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Bemerkungen zur ästhetischen Wohnungsnot

I. Der Missstand ein sozialethisches Symptom

Der äussere Charakter unsrer Städte hat sich im Verlauf einer verhältnismässig kurzen Frist wesentlich geändert. Um es gleich zu sagen: nicht zum Bessern, im Gegenteil: vom Guten – apodiktisch gesprochen – ins Schlechte. Früher hatte die Strasse eine ehrliche Physiognomie, heute trägt sie eine widerlich gemeine Maske. Früher unterschied man in einer der schön gestuften Gesellschaftsordnung entsprechenden Reinlichkeit die Paläste von den Kaufhäusern der Patrizier und den einfachen Bürgerhäusern. Auch die aus niedrigen düstern Gebäuden sich zusammensetzenden engen Gassen hatten ein sowohl zum Gesamtbilde malerisch stimmendes wie im einzelnen schlicht überzeugendes warmes Gepräge. Ein lebendiger Rhythmus durchklang die Stadt. Wo immer man sie betrachtete, ob von ihren behaglichen Plätzen, vom Stadtturm aus, von einer Bastei oder aus der Ferne: sie stand als ein entwicklungsfähiger, wurzelnder Organismus, als ein Lebendiges da. Heut ist der Anblick einer Stadt schönheitssinnigen Augen ein Greuel. Kein Jota von dem Wort: ein Greuel!

Einsame Reste an Barbaren ausgelieferten Erbtums fristen ein zitterndes Dasein unter dem Gedränge der schändlichen Ankömmlinge. Der Aspekt der Strassen aber ist der: die Pflastersteige entlang Kaufladen, einer den andern überschreiend mit der zur Schau gestellten Warenmenge und der Hottentottenzier des Rahmens; dazwischen mächtige Portale, eines brutaler als das andre; minder »kostbare« darunter verstreut; fast alle, wie die Stirnen der anstossenden Laden, unter verwirrenden Namenstafeln und Anzeigen auf Blech, Holz, Marmor, Papier verschwindend; darüber himmelanragend die getürmten Stockwerke, auch sie zwischen den Fensteröffnungen mit hässlich angebrachten Firmenschildern und Ankündigungen bis zur Unkenntlichkeit beladen. Endlich zuhöchst die triumphierende »Kunst«: posaunenblasende Göttinnen, Rossebändiger, Masken, Pyramiden, Schnecken, Vasen, Urnen, Kränze ...

In diesen öden Prunkkolossen, diesen aus schlechtem Material errichteten Schandsäulen des kulturmörderischen Parvenutums ist der moderne Stadtmensch zu wohnen gezwungen. Denn diese also wüst ausstaffierten, würde- und schamlosen »Wertobjekte« bergen in ihren Molochbäuchen die Schande des neunzehnten Jahrhunderts (das zwanzigste rüstet bereits den Krieg): die Mietwohnung. Vgl. meine Schrift: »Die Mietwohnung. Eine Kulturfrage.« 1906.

Die Wohnungssuche der »Partei« ist ein Kapitel Seelennot, wie sich's kein Weltschmerz geträumt hat. Man vergegenwärtige sich nur die Situation: ein Haushalt, bestehend aus Mann und Frau, Kindern und Dienstboten, will auf eine Frist von Jahren beherbergt sein. Er birgt in seinen vielen Köpfen Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsucht. Ihm tritt der zur starrenden Phalanx geschlossene Feind entgegen: die Armee der Zinskasernen! Es heisst wohl oder übel kompromittieren. Gegen die Masse ist nichts auszurichten. Der Markt befiehlt herrisch. Ist er doch angeblich durch die Nachfrage gestaltet. Auch eine klägliche Erscheinung, diese in Hunderttausenden sich verkörpernde unbewusste Nachfrage. Denn tatsächlich entspricht ja mehr oder weniger das Angebot der Zeit an Wohnungsmöglichkeiten einem Begehren, zumindest einem Sichgefallenlassen. Die Mietwohnungsmisere ist leider mehr als ein ökonomischer, sie ist ein Kulturmissstand. Sie zeugt von dem entarteten Geschlecht. In unserer den materiellen Augenblicksgenüssen sich mit Leib und Seele überliefernden Zeit des sogenannten Fortschritts, dieser Zeit der Kaffeehaus- und Tingeltangel-»Erholung« des gebildeten Mittelstandes, der Zeit der Zeitungsklatsch-Wissenschaft und des politischen Kuhhandels ist die auf die ordinärste Hui-Pfui-Eitelkeit spekulierende, von ästhetischen Banausen und skrupellosen Bauunternehmern gehandelte Wohnungsfrage nur ein Symptom unter tausend gleichwertigen, nur eine neben den andern prallen Eiterbeulen einer ganz verlogenen, selbstgefällig faulenden sozialen Ethik der halben, der Schein- und Untaten.

