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Der Mensch soll von Zeit zu Zeit auferstehen, d. h. sich mit Bewußtsein erneuern. Das Leben, im Alltäglichen verlaufend, wird nur zu leicht Gewohnheit und Gewöhnlichkeit. Trott statt sich selbst empfindender Bewegung.
Das verdumpft die Seele, stumpft den Geist ab und macht den Körper schwerfällig und lässig. Es liegt nur am Menschen, daß er gleich der Natur aus Welken und Absterben wieder zu sich selbst erwache und erblühe. Das geschieht aber nicht, indem man sich gehen läßt, sich abfindet und den Nacken unterm Joch senkt, sondern indem man sich, und sei's mit einem schmerzhaften Ruck, aufrichtet, Ansprüche ans Leben erhebt und kräftiger ausschreitet. Das Altern ist vor allem eine Gemütskrankheit. Wer sich verdrossen abschließt, mürrisch einspinnt, der versauert. Nichts ermüdet so sehr wie die Trägheit, die körperliche und die moralische. Je ferner und je höher das Ziel, das sich einer setzt, um so reicher quillt ihm, dem Unternehmenden, das Selbstvertrauen.
Vor allem tut eines not, was, wie alles Lebendige, Lebenspendende, im Evangelium steht: Sorge dich nicht ängstlich um die Stillung deines armseligen Bedürfnisses, sondern hoffe auf den göttlichen Beistand!
Das aber heißt, nach einem alten schönen Wort: Mensch, werde wesentlich!
Das Wesentliche in dir ist, was von Gott stammt. Dieses, dein göttliches Erbe, die Seele, laß in dir auferstehen, »erwirb es, um es zu besitzen«.
Die Menschen von heute haben »keine Zeit«. Nicht aber deshalb, weil sie etwa mehr Zeit als andre sonst zu ihren Geschäften brauchten (es sind nicht Taten, was sie verrichten, sondern Geschäfte), vielmehr darum, weil sie die Zeit »vertreiben«. Wörtlich: sie treiben sie vor sich her, hetzen sie und klagen dann, daß sie ihnen entgehe, entfliehe.
Das Leben ist kurz, aber die Zeit ist lang. Nur unsere Schuld ist's, daß sie nicht langt. Weil wir sie verkürzen. Unsere eigene Hast und Unrast ist es, die wir, sie überhastend, ihr versetzen. Wir fälschen sie, die Dauer ist, Weile, zur Frist, zum Augenblick.
Wozu die Eile in allem, was der Mensch treibt? Wozu die Beschleunigung des Daseins, die Vorwegnahme der Zukunft? Als der Mensch noch wandernd die Welt durchstreifte oder zu Pferd und im Postwagen gemächlich sein Ziel erstrebte, war Wandern eine Lust, war Reiten und Fahren gelassene Umschau. Man erlebte, was Weg und Umgebung boten. Und am Ziel gab es behagliches Rasten, Niederlassung und Aufenthalt.
Heute rast, saust, staubt und fliegt man dahin, überwindet »Strecken«, und der Gewinn an Zeit ist Verlust am Leben. Ja, das Leben selbst steht dabei stets auf dem Spiel, dem sinnlosen Spiel der »Leistung«.
Der Dauer entspricht die Ferne. Ferne heißt Sehnsucht, Traum, Schönheit. Wir überraschen die Sehnsucht, zerstören den Traum, schänden die Schönheit. Nähe ist Ernüchterung, Erfüllung ist Enttäuschung.
Was ist das Ergebnis all dieser lärmenden Betriebsamkeit? Erschöpfung und Ekel. Genuß will erworben, nicht errafft sein. Erfolg ist Lohn, nicht Gewinn. Freude ist Befriedigung. Das Glück flüchtet im Taumel. Alles Unheil entsteht aus der Unruhe.
Unsere Zeit kennzeichnet der erbärmliche Kreislauf von Geschäft und Vergnügen. Geschäft, das ist nicht die dem gesunden Menschen unumgängliche Arbeit, die schaffensfrohe Betätigung des Tauglichen am Werk, das ihm als seine Berufung Beruf geworden ist, ihm als gediegene und ergiebige Leistung seine Tüchtigkeit bestätigt und ihn mit Genugtuung erfüllt, sondern ein ausschließlich auf Gewinn, womöglich raschen und mühelosen, gerichtetes, mehr oder minder zufälliges und meist überflüssiges, ja wohl gar schädliches Unternehmen, das Kniffigkeit, Aufdringlichkeit und Unverfrorenheit weit eher voraussetzt als Fähigkeit, Fleiß und Ausdauer, Unaufrichtigkeit eher als Ehrlichkeit, Schamlosigkeit eher als Selbstachtung. Die Befriedigung am Erfolg wertvoller Arbeit gewährt Sicherheit und Ansehen, der Arbeit eignet Würde und Schönheit; selbst die sogenannte knechtische muß den Menschen durchaus nicht erniedrigen. Geschäft aber als Aufgabe wendet sich an den gemeinsten aller Triebe, den Eigennutz, der vor der Übervorteilung anderer nicht zurückschreckt. Vor allem ist der Arbeit die Freude nicht fremd, nicht etwa ihr Gegensatz, sondern quillt geradezu aus ihr und weiht die wohlverdiente Muße, die nicht Flucht bedeutet aus lästiger, verhaßter Mühsal in die Trägheit, sondern erfrischendes Atemholen, erquickende Rast.
Freude ist heilig. Sie kommt vom Herzen und geht zu Herzen. Freude ist rein und stark und voll. Vergnügen aber ist leer und hinfällig. Nur armselige Menschen gehen auf Vergnügen aus, das sie lockt und enttäuscht, schwächt und nur zu oft besudelt.
Freude sammelt, Vergnügen zerstreut.
Seligkeit als einen Zustand kann ich mir nicht vorstellen. Es scheint vielmehr ihr Wesen zu sein, nicht anzuhalten. Selig ist man, wenn eine entsetzliche Begebenheit einen glücklichen Ausgang nimmt: mein Sohn stürzt vom scheuenden Pferd und bleibt wie tot liegen; aber er erholt sich, steht auf ... das unsägliche Glücksgefühl solcher Augenblicke löst sich wieder in alltägliche Empfindung auf. (Ich bin, wenn ich mich recht erinnere, selig gewesen, als ich mit dem nach dem Schlafe wiedererwachenden Bewußtsein die Gewißheit erlangte, daß die mir zu Weihnachten geschenkte erste Uhr mein eigen sei.) Andauernde Seligkeit hielte das überspannte Herz nicht aus. Daher verlegt sie der Mensch ins Jenseits (das er auf eine Weile von Ewigkeitsdauer ahnen mag). Aber Freude kenne ich und meine, sie sei das Schönste, was der Mensch – und immer wieder gleich ganz und ganz gleich – erleben könne.
Ist Weisheit wirklich nur erkaltete Schlacke des erloschenen Kraters? Setzt Weisheit des Herzens dessen Erschöpfung voraus?
Ich meine, man müsse die Weisheit des naturgebotenen Verzichtes ebenso wie die der endgültigen Enttäuschung, beider Ergebnis in gebührenden Ehren, von der aus dem Born der Erfahrung strömenden des lebendigen Lebens zu unterscheiden verstehen. Jene, die sich, an der Grenze angelangt, in der glatten Marmorwand spiegelt, darf mit Fug und Recht den Anspruch vertreten, als »letzter Schluß« zu gelten, aber sie setzt sich selbst erst die Krone der Erfüllung aufs Haupt, wenn sie nicht ernst genommen zu werden wünscht und es der Wahrheit des strömenden Lebens überläßt, das Unbelehrbare, Unaufhaltsame wenigstens vor den Klippen zu warnen. Der weiseste aller Sprüche, »Alles ist eitel«, drückt auch den vollkommenen Verzicht auf das aus, was Lebensweisheit erst ermöglicht: Erleben des Lebens. Es möchte wohl selten einer sein Leben noch einmal erleben. Warum? Weil nur in der persönlichen Erfahrung des jeweils Neuen Lebenswert sich bekundet, Wiederholung aber das Erleben um sein Wesen brächte, die Tatsache des so noch nicht Erlebten. In der persönlichen Erfahrung, die einem niemand abnehmen noch nachmachen kann, liegt die Widerlegung jener Weisheit des All-Eitelen. Der Lebendige verachtet diese fruchtlose Weisheit, die ihn um das Leben prellen zu wollen scheint. Ich will als Lebendiger, sagt die Weisheit des Lebens, immer wieder die Eitelkeit der Welt erfahren, sie erlebend überwinden. Ich höre, daß alles eitel sei, aber ich weiß nur von dem, was ich selbst erlebt habe.
Und übrigens: ist wirklich alles eitel?
Alles ist eitel, d. h.: jeder will gelten. Man mag noch so gleichgültig geworden sein gegen Anerkennung: daß man nicht gelte, verdrießt. Wer noch so wenig aufzufallen begehrt, wünscht nicht unbemerkt zu bleiben. Und kein empfindender Mensch, so fern ihm Empfindlichkeit liege, gönnt dem Unbeträchtlichen, daß es in Betracht komme, dem Ungültigen, daß es zur Geltung gelange. Sei dieses Gerechtigkeitsgefühl und -bedürfnis auch in seiner Sachlichkeit unanfechtbar: es liegt ihm ein Vergleich zugrunde, der Anspruch bekundet. Man steht eben, auch als bewußtermaßen Abseitiger, Unabhängiger, im allgemeinen Zusammenhang. Nur der Heilige, der einer anderen, höheren Ordnung angehört, hat ihn mit Heiterkeit aufgegeben. Er allein ist wirklich frei, d. h. nur dem Unbedingten ganz hingegeben. Alle anderen haben im besten Fall verzichtet.
»... Denn was nicht zu ändern ist, ist eben deswegen auch nicht zu vergessen ...
Nur einer kann und soll verzeihen und vergessen, der von Unrecht Betroffene selbst; der Täter und alle anderen können es niemals, solange eine innere und äußere Spur übrig bleibt.«
Gottfried Keller, der diese tiefsinnigen und schwerlastenden Worte (im »Grünen Heinrich«, Erste Fassung von 1854/55) mit persönlichster Empfindung und unbarmherziger Wahrhaftigkeit niedergeschrieben hat, ist, Rationalist, der er war und blieb, des Wesens der Gnade unkundig; lehnt sein Heinrich ja auch ausdrücklich »des Schulmeisters christliche Vermittlung« ab, gegen die er sich »sträubt« (»das Wort Sünder war mir ein für allemal verhaßt und lächerlich und ebenso die Barmherzigkeit; vielmehr wollte ich ganz unbarmherzig die Sache mit mir selbst ausfechten und mich verurteilen auf gut weltlich gerichtliche Art und durchaus nicht auf geistliche Weise«). Das ist bezeichnend für ein der christlichen Vorstellungswelt entfremdetes Empfinden. Nietzsches Haß gegen Wagners Erlösungsbedürfnis fällt einem ein.
Vom Standpunkt der »freien« Persönlichkeit mag manchem ja diese Haltung menschlich-mutig dünken. Aber an der sogenannten »sittlichen« Größe des »siebenmal im Tage« Sündigenden festzuhalten, fällt reiferer Einsicht schwer.
Mir scheint in der Demut des reuigen Sünders, in seiner Selbstentäußerung mehr von dem zu liegen, was mir einzig den Menschen erträglich macht: die Gesinnung der Versöhnlichkeit. Die Beichte der katholischen Kirche habe ich aus dem Tiefsten schätzen gelernt. Und wenn ein Mensch vom Schlage derer, die sich »sträuben«, den Nacken vor dem Stellvertreter Gottes beugt, seinen (armseligen) Stolz überwindet und sich durch das Bekenntnis seiner »Menschlichkeit« entsühnt, erachte ich das als tiefer denn alle »Tiefe«. Einen Augenblick wenigstens – und welchen hehren, da er des Leibes des Herrn würdig ist! – fühlt sich der unselige Mensch frei (von Sünde).
Hoffnung ist ein Zustand des Gemütes, der zwischen dem Glauben an das Erwünschte als das Mögliche und dem Zweifel an der Gewährung des Wunsches schwankt, eine bange Ahnung, die sich aus unerforschlicher Quelle immer wieder mit schauernder Gewißheit erfüllt, aber niemals die Grenze der bewußten Befriedigung erreicht, ein Flügelschlagen, das des Fluges in seiner völligen Hingabe an die entführende Bewegung entbehrt, weil es sich ihm anzuvertrauen zagt. Diese Hingebung an den Wunsch als sicheres Ziel der Überzeugung ist die Verzücktheit der Begeisterung.
Glück ist das Gefühl der Gewähr, womit man den Augenblick der Freude aus Vertrauen beschenkt. Dieser Vertrauensseligkeit entspricht im Menschen, der als Vernunftwesen den Zustand des Glücks nicht auf die Dauer mit seinem Selbstbewußtsein vereinigt denken kann, das Gefühl des möglichen Verlustes, den er in der Vorstellung vorwegnimmt, ein Bangen, das wie sein Schatten, je nach Temperament leichter oder schwerer, Glück begleitet und endlich überholt. Nur dem Träumer, dem Sonntagskind der Einbildungskraft ist das Unsichtbare Königreich der Gegenwart, das Nu, das sich magisch zur Ewigkeit erweitert, Besitz; der Wache sieht es sich auf Schritt und Tritt entweichen: der Erwerb des Lebens ist der Gewinn an Verlust. Im Grunde sammelt man nur Erinnerungen an Einmaliges, das nicht mehr ist und niemals wiederkehrt. Dieses Niemehr, das einmal nur gewesen ist, macht das Unverlierbare, die Vergangenheit aus, die, nicht immer bewußt, doch nicht aus dem Gedächtnis fallen kann, das ewige Leben des Abgeschiedenen, das nicht mehr ins Leben zurückgelangt.
Niemand kann für seine Stimmung, die, wenn sie zur Äußerung gelangt, Laune heißt. Diese Äußerung, soweit sie andern irgend zum Nachteil gereicht, möglichst einzuschränken, ja auf gefällige Weise zu bemänteln, ist Umgangspflicht. Auch gute Laune kann lästig fallen, sei es, weil sie ihre Zeit oder ihr Maß nicht zu wahren weiß, sei es, weil sie unbekümmert um die gegenteilige Stimmung des Nächsten sich auslebt.
An schlechter Laune kann man geradezu leiden, ja oft mehr, als man andere darunter leiden macht. Wer schlechter Laune unterworfen ist, wird von solchen, die sie kaum als Anwandlung kennen, nur zu leicht verurteilt. Es sind nicht die schlimmsten Menschen, die ihr ausgesetzt sind, allzu empfindliche, feinfühlige, anspruchsvolle Menschen, denen nicht so sehr ein Ungefähr (das gilt für die eigentlich Launenhaften), sondern ein scheinbar geringfügiger, ihnen jedoch keineswegs unbeträchtlicher Anlaß augenblicklich die Stimmung trübt und anhaltend, zusehends verdüstert. Beständig frohe, duldsame Stimmung deutet auf ein einfaches, harmloses Gemüt. Häufiger Stimmungswechsel hingegen ist ein unverkennbares Zeichen großer Empfänglichkeit, die durchaus nicht, wie es Stumpfsinnige pflegen, als krankhaft erachtet werden darf. Gerade ein klarer, heller und hochgespannter Himmel der Seele überzieht sich plötzlich mit Wolken, die aus dem eignen Innern rasch heraufsteigen. Allzuviel geht in solcher Seele um, was ihr immer wieder notwendigerweise das selige Strahlen, den Zustand ihrer Selbstvollendung, verkümmert.
Vorzugsweise geistige, das heißt Menschen, denen nur geistige Freuden taugen, können sich nicht mit dem abfinden, was den ungeistigen genügt. Sie sind von einer Lufthülle umgeben, die, solange sie unberührt bleibt, sie von der übrigen Welt undurchdringlich abschließt, die aber nur zu leicht zerreißt, wenn ein Anstoß ihren Umfang trifft. Dann stürzt ihnen gleichsam das kristallene Gewölbe überm Kopf zusammen, worin sie sich geborgen fühlten, böser Dunst verschlägt ihnen den Atem, und die Öde, die sich an sie herandrängt, verwandelt wie mit einem Schlag die schöne Heimlichkeit ihrer Selbstbefriedung und -befriedigung in eine wahrhaft qualvolle Unlust. Das ist die schlechte Laune derer, die an der guten der andern, ihrer arglosen Peiniger, am tiefsten leiden, weil sie niemals mit ihnen, denen sie wohlwollen, Gemeinschaft haben können am Gemeinen.
Sogenannter Trost, statt als hilfreiche Teilnahme wirksam zu werden, erweist sich schon dadurch als gleichgültiges Verhalten, daß er die Vernunft ins Treffen führt. Vernunft, das heißt Erwägung der gegen ein übermächtiges Gefühl sprechenden Einwände der Erfahrung, besitzt der des Trostes Bedürftige selbst, aber eben darin, daß er ihr nicht ihre Ansprüche einräumt, besteht ja sein Zustand, der sich im Leiden auslebt, z. B. unterm Eindruck einer Trennung. Trost müßte imstande sein, an die Stelle der schmerzlichen Empfindung durch eine Labung dieser Schwäche etwas zu setzen, was sie, wenn nicht aufhöbe, ihr doch aufhülfe. Das vermag sein durch angewandte Klugheit beschwichtigendes Verfahren mitnichten. Im Gegenteil: er fordert den Widerstand des dadurch verkannten und beleidigten Gefühls heraus, das sich, durch den Einfluß der zurückzuweisenden, unerwünschten Vernunft selbst in seinen Ansprüchen bestärkt, auf sein Recht versteift. Trost kann nur vom Herzen ausgehen, das, sich dem Eindruck des Leidenden hingebend, zunächst in seinen Regungen durchaus gleichen Schritt mit der ihm anvertrauten Fassungslosigkeit haltend, allmählich die eigene nicht unmittelbar betroffene Empfänglichkeit an die Stelle der verwundeten schiebt, die Last des drückenden Schmerzes an sich zieht und so erleichtert. Sich an einem teilnehmenden Herzen ausweinen zu dürfen, ganz sich selbst überlassen, aufgelöst in das entströmende eigene Herz, befriedigt, als Wehlust, den Schmerzbewegten, und so gelangt er, entbürdet, aus verzehrender Drangsal wieder in das der abwartenden Vernunft taugliche seelische Gleichgewicht.
