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Eine Amsel hüpft vor mir über den Weg, greifbar nah. Ich bleibe stehen, sie zu betrachten, sehe wie unter dem Vergrößerungsglase den gelben Schnabel, die lebhaften, vorsichtigen Augen, die feinen Beinstäbchen, den wiegenden Leib. Ich habe die Empfindung von etwas Wunderbarem, zugleich Anziehendem und ewig Fremdbleibendem. Warum sind Mensch und Tier einander abhanden gekommen? Es ist doch nicht ihr gemeinsamer Sinn. Hier klafft derselbe unüberbrückbare Grenzspalt wie zwischen Kindheit und Menschtum. Es sind nicht Übergänge, Stufen, Entwicklungen, oder wie man sonst irgend Zusammengehöriges, wenn auch Entferntes bezeichnen mag: Es sind Unvereinbarkeiten, die voneinander durch die bis an die letzte Grenze eigener Art gediehene Form geschieden sind.
Armes Tier, sagt der Mensch. Mit Recht. Nicht aber, weil dem Tier das abgeht, was der Mensch als seine Vernunft so selten richtig verwendet, sondern weil es sich in seiner durch Vernunft ungebrochenen Vertrauensseligkeit und in der Hilflosigkeit seiner »Freiheit« immer wieder dem Menschen, seiner Härte, seinem Eigennutz, seiner Undankbarkeit ausgeliefert sehen muß, um so ärmer nur, weil es, durch Erfahrung unbelehrte Gattung, nicht sieht, was am Tage liegt: wie tief der Mensch unter ihm steht, wenn er ihm nicht durch die Liebe den Vorsprung der Unschuld abgewonnen hat.
Vernunft? Wozu nutzt der Mensch dieses seltsame Licht, das ihm das eigene Innere bis in die letzten Hinter- und Untergründe zu erhellen geeignet ist? Indem er das nachahmt, was andere ihm vormachen, vorsagen, vorleben, andere, die ihrerseits selten nur eine Handlung, ein Wort, einen Gedanken aus sich selbst nehmen, von sich aus beginnen. Vernunft beschränkt sich bei den meisten auf unbedachte, ungeprüfte Wiederholung, die aber der schönen Regelmäßigkeit vernunftloser, instinktiver Sicherheit, der Anmut des Unbedachten, Bedenkenlosen entbehrt.
Unsinn geht immer aus Vernunft hervor. Ja das meiste dessen, was als vernünftig, zumindest nicht als unvernünftig gilt, fast das ganze Erbe an Gewohnheit in Denken, Reden und Tun, die landläufigen Meinungen und Wertungen, ist, näher besehen, Unsinn, nämlich längst dessen ermangelnd, was einst, da es sie notwendigerweise hervorbrachte, ihren Sinn, ihre Bedeutung ausgemacht, sie festgestellt hatte. Vernunft wird immer wieder Unsinn und erhält sich als Unsinn, ehrwürdig in den Augen derer, die nicht sehen, für Ohren, die nicht hören.
Die Vernunft ist des Höchsten fähig. Aber selten und in sehr wenigen der Vernunftbegabten. Ihre allgemeine Verwendung ist die einer leergehenden, um so lauter klappernden Einrichtung; prüfen und unterscheiden, wählen und verwerfen, also erkennen, gar suchen und finden, also geistig schaffen, ist dem Menschen im allgemeinen weder Bedürfnis, Not noch Berufung, Notwendigkeit. Alle seine Einrichtungen, das Netz seiner Beziehungen und ihr Ausdruck im Umgang, ja selbst seine sogenannten Neuerungen, Gepflogenheit wie Umsturz des Bestehenden sind eines Stoffes: des Gemeinen, das ihn ausmacht, das ihm taugt, in dem er sich spiegelt und sich zusagt.
1.
Shakespeare und Pascal, um nur die Größten zu nennen, verweilen wie der anmutige Spott Montaignes, in feierlichem Ernst an der Tragik der hinfälligen Menschenwürde. Mir scheint der philosophische Anlaß gering, da ich dem Menschen den eingebildeten Vorrang über die Geschöpfe, den er im Denken behauptet und vertritt, nicht einzuräumen vermag: man braucht nur das Maß geringer zu nehmen, den belanglosen einzelnen in seiner vermeintlichen Überlegenheit als »geistiges Wesen« ins verachtende Auge zu fassen, um sich zu der sowohl billigeren wie demütigeren Ansicht zu bekehren, daß jedes geschaffene Wesen auf seine Art vom Schöpfer zeugt, der Mensch aber, in seiner massenhaften Ausdruckslosigkeit schon ein Gegensatz zum gegliederten Ausdruck des Gattungsmäßigen, die Reinheit dieser Zeugenschaft durch seine unnütze Vernunft trübt und geradezu dadurch aus Gottes Nähe sich entfernt. Ich weiß, daß hier die bedeutungsvolle Lehre von der Schuld, vom Sündenfall als Erklärung eintritt, aber streitet sie in ihrem Vorwurf – ganz abgesehen von der Auskunft, dem Gegengewicht der Erlösung – nicht gleichfalls wieder für den Menschen, dem selbst im Verhängnis seines Fehltritts der angemaßte Rang gewahrt bleibt? Der Mensch als das Vernunftwesen deutet eben alles der Vernunft gemäß, das heißt, auf eine Weise, die, weil sie unentrinnbar seine bleibt, darum noch nicht mehr ist als eine der vielen Entsprechungen, die als ihre Widerscheine um die unerreichbare Wahrheit kreisen.