II. Die Situation

Das Schema der grossstädtischen Mietwohnung ist starr. Sein völliger Mangel an Elastizität unterbindet jeden Versuch des formenden Eigenwillens. Nur Zerbrechen würde Wandel schaffen. Die ganze bestehende Anlage müsste fallen. Von Grund aus wäre neu – nur mit belehrtem Bewusstsein, klare Ziele vor Augen – zu bauen.

Das Schema aber ist dieses: Salon, Speisezimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Kammer, Vorzimmer, Klosett.

Ein »höherer« Typus: grosser und kleiner Salon, Speise-, Schlaf-, Kinderzimmer usw.

»Herrschaftlicher«: an dasselbe Klischee gedankenlos noch 1-3 Räume angefügt, zwei Klosetts, etwa zwei Dienerkammern, Badezimmer usw. (Es ist bezeichnend, dass auf dem Wohnungsmarkt erst »Herrschaften«, also ein Haushalt, der sich eine Jahreswohnung um einen Zins zwischen 3-6000 Kronen = 2550-5100 Mark erlauben kann, mit der Befriedigung des Reinlichkeitsbedürfnisses rechnen dürfen!)

Die Höhe des Stockwerkes bedingt eine Preisminderung um ein Viertel, ein Drittel, die Hälfte.

Nebenräume gibt es nicht. Der Partei werden eine Keller-, eine Bodenabteilung angewiesen; die Speisekammer ist eine dem Klosett verwandte Mausefalle (auch in seiner Nähe angebracht).

Die wichtigste Scheidung ist die in Vorder- und Hinterzimmer (natürlich ohne Rücksicht auf die Weltgegend): auf die Gasse hinaus liegen die »Repräsentationsräume«, hinten die Schlafzimmer.

Alle Zimmer sind gleich hoch. Jedes hat eine seiner Länge entsprechende, sonst ganz ohne Plan bestimmte Reihe von Fenstern. Die Eckzimmer sind natürlich wahre Glaskäfige; dagegen ist die an das Nachbarhaus stossende fensterlose Schlusswand kein Grund für den Bauherrn, die Einteilung der Wohnräume zu modifizieren.

Für die Türen scheint das Prinzip zu gelten: jede Wand erhält eine, die ausgenommen, aus der man durch eine Öffnung ins Freie träte oder fiele (doch gibt es ein Auskunftsmittel, auch die vierte Wand zu durchbrechen: man bringt einen Balkon an).

Ein Ofenlieferant hat seinerzeit so und so viele Ofen aufgestellt: der verzweifelnde Blick des Besichtigers stösst sich in jedem Gemach an die, ach, so wohlbekannte gemeine Fabrikstype (grün, blau, braun, rosa, ocker; Stil: Mixtum-Kompositum aus den Exkrementen einer mit unverdauter »Historie« überfütterten »Dessin«speicherphantasie).

Das Vorzimmer der obligate finstre Gang; Gasröhrengehäuse, Elektrizitätszähler; der »Schmuck« die berüchtigten »Supraporten«: holzähnlich gestrichener Gipsbildnerunfug.

In allen Räumen knarrende (unterhöhlte) Parketten. Schmale Fensterbänke, da und dort etwa, hoch an der Wand, ein Ventilator (!) mit herabbaumelnder Zugkette.

An sonstigen neuzeitlichen »Errungenschaften« immerhin doch die unentbehrliche Wasserleitung, der Aufzug; in den »mit allem Komfort ausgestatteten« (unerschwinglich teuren) Jüngstbauten (mit »sezessionistischer« Stümperei an allen möglichen und unmöglichen Flächen) Vakuumkleaner und Luftheizung.

Entscheide dich, Mieter! Worauf es ankommt? Auf die beanspruchte Zimmerzahl. Wir haben alle Kategorien, wie du weisst. Der Firlefanz bleibt derselbe. Aber der arme Mieter, der zufällig ein Mensch von (unwahrscheinlichem) Geschmack ist, steht und kann sich nicht entschliessen. Die Zumutung ist grass. Er wandert von Wohnung zu Wohnung, von Zimmer zu Zimmer. Immer ein nüchterner Korridor, zumeist stockfinster, immer die irgendwie »renaissance«-gekrönte Eingangstüre. Das dunkle Vorzimmer, die vielen Türen. Und die Zimmer: eins wie das andre, nur verschieden gross. Alle gleich blödsinnig hoch (Palastreminiszenz aus dem Stile-Atlas). Entsprechend hoch auch die Fenster. (Wie wundervoll war das breite, das gegliederte, das niedrige Fenster der guten alten Zeit!)

Der Mieter will die Schlafzimmer (er hat zwei Kinder) nach der Lichtseite. Unmöglich! Benützt er (in einer Fünfzimmerwohnung) zwei der Frontgemächer dazu, bleibt ihm eines, das, da hinten nur zwei einfenstrige schmale Räume vorhanden sind, Speisezimmer werden müsste, während abgetrennt davon das Besuchs- oder Arbeitszimmer, das Zimmer der Frau einzurichten wären. Unmöglich! Und so verlässt er kopfschüttelnd, mutlos schon eine »schöne Wohnung« nach der andern – über die kandelabergeschmückten, mit falschen Marmorwänden protzenden Stiegen, an Glasmalereifenstern vorüber aus Turmeshöhe zur sonneflimmernden Strasse steigend.