Kant (in der »Anthropologie«, 1798) leugnet völlige Traumlosigkeit. Er hat recht. Was manche dafür halten – Lessing hat es nach dem Zeugnis von Leisewitz oft von sich versichert –, ist das Vorwalten des tiefen Schlafs und das Ausbleiben jeglicher Erinnerung an das Geträumte. Dieses ist, wenn auch vielleicht nicht durchaus wörtlich zutreffend, als häufige Tatsache feststellbar. Den Gegensatz zu solchen Traumlosen bilden die Traumdeuter, die oft geradezu als Traumjäger anzusprechen sind. So Jean Paul, der freilich auch der Dichter der eigenen und überhaupt Erdichter von Träumen war. Es steht so, daß das erwachende Bewußtsein dem flüchtigen Traum in dem Augenblick, da er sich anschickt, zu entrinnen, noch gefaßt und rasch genug ist, sein Fangnetz überzuwerfen, während die andern ihm schlaftrunken nachstarren.
Alle Eindrücke, auch die unbewußten, gelangen ins Gedächtnis, aber was davon als Erinnerung emporsteigt, ist nicht Sache der willkürlichen Wahl, sondern Zufall, also Notwendigkeit.
Die Träume, die nicht Eindrücke, sondern selbst Erinnerungen, vielmehr Spiegelungen von Erinnerungen sind, kehren nur, wenn sie überrascht werden, gleichsam ertappt und eingeschüchtert, in ein Bereich zurück, in dem sie sich, während der Aufseher schlief, ungeduldig aus freien Stücken getummelt haben.
Liebe, unwillkürliches Ausströmen von unversieglicher Gemütskraft, ist ihrem Wesen nach einseitig, ausschließlich. Gegenseitige Liebe ist ein Zusammenkommen, das keinem Gesetz gehorcht, Begegnung zweier Selbständigkeiten. Daher darf Liebe, unerwünschtes Geschenk, nicht auf Gegenliebe zählen.
Sie kann sich ihren Gegenstand nicht geneigt machen, der der eigenen Neigung folgt. Wahre Liebe, die nichts will, als sich selbst, wird niemals in Haß umschlagen. Nur die in ihrer unbefugten Erwartung auf Erwiderung enttäuschte, zumal die als Lust auf Befriedigung angewiesene Geschlechtsliebe, verwandelt sich, abgestoßen, ausgehungert und beleidigt, natürlicherweise in ihr Gegenteil.
Liebe, die auf Eroberung ausgeht, ist das Zerrbild der echten, die als Hingebung quillt. Die Selbstbejahung der wahren Liebe ist Entsagung als Genugtuung.
Wehleidigkeit, eine Schwäche, mit dem Mitleid zu verwechseln, das als Ausfluß der Liebe dieser, einer Stärke, nichts vergibt, ist ein Zeichen unserer armseligen Zeit, die sich in ihren Gebresten mit Wohlgefälligkeit spiegelt. Das, was man Mittelalter, »das finstere Mittelalter«, zu nennen gewohnt ist, die große Epoche eines allgemeinen europäischen Christentums, war nichts weniger als wehleidig, und zwar nicht aus vorwaltender Roheit (die ist unserer entseelten Zeit aufbehalten geblieben), sondern weil damals das Herz noch wie im einzelnen so im Verbande der durch gemeinsame Herkunft, gemeinsame Anschauung, gemeinsame Aufgaben zur Gemeinschaft Geeinten sich als lebenstüchtig, also als tragfähig und ausdauernd bestätigte. Eben weil man die Menschenseele, aus Religiosität, zu schätzen gewohnt war, mutete man ihrer Einwirkung auf den Willen (gleicherweise zu Tun wie zu Leiden) ernstlich und einigermaßen rücksichtslos das zu, was ihr als ihr Schicksal im Leben bereitet war.
Der Mensch ist hienieden nicht zur Seligkeit berufen. Leid ist sein Anteil am Leben, von dem ihn der Tod erlöst. Die irdische Laufbahn ist eine Pilgerschaft zum Grabe. Fühllos umgibt uns die Natur, in die wir, angewiesen auf unzulängliche Kräfte, hineingestellt sind, ohne daß wir begehrt hätten, dahin zu gelangen. Leben ist nicht Anspruch, sondern Verpflichtung. Das aber will besagen, daß wir uns nicht zu erleben, leben zu lassen, sondern als lebendig zu erweisen haben. Jene Wehleidigkeit am Leben verneint, was zu bejahen wir gehalten sind. Wir tragen Ewigkeit in uns und Zeitlichkeit auf uns. Jene gibt dieser, die uns Zufall dünkt und also sinnlos scheint, Sinn, das ist Bestimmung. Aber im Leben haben wir ihr nachzuleben und dem Leben gemäß. Daß wir uns dessen bewußt sind, was der übrigen Natur entgeht, obwohl sie gleich uns an der Gestaltung ihres Sinnes wirkt, ist unser Adel: er beruht im Geist. Im Herzen aber wohnt, was uns befähigt, trotz unsern Mängeln auszudauern, die Liebe. Nicht zum Leben, das Leiden ist, nicht zu uns selbst, die wir erbärmlich sind, sondern zu dem, was einzig liebenswert und, selbst die Quelle der Liebe, unsrer Liebe zu ihm auf ihrem Wege zu ihm Mitleid entströmen läßt mit den Genossen unseres Leidens: Gott.
Liebe ist, aus den Tiefen des Unbewußten hervorbrechend, in schicksalsmäßiger Gebundenheit freiwaltendes Empfinden, nicht zur Rechtfertigung und Rechenschaft verpflichtet, sich selbst genügend in ihrem wahrhaftigen Wesen, dem unbedingter Hingebung, ohne Anspruch auf Dank und Vergeltung, unabhängig von der Erwiderung, selig auch im unverschuldeten Leid, unerschöpflich, unermeßlich sich verströmend, nie ans Ziel gelangend, dennoch stets vollendet, weil durchaus mit sich einig, ganz und sinnerfüllt. Herzenshöflichkeit aber ist Gnade der sittlichen Bindung, Ergebnis einer sozusagen gegenstandslosen Zucht zur allgemeinen Annehmlichkeit, Selbstvollendung der unbeteiligten Anteilnahme. Lieben kann man nur müssen, aber liebenswürdig soll man sein wollen. Der Liebe, als einem durch keinen Einwand, keinen Bedacht in ihrem aus sich selbst stürzenden Dasein irgend zu hemmenden Zustand, unterliegt man, ohne sich ihr erst zu ergeben; Herzenshöflichkeit dagegen ist ein Verhalten, das ohne Zwang, in unbefangener, aber bewußter Dahingabe, einer stets durch das sittliche Taktgefühl bedingten, sich niemals dem Empfänger überlassenden Hingabe aus dem Mittelpunkt eines seiner selbst sicheren Daseins zu entwickeln, gleichsam unersichtlich, dennoch wirklich und wirksam aus ihm herauszuspinnen ist. Eben an das Gleichgültige wendet sich dieses jedermann, an den es ergeht, durch Anspruchslosigkeit und auf das Erfreulichste verpflichtende Verhalten: Es zieht in seinen unsäglich leichten Bann und hinterläßt von der Schwere ihrer Eigennützigkeit auf Augenblicke wie durch Zauber Befreite. Es äußert sich meist ohne eigentlichen Ausdruck, es geht ein, ohne sich aufzudrängen, es überkommt wie ein durchsichtiger Schatten. Es ist die Reife des Wohlgebornen.
Eine mitleidlose Betrachtung
Madame de Caylus erzählt in ihren Erinnerungen als einen für die Herzenshärte der Marquise de Montespan bezeichnenden Zug folgende kleine Geschichte:
Eines Tages ward von der Karosse, in der sie selbst mit Madame de Montausier, Madame de Richelieu, Madame de Maintenon und anderen saß, auf dem Pont St. Germain ein armer Mensch überfahren. Während nun alle Damen sich entsetzt und ergriffen zeigten, blieb nur Frau von Montespan von dem Ereignis völlig ungerührt, ja, sie warf den andern ihre Schwäche vor. »Wäre es«, sagte sie, »eine Wirkung eurer Herzensgüte und wirkliches Mitleid, dann müßtet ihr, wenn ihr hörtet, daß sich die Sache fern von euch zugetragen hätte, dasselbe Gefühl haben, wie da sie in eurer Nähe geschehen ist.«
Diese kluge Bemerkung der wegen ihres spottsüchtigen und überlegenen Geistes nicht minder als wegen ihrer Schönheit berühmten Frau, mag ihr Benehmen immerhin eine an einem Weibe befremdende Gleichgültigkeit gegenüber dem unmittelbaren Eindruck fremden Unglücks bezeugen, scheint mir nur allzu treffend. Was ist unser Mitleid anders als Wehleidigkeit, die sich der Wirkung eines die Nerven ergreifenden unangenehmen Ereignisses unterwirft? Wenn eben dasselbe Ereignis sich unseren Nerven nicht unmittelbar, sondern erst auf dem Umweg über die Reflexion mitteilt, z. B. wenn wir davon in der Zeitung lesen, empfinden wir nichts von dieser Wirkung.
»Was ist ihm Hekuba!« sagt Hamlet bewundernd von dem Schauspieler, der ihn den ganzen Jammer der unglückseligen Königin, ein scheinbar Teilnehmender, erleben macht. Was bewundert Hamlet? Die Kunst des Schauspielers, Ergriffenheit vorzutäuschen. Es ist nicht zuletzt diese Macht der Kunst, zu vergegenwärtigen, was uns ferne liegt, die wir an ihr – der Dichtung wie der im weitesten Umfang des Begriffes überhaupt darstellenden Kunst – schätzen.
Nur Nähe, nur Beziehung schafft das, was wir Mitgefühl nennen. Wir fühlen buchstäblich mit, was sich unsern Sinnen aufdrängt. Aber »was ist mir Hekuba!« wird jeder sich bekennen, der aufrichtig genug ist, sich von seinen Gefühlen nicht irreführen zu lassen.
Schön heißt uns, was als vollendete Erscheinung den wohlgefälligen Eindruck der Vollkommenheit, das ist der Übereinstimmung aller Teile mit dem Ganzen, hervorbringt und in Ruhe bewahrt. Diese beruhigende Anschauung schließt die Begierde aus, die der Reiz des in Anmut Bewegten auf die Empfänglichkeit wirkt. Schönheit ist durch Ebenmaß vergeistigte Sinnlichkeit. Ihre Empfindung ist ein Vorrecht des Menschen, aber als sein geistiger Adel nicht jedem verliehen.
Es heißt, ein Mann müsse nicht schön sein, um zu gefallen. Also doch wohl die Frau. So hat es die Erfahrung der Geschlechter, je vom Standpunkt des anderen, sich zur Überzeugung gemacht. Aber darüber, was schön sei, entscheidet, allen Schönheitsregeln zum Trotz, doch nur der persönliche Geschmack. Es käme denn, im einzelnen Falle, darauf an, wen jemand schön finde, und so wäre jene nur für die Frau aufgestellte Bedingung durch die Tatsachen, Gebrauch und Übung, außer Geltung gesetzt. Ist das richtig? Der Zweifel meldet sich und erstarkt alsbald.
Gefallen mag mit Schönheit streiten, aber Gefallen entscheidet nicht gegen die Schönheit. Das heißt, wenn jemand die minder schöne, die unschöne Frau der schönen vorzieht, Schönheiten entdeckt, wo sie für andere nicht vorhanden sind, beweist das gar nichts gegen die allgemeine Wirkung der Frauenschönheit, ja er selbst, der für seine Person, einmal und wieder einmal, die Ausnahme gesetzt hat, wird sich deshalb noch nicht als unempfindlich erachten gegenüber schönen Frauen, die ihm sonst begegnen. Denn die Schönheit der Frau – und daran ändert nichts, daß auch eine unschöne Frau jemand gefallen kann – ist eine unbestreitbare Macht. Auch die Schönheit des Mannes? Mitnichten. Kein Zweifel, daß es, so wie schöne Frauen, schöne Männer gibt. Aber, von der keuschen Schönheit des Knaben abgesehen, die, wie die des knospenhaften Mädchens, nur gleichsam als der Duft des Geschlechtes, nicht eigentlich sinnlich in die Sinne fällt, hat Begriff und Vorstellung des schönen Mannes einen anderen, nicht den ausschließlichen Charakter, den weibliche Schönheit unmittelbar ausdrückt. Weibliche Schönheit ist ihrem Wesen nach Reiz. (Eine schöne Frau, die nicht reizt, ist ein Unding.) Ja, die Schönheit des Weibes weckt nicht nur im Mann Begehren, sondern will es wecken, festhalten, unter Umständen steigern. Das ist nicht sozusagen Aufgabe des männlichen Leibes (obwohl auch er in seiner ebenmäßigen Bildung dem Geschlechtsempfinden der Frau begegnet). Es wäre unrichtig, wollte man männliche Körperschönheit auf Kraft beschränken. Die Form allein, die nicht eben Stärke bekundet, ist ihres gefälligen Eindrucks sicher. Auch zu sagen, den Mann, wie immer er gestaltet sei, verschöne der Geist, bleibt eine Behauptung, die schon deshalb nicht überzeugt, weil Geist, ein unsinnliches Element, die Ebene der Betrachtung verschiebt. (Und schadet etwa Geist dem dadurch ausgezeichneten schönen Weibe?) Die Sache liegt anders. Man braucht nur daran zu denken, daß die Bezeichnung »schöner Mann«, ungleich der »schöne Frau«, nicht selten einen peinlichen Beigeschmack hat. Und wirklich ist der landläufige (übrigens durchaus nicht gleich der schönen Frau eindeutige) »schöne Mann« etwas feinerem Empfinden Unerquickliches, ja Verächtliches. Das ist ein unübersehbarer Fingerzeig. Nicht nur braucht, so will es scheinen, der Mann nicht schön zu sein, um (in höherem Sinn) als schön zu gelten, sondern, so paradox es klingen mag, er soll gar nicht schön sein, wenn er bleiben will, was er, mit der vollen, ihm eigentümlichen Wirkung ist: Mann.
Schönheit ist Vorzug und Mangel zugleich des Weibes. Denn sie ist ihr, damit sie als Geschlecht zu ihrer vollen Wirkung gelange, Bedürfnis. Die Frau vollendet sich in Schönheit, als Objekt, der Mann in Schöpfung, Geist und Tat, als Subjekt. So will es die Ordnung der Natur: das weiblichste, das schöne Weib ist Preis und Gewinn des männlichsten, des siegenden Mannes.
Warum es heuchlerisch leugnen, daß das Weib begehrenswert sein will? Daß seine Tracht ihm dabei helfen muß? Gibt es etwas Unseligeres als ein Weib, das Abscheu einflößt? Auch der Mann will wirken, aber wesentlich nicht durch Gaben des Leibes, sondern des Geistes. Unweiblich nennen wir die Frau, die es ihm hierin gleichzutun strebt, die ihren natürlichen Reiz zugunsten des männlichen unterdrückt; weibisch den Mann, der seinen Körper anders als durch Kraft gelten lassen mag.
Freilich gibt es Frauen, die, ohne geradezu unweiblich, also abstoßend zu sein, ungeschlechtlich scheinen; sie sind darum nicht etwa männlich, sondern fallen bloß aus ihrer Art, wirken ausdruckslos. Und wunderbar: das Weib, das seinen Sinnenberuf erfüllt, das, wie die Mehrzahl monogam veranlagt, einem Manne sich für immer gegeben und ihm sein Kind geboren hat, verschwindet gleichsam eine Weile hinter sich, hat sich im Dritten, dem Ergebnis der Vereinigung des Getrennten, gefunden und überwunden, ist, vom Triebhaften zur außer sich waltenden Mutter erlöst, in eine andere Sphäre übergegangen. Eine höhere? Dem Kinde muß es so sein, denn es gibt keine tiefere, unbefangenere Ehrfurcht als die des kindlichen Kindes vor der mütterlichen Mutter, nichts Scheußlicheres als das Gegenteil. Aber solang, noch so verhüllt im Mütterlichen, in der mannbaren Frau das Weib, das Geschlecht, lebt, bleibt die Weibwirkung möglich. Die Frau ist durch das Kind nicht um sich gekommen. Mag sie ihre unwillkürliche Geschlechtswirkung auf den Mann beunruhigen, verstimmen oder nicht bewegen, sie wird ihr Rechnung tragen, bewußt oder unbewußt.