2.
Der Vorrang, den der Mensch über die Natur kraft seiner Vernunft behauptet, ist nicht nur an sich zweifelhaft, weil die »unvernünftige« Gattung, aus Wesenhaftigkeit, sicherer und schöner im Ganzen besteht, sondern auch bei der überwiegenden Mehrzahl der mit dem Durchschnitt dieses angeblichen Vorzugs Begabten eine beschämende Einbildung: was ist denn diese armselige Vernunft anderes als ein vor jedem dunkeln, aber starken Gefühl, jedem dumpfen, aber gewitzigten Instinkt eingeschüchtert zurückweichendes Schattendasein, ein Allerweltsschein trüber abgestandener Begrifflichkeit, der sich die in allebendiger Unvernünftigkeit strotzende Welt der Wirklichkeit auf Schritt und Tritt versagt?
Der Mensch, von seinesgleichen stammend, wächst unter seinesgleichen auf. Er bringt in Blut und Geist ein unablösbares Erbe mit und übernimmt, was ihm von denen, an die er hilflos gewiesen ist, bereitet wird. Die ganze übrige Natur ist und bleibt ihm fremd. Sie wirkt teilnahmslos auf ihn, wie er, allmählich zu seinem Vorteil in sie eingreifend, auf sie wirken lernt, aber, mag er auch manches Tier, sei's einzeln, sei's als Gattung mit sich in brauchbare Verbindung bringen, ja durch Zucht und Pflege seinem Willen bis zur Umgestaltung seiner Lebensform unterwerfen: es ist einzig und allein der Mensch, von dem er erfährt und erwirbt, was ihm, dem Menschen, taugt und erforderlich ist, einzig und allein der Mensch, den zu behandeln ihn Bedürfnis anhält. Nach seinem, des Menschen Bilde gestaltet er fühlend, denkend, sprechend, schaffend die Welt. Zerstörung kennzeichnet, wo ihn Nutzen nicht zum Aufbau treibt, jeden seiner raumgreifenden Schritte, Sucht sein Bestreben, List, Lüge und Betrug sein Verhalten. Die Stimme des Herzens, wie er sie von der Mutter vernommen hat, erstickt kaltsinnige Vernunft, Vernünftigkeit, in der eigenen Brust. So reift er welkend und erfährt, wenn er frierend nach Liebe umblickt, was er gesät hat: Undank. Bis ihn der Tod verächtlich knickt.
Das Zwitterwesen Mensch hofft trotz der enttäuschenden Erfahrung, glaubt und zweifelt, liebt und haßt zugleich, lacht und weint in einem Atem, rafft und vergeudet, schmeichelt und schmäht, duckt sich und zertritt, drängt und weicht. Und dieses Ganze, ein ununterscheidbares Gemengsel von Feigheit und Grausamkeit, Armseligkeit und Übermut, Neid und Unmäßigkeit, Mißtrauen und Heuchelei, dünkt sich, nur weil es von sich und dem andern weiß, den Herrn der Welt und spielt ihn, täppisch und furchtbar, gegenüber der Holdseligkeit und der Kraft der Pflanzen, der Wahrhaftigkeit und der Arglosigkeit der Tiere, dem Glanz und der Macht der Sterne, der unheimlichen Pracht der irdischen Elemente unterm unerhörten Klang der ewigen Sphären.
Eigennutz und Selbstsucht verhärten das Herz. Für sich empfindet jedes Geschöpf, aber diese natürliche Empfindung darf das Gemüt nicht ausfüllen. Das läßt sich nicht durch den Willen erzielen. Vielmehr, was er gegen eine selbstsüchtige Natur vermag, ist nur eine verdienstliche Abschwächung ihrer unüberwindlichen Neigung, nicht der Wandel, der als innere Umkehr einzig entscheidet. Solche Umkehr aber ist nicht eine sittliche Aufgabe – deren Lösung niemals ihre Erfüllung bedeutet –, sondern das Wunder der Gnade. Ein einfaches Beispiel erweist das auch dem, den Einsicht in das Wesen der Zuständlichkeit als des Tatsächlichen nicht von selbst darauf führt. Der Hund als Gefährte des Menschen ist einer Liebe fähig zu seinem Herrn – gleichviel welcher ihm durch den Zufall zuteil geworden ist –, die die natürliche Selbstsucht des Geschöpfes überwindet. Durch Sittlichkeit, das heißt, bewußte Erfüllung eines angenommenen Gebotes, geschieht es nicht. Es ist eine entwicklungsfähige Anlage, die der Hund durch den urherkömmlichen Umgang mit dem Menschen ausgebildet hat, ohne daß dieser Umgang sie hätte erzeugen können, wie die gegenteiligen Fälle derselben Genossenschaft dartun. Die Gewohnheit erklärt daran nichts, denn es handelt sich um das Entscheidende der Fähigkeit. Es ist für den, der der Liebe des Hundes teilhaftig ist, eine bedauerliche Erwägung, daß dieser Treueste der Treuen dieselbe opferwillige Anhänglichkeit an irgendeinen andern Besitzer gewendet hätte. Aber es handelt sich hier nicht um die Beziehung als einzelne Verwirklichung, sondern um ihren gleichbleibenden Sinn. Wir haben am Hund ein Beispiel für die unwillkürliche, die als Begabung auftretende Abkehr von der natürlichen Selbstsucht des Geschöpfes.