III. Der Kompromiss

Was tut ein Mensch von Geschmack, der keine ihm zusagende Wohnung ermitteln kann? Angenommen zunächst, er hätte die an Räumen (Anzahl, Verbindung) halbwegs entsprechende gefunden: Schlaf-, Kinder-, Speise-, Arbeits- (Besuchs)-Zimmer. (Mässige Ansprüche eines bürgerlichen Haushalts vorausgesetzt.)

Was kann er nicht, was kann er reformieren? Er kann die Fenster, die Türen nicht ändern, muss die Ofen stehen lassen. Er kann die leidige Höhe der zu Wohnstätten umzuschaffenden Räume nicht verringern.

Er kann jedoch: die Supraporten entfernen, die Milchglasscheiben mit ornamentalem Klimbim durch glatte ersetzen, Türen und Fenster weiss streichen und lackieren, eventuell sogar sämtliche Klinken erneuern lassen (denn die glatte messingne Klinke ist ein nicht zu unterschätzendes ästhetisches Moment in dem auf das Warme, das Behagliche, das Liebliche zu stimmenden Gesamtbilde der Bürgerwohnung; es ist einer der Krebsschäden dieser Bürgerwohnung, dass sie snobistisch auf das Dekorative »an sich« ausgeht; früher war's das Makartbukett, jetzt ist's der Vitrinenschwindel).

Den Aspekt des Raumes dominiert die Tapete. Man findet sie leider meist vor. Da wird man sich eben einer hier sehr falsch angebrachten Sparsamkeit zu begeben haben. Es ist nicht nur lax, es ist geradezu ungesund, sich mit Missfälligem, nur weil es vorhanden ist, abzufinden. Die Farbe der vier Wände – und das Wesen der Tapete ist ja die Farbe – hat den grössten Einfluss auf das Gemütsleben der Insassen. Wie kann ein Mensch auf den Namen eines Kultivierten Anspruch erheben, der es in einer etwa von goldenen Tulpen auf himmelblauem Grunde gleissenden Umgebung aushält! (Wohl gemerkt: es ist die Rede von einer zum Geräte, zur Kleidung, zum Leben der Insassen nicht stimmenden Wandbekleidung. Anderseits ist es gewiss möglich, dass unsre goldenen Tulpen auf himmelblauem Grunde mit der Herrin des koketten Boudoirs sehr wohl harmonieren.) Der bürgerlichen Wohnung stehen einfache volle Farbentöne – grün, grau, blaugrau, gelbgrün, braungelb –, etwa schlicht gestreifte Muster am besten an. Und zu den »schmucklosen«, aber umso diskreter schmückenden Wänden passen leichte helle Fensterbehänge. Nicht haarige, staubsammelnde, sich zerknüllende Jute, sondern helle Mullgardinen sollen die Lichtöffnung, verschliessbar, rahmen. Es muss bei Fenstervorhängen immer die Frage aufgeworfen werden: Was hat das Fenster zu beleuchten? Die meisten Leute schlagen blindlings ihre Haken ein und hängen die Vorhangstange daran auf. Man kann sich ein Zimmer auch ohne Fenstervorhang sehr wohnlich denken. Jedenfalls haben sie im Kinderzimmer ihre Herrschaftsansprüche erst zu legitimieren. Vorhänge sollen im Bedarfsfalle eine Lichtöffnung verdunkeln, daher muss man sie schliessen können. Sie sind freilich auch bloss als schmückender Rahmen (Shawls) anwendbar. Schmücken erfordert entschiedenes dekoratives Talent. (Es ist bezeichnend, dass fast alles »Schmückende« – Dekor – im bürgerlichen Mittelstandshaushalt an die Glasperlen der Insulaner gemahnt. Und wären's nur noch unschuldige Glasperlen!)

Fenster, Türen, Tapete (ein einfacher Anstrich – nebenbei gesagt, durchaus nicht immer wohlfeiler als eine normale Tapete – ist oft, zumal in den Schlafräumen vorzuziehen), das sind die Träger der Raumstimmung. Dem Fussboden, wenn er nicht als blanker Parkettenspiegel (der keineswegs überall hinpasst!) sich selbst genügt, hilft man durch Teppiche nach. Der Sinn für schöne Teppiche ist noch sehr rückständig. Der Teppich ist (unerreichbar bleibt das orientalische Vorbild) einem gedämpften Orchester zu vergleichen, das sich, begleitend, völlig unterordnet. Das Wesen des echten Teppichs ist Akkordweben ohne Anfang und Ende. Distinkte vom Fond abgehobene »Muster« sind bloss graduell vom figuralen Teppich (das aufwartende Hündchen und sonstiges Simplizissimus-reifes »Deutschtum«) verschieden: sie erzwingen und ermüden die Aufmerksamkeit, während die Teppiche wie die Silbergeräte, die Blumen in einem geschmackvoll hergerichteten Raum sie durch Klänge einschläfern.


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