Ein grausam schöner Gedanke höchster Ehrung des Weiblichen – die keusche Kraft der ritterlichen Dichtung hat ihm in Blancheflor, der Mutter Tristans, Gestalt gegeben – ist die Erschöpfung im Einmaligen: eine Liebe und ihre Erfüllung, ihr Ergebnis Kind und Tod zugleich. Das Metaphysische in der Geschlechterliebe ist ihr Schweben an der Grenze des Todes. Aber im Immer-wieder-Erwachen liegt der Rhythmus des Lebens, das beständig den Tod bekämpft, dem es einmal unterliegen muß. Das Weib, das dem Manne sein Kind geboren hat und weiter lebt, um, hervorgehend aus den Schleiern der Mütterlichkeit, stets aufs neue die Ewigkeit der Sinne zu bestätigen, dient der Natur, die, nüchtern, ihren Geschöpfen nicht das berückend traurige Schicksal der Blanchefloren verschwenderisch spendet. Aber in der Fruchtbarkeit des Weibes liegt der keusche Sinn der Wiederholung des Trieblebens. Vergewaltigung dieses Sinnes der Sinnlichkeit ist wider die Natur, freilich, von allerlei niedrigeren Standpunkten menschlicher Erfahrung und Bequemlichkeit, Volkswirtschaft und Hygiene betrachtet, nicht wider die Vernunft und jedenfalls den Tatsachen, die an den Sinn nicht emporreichen, gemäß.
Die Keuschheit der Mütter ist der Segen der Kinder. Meine Urgroßmutter ging verschleiert zur Kirche. Meine Großmutter gebar ihrem geliebten Gatten drei Kinder und trauerte um ihn bis zum Ende ihres Lebens. Meine Mutter hat ihr Dasein in ihren zwei Kindern aufgehen lassen. Alle diese Frauen sind im germanischen Sinne Weib, das ist treu gewesen, niemals femelle. Sie haben ihre Kinder vom heiligen Geist der Treue empfangen. Ihre Sinne waren Werkzeuge im Dienst ihrer höheren Bestimmung. Sie waren als Weiber Gattinnen, das ist Mütter. Die erste war bürgerliche Gattin mit dem Bewußtsein ihrer Würde; die Zeit und ihre Wohlhabenheit forderten von ihr Standespflichten, die sie unbedingt erfüllte. Die zweite war das Opfer ihrer Bestimmung; sie hat schweigend ihre Vergangenheit als einen Witwenschleier um sich gelegt gegen die Welt. Die dritte war der Zaubergarten der Mutterliebe, blühend bis zum Tode.
Auf dem Katheder am Lesepult steht ein Mensch und spricht. Ein weiblicher Mensch. Ein junges Mädchen. So nennt man Geschöpfe, die weibliche Kleidung und das Haar anders als die Männer tragen, denen im glatten Gesicht anders, als es am rasierten aussieht, Bart nicht zum Vorschein kommt, die durch eine auch bei großer Magerkeit sich irgendwie geltend machende Neigung zu runderer, weicherer Form der Gestalt, durch kleinere Hände und Füße sich vom Jüngling unterscheiden. Sie, die dort oben steht und sich über das Pult bückt, den Hals aus dem Genick nach vorn bewegt und manchmal mit dem gut und fest geschnittenen Mund über die Wangen empor lächelt, ist nicht hübsch, aber auch nicht häßlich. Sie ist einfach, einigermaßen nachlässig gekleidet, aber einige Anmut, trotz der Dürftigkeit von Gliedern und Anzug, liegt wie ein Hauch über ihr. Sie spricht. Mit tiefer, klangvoller Stimme, stockend fast nach jedem Wort, aber sicher und überzeugt. Ihr Vortrag macht den wohltuenden Eindruck der gründlichen Vorbereitung und der aufrichtigen Hingebung an seinen Gegenstand. Sie spricht lateinisch über Catos Abhandlung de agricultura. Ich schätze sie auf zwanzig Jahre. Ihr Haar ist tiefblond, schlicht, ihre klugen kleinen, graublauen Augen scheinen etwas kurzsichtig und stechen, das heißt, sie heften sich mit Nachdenklichkeit, manchmal gleichsam aus sich heraustretend, ins Leere ... Mir fällt die geschmeidige Ballettänzerin ein, die in glitzernder grüner Schlangenhaut die feinen schmalen Glieder zu schmeichelnden Klängen sinnbetörend regen gelernt hat ...
Sinnlichkeit, Sinnlichkeit! – Ich habe heut wieder einmal in der Akademie vor den geliebten Niederländern gestanden und die Trauben, Austern, Äpfel, Zitronen, Fische und Krebse genossen, den in den grünen Römern, die Fenster spiegelnd, duftenden Wein geschlürft, mich an den Farben dieser Perserteppiche, Tischdecken und Vorhänge gewärmt und Ewigkeit empfunden ... Kann einer die gütige Vorsehung malen oder die innere Freiheit? Sinnlichkeit, aller Laster und Seligkeiten Anfang und Endlosigkeit! Austern mit Zitronen auf einer Silberschüssel, daneben eine funkelnde zinnerne Kanne: alles Denken hört auf, man lebt einmal. Oder ein nackter Frauenleib, die schimmernden Schultern von goldblonden Haaren überflutet, die blauen hinschmachtenden Augen verschwimmend. Danae, Io, Leda, wie sie heißen mögen: das ewige Weib ... Austern, Papageien, Perserteppiche, Silberschüsseln, grüne gläserne Gefäße, Perlen, Tigerfelle und nackte Frauen. Da stehen wir immer wieder einmal vor diesen unwirklichen Herrlichkeiten und vergessen unser Elend: Zeitungen, Beruf, Bekanntenkreis, und wie alle die öden Qualen, die uns haben und halten, heißen ... Dann ruft's »Schluß, Schluß«, »Es wird geschlossen«, und man trennt sich zögernd von der wahrhaftigen Welt, um noch ein paar Ansichtskarten zu kaufen: »Lithographische Kunstanstalt etc.«.
Der Künstler lebt und schafft in Sinnlichkeit, der Denker in reiner Geistigkeit (denn alles Schaffen, auch das auf Mittel des Stoffes beschränkte, ist geistiger Natur). Die Sinnlichkeit ist die Gefahr des Künstlers, denn, während er sie, als Schöpfer, durch Gestaltung zu läutern, zu überwinden bestrebt ist, zieht sie ihn in ihr Bereich hinab, das, sich selbst genügend, dem Geist widerstrebt, ihn schwächt und verdunkelt, ihn niemals befriedigt, sondern enttäuscht und beschämt. – Die Geistigkeit, der sich der Denker hingibt, hebt ihn, in seiner Hingebung erstarkend, empor, entfremdet ihn aber dem Leben, das, je mehr es der Sinnlichkeit sich entrückt fühlt, um so unfähiger wird, seine Ansprüche zu behaupten. Die Sinnlichkeit rächt sich an dem Denker durch Überfälle, denen er, ihrer Behandlung entwöhnt, nicht gewachsen ist. Je höher der Denker im Geistigen gelangt ist, um so erschütternder sind die Abstürze, denen zu begegnen er in seiner Arglosigkeit nicht rechtzeitig alles aufbietet.
Der ruhige Tanz ist eine der edelsten Äußerungen des wohlgeratenen Menschen: als beschwichtigendes Maß innerer Klangfülle, Sicherheit gefälliger Selbstanordnung. Die Würde besteht in der aufrechten Haltung, die Anmut in der begrenzten Rundung der auskreisenden Schwingung. Der Mensch wird leicht: Erlösung. Und er bleibt fest: Behauptung.
So wenig dem echten lyrischen Gedicht, das seinen Sinn im Klang festhält (während die Prosa ihn weiterführt), die Vertonung etwas zu geben vermag (niemals kann sie, eine selbständige Wiederaufnahme des im Gedicht bereits vollendeten Ausdrucks, mehr als ihm entsprechen), so wenig bedarf der natürliche Tanz der Musik, die ihn nur begleitet, rahmt, nicht erfüllt. Tanz ist Nachgiebigkeit an den Drang zum Aufschweben im unabkömmlichen Zusammenhang mit der Grundlage einer gemessen fortschreitenden Bewegung. Tanz ist – im Gegensatz zum Gehen – immer daran, sich vom Boden zu lösen, den er nicht verläßt, sondern im Abstoß bestätigt. Gehen und Laufen halten ihn ein, behalten die Standfläche, die sie zum Ziel führt. Springen stößt sie ab, nur um immer wieder verzweifelnd zurückzufallen.
Tanz- und Reitprobleme
Tanzen und Reiten sind Gnaden. Weder vom Fechten noch vom Schießen kann man das sagen, nicht vom Tennisspielen, Turnen und Schneeschuhlaufen. Es sind Übungen besonderer Geschicklichkeit, die Begabung voraussetzen und zur Fertigkeit, zu hoher Regelhaftigkeit entwickelt werden können. Die Regel, noch so verarbeitet, beherrscht sie. (An der Grenze, als Paarspiel, steht das Fechten.) Aber Tanzen und Reiten sind Gnaden. Niemals erlernt sie das noch so ernstlich bemühte Talent, das immer eine Grenzbefähigung bleibt, an einer Schranke jeweils haltzumachen sich gezwungen sieht. Die Meisterschaft in allen andern Sporten ist etwas Verhältnismäßiges, immer wieder zu Übertreffendes. Aber der Tänzer und der Reiter werden, wie das geistige Genie, geboren und sind, wie dieses immer wieder einmalige, nicht zu »übertreffen«. Sie haben ja auch eine tiefe innerliche Verwandtschaft mit dem Geist, denn Reiten ist körperliches Denken, Tanzen ist Verkörperung des rhythmischen Geistes. Beide beruhen auf dem Maß, dem Takt, der unerweisbaren, aber von sich überzeugenden Sicherheit des Richtigen.
Auch Tanzen und Reiten wollen gelernt sein. Aber der geborene Tänzer und Reiter erlernt sie nicht als eine Aufgabe, er bringt eine Fähigkeit durch Übung zur Entwicklung, zur Vollendung, die niemals das Ende bedeutet, stets über sich hinausstrebt. Denn beide sind Überwindung nicht von räumlichen Widerständen – obwohl der Raum, das Räumliche naturgemäß an diesen Widerständen beteiligt ist –, sondern der Schwerkraft, eines an Körpern wirksamen Gesetzes. Ihr Ziel ist Führung, die vollkommene Herrschaft nicht nur über das eigene Gleichgewicht, sondern über das Gleichgewicht der zufälligerweise mit der eigenen Persönlichkeit verbundenen, vielmehr mit ihr zu verbindenden andern, des Mitspielers. (Der Tanz ist auch auf die Persönlichkeit beschränkte Selbstdarbietung; hier wird er Künstlertum, sich selbst genügende Zwecklosigkeit. Anderseits sind volkstümliche Reigentänze nicht so sehr Tanzen als gesellige Spiele. Das sozusagen menschliche Wesen des Tanzes ist die Tanzpaarung.) Reiter und Tänzer kämpfen ohne ersichtliche Anstrengung um ihr Gleichgewicht gegen den Widerstand eines darin aufzunehmenden zweiten, fremden, das sie zu erraten, zu überlisten, von ihm selbst zu erlösen haben: ihr Ziel ist, das fremde Gleichgewicht mit dem eigenen so zu vereinigen, daß dieses jenes in sich begreift. Das ist nicht »Aufgabe«, die immer ein Gegenüber bleibt, auch wenn sie gelöst ist, sondern unentwegte Richtung auf ein Dasein, das von sich selbst durch Macht zu befreien ist, indem es, in seinem Wesen erhalten, dennoch gleichsam durch magische Überschattung gebunden wird.
Der Reiter denkt für sein Pferd, an dessen Statt, das ja nicht wirklich denkt, sondern das Willensgefühl seines Körpers walten läßt; eben dieses Gefühl selbständiger, eigenmächtiger Körperlichkeit nimmt er ihm ab, fühlt sich mit seinem herrschsüchtigen, herrschmächtigen Ich hinein, macht es sich untertan, so zwar, daß nunmehr die Mensch-Pferd-Einheit, der Kentaur, dieser nicht mehr zwiespältige, sondern vom Menschen aufgenommene, deshalb jedoch nicht vermenschlichte, vielmehr um den bewußten Menschen gesteigerte Tierkörper sich selbst Gesetz wird, daß seine von Herrscherwillen durchdrungene Körperlichkeit handelt der neuen Gestalt gemäß. (Man muß hierbei ganz absehen von der unter Praktikern üblichen Vorstellung Pferd als Vehikel, auch von poetisierenden Deutungen des fortbewegten Pferdeleibes als »Drang in die Ferne« oder dergleichen literarischer Bildlichkeit; es handelt sich um Bändigung, Überwindung der Eigengesetzlichkeit des nur Animalischen, nicht um äußeren Zweck: Streckenbewältigung, Wegzurücklegung, Zielerreichung, kurz Nutzung der vierfüßigen Laufkraft, sondern um Reiten, das heißt Übereinstimmung der Getrenntheit, Einswerden der zwei Sonderdasein Reiter und Reittier.)
Ebenso überwältigt der Tänzer die Tänzerin (hier liegt tiefer Sinn in der üblichen Paarung der geschlechtlichen Gegensätze, denn Tanz ist Geschlechterverbindung. Wohl bleibt ein Rest von Eigenmacht aufrecht, insofern als der »Gegner«, ein Mensch, nicht wie das Tier im anders, höher gearteten Sieger aufgehen kann; hier erliegt ein Körperwille dem andern als dem führenden, ergibt sich an- und einschmiegend, ja entgegenkommend, unmittelbar belehrt fast durch Vorahnen. Aber auch im Paar-Tanz muß Vollendung sich als Einheit darstellen; nicht Spiel und Gegenspiel Aufeinanderwirkender, sondern Über- und Umgreifen des Meisterprinzips ist sein Sinn und Gesetz.
Reiten und Tanzen sind Gnaden. Sie bedeuten vollkommenes Verkörpern des Geistigen, körperliche Genialität. Der Körper »denkt« und »spricht« die Sprache höchster Körperlichkeit, das ist nicht etwa »Vergeistigung« (wie das der Tanzunfug der Programmtänzerinnen meint, eine ebenso alberne wie geschmacklose Tanzahnungslosigkeit), sondern Gleichgewichtsgesetzlichkeit. Nicht aufgehoben wird der Körper, sondern erlöst, weil innerlich entbürdet; sein Schwergewicht fällt in sein Ziel, genau in den Mittelpunkt der aus sich kreisenden und immer wieder in sich zurückkreisenden Bewegung.
Der Reiter (und nochmals, das ist nicht einer, der »sitzen« kann und das unter ihm, unter der Gabel seines Körpers sich bewegende Eigenleben lenkt), der Herr des Pferdes, beherrscht es, indem er ihm, mit ihm ohne Übergang vereinigt, seinen leisesten, stets ins Ziel treffenden Körpergedanken zur Ausführung übermittelt, ihm die seinerseits immer wieder verstohlen aufbegehrenden Selbständigkeitsregungen allsogleich, ja ehe sie irgend Gestalt anzunehmen vermögen, auslöscht, nicht schneidet oder bricht – das wäre zu spät, zeugte von mangelnder körperlicher Aufmerksamkeit –, sondern vorwegnimmt. Ähnlich der Tänzer im Paartanz. Beider Genialität ist die unbedingtermaßen sieghafte, die Bewegung gestaltende Führung. Führer werden geboren.
Wie der Grieche auf die Vollendung menschlicher Bildung im Körperlichen und im Geistigen, die Kallokagathia, das Gewicht der Erziehung legte, so waren im christlichen Abendland bis etwa zum Ausgang des alten Deutschen Reiches neben der humanistischen Lehre die sogenannten ritterlichen Künste, Fechten, Tanzen, Reiten zumal, Gegenstand sorgfältiger Pflege an der erwachsenen Jugend der höheren Stände. Aber solche Steigerung natürlicher Anlagen zu musterhafter Fertigkeit, wie sie am Beispiel des »vollkommenen Kavaliers« einhergeht mit dem stetig erworbenen Besitz einer mehr oder weniger tief eindringenden allgemeinen wissenschaftlichen Bildung, ist in Richtung und Wesen grundverschieden von dem, was als Körpersport seit der Jahrhundertwende, zumal seit dem großen Krieg unsere jungen Leute in Atem hält. Insbesondere ermangelt der allenthalben betriebene und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit geradezu beherrschende Sport des Gegengewichtes der geistigen Betätigung in erschreckendem Grade. Das aber ist hinwiederum durch das Übermaß bedingt, dem er selbst als einem Ziel zustrebt. Nicht mehr ist es der durch Übungen zum gesunden und standhaften Menschen zu entwickelnde Körper, dem die Anstrengung der Muskelkraft gilt: es ist die Leistung, die, erreicht, überboten, übertrieben, ihr Ziel in sich selbst hat. Das Mittel ist Zweck, »Selbstzweck« geworden.
Gewiß, auch die Wettkämpfe in Ringen, Springen, Diskuswerfen und Wagenrennen, die den Inhalt der griechischen Festspiele bildeten, waren der Leistung gewidmet (nebenher gingen musische Spiele und Preiskämpfe des Geistes): aber die isthmischen und olympischen Sieger, die die Lieder Pindars rühmen, sind unseren nichts als nur Sportlern, deren Um und Auf Training und Rekord bilden und deren Lesebedürfnis das Sportblatt erschöpft, kaum zu vergleichen; Spiel und Wettbewerb, in seltenen, festlichen, das ganze Volk zu weihevoller Feierstimmung versammelnden Fristen aneinandergereiht und gekrönt von den Darstellungen der tragischen und komischen Muse, waren Ausdruck des die Nation beseelenden agonalen, des Kampftriebs, der, den Ruhm vor den ehrgeizigen Blicken der Bewerber, sie, jeden auf möglichst vielen Gebieten eingestimmter Betätigung, ihr Bestes herzugeben bewog, zur Ehre von Familie und Sippe, Stamm und Vaterland. Das Ideal schwebt über diesen wie über den Kampfspielen des christlichen Rittertums, die der Verherrlichung des Frauendienstes, der höfischen Minne, galten. Vergleicht man damit etwa die berufsmäßigen Reisen unserer »Fußballmannschaften«, unserer Meisterschwimmer, Fechter- und Tennisgrößen von Kampfplatz zu Kampfplatz, so springt die Verzerrung des »Agonalen« zum »Professionalen« – und handle es sich hundertmal um »Amateure« – in die Augen.