Dasselbe wie vom Tier gilt vom Menschen. Der Unterschied der Vernunft bestimmt wohl die Sittlichkeit – Sittlichkeit ist der Gegensatz der Natürlichkeit –, und wir danken der sittlichen Erziehung Ergebnisse, die die Wirkung der persönlichen Selbstsucht in erheblichem Maße beschränken. Aber damit ein Mensch unwillkürlich, also natürlicherweise selbstlos oder annäherungsweise das sei, was der treue Hund unbedingtermaßen seinem Herrn ist, muß er entweder als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel geboren, vielmehr unbefleckt von einem allgemeinen Makel empfangen, das heißt, gut sein, also etwas, was selbst Jesus von sich ablehnt (»Kein Mensch ist gut«), oder er muß es durch ein Wunder, das heißt, wider die Natur geworden sein! Wer an der Möglichkeit des Wunders zweifelt, hat die Natur für sich, die gegen ihr im übrigen unerklärliches Gesetz keine Ausnahme zuläßt. Gibt es aber so etwas wie gute Menschen? Die Heilige Schrift spricht sehr weislich nur von Menschen guten Willens. Aber das Tier, das die Heilige Schrift nicht kennt, ist nicht guten Willens, wenn es gut ist. Sollte der Mensch als Geschöpf unter dem Tier stehen? Die Folgerung mag andere, die viel von einer sogenannten Würde des Menschen halten, befremden. Sie bleibe dahingestellt. Begnügen wir uns an der beglückenden Tatsache, daß es Menschen gibt, die besser sind als die meisten. Denn daß wir sie besser nennen dürfen, das heißt, daß wir sie höher werten, daß es also Werte gebe, wird man dem, der diese freimütige Untersuchung durchführt, immerhin einräumen müssen. Er wenigstens, so versichert er ausdrücklich, glaubt an Werte. Wie an Wunder. Nicht freilich an geschichtliche, nicht an solche, die aus dem Verlauf des Geschehens als etwas dem Werdenden Widersprechendes hervorstehen. Wohl aber an ungeschichtliche oder Wunder des Seins, da ihm der Übergang des Übernatürlichen in die Welt des Werdens, die in ihm einzig Bestand hat, ein Bedenken nicht zu erregen vermag. Das was am Menschen gut sein kann, stammt aus dem Sein. (Es ist schwer, das anders auszudrücken als etwa so: Alles Gute kommt von Gott. Möchten die Herren Positivisten, die in ihrer beneidenswerten Sicherheit selbst nur Unumstößliches und zwar ohne das auszudrücken im Stande sind, was sie Worte nennen, vielmehr schimpfen, geneigtest die Wahl treffen: ein unverbesserlicher Faseler wartet.)
Woran ich dagegen nicht glaube, das sind so erbauliche Gedankengänge wie der »kategorische Imperativ«.
Ich meine demnach zusammenfassend oder mich zusammennehmend sagen zu sollen: das Natürliche ist die Selbstsucht. Das Übernatürliche ist das Gute. Beides ist wirklich. Dieses aber ist selten.
Ferner: das Sittliche ist nicht das Gute, aber das Löbliche.
Endlich: das Tier ist nicht sittlich, sondern wahr. Der Mensch ist sittlich und unsittlich, das heißt unwahr. Aber er weiß, daß Wahrheit ist. Nicht daß er sie kennte. Sondern er strebt darnach. Und wird so wahrhaftig. Das ist das Höchste, was er, wenn er nicht gut ist, ohne die Gnade erreichen kann. Und wenn er gut ist? Zufälligerweise, wie der Hund. Dann trachte er nur um so mehr darnach, wahrhaftig zu sein. Um den guten Hund auch darin zu erreichen. Das Sittliche ergibt sich auf dem Wege.
1
Versuch, dem Tier zu gleichen:
sei wahr!
An Schönheit kannst du's nicht erreichen.
Diese Verse habe ich einer jungen Dame ins Stammbuch geschrieben. Nehmt sie als meine innige Überzeugung. Das Tier ist vollkommen, denn es drückt unbedingt die Gattung aus, das Gesetz seines Daseins. Und es ist wahr, weil seine unbewußte Natürlichkeit dieses Gesetz niemals verleugnet. In dieser zwiefachen Gesetzmäßigkeit beruht seine unangreifbar in sich ruhende Schönheit. Denn schön sein heißt unbefangen im Gleichgewicht sein. Dieses unbefangene Gleichgewicht können wir durch die beirrende Vernunft mißleiteten Geschöpfe niemals auch nur annäherungsweise erreichen. Unser Bewußtsein ist, ungleich der Naivität des tierischen Zustandes, Vergleich und Urteil, im günstigsten Falle Gelassenheit. Das Kind als ein unvollkommener Mensch kann nicht als Einwand geltend gemacht werden. Kindsein ist ja nicht unser Ziel, sondern unser Ausgang. Wir leben vom Kinde als einer »primitiven« Stufe unser selbst weg: wir erwachsen. Es ist kein Zweifel, daß das Kind, von meinem Standpunkt aus gesehen, eine höhere Form, weil die dem Tier, der Gattung, dem naiven Zustand nähere, bedeutet. Aber das ist ein innerhalb menschlicher Weltbetrachtung nicht gültiges Paradoxon. Der Mensch kann von seiner Bestimmung aus das Kind in sich nur als zu überwindende Vorbedingung ansehen.
