein, Demütigung zum höheren Ich.
Nur wer nicht mehr empfindet, was er »aufgegeben« hat, ist frei. Aber weiß er, daß er aufgegeben hat? Es ist doch Hingabe an etwas anderes nötig, damit man am Gegensatze sich empfinde. Nicht in dem Gegensatze, den man selbst, als Befreiter, zum Früheren hat, darf das neue Verhältnis bestehen.
Es gibt keine Homöopathie der Entsagung.