Sobald der Mensch die Flügelsohlen der Kindheit abgestreift hat – es geschieht, ohne daß man es merkt, aber der erste nicht mehr beflügelte Tritt schmerzt schon –, legt ihm die Rücksicht die harte Hand auf die Schulter und unternimmt es, seinen Gang zu regeln. Die Welt der flatternden, schwingenwiegenden Ungebundenheit – auch sie war nicht völlige Freiheit gewesen, aber es hatte das Bewußtsein gemangelt, daß man gegängelt, gehalten werde –, die Welt der träumenden Willkür, die Unwillkürlichkeit heißt, ist abgetan, spurlos verschwunden, es heißt Bedacht nehmen auf die Nächsten, Fernere und scheinbar Entfernte; Pflichten engen den Weg ein.
Das Kind sehnt sich zu erwachsen, aber Erwachsensein heißt abhängen, Rechnung tragen, hinnehmen, vor allem immer wieder Rücksicht üben, sich einschränken. Denn die Welt gehört allen, das heißt niemand. Sie ist, im Menschensinn, eng, allüberall verstellt, besetzt, vorweggenommen. Leben heißt sich Raum schaffen, wo nicht mehr Platz ist. Jeder Schritt begegnet einem andern, stößt auf ein Hindernis. Und durchkommen, ohne geradezu umzuwerfen, anlangen – nicht am Ziel, aber wenigstens an einer Stelle, wo man es noch, auf den Zehen sich erhebend und mit gerecktem Hals, erblickt, ohne daß man auf der kurzen mühseligen Strecke dahin, selbst drängend, im drängenden Gewühl Mitdrängende verletzt, heischt Rücksicht.
Ja, du kannst nicht zu Hause sitzen mit dir selbst allein, umgeben von unzweifelbarem Eigentum, ohne daß du Rücksicht zu üben dich gezwungen fühlst: denn über dir, unter dir, neben dir, dir gegenüber sitzen andere, fremde deinesgleichen. Wie Blattläuse auf schmalem Blatt sitzen sie hoch, überm Bodenlosen, bis einer kommt, ihr Schicksal, scharf hinäugend durch Brillengläser, sie hinabzublasen mit Tabaksdampf. Bis dahin – denn auch an dich kommt er, der Unbekannte, wart's nur ab! – heißt's Rücksicht üben nach rechts und nach links, nach hinten und besonders nach vorn. Das ist dein Vorzug, Mensch, vor der Blattlaus: die braucht das nicht, und der Löwe auch nicht. Nur für das Zweibein gelten diese (und allerlei andere) Vorschriften, für das erwachsene Zweibein, das, solange es noch Flügel an den Kindersohlen hatte, alle seine Mitgeschöpfe an Ungebundenheit übertraf; denn es war nicht nur Notwendigkeit gewesen wie sie alle, sondern auch Wille, aber noch ohne Rücksicht.
Ist ein ärmerer Mensch zu denken als einer, der nicht Kind hat sein dürfen? Kindheit ist mitnichten Vorbereitung auf das sogenannte Leben, sondern ein seliger Traum abseits vom Leben, eigenberechtigtes Dasein im Wunder, aus dem man eines Tages frierend erwacht. Dem Kinde diesen gnadenvollen Zustand so lang wie möglich ungetrübt von den Schatten des Künftigen zu erhalten, ist die heilige Pflicht derer, die ihm zur Hut bestellt sind. Muß die Schule als die Erziehung des Geistes dem sich seiner Fähigkeiten bemächtigenden Kinde wirklich versehrend an die ahnungslose Seele greifen? Es scheint unvermeidlich, da mit der Schule die Voraussetzung jenes ganz auf sich gestellten Genügens an der selbsterschaffenen Welt, die Freiheit, ihr Ende nimmt und der Pflicht zu weichen hat, der Aufgabe. Aber wenn ich es recht bedenke, scheint es nur so. Gewiß, das flügelnde Wiegen der allmählich schwindenden Schmetterlingsschwingen über dem duftenden Gewoge zeitloser Unwirklichkeit wird durch die Schranken einer willkürlichen Einteilung des plötzlich als Einheit auftretenden Tages gehemmt: aber was dem Wesen des zu sich wachsenden Bewußtseins gemäß ist, kommt seinem noch unbegriffenen Bedürfnis entgegen, ohne daß der Knospenkern bei diesem seinem allmählichen Entfalten um sein süßes Geheimnis gebracht zu werden brauchte. Die Schule kann das staunende Kind sanft in ihr Bereich hinübernehmen, ohne es sich selbst zu entführen.
Und wieviel hat sie seiner rasch um sich greifenden Neugierde zu bieten! Welche Aufnahmefähigkeit gilt es spendend zu erfüllen! Schenke denn die Schule, ohne den Beschenkten zu berauben!
Junge Menschen, die ihr euch zu Lehrern bildet, wißt ihr, was ihr als Beruf gewählt habt?
Ihr wollt Kinder, die zu Knaben, Knaben, die zu Jünglingen heranwachsen, durch Lehre, das ist Kunde des Wissenswerten, für das Leben erziehen. Eine an Verantwortlichkeit ungeheure Aufgabe. Vertrauen, Wißbegierde, wohl auch Neugierde kommen an lebhafter Einbildungskraft euerm Beginnen entgegen. Manchmal weigern sich ihm Trägheit und Trotz, bangt schwächlicher Geist vor euern Forderungen. Ihr habt Hindernisse zu überwinden, die aus Herkunft, Gewohnheit, Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit stammen. Bedeutender aber als solche Hemmungen, die guter Wille und Beharrlichkeit zu besiegen fähig sind, ist der Inhalt eures sittlichen Geschäftes, im ganzen betrachtet. Nicht, daß ihr beherrscht, was ihr vermitteln sollt, ist gemeint. Diese Grundlage eures Bemühens ist sozusagen stoffliche Voraussetzung: wie wolltet ihr mitteilen, was ihr selbst nicht innehabt? Nein, etwas Höheres steht am Anfang wie am Ziel eurer Unternehmung, das Schaffen bedeutet am Edelsten, der Seele des Menschen: der Glaube. Glaube an den zwiefachen Gegenstand eurer Besorgung, Lehre und Schüler, also nicht nur Pflichtgefühl und Pflichttreue, sondern, um nicht in unsern allzu nüchternen Zeitläuften Begeisterung, die Himmelstochter, eitel zu nennen, Überzeugung und Wahrhaftigkeit zugunsten des Lehramts und Glauben an euch selbst, an eure Berufung.
Am Anfang wie am Ende, das immer wieder Anfang heißt, steht dieser Glauben, ohne den all euer Wissen seines Segens ermangelte. Denn wie es kein Wissen gibt, das man, um es fruchtbar zu machen, nicht glaubte, so ist, und um so bedeutsamer, als es sich um Zeichen und Auszeichnung des Menschen, sein Selbstbewußtsein handelt, das ihn zur Person erhebt aus den Geschöpfen, der Glauben an die eigene Persönlichkeit als für ihr Sein und Tun verantwortliche Einheit sittliche Bedingung der von Gott gelenkten Freiheit. Nur aus solchem demütig-stolzem Glauben kann die Liebe hervorgehen, die sich wie an jedes Mitgeschöpf so insbesondere an das dem Erzieher anvertraute köstliche Gut, die persönliche Seele des Zöglings wendet. Und weil echte Liebe nicht begehrt, sondern nur sich zu offenbaren, sich hinzugeben strebt, kann sie, die nicht um Entgelt ansteht, sondern in der Erfüllung sich vollendet, ohne sich zu erschöpfen, auf die dritte der drei göttlichen Tugenden sich berufen, die die Erfüllung vorwegnimmt, die Hoffnung.
Junge Menschen, die ihr euch zu Lehrern der Jugend bildet, befestigt euch im Glauben. Dann wird euch das Joch eures Amtes nicht als Undankbarkeit drücken, sondern euch leicht aufliegen wie ein Flügelpaar, das euch über euch selbst emporhebt. Und so soll es sein: denn nicht Persönlichkeit ist das höchste Gut der Erdenkinder, sondern Überwindung der Persönlichkeit, die sich am tiefsten ihrer selbst bewußt geworden ist, ist das Adelsvorrecht der menschlichen Freiheit.
Der Mensch ist ein geselliges Wesen. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«, hat am Anfang der Zeit der Herr gesagt und ihm deshalb die Gefährtin gesellt. Aber mitnichten ist in der Gesellschaft die Bestimmung des Menschen erschöpft. Sie ist ein Spiegel, der ihm sein Wesen, das Bedürftigkeit ist, unentrinnbar vergegenwärtige Ergänzen kann sie ihn nicht, nur wiederholen ins unendliche. Und da sie ihn an ihn selbst stets gemahnt, fordert sie ihn zugleich auf, seinen Teil beizutragen zur allgemeinen Notdurft. Er gebe ihr, was sie füglich von ihm beanspruchen kann, aber nicht mehr. Nicht sich selbst. Denn sich selbst ist der Mensch der Ewigkeit schuldig, die sein Sinn ist, wie er einer ihrer ungezählten Ausdrücke.
Was aber kann die Gesellschaft vom Menschen durch Geselligkeit in Anspruch nehmen außer ihn selbst? »Kindlein, liebet einander!« In dem Wort des Apostels ist alles enthalten. Liebe heißt Nachsicht und Hilfe. Es ist eine große Forderung, fast für übermenschlich möchte man sie halten. Aber es heißt, ihr nachtrachten und der Kraft des Herzens vertrauen. Im weiten Umkreis der Liebe schwingen, alle von einem Mittelpunkt bedingt, größere und kleinere Kreise. Der dem Herzen nächste, innerlichste ist sein unmittelbares Bereich, gleichsam die von ihm ausgehende Luft.
Ich will von einem andern sprechen, der auf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick wenig mit jenem Mittelpunkt zu tun zu haben scheint. Aber der Schein trügt dennoch. Auch das, was man vorzugsweise unter Geselligkeit versteht, die Umgangssitten, steht unter dem ursprünglichen Gebot des Allertiefsten, Innerlichsten, Persönlichsten, das, von einer andern Seite aus gesehen – eben der Seite, die den Menschen wirklich erst »ergänzt« –, als das sozusagen Allgemeinste, weil immer wieder sich selbst Gleiche gelten könnte, des Menschlichsten im Menschen: seiner Wesentlichkeit als Geschöpf. Also auch das gewissermaßen Gemeingesellige ist, wenn auch von fern her, von Liebe gehalten.
Sitte ist Menschenwerk, daher wie alles Menschenwerk unvollkommen, veränderlich. Aber ihr Sinn ist »Menschen im Herzen« (Goethe), Geheimnis seiner geschaffenen Natur. Als Mensch unter Menschen ist der einzelne der Sitte verpflichtet, durch sie in Gegenseitigkeit gebunden. Es ist unmenschlich, sich über Sitte hinwegzusetzen. Freilich soll man ihr in Freiheit dienen, ihr Gesetz, nach Schillers hohem Wort, in seinen Willen aufnehmen. Was sich ziemt, erfährt der heranwachsende Mensch von seinem Erzieher. Auch der schlechteste vermöchte ihn auf die Dauer nicht darüber zu täuschen, da das in Aufmerksamkeit sich betätigende Bewußtsein seine Vorschriften mit dem Benehmen der unvermeidbaren Lebensgenossen vergleicht. Erziehung ist Beispiel. Schlechtes mag gute Anlagen irreleiten, zerstören könnte es sie nur bei völliger Abhängigkeit des Pfleglings. Denn an der Erziehung arbeitet der zu Erziehende mehr oder weniger bewußt mit. Der Mensch wird für die Welt der Menschen erzogen. In sie ist er hineingestellt, ihre Forderungen bestimmen seine Wirksamkeit. Das heißt nicht, daß er sie ungeprüft auf sich zu nehmen hätte. Aber aus sich selbst heraus wird niemand mündig. Auch die Anwendung seiner Fähigkeiten muß der Mensch erlernen. Das ist Segen und Fluch der Person, das entspricht der Tatsache, daß er nicht gleich dem Tier nur einzelner Ausdruck der Gattung, sondern als Einzelwesen jeweils bewußter Ausdruck seiner selbst ist.
Der Mensch ist zweigeschlechtig, als Mann und Weib geschaffen. Sein zwiefaches Wesen bedingt eine Gabelung seiner natürlichen Aufgabe. Es ist nicht wahr, daß das Geschlecht die Menschen nicht auch darin unterscheide. Das Weib hat andere, seiner Beschaffenheit gemäße Aufgaben als der Mann, wesentliche Aufgaben, die nur es erfüllen kann. Die Sitte kann, mag sie noch so weit gehen in der Annäherung der beiden Pole, die Grenzen der Geschlechter nie verwischen. Warum sollte ein Weib nicht nach seiner Aufnahmefähigkeit lernen? Warum sollte es nicht im tätigen Dasein einen Beruf ergreifen, der seinen Gaben entspricht? Aber niemals muß es darüber seine natürliche Bestimmung vergessen, der nur höhere Berufung, nicht weltlicher Wettstreit mit dem Manne es abwendig zu machen, sittlich berechtigten Anspruch erheben darf. Und diese Bestimmung ist in alle Zeitlichkeit hinaus die wunderbare, große und schwere, Gattin zu sein und Mutter zu werden. Auch das, was gemeinhin als Geselligkeit gilt, hat der Frau gegenüber und für sie notwendigerweise diese Richtung. Das Mädchen soll als Mädchen erzogen werden, in den Grenzen seines Geschlechtes. Und es soll in die Welt der menschlichen Beziehungen treten als Weib, das ist als die dereinst einem Manne zuzugesellende Gefährtin. Nicht auf den Mann als auf sein Ziel ist das Mädchen gerichtet, wohl aber um dieses seines natürlichen Loses willen ihm gemäß, also als Weib zur Weiblichkeit heranzubilden. Und so auch innerhalb des Pflichtenkreises der geselligen Sitte.
Der Mann wirbt um die Frau, nicht umgekehrt. Deshalb ist alles, was gewissermaßen werbend, auffordernd, gar herausfordernd heißen mag, am Mädchen Auswuchs, Mißwachs und zu bestreiten, zu bändigen, zu unterdrücken. Unbefangenes, gelassenes, heiteres, umgängliches Wesen kann sich mit Zurückhaltung, Maß, dem unsichtbare Schranken um sich ziehenden, edeln Anstand sehr wohl vereinigen. Eine durch das, was bezeichnenderweise Takt heißt, ständig geregelte Bewegung der körperlich=seelischen Einheit, die in all und jedem ihrem Gesetz gehorcht, macht das nicht in Regeln zu fassende Benehmen der weiblichen Frau aus. Nur Stumpfheit oder Frechheit kann es verkennen oder mißachten, unverderbtes weibliches Selbstbewußtsein wird sich stets innerhalb seiner am sichersten und geratensten empfinden. Auch hat Weiblichkeit niemals auf den männlichen Mann ihren Zauber verfehlt. Und das Beste am Manne dankt er dem geheimnisvollen Mütterlichen, das in ihm waltet, das eigentlich Männliche in seiner Einseitigkeit nicht ablenkend, aber verhaltend.
Geschmacklos ist alles, was gegen den guten Geschmack verstößt. Der gute Geschmack ist weder jedermanns Sache noch Geschmacksache, sondern das ungeschriebene Gesetz, das unter Menschen von Kultur, das ist übereingestimmter äußerer Bildung, das Verhalten beherrscht. Verhalten ist die Art, wie etwas Lebendiges auf anderes Lebendiges mehr oder weniger bewußt einwirkt. Ein Stein hat kein Verhalten; auch hat man zu einem Stein kein Verhalten. Verhalten kann auch mit sich selbst allein sein; dann wirkt es auf den so Vereinzelten zurück.
Geschmack ist nicht (äußere) Regel, sondern (inneres) Gesetz. Er ist als Kraft unmittelbar wirksam, wird nicht als Vorschrift befolgt.
Geschmack kann nicht erlernt, wohl aber erbildet werden. Wie Gehör.
Geschmack trifft, ohne zu zielen. Er ist richtig ohne »Richtung«. Er weiß ohne Aufwand. Er faßt, ohne zu tasten. Er ist unfehlbar, weil er, ohne sich überzeugen zu müssen, in seiner Sicherheit ruht. Er ist sozusagen blinder Zusammenhang.
Außerhalb der Menschenwelt hat Geschmack nichts zu schaffen. Sein Sinn erlischt mit der Vernunft. Das Wesen der Pflanzen und der Tiere ist reiner Zustand. Nur der Mensch vermag seinen Zustand durch Bewußtheit zu steigern. Er schafft Sitte.
Wo Sitte befiehlt, gehorcht die Natur, hat sie schweigen und reden gelernt (während sie bis dahin gesprochen hatte, wann und wie es sie dazu drängte).