So seid denn wenigstens wahr, das heißt, versuchet zu leben, ohne euern Ausgang vom »zwecklosen«, aber sinnvollen Leben im Paradies der Gattung geflissentlich um eurer armseligen Menschlichkeit willen zu verleugnen. Jede Hingebung, jedes sogenannte Opfer, jede Pflichterfüllung, vor allem aber die Liebe, das ist das Aufgehen des Ich im Du, ist ein Schritt aus der menschlichen Selbsttäuschung, der Zeit, in Gottes Wahrheit, die Ewigkeit.
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Man kann durch inniges Zusammenleben mit einem Tier in der wechselseitigen Verständigung so weit gelangen, daß der sprachlose, aber aufmerksam vernehmende Genosse eine Reihe von verständigen Mitteilungen erraten lernt, den sprechenden Herrn versteht (es ist im Geistigen immer ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, mag auch sonst Gewohnheit den Herrschenden vom Beherrschten abhangen machen). Dennoch bleibt die Kluft zwischen dem Denkenden, der seine in unaufhörlicher Bewegung begriffenen Gedanken in Worten zu äußern vermag, und dem »unvernünftigen« Freunde, der nur das ausdrücklich an ihn gerichtete vertraute Lautgebilde auffaßt, unüberbrückbar. Ich weiß nichts vom Tier, in das ich mich, es bis zu einem gewissen Grade vermenschlichend, noch so zärtlich einlebe; es weiß nicht mehr von mir, als was es von jedem andern wüßte, den ihm das Schicksal oder der Zufall zum Herrn gesetzt hätte. Das geistige Band fehlt zwischen zwei Welten, die sich in Liebe, Vertrauen und Treue herzlicher miteinander zu vereinigen imstande sind, als es je Menschen gegönnt ist. Hier waltet ein Geheimnis, das den anmaßenden und ruchlosen »Herrn der Schöpfung«, wenn er reuig in sich geht, mit unendlicher Trauer erfüllt. Mag er sich auch, die unerklärliche Verschiedenheit stammverwandter Wesen selbstanklägerisch, weil schuldbewußt durch Erkenntnis, in ungewöhnlichem Sinn übertreibend, den eigenen Vorzug als Fluch auslegen, in der Sündlosigkeit des unbefangenen »Stummen Gottes« Gnade erblicken: ihn schaudert vor der Natur, der er sich selbst im Tiefsten verbunden fühlt und die ihn in seiner vergeblichen Gedankenarbeit ebenso mit sich allein läßt, wie sie das Tier aus dem Reiche des Geistes ausgeschlossen hat, nach dem es sich unbewußt zu sehnen scheint.
Eine Anmerkung zur Forschung
In der seiner Ausgabe des Reinhart Fuchs vorangestellten berühmten Abhandlung über das Wesen der Tierfabel (1834), worunter er das epische Gedicht von den Begebenheiten, der Geschichte der wie mit menschlicher Vernunft begabten Tiere, also des Tierepos versteht, wendet sich Jakob Grimm gegen die Ansicht, »daß mit der Fabel lediglich ein didaktischer Zweck verbunden sei, daß sie stets eine Lehre verhülle, die sich der Mensch aus dem Beispiel der Tiere zu entnehmen habe«: »der echten Fabel Inhalt läßt eine Menge von Anwendungen zu, ... da fast jede Sittenlehre von dem Umfang der Erzählung übertroffen wird. Die Fabel braucht nicht einmal eine sittliche Lehre zu enthalten, oft bietet sie nur eine Regel der Klugheit dar; das Böse kann im einzelnen oder in der Wendung des Ganzen über das Gute den Sieg davontragen.« Und er fährt fort: »Es scheint mir sogar ein tiefer Zug der Fabel, daß sie an den Tieren mehr Laster und Fehler der Menschen als Tugenden vorstellt, gleich als sei unsere bessere Seite zu herrlich, um von uns mit den Tieren geteilt zu werden, und alle Ähnlichkeit (ich unterstreiche) auf das beschränkt, was an uns noch tierisch ist. Daher in ihr List, Schlauheit, Treulosigkeit, Zorn, Neid, Schadenfreude, Dummheit und die daraus folgenden Verbrechen zur Schau kommen, fast niemals aber die edleren Leidenschaften der Liebe, Treue und Großmut, es sei denn in vorübergehenden Nebenzügen, geschildert werden.
Eine Ausnahme machen Mut und Tapferkeit, Eigenschaften, die an den meisten wilden Tieren zu offenbar sind, als daß sie übergangen werden können. Die Moral der Fabel wird also gewöhnlich eine negative sein, entweder bloße Regel des Vorteils oder Warnung, dem Beispiel der Tiere nicht zu folgen.« In dieser Darstellung der Grundzüge, deren Richtigkeit niemand verkennen kann, springt ein Irrtum in die Augen, der nicht zuletzt einen weiteren noch zu besprechenden in der Beurteilung des Tierepos zu bedingen scheint. So sonderbar dieser Irrtum bleibt, er ist nicht Jakob Grimm eigentümlich, sondern gehört zu den noch immer verbreiteten, nicht so sehr mangelnder Beobachtung als unterlassener Nutzanwendung: eine aus ihrer gemächlichen Gewohnheit noch nicht nachhaltig aufgeschreckte falsche, eine verblendete Vernünftigkeit, dieselbe, die das Faselwort vom Fortschritt aufgebracht und zu weltbeglückender Irrlehre ausgesponnen hat, ist am trübenden Werk. Die schlechten Eigenschaften, die das ausmachen sollen, »was an uns noch tierisch ist«, »List, Schlauheit, Treulosigkeit, Zorn, Neid, Schadenfreude, Dummheit«, sind sämtlich dem Tier, vielmehr uns am Tiere fremd; es sind lauter menschliche Errungenschaften, teils des Gemütslebens, teils der Vernunft. Nur übertragen haben wir, entweder kraft voreiligen Schließens oder, wie eben im Märchen und dem ihm verwandten Tierepos, bildlich und vergleichsweise, also dichterisch, auf das uns als ausschließliche Gattung fernstehende Geschöpf die zweifelhaften Gaben, die uns niemals »noch tierische« zusammen mit anderen, besseren zu dem machen, was wir sind, persönliche Einzelwesen. Auf das Tier, das nicht weiß, was es tut, ist der Begriff von Gut und Böse unanwendbar, es sündigt nicht gleich uns, die wir sollen und nicht dürfen, aber gegen die Gebote handeln, nicht als Tiere, sondern als Menschen freien, aber nichts weniger als darum auch schon guten Willens.