Welt im besonderen Sinn heißt die Gesellschaft, die sich durch eine von ihr selbst gesetzte, durch Übung vervollkommnete Form des Anstandes vor anderen Gruppen geselliger Beziehung auszeichnet. Ihre Mitglieder haben sich durch Erziehung und Gewohnheit allgemach einem Zwange gefügt, der nicht in Regeln und Vorschriften gefaßt, aber in der allgemeinen Übereinstimmung als Gesetz wirksam ist. Rang, Stand und Herkunft sind nicht entscheidend, aber bestimmend für die Zugehörigkeit zu einem Kreise, der seiner Grenzen, ohne daß er sie auszustecken sich bemüßigt fühlte, sicher ist und den Eindringling ohne sonderliche Maßnahme unerbittlich ausscheidet.
Man mag sich gegen die »Welt« aus Vernünftigkeit oder »Natur« auflehnen, ihre Berechtigung bestreiten, so viel man will: man wird sie nicht überwältigen. Sie wurzelt in einem Bedürfnis, das zuzeiten gewaltsam gehemmt, nicht erstickt werden kann: dem Bedürfnis einer leichten und gefälligen Selbstdarstellung im Spiegel einer gleichgestimmten Umgebung, dem Bedürfnis nach einer »wohltemperierten« Einstimmigkeit der Umgangssitten, die den einzelnen, und sei er geistig und moralisch noch so nichtig, in der wechselseitigen Gleichheit gültigen Gebarens sich selbst bestätigt. In dieser unauffällig und anmutig getragenen Pflichtigkeit steckt ein Stück Würde des Menschen, die das geringste Mitglied solcher überkommenen Zwangsgemeinschaft des Äußerlichen adelt und über jene sichtbar emporhebt, die an einer auf den Intellekt beschränkten »Bildung« sich genügen lassen und »Formen« verachten zu dürfen meinen.
Gute Erziehung setzt ein Elternhaus voraus, das die Sitten einer höheren Geselligkeit in unbefangener Gewohnheit pflegt. Das besagt bedeutungsvoll der abgebrauchte Ausdruck Wohl- und Hochwohlgeboren, beides in Zeiten der strenge gewahrten gesellschaftlichen Schichtung standesgemäße Adels-Titulaturen, gleich dem dem Ur- und Hochadel gebührenden Hochgeboren.
Der Wohlgeborene, das ist der gesicherter und sich selbst vertrauender Häuslichkeit entstammende Mensch, sieht sich dank seinem Ursprung Anfechtungen enthoben, die Enge, Ärmlichkeit und Abhängigkeit wie dem sich bildenden Charakter so dem unwillkürlichen Gehaben bereiten. Aber mehr als die Pflege einer im übrigen in der Persönlichkeit und den sie gestaltenden ererbten Eigenschaften gegebenen Anlage gewährt der aus gedeihlichen Stoffen zusammengesetzte und in überkommener guter Haltung eingehegte Boden, dem die schwankende Pflanze des Sprößlings Nahrung entnimmt: Zucht formt ihren Auftrieb, stützt ihre Nachgiebigkeit, bändigt ihren Überschuß. So wie Rasse, das ist vollendete Art, sich geheimnisvoll in einem Einzelwesen versammeln kann, das dadurch geradezu seinen unleugbaren Ursprung aus halbschlächtigen Faktoren bestreitet, so mag vereinzelt gefällig-sicheres Dasein und Benehmen in einer Umgebung sich dartun, die sie dem dadurch Ausgezeichneten ersichtlichermaßen nicht vermittelt hat. Aber das ist seltene Ausnahme. Erfahrung und Vernunft erweisen das Gegenteil als Regel. Mag die Natur, unlenksam, den Stoff als unveränderlichen Gehalt der Form hervorbringen, diese, die Form, verleihen Anpassung an die Umgebung, Nachahmung des Beispiels, Aufnahme der Lehre, Übung in dem als Aufgabe Erkannten.
Die höhere Geselligkeit hat Sitten geschaffen, die sie als Gesetze ihren Angehörigen auferlegt. Der Kreis, den sie so um sich selbst zieht, vereinigt, was als gesellschaftliche Tatsache »Welt« genannt wird. Ihm durchaus zu genügen, ist das unauffällige Geschick, das die Weitläufigkeit bedingt.
Historisch betrachtet, stammen Welt und Weitläufigkeit von Hof und Höfischheit. Zumal in Frankreich, seit der aufständische Adel sich unter das Joch des unumschränkten Königs gefügt hatte, ist die Schule der Weitläufigkeit der Bereich des Hofes. Aber das ganze Leben der Nation war von diesem Mittelpunkt bestimmt. Wie die Kultur des griechisch-römischen Altertums auf die Masse der Sklaven, war die Welt des unbeschränkten Herrschers und der bevorzugten Nutznießer seiner Macht und Gnade gestützt auf die erwerbenden und in Abhängigkeit erhaltenen Schichten, deren Mitglieder ihrerseits wie dort die Freigelassenen durch Gunst, Amt, Geschick aufstrebten ins überlegene Gebiet. An die Stelle dieser lebendigen Ordnung ist die zufällige Einrichtung des Kapitalismus getreten. Aber auch deren Begünstigte erblickten in den überkommenen Formen einer höheren, nämlich der Gesellschaft des noch immer durch die Idee des monarchisch-höfischen Mittelpunktes geeinten Adels das unerläßliche Ziel einer mehr oder minder eingebildeten Geltung. Nicht was die Mode befiehlt, nicht was als Smartneß oder Eleganz vom Bedürfnisse schaffenden Gewerbe angepriesen wird, sondern die Sicherheit unumstößlicher, selbstverständlicher Lebensformen stachelt den Ehrgeiz des Besitzenden, der sich mit Recht sagt, sein Geld vermöge ihm wohl die Mittel, nicht aber den Inhalt eines sich selbst genießenden Daseins zu beschaffen. Deshalb erstrebt er, wenn nicht für sich, so für seine Nachkommen Verbindungen und Gelegenheiten, die die ihm mangelnde Erziehung zu fördern geeignet sind. Und so wie der Sozialismus, in seinen Führern zur politischen Macht gelangt, alsbald die kapitalistische Gebarung seinen Zwecken dienstbar macht, ja im Verkehr mit den beherrschten, aber erst zu gewinnenden breiten bürgerlichen Resten überwundener Stufen Bürgerlichkeit betont, so bereitet der unzerstörbare, weil durch den Egoismus verbürgte Einzelbesitz stets aufs neue einer vor allem für ihn selbst maßgebenden Oberschicht der bewunderten »Welt« den Weg zur gelassenen Diktatur der Sitte. Denn erst in der Sitte, das ist der einheitlichen Norm für die Technik der menschlichen Beziehungen, erblickt der nicht mehr um Selbsterhaltung Ringende die Gewähr für die überpersönliche Dauer seines vergänglichen Erwerbs.
Jüngst hat jemand wieder einmal den Begriff der Dame durch die Gegenüberstellung Dame – Frau zu klären gemeint.
Die Dame ist in einem höheren Sinne nicht etwa, wie sogenannte Gesellschaftskritiker glauben, der Gegensatz zur Frau, sondern etwas ganz anderes, eine moralische (ethische) Potenz. Nicht der Luxus oder der Müßiggang kennzeichnen sie, sondern eine Eigenschaft, die eine echte Frau, ohne vor sittlichen Forderungen zu erröten, besitzen kann: die vornehme, die noble Art. Es ist der Begriff des Gentleman, zu dem sie das weibliche Korrelat bildet. Dame nennt man die Frau, die nach ihrer Gesinnung und Weise ihrer selbst sicher ist. Das sind Eigenschaften des Gemütes, der Seele, die angeboren sein mögen, sicherlich aber ohne Erziehung verkümmern müssen oder nie zur Entwicklung gelangen. Die Dame offenbart sich im rohesten weiblichen Individuum durch ein unverkennbares Zeichen. Man kann in solchen Fällen bedauernd von verkommenen Möglichkeiten sprechen. Aber jede Fähigkeit setzt eine Möglichkeit voraus.
Zur Dame kann man sich nicht machen. Das, was übelberatene Gesellschaftskritiker als eine Dame einschätzen und verurteilen, ist entweder etwas Äußerliches oder gar ein Surrogat, in unsrer Zeit der Ersatzmitteltechnik gewiß nichts Erstaunliches. Sicherlich gehört zum Begriff der vollendeten Dame eine Weltläufigkeit der Formen und der Erscheinung, die, wenn man vorschnell schließt, jene gerügte scheinbare Untätigkeit bedingen sollte. Da sei denn schon hier die Behauptung vorweggenommen, daß dem keineswegs der Fall sein müsse. Es gibt vollendete Damen unter den weiblichsten oder, um jedes Mißverständnis auszuschließen, den fraulichsten Frauen.
Wohl ist die Dame, wenn man will, ein Kunstprodukt, aber in dem Sinne, wie man von veredelten Rosen spricht: ein Ergebnis der Zucht. Ihr Nährboden ist Lebendigstes, die Seele, die weibliche Seele. Nicht aufgepfropft, geschweige aufgepappt oder sonstwie angestückt, sind die Eigenschaften der Dame, sondern sie sind Merkmale einer Eigenart, die eben so echt ist wie die eines »geborenen« Helden oder Redners. Es sind, mit Coopers »Lederstrumpf« zu sprechen, Gaben. Die Ausläufer dieser virtus sind wie alle Ausläufer letzte Enden, die zu schwach sind, anders als in Arabeskenform sich zu bestätigen. Sie gehören zum Ganzen, sind Ausdruck, aber nicht das Wesen bestimmender. Die Eigenschaft der Dame in ihrem edlen Sinn ist das freie, ungehemmte Leben, das Insichselbstschönsein sowie die unauffällige Sicherheit. Daß solche Freiheit nicht in kleinen, kleinlichen Verhältnissen, nicht in moroser Atmosphäre gedeiht, ist selbstverständlich. Armselige Umstände, schlechte Erziehung, Mangel an Mustern, drückende Vorurteile und beengende Überlieferungen hindern Keime an der Entfaltung, die eben nur in andrer Luft gedeihen können. Es wäre unbillig, hierfür die Gesellschaft anzuklagen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß eine menschliche Bildung in jedem Erdreich gedeihen müsse. Alpenrosen und Vergißmeinnicht haben andre Lebensbedingungen. Und nur die unphilosophischen Gleichmacher können daran glauben, daß es gelingen könnte, den Boden der Welt in eine einheitliche Masse zu verwandeln. Es wäre gegen den inneren, sozusagen metaphysischen Willen mancher ebenso deutlichen wie notwendigen Bereiche, daß darin Damen entständen. Vereinzelte Berufene verlassen früher oder später diesen ihnen unangemessenen Luftraum. Es ist wie im Märchen, wo die Prinzen ihre künftigen Königinnen aus Wäldern und Einöden heimholen.
Es ist nicht nötig, daß die brave Handwerkersfrau eine Dame sei. Nicht nur nicht in jenem Zerrbild der Luxuserscheinung, sondern auch im tieferen, echten, ethischen Sinne des Wortes. Die Dameneigenschaft wird gar nicht gefordert, wo sie einen Widerspruch mit der gegebenen Umwelt bedeutet. Man kann eine echte Frau sein ohne die Spur der Dame. Aber man kann eine Dame sein und doch eine echte Frau bleiben. Mann nennt auch den »braven Mann« nicht einen Gentleman, sondern man preist ihn eben als brav und bieder, als rechtschaffen, tüchtig, ehrlich. Und er kann sich bei diesem Lob seiner moralisch-bürgerlichen Eigenschaften bescheiden. Er braucht nicht den Anspruch zu erheben auf Titel, die andere Merkmale voraussetzen, Merkmale, die seine natürliche Erscheinung nur entstellen müßten.
Eines freilich ist wie zur wahrhaftigen Existenz des Kunstwerkes auch der Dame nötig: sie muß von Sehenden erblickt werden. Und daran mangelt's wohl zumeist gerade dort, wo so viel über sie geschwätzt wird. Einen Trost darf man ihren unbefugten Betrachtern immerhin sagen: es gehören manche zur Gesellschaft, die nicht dazu gezählt werden, und umgekehrt: nicht alle, die sich dazu zählen, gehören dazu.
Und noch eines zum Schlusse, auf daß diese Betrachtung ihren nachdenklichen Charakter auch solchen erweise, die gewohnt sind, alles, was leicht ist, nicht ernst zu nehmen, und Schwerfälligkeit mit Gewicht verwechseln: man hört heute so viel von ästhetischer Bildung, von Erziehung zur Kultur usw. reden; aber alle diese behenden Helfer scheinen nicht zu wissen, daß ihr ganzes Bestreben mit stummer Entschiedenheit von denen abgelehnt wird, die sich der unüberwindlichen Macht der Sitte – kein Kodex, kein Kompendium, kein Brevier, kein Anstandsbüchlein enthält sie – tief bewußt sind und der vergeblichen Versuche der Geflissentlichen, die durch ihre Beflissenheit nur eines beweisen: unheilbaren Mangel.
Kultur ist auch zu Zeiten ihrer höchsten Entfaltung im Sichtbaren – Keim und Blüte entwickeln sich im edelgeborenen Geist – ein unsichtbares Königreich gewesen, Besitz der wenigen Erlesenen, die sie mit Bewußtheit pflegen und genießen. Wir sehen die kurzen Fristen ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung – das Athen des Perikles und des Phidias, den Hof Friedrichs II. in Palermo und den Leopolds des Glorreichen in Wien, die Provence der Troubadours, das Granada der Mauren, das Florenz Lorenzos des Prächtigen, die von Shakespeare und Molière verherrlichten Feste der »jungfräulichen« Königin von England und des Sonnenkönigs von Versailles, den Musensitz Weimar und den Vormärz Metternichs – in ihrem weithin strahlenden Glanz, sehen Sitten und Trachten der näheren und ferneren Umgebung in dessen blendendem Widerschein, vergessen aber oder wollen es nicht bedenken, daß solches helle Licht von Schatten umragt ist, die sich als düsterstes Dunkel verbreiten. Kultur in dem erhabenen Sinne, der – und wär's eine Weile – dauernden Genuß eines Geschlechts, einer Schicht am Vortrefflichen, am Gediegenen, am Schönen und Kostbaren bedeutet, ganz abgesehn davon, daß, was ihren Wert nur erhöhen mag, Gefahr und Leichtsinn, Raub und Gewissenlosigkeit damit verbunden zu sein pflegen, Kultur als Erwerb und Erbe des Unversieglichen setzt Sklaventum und Knechtschaft, setzt, zum Vorteil der Begünstigten, das wehrlose Elend der Mühseligen und Beladenen voraus. Und: es ist ihr Wesen, ihr Fluch, daß sie an unverdienter Gnade – sie muß darum nicht erschlichen sein – zugrunde geht, daß ihr Überfluß sich ins Bodenlose ergießt, daß ihre Anmut zu Larven erstarrt und ihrem Prangen Welken und Verdorren fast über Nacht folgen. Nur in dem Gemüte der Edlen, dem sie eines Tages, ein über sich selbst hinaus verlangender Flüchtling, entsprungen war, hat sie, gehütet und geborgen vor neidischen und begehrlichen Blicken, ihre Heimat. Einmal ins Freie entlassen, das nur ein anderes, ein in aller Unbefangenheit streng aufgerichtetes, ausschließendes Gehege ist und solange bleibt, bis Habgier in Empörung es durchbricht und zerstört, überschreitet sie, als Ordnung gedacht, aber zur Unbändigkeit geneigt, das Maß, das sie, Eingeweihten kundig, bestimmt, und mit der Ungemessenheit wird die Unmäßigkeit zum Über- und Unmaß und erbricht, ein kraftloses Scheusal, ihre Überfülle. Es ist bezeichnend für die Weltgeschichte des schöpferischen, gestaltenden Geistes, daß alle die Zeiten, die sein sinnliches Glück, die prachtvolle Schale seiner emportreibenden Kraft bis zum Rausch genossen haben, in seiner Kruste ihn haben erkalten sehn.
Wo ist das Griechenland der Akropolis geblieben, wo das Palmyra der Zenobia, das kaiserliche Rom des hundertjährigen Weltfriedens, der Minnehof der Babenberger, der Prado des Greco und des Tizian, die Niederlande der Rubens und von Dyck, das Whitehall der Cavaliere, das Trianon Marie Antoinettes, das Wien der Fischer von Erlach und Mozart, das der Schubert und Daffinger? Museen versammeln für Neugierige die Juwelen ihrer Reste, die Hyänen der Geldherrschaft reißen sie an sich in die Verbannung, Ruinen ragen ins Leere, Verarmte einer grauen Zukunft, die Wüstheit, Verwüstung und Wüste heißt.
Einsam muß Kultur bleiben, einsam im Einsamen, um zu sich selbst gedeihen zu können, zur Vollendung des sich selbst genügenden, weil aus sich selbst genährten, des auf Wirkung verzichtenden, weil in sich selbst widertönenden, des berufenen und unwiderruflichen Geistes.
Niemals ist eine Zeit eifriger daran gewesen, sich selbst abzuspiegeln. Die Zeitungen, die Verbände, die flüchtigen Zusammenballungen der sonst aneinander selbstisch Vorüberlebenden sind die kläglichen Ersatzmittel für ein Bedürfnis, das selbst in diesen Zerrbildern sich noch krampfhaft bestätigt, das nach Gemeinschaft. Da wirkliche Gemeinschaft, seitdem das auf unbewußten Ideen beruhende Gefüge der Gesellschaft durch Industrie und Kapital in massenhafte einzelne zersprengt worden ist, nicht mehr zu erschaffen ist – denn Gemeinschaft erwächst zu sich und kann bloß zerstört, nicht aber erneuert werden – sucht sich der vereinsamte Mensch wenigstens im Spiegel seiner Öffentlichkeit zu vervielfältigen, durch unaufhörliche Wiederholung von seinesgleichen oder dessen, was ihm jeweils, von allerlei Standpunkten betrachtet, dazu sich herzugeben hat, sich über seine rettungslose Vereinzelung hinwegzutäuschen.
Während man vor der einzigen wirklichen Revolution der Menschheit, dem mechanischen Webstuhl, in dumpfer oder heller, enger oder breiter Gemeinschaft gelebt hatte – Geschichte ergab sich als Darstellung der großen Vertreter miteinander irgendwie kämpfender Gemeinschaften – haben seit einem Jahrhundert in sich überstürzender Eile an die Stelle »interessierter« Menschen – es hat sie immer gegeben, aber sie waren doch Menschen mit Interessen gewesen – die Interessen als Macht sich gesetzt; die Menschheit als jeweilige Einheit hat aufgehört zu bestehen. Indem sie aber sich sozusagen in Oberfläche verwandelt, allen Gehalt zu Oberfläche hat aufsteigen lassen, ist diese Oberfläche zunächst zerbrochen, dann zerfallen. Das unendliche Stückwerk ergibt niemals mehr ein Ganzes. Alle Versuche von Doktrinären, diese Trümmer zu »Richtungen« zusammenzuschließen, können höchstens Züge, niemals aus sich selbst lebende, gesetzmäßig, das ist unbewußt funktionierende Einheit ergeben.
Von diesem allgemeinen Schicksal hat die Schule eine Ausnahme nicht machen können. Ist doch die Schule nur ein Ausdruck des jeweils in der Menschheit lebendigen blinden Erziehungswillens. Wir sind auch hier vom organischen Schauen zum bewußten Sehen übergegangen, zum Spiegel. Solange das Kind den Spiegel noch nicht benützt, schaut es mit Unbeirrtheit in die Welt. Sobald es aus der Welt sich herauszuerblicken gelernt hat, im Spiegel, ist mit seinem naturhaften Selbstgefühl seine Selbstverständlichkeit erstorben, es braucht bereits die Stützen, die Stelzen der Kritik, sich weiter zu helfen, zu »orientieren«. Denselben Prozeß hat die Menschheit hinter sich. Sie war – mit allen ihren Großtaten – Kind geblieben bis zu dem Augenblick, da sie, über sich selbst hinausgehend, nicht zu sich selbst zurück, sondern sich im Spiegel ihrer Mittel wiederfand. Der Mittel hat sie immer bedurft, aber sie hatte bis dahin aus dem Mittel nicht ihr Bild gemacht. Sie hatte geträumt, gekämpft, gearbeitet, gerast, aber sie war Menschheit, Kind geblieben, bis sie sich, ihre Bestimmung vergessend, als Zweck empfand. Jetzt hatte sie, mit einem Schlage, ihre Mittel als den Spiegel sich gegenüber und sah immer nur sich, niemals mehr, wie das Kind, aus sich heraus. Die Schule ist heute dessen ein vollgültiger Ausdruck. Sie richtet den Menschen, zweckerfüllt, zum Mittel ab, ist ausgesprochenermaßen Vorbereitung auf ein Leben, das sich einzig im »Spiegel« erkennt. Wie kann unter solchen Umständen der junge Mensch Beziehung zu ihr selbst gewinnen, die sich an ihren Zweck verloren hat?
Mehr als das Schlechte in Leben und Schaffen stört und verstimmt das Halbschlächtige, Unzulängliche. Gegen das Schlechte kann man ankämpfen, im Leben durch Gesetz und Gewalt, auf schöpferischem Gebiet durch Lehre, Beispiel, Tadel, Hohn. Es ist nicht unüberwindlich, setzt sich nicht auf die Dauer durch. Vor allem: es ist deutlich, unverfälscht, seines Gegensatzes bewußt, daher herausfordernd, angriffslustig. Aber das Halbschlächtige, Unzulängliche, Mittelmäßige gibt sich als das Zugängliche, Umgängliche; es findet bei der Masse des ihm Entsprechenden Beifall, Förderung, weil es nicht stört, sich abfindet, Zugeständnisse macht, sich nach Gefallen wandelt, Deckung gewährt. Es steht allüberall im Vordergrund, äfft nach, was wirksam scheint, bemächtigt sich geschickt der Mittel, die ihm taugen, und herrscht durch Unwahrhaftigkeit, Trägheit und Gemeinheit.
Es ist durchaus nicht nötig, daß man stets wisse, woran man sei; es ist erquickend, Ungeprüftem vertrauen zu dürfen; man soll glauben können; aber verderblich ist es, sich am Schein zu begnügen. Glauben ist eine Kraft, die nicht widerlegt werden kann. Mißbrauchtes Vertrauen richtet sich aus der eigenen Wurzel wieder auf. Sich zufriedenzugeben aber aus lässiger Gewohnheit, ist eine Schwäche, die, am einzelnen Sünde, zum Verbrechen wird, wenn es sich um Pflichten gegen andere handelt. Wer Pflichten übernommen hat, kann sie nicht ernst genug nehmen. Es ist ein schwerer Makel unseres öffentlichen Lebens, daß Pflichten sozusagen zu haben sind. Pflichten müssen einem zustoßen aus Lagen, man muß sie empfinden, um sich ihrer zu entledigen. Statt dessen erwirbt man Pflichten, ja bewirbt sich darum wie um Gunst und wendet, einmal in ihrem Besitz, nichts mehr daran als Technik, das ist Gebarungsfertigkeit. Man weiß heute gerade dort, wo alles auf Pflichtbewußtsein, das ist Sorge und Sorgfalt, ankommt, gar nicht mehr, womit man es zu tun hat, und daß es furchtbar und herrlich zugleich sei, mit sich für eine fremde Sache einzustehen; man begnügt sich am Schein, vor allem am gemünzten Wort und läßt den andern ihre jeweilige Unverantwortlichkeit. Sie, sicher, nicht selbst aus der bequemen Rolle gerissen zu werden, begnügen sich damit, ab und zu etwas zu begehren. Es ist gewissermaßen ein abgekartetes Spiel. Auf der einen Seite die Träger irgendeiner Macht, Funktionäre, auf der andern vereinzelte Anspruchsberechtigte, die sich abfertigen lassen. Solange man nicht durch Wahrhaftigkeit stört, geht der Mechanismus weiter. Nur übermächtige Not am Unentbehrlichen vermag, ohne daß Gesinnung von sich aus aufstände, um in das schnöde Gemachte mit eins unliebsame Verwirrung zu bringen, die stillschweigende Übereinkunft, sich gegenseitig nicht im Üblichen zu stören, aus der Behaglichkeit aufzuschrecken. Dann stockt alles, Verantwortliche und Unverantwortliche wimmeln durcheinander, und die Not zerstört die verlassenen »Einrichtungen«. Bis der erste Schreck verraucht ist und sich allmählich wieder die Gemeinschaft der Scheingläubigen herstellt.
Je tiefer die Wissenschaft ins Innere ihrer Gegenstände eindringt, um so mehr muß sich ihre Tätigkeit vereinzeln (spezialisieren). Ein ungeheures, nicht zu übersehendes Feld mit unzähligen Bohrlöchern, eines neben dem andern: das ist ihr Bild. Gewiß gereicht diese Vertiefung den einzelnen Zweigen der Forschung zum Vorteil, aber vielleicht ist im letzten Grunde der Nutzen für das Ganze doch fragwürdig. Die Frage drängt sich dem auf, der beobachtet, wie im praktischen Verwerten des also bis ins Feinste verästelten Wissens der Mangel – nicht an Überblick (der ist längst unmöglich geworden), sondern an zulänglicher Kenntnis auch nur des Nächstliegenden sich empfindbar macht. Die auf wissenschaftlichem Gebiet immer weiter gehende Arbeitsteilung, an und für sich bereits fast die Groteske des Prinzips – ihre tragikomische Parallele ist die Zersplitterung der Handwerksgewerbe –, hat aber noch einen in die Augen springenden Nachteil: da jeder seine enge Röhre – ich will nicht sagen, für die wichtigste hält (obwohl es auch solche Käuze gibt), aber schon wegen der steten Beschäftigung mit dem Gegenstand und seiner durch Anpassung vervollkommneten Bewältigung überschätzt, gelangt er nur zu oft zur nutz- und sinnlosen Steigerung seiner mit Opfern an Menschentum erkauften Technik, wird praktisch und geistig überflüssig.
So viel von der Wissenschaft, die immerhin zur Entschuldigung ihres Gebarens anführen darf, daß sie sich ja niemand aufnötige, sich jeweils an die wende, denen sie so und nicht anders erwünscht sei.
Anders steht es mit der Verwaltung. Auch sie krankt längst an lebensgefährlicher Vereinzelung ihrer Aufgaben. Und hier hat die Allgemeinheit, der sie zu dienen bestimmt ist, denn doch etwas dreinzureden.
Wer als Unbefangener in eine Zelle verschlagen wird, wo ein »Verwaltungszweig gepflegt« wird, staunt, wenn das erste Unbehagen der Unvertrautheit geschwunden ist, über die Masse des Überflüssigen, worauf wie auf einer Unterlage von niemals abgeräumten Entwicklungshäuten die »Gerenz« mühsam waltet. Solang einem nicht der freie Blick durch beflissenes Untertauchen in den Wust des Trödelhaften versehrt worden ist, sieht man genau die bei allen Lebensverhältnissen ja doch einfachen Grundzüge und wundert sich, daß die Erfahrenen sie nicht erblicken. Später wundert man sich nicht mehr darüber, erkennt resigniert, daß, solange das System nicht durch die befreiende Gewalt eines Machthabers vernichtet worden ist, im einzelnen nichts zu richten sei.
Man vergegenwärtige sich einmal schaudernd, wie viele Gesetze, Verordnungen, Kundmachungen, Erlässe, Weisungen nur auf einem beschränkten Gebiete gelten, um sich zu sagen, daß dieser Zustand zwar unhaltbar, aber im einzelnen nicht zu ändern ist. Doch mit einem Schlage könnte das Ganze anders werden. Schon die Vernichtung der bestehenden Vorschriften wäre eine Wohltat für die Menschheit, die die Schwere und Tragweite des an ihr durch das Immerweiter verübten Unrechts gar nicht ermißt: die Lebensverhältnisse ersticken ja in dieser Staubatmosphäre. Und nun bedenke man weiter, wieviel brauchbare Intelligenz, welche Summe von Schaffenskraft nur in der allmählichen Bewältigung des Vorschriftenstoffes aufgehen, was für ein klägliches Ergebnis gewissenhafter Selbstvernichtung ein solcher mit seinem Material überstopfter Verwaltungsfachmann mit den vorschriftsmäßigen Scheuklappen darstellt, um sich über die Unökonomie solchen Betriebes klarzuwerden. Es haben sich nicht die Lebensverhältnisse in dem Maße vervielfältigt (kompliziert); man hat sie verwirrt durch ein System des Zugrundedenkens, das in seinem massigen Sichweiterwälzen nicht aufzuhalten, wohl aber zu zerstören ist. Nur einer, der das Gruseln nicht gelernt hat, aber die Sprache der Natur versteht, wird den Wurm fällen.
Fortschritt! Wenn es ein Wort gibt, das Menschen rasen machen müßte, so ist es diese Blechmarke, die jeder unsägliche Zeitgenosse im Saum seiner Uniform eingenäht mit sich herumträgt, ein allgemeines Erkennungszeichen, der Generalnenner selbstgefälliger Armseligkeit, das Wort, um deswillen allein die wortlosen Tiere einem begnadet scheinen, das Wort, das am Tage des jüngsten Gerichtes alle Menschen auf einmal aufheulen müßten, als ein einziges unerschöpfbares Riesenbekenntnis einer nie zu vergebenden Schuld, der Sünde wider den heiligen Geist, den jeder durch dieses Wort, durch die auch nur flüchtigste Beziehung zu diesem Inbegriff der Lügengöttin Vernunft begangen hat.
Christi Persönlichkeit und Lehre haben so wenig mit unserem Christentum zu schaffen, daß für die vereinzelten Menschen, die jene große Erscheinung verehrend ahnen, eine andere Bezeichnung angemessen wäre. Jesus Christus, der die Kleinen zu sich kommen ließ, der den Armen im Geiste das Himmelreich verhieß, das er den Reichen unbedingt – eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr – versagt hat, der mit Zöllnern zu Tische saß und Fischer als seine Apostel berief, der die Hohenpriester Otterngezücht schimpfte und die Händler aus dem Tempel jagte, der den Letzten verkündigte, sie würden die Ersten sein, der den Sünder, der Buße tut, über tausend Gerechte erhöhte, der die Zweifler zu überzeugen für nötig und die Geschäftigen zu bedauern für überflüssig befand, der nur das Gebet im Kämmerlein gelten ließ, Demütigungen Unwürdiger still ertrug und den Stolz seines unsichtbaren Königtums noch vor seinen armseligen Richtern leuchten ließ, was würde dieser Freieste zu seinen bequemen Bekennern sagen!
1
Im Tatsächlichen scheint Größe geradezu unfruchtbar. Ihr Wert liegt in ihrem Dasein. Hierin ist auch die Erklärung dafür zu suchen, daß sogar der große Künstler, dessen Werk doch für ihn zeugt, dieses Zeugnisses nicht bedarf: sein Werk kann seiner unbeschadet untergehen. Und es wäre der große Künstler denkbar, der überhaupt nichts geschaffen hätte: man müßte ihn nur als Dasein erlebt haben.
2
Es ist vielleicht das bezeichnendste Merkmal unserer Zeit, daß sie keine großen Menschen hervorbringt, oder wenn man es lieber so hören mag: daß es ihr nur sehr selten gelingt. Das, was sie benötigt, wird vom Mittel geleistet: sie begnügt sich damit. Der Abstand, der zwischen dem Großen und den vielen Kleinen klafft, widerspricht, scheint's, ihrem demokratischen Gewissen. Aber, von solcher Deutung abgesehen, ist der Boden unserer Zeit, der ihre Bedürfnisse bestreitet, nicht zur Verschwendung fähig, wie sie dem – für das Allgemeine heute mehr denn je unnützen – Großen einzig taugen mag. Daran liegt's: die Zeit braucht die unnütze Größe nicht, verschmäht den Überschwang des sich selbst allein lebenden Großen.
3
Menschliche Größe ist ein bannender Eindruck von Hoheit und Würde, deren unwillkürlicher Ausdruck Erscheinung, Haltung und Äußerung als ein Ganzes in Einheit begreift. Größe ist somit nicht die Summe von großen, das heißt einen bereits ansehnlichen Durchschnitt überragenden Eigenschaften, sondern selbst eine, und zwar umfängliche, eine Gesamteigenschaft, Fülle und Macht des unmittelbaren Wesens einer Persönlichkeit. Deshalb schließt sie minderwertige Züge, zumal sittliche Mangelhaftigkeit nicht aus. Sie ist Vollendung, höchstgediehene Verwirklichung des inneren Zieles eines begnadeten Daseins, nicht sittliche Aufgabe als glückliche Lösung, sondern Selbsterlösung in unbefangener Sinnerfüllung. Als unverkennbarer und unvergleichlicher Eindruck ist sie wahrhaftiger Ausdruck ihrer durchgängigen Einmaligkeit, obwohl nicht alle ihre bewußten Äußerungen auf Wahrheit ausgehen mögen. Sie ist nämlich je nach dem Gebiet, das sie umfaßt und beherrscht, bei gleichbleibendem Grad von verschiedenem Gehalt. Nicht daß es, Größe als das Ganze einmal erkannt, angängig wäre, sie innerhalb dieser unverbrüchlichen Einheit sozusagen auszuscheiden und als Bestandteil abzuziehen: wenn jemand »als König«, »als Gesetzgeber«, »als Heerführer« wirklich »groß« ist – wozu zwar, angenommenermaßen, die bedeutende Leistung, aber weder als der den »Ausschlag« gebende Erfolg, der im Gegenteil ausbleiben kann, noch als einzelnes Ereignis, sondern als unter Umständen dargetane zweifellose »Fähigkeit« gehört –, heißt das nicht, er sei »nur als König« usw. oder »zwar als König« usw. groß, »nicht aber« außerhalb dieses Kreises seiner Betätigung, sondern wo einmal Größe ist, muß sie überall sein. (Die sogenannte »große Leistung« verleiht als bedeutend dem Urheber selbst Bedeutung, ist aber nicht Größe schlechthin und überhaupt.) Eines freilich ist als merkwürdige Einschränkung nicht scharf genug – gegenüber landläufiger Auffassung – auszusprechen: »rein geistige«, insbesondere aber schaffende, künstlerische Tätigkeit, so groß, d. h. bedeutend und bedeutsam sie sein möge, verleiht als solche allein nicht den unbedingten, einleuchtenden Anspruch auf Größe: Diese setzt mehr voraus als eine noch so großartige Begabung in der Richtung auf das »Werk« hin. Vergessen wir nicht, daß ihr unzweifelhafter, ihr bannender Eindruck Hoheit und Würde ist. Nun denn, das herrlichste Kunstwerk, so wenig es selbst Hoheit und Würde ausstrahlen muß, um dieser seiner Herrlichkeit Genüge zu tun, sondern es des öfteren auf solcher Stufe bei Reiz und Neuheit, Einklang und Kraft bewenden läßt, bestätigt seinen Schöpfer zwar als das Muster eines Künstlers, aber darum noch als sonst nichts mehr. Ein großer Mathematiker, ein großer Schachspieler, ein großer Dichter oder Maler sind ebensowenig wie ein großer Schauspieler um dieses ihres hohen Ranges willen, der sie vor ihresgleichen, vielmehr den Genossen ihrer Berufung, ihres Berufes auszeichnet, den »Großen« einzureihen, sie bleiben »Größen«, Meister, gleich den Meistern körperlicher Gaben, die man nicht einmal wie jene – so feinfühlig ist die Sprache – groß zu nennen pflegt: es gibt nicht große Reiter, große Turner, große Läufer. Unter den großen deutschen Dichtern, das heißt den Dichtern, die unbestritten in der vordersten Reihe stehen, wird man bei genauer Erwägung, vielmehr auf den ersten vergewissernden Blick nur Schiller die Größe einräumen, die hier in Rede steht. Weder Hölderlin noch Kleist, die als Künstler an die Sterne ragen, aber in ihrem übertriebenen Menschentum nicht das Maß walten ließen, das lautlos Hoheit ausspricht, weder Jean Paul noch Hebel, die geschmeidigsten und sichersten Prosaisten unserer Sprache, weder Uhland noch Eichendorff, die reinsten unserer lyrischen Dichter, auch nicht Goethe, das in Vielfalt reichste Genie des deutschen Schrifttums, nehmen es mit Schillers bezwingendem Adel, seinem das Gemeine sieghaft überwindenden Heldentum auf. Neben ihm wären, aber je aus andern überzeugenden Gründen nicht in seiner Scheitelhöhe, ehrfürchtig Lessing und Hoffmann zu grüßen. Von deutschen Denkern gebührt unter allen Leibniz allein der auszeichnende Titel. Worauf es unweigerlich ankommt, wird durch die Beispiele deutlich: nicht Geistes», sondern Seelengröße, das, was den wahren Herrscher ausmacht, Majestät, ist der jede noch so rissige oder befleckte Schale durchscheinende Lichtkern.