Und eben darin, daß die Tierfabel das Tier mit Eigenschaften begabt auftreten läßt, die ihm von Natur aus fremd sind, da es niemals handelt, also mit Bewußtsein nach Wahl und Erwägung tut, was ihm recht scheint, oder aus frevelhaftem Eigendünkel, Trotz und Auflehnung tut, was ihm die Billigkeit, die Einsicht ins Rechtmäßige verwehrt, eben in diesem auffallenden Gebaren des schöpferischen Menschen als des Dichters einer unmöglichen »Geschichte« des Tieres ist ein begründeter Einwand gelegen gegen eine ausdrückliche Ansicht Jakob Grimms, die der Tierfabel die satirische Absicht abspricht. Im Gegenteil obliegt ihr, da keine echte Dichtung, am allerwenigsten also eine aus der Tiefe des Volkstums stammende einer höheren als der nur spielerischen Bestimmung einer Idee ermangelt, in ihrer Nachgiebigkeit an die echt menschliche Eigenschaft der Tadel- und Spottsucht die erzieherische Aufgabe, im Bilde des davon verschonten unschuldigen Geschöpfes, also auf die als befremdende nachdrücklichste Weise den Menschen an seine unausrottbare Schlechtigkeit zu mahnen: sie ist, wie es schon Lessing (Fabeln, 1759), freilich auf dem beschränkteren Gebiet der eigentlichen Fabel, erkannt hat, dazu so geeignet wie buchstäblich gemacht, einen sittlichen Begriff anschaulich zu gestalten. Im Tierepos, der weltlichen Bibel, wie Goethe, der Erneuerer des »Reineke« es nennt, ist die Geschichte des Menschen, das heißt seine untierische, allzumenschliche Weise abgeschildert.
Das Kleinliche ist das eigentlich Menschliche. Kein Tier ist kleinlich. Die sogenannte Eitelkeit mancher Tierarten ist Selbstgefühl. Wie die Eitelkeit des Weibes, das überhaupt schon nach seiner Bestimmung dem Tiere nahesteht (was beileibe keine geringschätzige Bemerkung sein soll). Aber diese schäbige Kleinlichkeit des Intellekts, der in allem sich mit seiner ganzen Unzulänglichkeit zu nichtiger Geltung bringen will!
Wie prächtig traben Pferdehufe durch die Welt, selbst über das Pflaster der Stadt! Wieviel muß ein Mensch schon von der Natur mitbekommen haben, um es damit nur aufnehmen zu können! Tiere, solange sie der Mensch nicht mißbraucht, haben keine Mängel, bloß mehr oder minder gefällige Merkmale und Eigenschaften. Aber der durchaus mangelhafte Mensch will immer irgendwie als Individuum in Betracht kommen, und aus den wechselseitigen Reibungen entsteht alles, was das gewöhnliche Dasein so häßlich macht.
Der Sprecher: »Er ist Prinz.« Sarastro: »Mehr: er ist Mensch!«
Daß sich doch der Mensch immer als die Krone der Schöpfung aufspielt! Wie lächerlich wirkt diese geschmacklose Manifestation des rationalistischen Jahrhunderts! Wie kläglich ist überhaupt der ganze »Humanismus«! Der Mensch!
Noch einmal Zauberflöte. Papageno: »Ich bin ein Mensch wie du.«
Als ob daran etwas Auszeichnendes wäre! Ein Mensch! Geschöpf ist alles. Mensch ist in diesem Sinn des stolz bewußten Rationalismus das Vernunftwesen, ein Widersacher der Natur, ein Abtrünniger, ein verworfenes Geschöpf. Der mit seiner Vernunft prahlende Mensch (Prometheus der Lichtbringer, so gut wie der Famulus Wagner) ist das entartete Geschöpf. Wieviel höher steht das unvernünftige Tier in der Reihe der »Geschöpfe«! Erst wenn der vernünftige Mensch seine Vernunft überwindet (was ihm nur durch die Gnade zuteil werden kann; das Tier braucht nicht erst die Gnade dazu) und ganz demütiges Geschöpf wird, hat er – noch lange keinen Anspruch auf stolzbewußte Selbstverkündigung, wohl aber einige Aussicht auf milde Verzeihung. Wir und Gott! »Der Mensch« das »Ebenbild Gottes«! Welch eine maßlose Überhebung!