Wie auf dem niedrigeren Gebiet des Sinnfälligen ein vornehmer Mensch in jeder Kleidung und Tracht und um so mehr unbekleidet, bei jeder Gelegenheit, die ihn ungezwungen zur Darstellung bringt, seine vorzügliche Beschaffenheit, sich in Sicherheit bestätigend auch dem Stumpfen bekundet, so strahlt der Adel einer Seele, Herz, Geist und Körper mit höherem Leben durchdringend, aus den unerschöpflichen Tiefen ihres göttlichen Ursprungs. Und, wohlgemerkt, in beiden so verschiedenen, aber auf etwas Ähnliches als Grundton hinweisenden Fällen ist es nicht etwa das als Persönlichkeit Besondere, was zur Geltung gelangt, sondern etwas dem Geschöpf als Gattung, also in Vollkommenheit Gemeinsames, das, wenn auch im Durchgang durch das so von anderen unterschiedene Einzelwesen und eben als Erfolg dieses Durchgangs, über die Eigenart der Verwirklichung hinaus und hinauf geradewegs die Idee erreicht.
Es ist weder die ungeheure Tat noch das in seiner schauerlichen Pracht fesselnde Schicksal, was einen, verurteilte man auch Wahn und Gewalt am Handelnden mit Fug, für die großen Erscheinungen der Geschichte mit Bewunderung, ja mit Liebe erfüllt: es ist immer nur die geistige Macht einer überragenden Persönlichkeit. Der noch so berückende Eindruck eines schönen Raubtiers, das bis zur Erhabenheit gesteigerte Schauspiel des leblosen Naturgeschehens – Meersturm, Wasserfall, Flammenwand und Feuersäule – ermangeln dieser die Seele in ihren Tiefen ergreifenden Wirksamkeit: sie erregen nicht Teilnahme, machen nicht mitgehen, mitstürmen in der Wonne des das eigene Wertbewußtsein anstachelnden unwillkürlichen Vergleichs. Nur dem Geist in seiner Kraft und Fülle, seiner Hoheit und Feinheit ist der geistige, das ist der unterscheidende und urteilende Mensch unmittelbar verwandt, in ihm, wenn ihn der »Geistesheld« in seiner ganzen wunderbaren Möglichkeit entfaltet, genießt er sich selbst.
Taten sind vergänglich, Erfolge zerrinnen, schwindelnder Aufstieg droht den vernichtenden Sturz, aber der Träger aller dieser zerstäubenden Gestaltung – deren Gegensatz das seinen Schöpfer überlebende, das dauernde Werk des Geistes ist – ist und bleibt uns das, was er selbst als Gestalt aus sich gemacht hat kraft des Geistes, der großartige Mensch: Es ist kein Zweifel daran möglich, wo wir ihn, den Unverkennbaren, einzig erkennen. Nicht das Geschichtliche macht ihn aus. Geschichtlich ist alles, was irgendwie den an sich sinnlosen Gang der von Menschen in Auseinandersetzung mit den Verhältnissen auf öffentlichem Schauplatz bewirkten Ereignisse bestimmt. Geschichte ist ein wüster Zusammenhang, ein Trümmerfeld von Willenshandlungen. Nur was der Handelnde selbst gilt – nicht unabhängig von seinem Tun, das ihn darstellt, offenbart, aber nicht bedeutet –, der menschliche, das ist geistige Wert seines einmaligen bewußten Daseins entscheidet über und für ihn. Menschliche Größe, die sich im Geschehen, nicht im eigentlichen Werk, als Geist, das ist schöpferisch, bewährt, hat nur sich selbst zum Maßstab, weder das Geschehen noch andere Handelnde als immer wieder nur ihresgleichen im Geiste, eine Reihe von Gipfeln aus demselben Urgestein.
Unbesonnenheit ist nicht sinnlos, wohl aber mag Besinnung den Sinn verfehlen. Sinn ist nicht, was Besinnung in die Handlung hineinlegt, oder was auch ohne sie daraus hervorgeht, sondern was sie als Handlung gilt, das ist bedeutet. Was man Unsinn nennt an einer Handlung, ist ihr Sinn, wie ihn Besonnenheit nicht gelten lassen will. Denn Besonnenheit geht nicht von der Handlung aus, sondern entweder vom Handelnden oder, meist, vom Ergebnis, wenn nicht vom Zweck. Der Sinn einer Handlung wird entweder mit ihrem Ergebnis als ihrem Ziel verwechselt oder geradezu mit der sie bezweckenden Absicht des Handelnden übereingesehen. Aber der Sinn (oder »Wert«) einer Handlung ist durchaus nicht, was man mit ihr vorhat, sondern was sie vorstellt, dartut. Handlung ist Gestalt, also Inhalt, der bis an seinen Umfang gediehen ist, sein inneres Maß.
Die Jungen gehen, die Alten bleiben. Aber die Jungen, die gehen, weggehen – ob sie wiederkommen, hängt von den Umständen ab, die sie bei ihrem Ausgang nicht in Betracht ziehen –, wissen nicht, was das heißt: bleiben, zurückbleiben, während die Alten, die selbst einmal gegangen sind, ihre Erfahrung vom Gehen ins Bleiben mitgenommen haben. Das macht: die Jungen können gegen die Alten nicht gerecht sein. (Die Alten, die es gegen die Jungen sein könnten, sind's nicht immer.) Aber nur, wer gerecht ist, wenigstens nach Gerechtigkeit strebt, darf urteilen. Das Urteil der Jungen über die Alten ist ein Vor-, ein Fehlurteil. Es mangelt ihm an der Voraussetzung: der Erfahrung des Bleibens, die ihm Gerechtigkeit, wenn nicht verbürgte, doch ermöglichte.
Bleiben heißt nicht mehr Gehen. Sei es aus Unfähigkeit, sei es aus Unlust. (Man kann wohl auch wollen, was man nicht mehr vermag, aber das ergibt ein vergebliches Bemühen oder einen unwilligen Verzicht.) Das richtige Bleiben ist das Bleiben dessen, der nicht mehr gehen will, weil er nicht mehr gehen mag, genug gegangen ist. (Es mischt sich fast immer auch ein Versagen der Gehfähigkeit hinein, aber es ist in den Willen zum Bleiben aufgenommen, in ihm aufgegangen, aufgelöst im rechtzeitigen und freiwilligen Verzicht auf das Nicht-mehr-Anständige.)
Wer bleibt, ist traurig. Nicht weil er nicht mehr geht – er hat eingesehen, daß es nicht mehr Gehenszeit ist –, sondern weil er gegangen war. Nicht, daß er das Gehen bereute – keine Erfahrung, nichts, was wirklich Erfahrung, Besitz geworden ist, führt Reue mit sich; Erfahrung hat Reue abgestoßen, verwunden –, aber er weiß, daß Gehen zum Bleiben führt, natürlicherweise (denn es gibt auch unnatürliche Dauer -Gänger), und alles, was man nicht mehr tut, weil etwas anderes, das Entgegengesetzte an seine Stelle getreten ist, macht den traurig, der darum weiß, daß dem so hat sein sollen. Einsicht ist traurig. Froh ist, wer nicht weiß, wohin der Weg führt. Deshalb ist Jugend (nicht jede Jugend, aber Jugend zumeist) froh. Sie weiß nicht, wohin ihr Weg geht. Sie freut sich am Gehen als Gehen, am Gehen ins Unbekannte. Und es ist gut so. Denn wüßte die Jugend, daß ihr Weg zum Bleiben führt (und Bleiben heißt nicht immer zurück-, nach Hause, zu sich kommen; man kann auch, leider, irgendwo außer sich bleiben, auf dem Wege bleiben), wer weiß, ob sie ihn so froh ginge, wie sie ihn ins Ziellose geht (Ziele sind immer nur Annahmen).
Die Alten bleiben und sind traurig. Traurig vor allem deshalb, weil sie die Jungen so gerne bleiben sähen und wissen, daß sie ihnen das weder begreiflich machen können noch zumuten dürfen. Während die Jungen von den Bleibenden, Zurückbleibenden weggehen, erleben die Alten, die schon gegangen sind und ausgegangen haben, das Gehen der Weggehenden in einem schmerzlichen Widerhall. Nicht so sehr eigenen Gehens von einst wie vielmehr als dieses sich entfernende Gehen dessen, der sich vom Bleibenden loslöst, ihn zurückläßt. Sie bangen um den, der weggeht, bangen um ihn, den sie auf dem Weg ins Ziellose wissen, bangen um sich, die ihn, der sich loslöst, nicht auslassen können. Unbewußt nimmt er sie, die hinter ihm zurückbleiben, mit auf seinen Weg. Aber nicht er empfindet diese Begleitung als Last, sondern die, die ihn so zurückbleibend begleiten, empfinden es als einen an ihrem Herzen reißenden, es mitreißenden Zug, der, je weiter jener gelangt ist, nur um so heftiger an dem Bleibenden zerrt.
Von Zeit zu Zeit, wie gesagt, kommt etwa einer, der weggegangen war, wieder. Nicht um zu bleiben, sondern nur um nachzusehen, ob der, von dem er sich losgelöst hat, noch immer dort ist, wo er geblieben war, da jener ging. Und das ist eine sonderbare Begegnung, die des Gehenden, der auf eine Weile, eine Pause im Weitergehen zurückgekommen ist, und des Bleibenden, der ihn, ohne daß dieser dessen bewußt gewesen wäre, auf seinem Wege begleitet hatte. Der Junge denkt: Bist du also noch immer da? Der Alte denkt: Bleibst du also noch immer nicht, bist nur gekommen, um wieder wegzugehen? Sie sagen das, was sie denken, einander nicht. Sondern der Alte sagt: Also bist du wieder da? Und das Herz tut ihm weh vor Freude, weil er weiß, daß das Kommen abermals Gehen bedeutet, Abschied. Der Junge aber sagt: Ich bin also gekommen. Aber er meint: Ich gehe gleich wieder. Er sieht sich um im Gewohnten, der Luft, dem Raum, der Gegenwart des Bleibenden, die ihm, dem Gehenden, Vergangenheit, Entwöhntes ist, von dem er sich losgelöst hat. Und er macht, während er sich scheinbar niederläßt, schon Vorbereitungen zum Aufbruch. Der Alte weiß darum und bangt davor, daß wieder, doppelt schmerzhaft, weil neuerdings angeknüpft, der reißende, zerreißende Zug in die Ferne beginne.
Und nach einer Weile gibt's wieder Abschied. Und dem Bleibenden wird sein Bleiben noch einmal so traurig.
Abschiednehmen ist das Ärgste, was dem Menschen sein Schicksal zumutet. (Denn Untreue, die dem Abschied an verzehrendem Weh gleichkommt, ist nicht jedermann bestimmt.) Immer wieder muß der Mensch Abschied nehmen: von der Kindheit, von der Jugend, von der Kraft, von der Gesundheit, von der Liebe, von den Eltern, von den Kindern, zuletzt vom Leben. Und zwischen diesen jeweils endgültigen Abschieden liegen die vielen, die vorübergehende, aber darum nicht nur als solche empfundene Trennung vom Gewohnten, Regelmäßigen, von Personen und Sachen bedeuten, von denen man nur mit Schmerz und Qualen sich ablöst. Im Grund ist ja das ganze sogenannte Dasein, das als ein Werden niemals im Sein Bestand hat, ein unaufhörliches Abschiednehmen.
Abschied ist der Sinn des Lebens, der Vergänglichkeit. Denn mag auch Leben, wie es Lebendiges durchdringt, seinem eigentümlichen Wesen nach und auf die im Weltganzen ihm gesetzte und unerforschliche Frist Sein, das ist Dauer, Bestand sein: als Erscheinung seiner selbst, in dem, was es verkörpert, dem Lebendigen, ist es endlich. Alles um uns kommt, um zu gehen, schwindet zusehends. Nichts hat Bestand. Schweigend wölbt sich über all dem Vergänglichen das unermeßliche, unausdenkbare Reich des Unendlichen, das All. Der Mensch, mit seiner Sehnsucht nach Dauer, nach der Ewigkeit, aus der seine bange Seele stammt, antwortet auf das trostlose Scheiden, das sein unausweichliches Erlebnis ist, mit den verzehrenden Gefühlen des unablässigen Abschieds.
Die Jugend, deren Aufgabe der Aufbruch ist, nimmt die Trennung von dem, was sie, ungeduldig nach Veränderung, neugierig auf die unbekannte, verheißungsvolle Ferne, verläßt, im allgemeinen leicht. Loslösung vom Allzugewohnten, das sie in ihrem Drang nach Selbständigkeit, Selbstbestimmung hemmt, bedeutet ihr Befreiung vom Zwang und Unterwerfung, Gewinn, nicht Verlust. Sie wünscht zu wandern; Verharren heißt ihr Stocken, Aufenthalt Versäumnis.
Es gibt auch unter jungen Menschen anders angelegte Gemüter. Ungleich ihren hinaus, hinweg drängenden Genossen, haften sie fest im haltenden Boden, lieben das sichere Wurzeln: jeder Ruck daran geht ihnen schmerzlich durch das ganze, rings im Vertrauten getreu verschränkte Dasein. So einer bin ich gewesen von Kind auf. So bin ich geblieben. Die geringste Veränderung meines von Natur seßhaften Zustands – und ich habe leider ihrer nur zu viele erfahren – tat und tut mir weh. Schon, daß irgendwer von den Menschen, die mir nahestanden, sich von mir wegbewegte, die Mitteilung nur von solcher noch so unbedeutenden Absicht, eine vorübergehende, durch alltägliche Umstände und Beziehungen bedingte Absonderung empfand ich als Einbuße, Störung meines seelischen Gleichgewichts. Meine Mutter hat sich als junge Frau den Verzicht auferlegt, das Theater zu besuchen, wie sie es in Begleitung ihrer Schwester gewohnt gewesen war, da sie meinen leidenschaftlichen Abschiedsschmerz nachgerade als ein unüberwindliches Hemmnis dieses harmlosen Vergnügens hatte wirken sehen. Wenn der Oheim, der mir, selbst noch im jugendlichen Alter, gern seine Muße zur Verfügung stellte, aus irgendeinem nur zu begreiflichen Grund eine der regelmäßigen, meist musikalischer Beschäftigung gewidmeten Zusammenkünfte vor der Zeit abbrach oder gar vertagte, schien mir diese Nachgiebigkeit gegenüber einer unbekannten Verpflichtung eine Treulosigkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte. Ja, das Zuendegehen gemeinsamer Spiele, sei es mit meiner jüngeren Schwester, sei es mit andern aus der Verwandtschaft geladenen Altersgenossen, selbst der Abschluß des Schuljahres, gar der Ablauf der Ferien erfüllten mich immer wieder mit einer Traurigkeit, die an Trostlosigkeit grenzte.
Unmerklich, als den Zusammenhang meines Erlebens schonender Übergang ins unmittelbar Anschließende sollte sich vollziehen, was unvermeidlich war, die Vergänglichkeit. Welche Schwermut verhängten über mich die aus dem gleichförmig bewegten Verlauf der Woche überhangenden, allzu köstlich mit heimlichen Genüssen beladenen Sonntagnachmittage, und zu den angreifendsten Erlebnissen zählen für mich noch in der Erinnerung jene sommersüber Jahre hindurch erlittenen abendlichen Heimgänge aus der gartenumbreiteten »Villa« in die von schrägem, zögerndem Sonnenschein traurig gerötete menschenleere Stadt.
Ich habe diesen aufreibenden Sinn für den Abschied, diese seltsam aus Nachtrauern und Sehnsucht gemischte Begabung zum Leiden, die Erwiderung auf das dem Leben einverleibte Schicksal der Vergänglichkeit von meiner Großmutter geerbt, der Mutter meiner Mutter, die, nachdem sie ihrem geliebten Gatten drei Kinder geboren hatte, den gelassen Kränkelnden als Zweiundzwanzigjährige verloren und ein Leben lang betrauert hat. Auch ihrem Sohne war ihre stille Schwermütigkeit zur zweiten Natur geworden, seltsam gemengt mit einem Hang zu grausamer Selbstverspottung, die sich im Ausmalen böser Zufälle, tückischer Möglichkeiten lächelnd gefiel, eine Art von zynischer Zuversicht auf den schlimmen Ausgang jeglicher menschlicher Unternehmung, die so recht das Widerspiel törichter Hoffnungslosigkeit immer wieder gemarterter Opfer des Lebens ausmacht. Ich kenne diesen Hang zur Selbstpeinigung durch das Mißtrauen nur zu wohl. Auch er stammt aus der Einsicht in die Vergänglichkeit.
Wer Abschied in seiner ganzen schneidenden Bitterkeit auszukosten geeignet – soll ich sagen: verdammt? – ist, dem ist der Tod vertraut. Nicht, daß er ihn, den Unbegreiflichen, den niemand erlebt und jeder erleidet, kennte – wir wissen ja nur von ihm, daß ihn andere erfahren –, aber er hat mit ihm, der alles scheidet, innigem Zusammenhang als die, denen Scheiden nicht mehr bedeutet als Kommen, ein Hin und Her wie Atemholen und Ausatmen. Jedes Blatt, das sich stumm vom Zweige löst und langsam niederschwankt, die Schwalben, wenn sie sich Anfang September zur Reise versammeln, ja das Rücken des Zeigers an der Uhr mahnt ihn an den Unsichtbaren, der die Vergänglichkeit verwaltet.
»Wenn Menschen auseinandergehn,
so sagen sie ›Auf Wiedersehn!‹«
heißt es in dem alten Liede. Wer aber dem Abschiednehmen als seinem Schicksal mit den offenen Augen des bangen Herzens verfallen ist, der denkt bei jedem Auseinandergehen – und sei's ein mehr oder weniger gleichgültiges von Menschen, die eine kurze Strecke gemeinsam zurückgelegt haben –, ob es nicht das letzte, ob es nicht auf immer sei.
Ich habe immer nur mit der größten Verwunderung die Sicherheit wahrgenommen, mit der so viele, wenn nicht die meisten von Abwesenden etwas aussagen, von dem sprechen, was, wie sie jedenfalls annehmen, sich ereignen werde, was sie zu wirken nicht gedenken oder vorhaben, sondern wie von etwas Unausbleiblichem überzeugt sind. Jedes »Ich werde ...« macht mich als eine Vermessenheit schaudern.
Aber es ist wohl gut so, daß die Menschen diesem durch nichts begründeten Vertrauen in die Zukunft nachleben: es ist recht eigentlich die Lebensfähigkeit darauf begründet. Ich bin nichts weniger als ein Träumer, ich bin das Gegenteil: ein Denker. Die unbefangen Tätigen verwechseln den Denker mit dem Träumer. Aber vielleicht sind sie, die Tätigen, die so wenig Zeit zum Denken haben, die wahren Träumer. Das, was ihnen als Wachen gilt, ist aus dem Gesichtswinkel des Denkers betrachtet, ein Schlafwandel, der Lebenstraum. Wer wacht, der hört, wie das eintönige Geräusch des Regens um sich, über sich das unaufhörliche Rauschen des Vergehens, den unsterblichen Gesang vom Sterben, und in seinem Herzen – denn der wahre Denker, der immer wache Geist wäre nicht wach ohne die Unruhe des Herzens – antwortet das ewige leidvolle Lied vom Abschied.
»In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« Ich kann und will es nicht leugnen, daß dieser Vers, mit dem Heinrich von Kleists herrlicher »Prinz von Homburg« schließt, mich immer wieder, wenn ich das schönste deutsche Schauspiel lese und vorlese, mit sich fortreißt. Was ist mir Hekuba-Brandenburg? Ich bin Österreicher, und der große Kurfürst steht mir so fern wie die Schweden, die er aus der Mark treibt. Ist es einzig der Schwung des geliebten Dichters, gleichviel welcher Sache die siegesgewiß stürmenden Worte gelten mögen, was mich Gleichgültigen packt? Lehnt sich bessere Einsicht auf gegen solches glückhafte Unterliegen? Nein, es ist denn doch wohl die menschlich-unmenschliche Empfindung, die, wie sie den Patrioten Kleist beseelt und diesen, genau genommen, geläufigen Begriffen von seinem Herzen mitteilt, auch mich ergreift, der ich zwar nicht Brandenburger, aber solchen Gefühlen als Mann, als begeisterungsfähiger, leidenschaftlicher Mensch überhaupt zugänglich, mehr: geneigt bin. Hat mich doch auch, außerhalb jeder dichterischen Verkörperung, schon als Knaben ein Epaminondas begeistert, haben mir doch selbst der »Eroberer« Alexander, Cäsar, wie er, ein »Feind des Vaterlandes« fast gleich Coriolanus, den Rubikon überschreitet, dieselben Gefühle zustimmungsfreudigen Mut- und Machtrausches eingeflößt.
Und als im Juli 1914 Österreich, wie ich es sah, sich gegen Serbien erhob – woran ich anfangs gar nicht hatte glauben wollen –, als Deutschland, wie ich es vernahm, sich an unsere Seite stellte, der Herausforderung »einer Welt von Feinden« zu begegnen – so empfand man's ja –, da ging ich, entzückt über ein einigendes Selbstbewußtsein, das sich opferfreudig aller Not und Gefahr gewachsen wußte, aus vollem Herzen mit, ließ mich von der gischtgekrönten Woge der Kriegsbegeisterung emportragen –, auf die Dauer der Kammhöhe. Denn Begeisterung ist eine Aufwallung, nicht ein anhaltender Gemütszustand. Ich bekenne mich unumwunden zu meinen »Ehernen Sonetten 1914«, zu den »Kriegsliedern aus Österreich«, wovon, wie mir so mancher dankbar schrieb, ein und das andere »einem Regiment gleichkam«. Aber schon in meine »Zeitgemäßen deutschen Betrachtungen« (1915) mischen sich andere Stimmen, und mitten im Krieg entstehen »Heimat der Seele« und »Das Buch Immergrün«, zwei Werke der Abkehr vom Weltgetümmel, der Einkehr in das Paradiesgärtlein des Herzens.
Sind das Widersprüche? Nein, es sind Gegensätze, und aus Gegensätzen besteht der ganze, der echte Mensch, diesen seinen Wahrheiten kann er nicht abtrünnig werden, wenn sie auch wechselnd in ihm umgehen, ihrem Gegeneinanderstreben dankt er die Wölbung, die seinen Gehalt zur Gestalt macht. Nicht Gedanken bestimmen sein Wesen, Gedanken, die nirgend Halt und Widerstand begegnen, sondern die wirklichen Zustände seines Gemütes. Welcher Gerechtigkeit als die über Sternen thronende Göttin verehrende, Herzlichkeit als das harte Leben versöhnende holde Ergriffensein behutsam pflegende, Vernunft als das ihn vor den anderen Geschöpfen auszeichnende Gut nach Gebühr schätzende Mensch wird nicht den Frieden auf Erden guten Willens wünschen, ersehnen, erhoffen? Aber bei aller Ehrfurcht vor den zwei Geboten, die das ganze Gesetz enthalten und erfüllen, der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten: sind diese Gebote nicht Ideale, das heißt höchste Ziele, die der Natur des Menschen nur durch die seinem Bestreben sich entgegenneigende Gnade erreichbar werden? Und andererseits: ist nicht Kampf, rücksichtsloser Kampf aller gegen alle das unerbittliche Gesetz der »unfühlenden Natur«? Gehört der Mensch nicht als ihresgleichen in diese Natur, der er sich seinerseits, sie überwindend, entgegenstellt? Was wir sollen, das sagt uns das Gewissen, unüberhörbar, dennoch immer wieder überhört. Was wir wollen, erhebt sich immer wieder triumphierend über alle Widerstände der Vernunft. Vor allem aber sind wir, was uns ausmacht: ein sonderbares Gemisch von Schwäche und Stärke, Verzagen und Selbstvertrauen, etwas, das sich durchzusetzen, zu erhalten bestrebt ist, rechtlos, aber anspruchsvoll, sinnlich und geistig, sterblich und dennoch seelenhaft, das heißt, nach Sinn und Ahnung irgendwie von Ewigkeit.
Wahrhaftigkeit ist der Mittelpunkt dieser unserer Verworrenheit, Wahrhaftigkeit, wie sie die Natur um uns als Wirklichkeit ausdrückt, wie sie die Besinnung in uns als unser Gleichgewicht feststellt. Ohne Wahrhaftigkeit ist unser dank der Vernunft mit Wissen begabtes Dasein unterhalb der Wahrheit des vernunftlosen Geschöpfes. Wahrhaftigkeit aber, wenn wir sie walten lassen, läßt uns gestehen: Was ich von mir weiß, ist nicht mehr, als daß ich bin, was ich bin. Was ich werden kann, ist selbstgestellte Aufgabe, sittliche Zielsetzung, Selbstbestimmung. Ewige Ideen, übernatürliche Wirklichkeit, sind mir, geheimnisvoll-sicher, unbeweisbar-gewiß, an- und eingeboren, ein Vermächtnis unerforschlicher Gesetzgebung an das geschaffene Ganze, meinem gereiften Denken zugänglich wie meinen erwachten Sinnen die sichtbare Welt. Und im Dunkel meines Selbstgefühls wacht, was ich Gewissen heiße, persönliche Weisung dessen, was recht ist, was nicht recht ist. Gemeinsame Voraussetzung, daß diese persönliche Weisung an den einzelnen in allen übereinstimme, die Ohren haben zu hören und sie nicht verstopfen, hat das zuwege gebracht, was als Sittlichkeit über aller Sitte steht. Göttliche Gebote sind uns aus Urvätertagen als ein Verzeichnis des Wichtigsten überliefert, was sich in diesen Weisungen zum Rechten innerhalb der Gesellschaft als Vorgang verkörpert. So hat sich das Menschengeschlecht, längst aus der näheren Führung eines verborgenen Gottes entlassen, selbst erzogen. Ich bin als einzelner hineingeboren in diese tausendjährige Entwicklung. Sie ist im Sinne der Natur in unablässigem Kampf vor sich gegangen. Er bleibt »der Vater der Dinge«. Nicht aber der Ideen, nach denen sich die Dinge richten.
Wir abendländischen Christen sind nach der Lehre Christi geraten. Sie ist uns, in der Darstellung der Kirche, das unverbrüchliche Gefüge, unserer vernunftgeleiteten geist-leiblichen Bestimmung. Aber etwas anders ist das Gebot, der Anruf des die Ordnung hütenden Gesetzes an die beflissen von allen Trieben sich reinigende, die gefügige Vernunft, etwas anderes ist das unvernünftige Leben.
»Hast du sie (die Ordre) von deinem Herzen nicht empfangen?« ruft der Prinz von Homburg in herzerquickender unbändiger Unvernunft des Kampfwillens dem vor dem Gebote zögernden Obristen Kottwitz zu. Und wir folgen dem Helden des Ungehorsams, gleich dem alten Kottwitz am Herzen, an der Ehre gepackt, mit allem unserm Besten mitten in den Haufen der Feinde. Ist das – so sträflich es ist – unrecht? Nein, weil es ist, was wir, bei Besinnung, trotz der Rüge, die sie uns erteilt und die durch den Heerführer im Kriegsrecht zum Urteil wird, als wahrhaft erkennen. Nur die Lüge ist verdammt, die Verleugnung der Wahrheit. Nicht aber, was, mag es Vergehen gegen das Gebot sein, sich aus dem Innersten zu sich selbst erfüllt. »Hier steh' ich, ich kann nicht anders.« Nur wer auch anders kann, muß nicht, darf also auch nicht. Und Gott hilft dem, der nicht anders kann, als er will. Hilft ihm selbst zürnend. Weil Gott die Güte ist, die Verzeihung.
Als Pascal im letzten heiligmäßigen Drittel seines mit dem Engel ringenden Lebens seiner Schwester Gilberte gegenüber die Ehe, zu der sie ihre Tochter bestimmt hatte, als etwas Abscheuliches verwarf, da glaubte er, der Wahrhaftige, der, trotz seiner Selbstabtötung im Grund ein ewig Aufbegehrender, nicht den Anspruch auf die Heiligkeit erworben hat gleich dem sanft und stark durch Welt und Weltlichkeit hinwandelnden Franz von Sales, daß er auf dem rechten Wege wäre. Er war es mitnichten, obwohl er dem Gebote nachzuleben heiligen Eifer anwandte. Denn er verging sich durch solchen Anstoß an dem, was sogar die Kirche zum Sakrament erhoben hat, gegen die Natur, er war unmenschlich. Wenn Tolstoi in der »Kreuzersonate« die Eheschließung als das hinstellt, wozu sie den meisten mißrät, eine lässige, eine von Zufall, von Laune, vom Kitzel bestimmte, abscheuliche Handlung, so stimmen wir ihm zwar, in die Bahn seiner harten Sittlichkeit unter der Gewalt seiner entrüsteten Beredsamkeit hineingezwungen, mit der richterischen Vernunft bei, aber es meldet sich erstarkend in uns ein Einwand gegen solche Verallgemeinerung, der sich als der natürliche, gefühlsmäßige Widerstand gegen ein doktrinäres Absprechen, eine fanatische Geistigkeit, eine nicht mit dem Leben rechnende, am Buchstaben, der tötet, erstarrte Feinseligkeit feststellt. Auch Tolstoi ist wie Pascal wahrhaft, auch er ist, wenn nicht gerechtfertigt, doch entschuldigt. Es ist ihm Ernst mit den heftigen Folgerungen seiner empörten Erfahrung, aber er hat so wenig recht wie Homburg, dem wir freudig zustimmen, wie Pascal, von dessen asketischem Übereifer wir uns mitleidig abwenden.
Was heißt das, was ergibt sich aus dieser scheinbar verwirrenden Zusammenstellung wahrhaftiger und für ihre Träger bezeichnender Äußerungen und Handlungen, die wir mit unbedingter Unterscheidung zwar als unrichtig, aber einerseits als recht, anderseits als unrecht bestimmen? Daß wir, um mit Pascal zu sprechen, nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem »Herzen« »erkennen«, daß wir, geist-leibliche oder vielmehr – denn dieser überkommene Dualismus genügt nicht den Tatsachen – geist-leib-seelische Wesen, uns je nach dem Gegenstande der Erkenntnis verschiedener, ihm angemessener Mittel bedienen, der Wahrheit, die nur im Übernatürlichen ein Absolutum, sonst aber eine Sache der Überzeugung, das ist der Wahrhaftigkeit unseres Empfindens, bedeutet, die Ehre zu geben. Wenn sich die heilige Apollonia ins Feuer stürzt, um ihre Keuschheit zu retten, so ist dieses Vergehen, die Todsünde des Selbstmordes – und nicht einen Augenblick kann gerade religiös=sittliches Empfinden darüber im Zweifel sein –, eine sittliche Handlung. Wenn sich Kleist, getreu seinem wunderbaren Idealismus, in einem Augenblick »unbeschreiblicher Heiterkeit« zum Selbstmord entschließt und die an einem unheilbaren Leiden kränkelnde »Seelengefährtin« auf diese letzte seiner umirrenden Reisen mitnimmt, so ist dieses doppelte Verbrechen, trotz seiner zweifellosen Unsittlichkeit, durch eine fern von jeder Verzweiflung fast ans Erhabene rührende innige Sicherheit, wenn nicht gesühnt, doch geadelt, und das Ärgernis, als das die Untat fernstehenden Zeitgenossen gilt, scheint uns, die wir den unglückseligen Begnadeten bewundernd auch in seiner Ungeheuerlichkeit lieben, eine Vordergrundansicht philiströser Befangenheit. Wenn Pascal das, was ihm an dem Probabilismus der kasuistischen Moraltheologie als feige Nachgiebigkeit verwerflich, abscheulich dünkt, in einer Weise angreift und bloßstellt, daß darüber – wie aus dem Beifall noch Voltaires hervorgeht – die christliche Sittenlehre überhaupt ins Wanken gerät und daraus der Kirche, nicht nur den Jesuiten, schwerster Schaden erwächst, so verurteilen wir ohne Bedenken ein durch die Leidenschaftlichkeit sittlichen Antriebs zwar als Überzeugung festgestelltes, aber durch seine Maßlosigkeit als aufrührerisch gebrandmarktes Unterfangen des zur Unterwerfung Verpflichteten. Und der unglückliche La Mennais, der, päpstlicher als der Papst, am Widerstand gegen seine Intransigenz seinen geistigen Hochmut zum Trotz der Abtrünnigkeit versteift, rührt uns zwar in seiner bitteren Verlassenheit, die ihn an der Grenze höchster Ehrgeizbefriedigung überfällt, aber er fordert unsern Tadel weitaus mehr heraus als ein Maurras, der, aus folgerichtiger Einsicht in das Zweckdienliche, sich von der über ihre erreichbaren Ziele besser belehrten Kirche in seine Schranken gewiesen sieht und sich am unerwiderten Einspruch genügen läßt. Wir haben ein Kriterium, das uns wie eine Bussole durch alle Wirrnisse der »irrationalen« Welt geleitet: es heißt unser Gewissen, und es bestimmt den Ausschlag des Gebotes, wie es die Ansprüche der Vernunft mit Sinn erfüllt.