Treue, Mut, Ausdauer, Ergebung, Arbeitsamkeit, Genügsamkeit, Besonnenheit, Vorsicht, Liebe, Reinlichkeit kann der Mensch vom Tier, das alle diese Eigenschaften aufweist, oft vereinigt, lernen. Mordsucht und Gefräßigkeit, beide gewissermaßen Entartungserscheinungen des Selbsterhaltungstriebes, unschuldig am vernunftlosen Gattungswesen, spiegeln ihm, immerhin dort auf Arten beschränkt, das eigene entfesselte Gebaren. Dagegen wird er im Reiche der Geschöpfe, denen er nur Instinkt zubilligt, vergebens forschen nach dem Schatze, der ihn, den Vernunftbegabten, auszeichnet: Neid, Haß, Mißtrauen, Bosheit, Schadenfreude, Hohn, Grausamkeit, Lüge, Heuchelei, Schelsucht, Streberei, Klatschsucht, Verleumdung, Feigheit, Hinterlist, Trug, Leichtsinn, Undankbarkeit, Dünkel, Fürwitz, Albernheit, Unmäßigkeit, Unwillen, Faulheit, Lästerung, Eitelkeit, Jähzorn, Verstocktheit, Verführung, Übermut, Frechheit, Argwohn, Geiz, Lieblosigkeit, Unflätigkeit, Roheit, Nachlässigkeit und all dem unerschöpflichen Vorrat von Menschlichkeit, die er selbst den Göttern angedichtet hat, weil er alles nach seinem erbärmlichen Ebenbilde fälscht, was er, kraft der Erkenntnis, zu begreifen meint und daher zu ergreifen sich anmaßt.
Das Tier übernimmt sich niemals im Genuß: es befriedigt sein Bedürfnis.
Das Tier ist nicht eitel, sondern unbefangen, »selbstverständlich«.
Das Tier ist nicht nachlässig noch zerstreut, nicht unbesonnen, noch übermütig.
Das Tier wendet immer die tauglichen Mittel an, seinen Zweck zu erreichen.
Das Tier ist dankbar, anhänglich und treu.
Das Tier kennt nicht die falsche Scham, es verleugnet und verrät nicht.
Das Tier schwätzt nicht: es drückt sich einfach und verständlich aus.
Das sogenannte Naturevangelium J. J. Rousseaus – nebenbei bemerkt, eines überaus unnatürlichen, verbildeten Menschen – predigt die Rückkehr zu einem »Naturzustand«, den die Natur nicht gelten läßt; denn nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit ist die Lehre, die sie nicht müde wird zu verkünden.
Den Menschen zum Menschen erziehen, wie es Rousseau als die Aufgabe des »wirklichen« Erziehers erklärt, heißt nicht, wie er meint, ihn zur Natur zurückführen, sonder ihn der menschlichen Gesellschaft zubilden. »Was ist denn diese Natur«, fragt Pascal, »die Gefahr läuft, ausgetilgt zu werden? Also wäre die Gewohnheit eine zweite Natur, die die erste zerstört. Aber was ist Natur? Warum ist die Gewohnheit nicht natürlich? Ich fürchte sehr, daß diese Natur nur wieder selbst eine erste Gewohnheit sei, wie die Gewohnheit eine zweite Natur ist.«
Rousseau ist solchem Zweifel des tiefsten aller französischen Denker in seinem seichten Vernünfteln durchaus fern. Er erklärt als unsere »Natur« die uns, sobald wir uns unserer Empfindungen bewußt geworden sind, in steigendem Maß eigentümliche »Veranlagung, die Gegenstände, die jene Empfindungen verursachen, aufzusuchen oder zu fliehen«. Aber diese Veranlagung erliege einer mehr oder minder einschneidenden Veränderung »durch den Zwang unserer Gewohnheiten« (Emile I, 1.). Er klagt die Gesellschaft an, die uns diese Gewohnheiten durch ihre falsche Erziehung aufnötige.
Aber was ist der Mensch, der, nach Rousseaus Beschreibung seines »Naturzustandes«, bewußtermaßen seiner »Veranlagung« folgt? Wo lebt er, wann hat er gelebt, dieser Mensch der »freien« unmittelbaren Regung, der Mensch, den keinerlei »Gewohnheit« aus der »natürlichen« Bahn (seiner Neigungen und Abneigungen) zu verleiten Gelegenheit und Macht hat? Auch der »Wilde«, der »Menschenfresser«, folgt irgendeiner Gewohnheit, die ihm Beispiel und Nachahmungstrieb angewöhnt haben. Und der dem »wirklichen« Erzieher, dem Erzieher »zum Menschen«, anvertraute, der sozusagen »prästabilierte« Mensch: bleibt er unter diesem milden, nachsichtigen Erzieher sich selbst und dem »Bewußtsein« seiner »Veranlagung« überlassen? Wozu dann der Erzieher dieses – Tieres?
Der Jammer des wehrlosen Geschöpfes ergreift mich mit der Gewalt unsäglichen Mitleids. Der Schmetterling, der an der Nadel verzuckt, der Käfer, der in der Schachtel vergessen (denk es, o Seele!) erstickt, der halbzertretene Wurm, die Hölle des Schlachthauses und – o Hohn der Wohlfahrtsgemeinschaft, der bürgerlichen Ordnung! – die Kindermißhandlungen häuslichen Zuchtrechts. Dagegen kommen alle Leiden des erwachsenen Menschen nicht in Betracht: denn jeder erwachsene Mensch ist schuldig.
Und welcher Greuel des Krieges reicht an das abgründige Verbrechen einer Kinderschändung, welche Marter, welcher Scheiterhaufen einer grausamen Rechtspflege an die Roheit eines Fuhrknechts, der seinem vergebens anziehenden Pferde mit der Peitsche ein Auge ausschlägt! –
* * *
Einen steilen Hang hinauf versuchen mächtige Pferde einen mit Sand beladenen Wagen zu ziehen. Die Sehnen der Keuchenden sind gestrafft bis zum Zerreißen, die blutunterlaufenen Augen treten fast aus den Höhlen. Sie können nicht weiter. Der Anblick ist jämmerlich. Der Fuhrmann brüllt und peitscht, stemmt sich gegen den Wagen, flucht, peitscht. Man steht und starrt erschüttert. Endlich knirschen die Räder, Funken sprühen aus den Hufen, der Wagen kracht im Gefüge, ein Ruck, er bewegt sich. Und der Fuhrmann peitscht und tobt ... Gibt es größeres Elend als die wehrlose Qual des gemarterten Tieres, das für seinen Herrn und Peiniger bis zur Erschöpfung sich abmüht? Es gibt Tierschutzvereine: eine Lache! ... Ich habe einmal einen solchen rohen Fuhrknecht, da ich's nicht länger ertragen konnte, wie er das ihm ausgelieferte Geschöpf mißhandelte, heftig zur Rede gestellt. Es fehlte nicht viel, und er hätte mich selbst mit der Peitsche angefallen ... Lasset den einzelnen abstrafen; entlassen, geht er hin und rächt sich an seinem Tier. Und die tausend und aber tausend anderen? ... Man ist immer wieder Augenzeuge solcher Auftritte, man hat schweigen gelernt, aber das Herz ist schwerer geworden. Freilich: du gehst betrübt, gedrückt an dem vorbei, was du nicht hindern kannst, und wenige Augenblicke später hast du's vergessen ... So ist es, und es ist gut so. Gut? Wirklich? Weil es fürchterlich wäre, wenn du nicht vergessen könntest? Wenn in dir alle Martern unverlöschbar weiterlebten, denen du auf dem Wege zu deinen Angelegenheiten begegnet bist? Gib dir selbst die Antwort auf diese Fragen. Sie sind wichtiger als der »Ernst des Lebens«.
An einer der belebtesten Ecken der häßlichen Stadt – o wie grundhäßlich ist diese schöne Stadt! – steht tagsüber ein Mann und hält Zeitungen feil. Er ruft die Titel der sechs, sieben Blätter, die er führt, alle zwei, drei Minuten aus. Ich komme einmal des Tages an diese Ecke, sehe den Mann immer wieder, höre immer wieder seinen eintönigen Ruf. Ich brauche ihn nicht zu fragen, wer er sei. Ein armer Mensch. Was soll mir sein Name? Aber ich möchte ihm einmal folgen, sehen, wie er seinen Korb »zu Hause« ablegt, wie er sich niedersetzt, wie er seine Mutter, seine Frau, sein Kind begrüßt. Er hat gute, stille, traurige Augen. Es wäre lächerlich, wenn ich ihm sagte, daß ich herzlich für ihn empfinde. Er würde mich erstaunt ansehen. Ich kann ihm meine Zuneigung nur dadurch ausdrücken, daß ich ihm eines oder das andere seiner Blätter abkaufe. Aber sie interessieren mich nicht. Und ich kann sie ihm doch nicht täglich abkaufen.
Schönheit ist Traurigkeit. Schönheit ist nicht angespannte, undurchdringliche Oberfläche, nicht das Äußere an den Dingen, sondern das, was ihr Inneres aus seiner Tiefe emporsteigen läßt ins Sichtbare, Vernehmbare, an die stets bewegte, dennoch unverrückbare Grenze des Umfangs, Ausdruck des Inhalts, nicht sein Gegensatz oder Deckel, sondern die nach außen wallende Seite seines Wesens, Welle im steten Übergang aus und zu sich selbst, an das dem Erscheinenden innewohnende Gesetz der Form gebunden. Alles ist schön, was also gesetzmäßig Gestalt annimmt (auch das Häßliche, das nur als Objekt, als einem subjektiven Gefühl widerstreitend, häßlich heißt. Wirklich häßlich ist das Gesetzlose, das Willkürliche, also Leblose, dennoch Leben Heuchelnde). Und auf dem Grunde alles Geschaffenen sammelt sich immer wieder Traurigkeit. Sie ist das Unbewußte, aber Unentrinnbare, das Ewige an den Dingen, ihr Sinn, das Unaussprechliche, das sie einstimmig ausdrücken: ihre, unser aller Vergänglichkeit. Schönheit ist Traurigkeit, weil in ihr dieser Sinn der Dinge mit der verhängnisvollen Gewißheit der Ahnung (für den ihr Begegnenden) zum Ausdruck gelangt. Die Schönheit der Dinge ist stumm geboren und verschweigt sich dem Unempfänglichen. Schönheit steht nicht gleichsam tot am Tage, sondern erfüllt sich nur dem sie Beschwörenden. Jeder Liebende ist Schöpfer dieser überall ihn erharrenden Schönheit. Aber in jeder Schöpfung ist Ahnung der Vergänglichkeit. Aus den Dingen (und den Menschen, allen Geschöpfen) steigt, da sie so, erschaffen, vielmehr wieder und immer wieder erschaffen, zu sich, das ist, ihrem Gesetz gemäß, zur Schönheit gedeihen, der Grundgehalt, unablöslich, an den Umfang ihrer Form, die Oberfläche der Wahrnehmbarkeit.
* * *
Die Stimme, die unmittelbar aus der Seele aufsteigt, führt selbst im Jubel etwas von ihrem Dunkel empor, und das gibt ihr den geheimnisvollen Klang, der ihre mit nichts vergleichbare Schönheit ausmacht, der aber auch wehtut, wie es kein noch so schmerzendes Wort vermag. Es ist das ewige Weh der Kreatur, das sie im Unbewußten alle eint.
Was wollt ihr werden? Wenn ich an euch diese Frage richte, so glaubt nicht, daß mir daran gelegen wäre, zu erfahren, ob ihr euch zu Rechtsanwälten oder Staatsdienern, Kaufleuten oder Ingenieuren ausbilden, welchen Beruf ihr ergreifen wollt. Die Gesellschaft braucht tüchtige Menschen auf jedem Gebiet, und es ist ziemlich gleichgültig, welches der einzelne von euch aufzusuchen durch Neigung oder Begabung, Überlieferung oder Eingebung sich bestimmt finde. Er muß nur ehrlich übernommener Pflicht getreu bleiben: worin die Pflicht bestehe, wenn sie sich mit dem Gewissen eines anständigen Menschen verträgt, ist für den belanglos, der ihm ins Auge schaut, nicht auf Rock und Schild sieht.
Wenn ich euch frage, was ihr werden wollt, meine ich, ob ihr euch darüber – nicht klar geworden seid, denn Klarheit ist Weisheit, und Weisheit will und muß von euch erst errungen und erlebt werden, sondern ob ihr euch darüber schon zur Rede gestellt habt, was das Ziel, die Aufgabe eines Menschen in der Welt sei, der er durch Geburt, das ist Abkunft, und Erziehung, das ist Gewöhnung, angehört. Der Mensch kommt ungefragt in die Welt, ungefragt, ob es ihm recht sei, in ihr aufzuwachsen aus dem Traum des Jenseits. Aber er kommt nicht ohne Sinn und Bedeutung in die Welt. Alles in der Welt hat Sinn und Bedeutung im Zusammenhang des Ganzen. Zu verstehen ist dieser Sinn nicht immer. Aber daß ihn unser Verstand nicht fassen kann, macht ihn nicht hinfällig. Viele ahnen ihn, manche wissen ihn. Seit jeher ist das so gewesen und wird es so sein, solange diese Welt besteht. Das soll uns nicht beunruhigen. Es kommt an jeden ein Augenblick, da er den Zusammenhang des Alls empfindet. Inzwischen hat er an seinem Platz ihn schaffend auszudrücken!
Doch nicht von diesem überpersönlichen Dasein ist die Rede, wenn sich der einzelne die Frage stellt, was er in der Welt zu tun habe. Mit sich selbst ist er allein, sich allein gegenüber, wenn diese Frage in ihm laut wird. Und daß sie laut werde in jedem einzelnen, ist nicht nur ersprießlich, sondern notwendig. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das heißt, der Mensch hat nicht nur einen Beruf, er hat auch ein Ziel, eine Aufgabe, und diese Aufgabe muß er erkennen, damit er sie nicht verzögere, gar versäume.
Die Aufgabe, das Ziel aber ist er selbst. Jeder Mensch ist sich selbst Aufgabe und Ziel. Was heißt das? Das heißt, daß jeder Mensch mit allen Kräften seiner Seele danach streben müsse, sich, sein Wesen, den Inhalt seines Seins, zum Ausdruck zu bringen, mit einem Wort: wahr zu sein. Das ist nicht so einfach. Die Erbsünde hat den Menschen um die Gnade gebracht, einfach er selbst und also wahr zu sein. Das Kind, das heißt der seiner selbst noch nicht bewußte, der reine Mensch, ist wahr. Aber sobald die Kindheit, die Unschuld im Menschen versinkt – und es geschieht plötzlich, wie es den ersten Menschen plötzlich geschehen ist –, wird der Mensch unwahr. Er ist nicht mehr unbewußtes Dasein, sondern durch die Erkenntnis, den falschen Schein, den die Vernunft von allem ihr Zugänglichen aus sich selbst erschafft, um das gebracht, was ihn den andern Geschöpfen bis dahin angeglichen hatte: die Selbstverständlichkeit (so wenig gerade diese Gnade zu verstehen ist). Und nun gilt es, das Verlorene wieder zu erwerben. Das ist die Aufgabe des Menschen. Er muß wieder Mensch werden im Sinne von »Geschöpf«.
Wenn ich euch frage: Was wollt ihr werden? so möchte ich von euch, gerade jetzt, in dieser unwahrhaftigen Welt des Scheins, in dieser bösen, armen, unseligen Welt der blinden Vernunft, die überzeugte Antwort hören: Wahrhaftige Menschen. Der Mensch ist wahr, wenn er wahrhaftig zu sein begehrt, danach ringt, der Lüge sich zu entschlagen, alles von sich abzutun, was an sie, den Erbfeind unseres Geschlechtes, die Schlange, gemahnt: Eitelkeit, Selbsttäuschung, Feigheit. Junge Menschen, trachtet mit allen Kräften eurer noch ungebeugten Seele danach, wahrhaftig zu sein, und ihr werdet werden, was eure Aufgabe ist: wahre Menschen.