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Hans und Ernst waren Freunde. Hansens Vater war Landgerichtsrat, Ernsts Vater Kutscher. Aber Ernst hatte dem kleinen, blonden Hansel beim Freundschaftschließen gesagt, stolz wäre er nicht, wenn sein Vater auch den ganzen Tag führe, er wolle gern mit Hansel Verkehren und recht oft aus seiner Hinterhauswohnung herüberkommen in den ersten Stock des Vorderhauses, wo Landgerichtsrat Bergers wohnten. Da war Hansel sehr froh, denn der dicke, mutige Ernst, der schon oft bei seinem Vater auf dem Kutschbock gesessen und die Zügel des großen Braunen ein bißchen in der Hand gehabt hatte, gefiel ihm wie noch niemals ein anderer Junge.
Hansel wünschte sich nun von den Eltern und alten Tanten und Paten immer nur Pferde, weil Ernst sagte, das sei überhaupt das einzige vernünftige Spielzeug, und so hatte er bald in seiner Kinderstube einen großen Pferdestall mit Pferden aller Größen, vom stolzen Schaukelpferd, auf dem Ernst sich immer in wildem Ritte wiegte, bis zum feinen kleinen, mit echtem Fell bezogenen Füchschen.
Da spielten sie herrlich zusammen.
Sie waren beide noch ganz kleine Leute, die spielen durften, solange sie wollten, und erst als sie schon ein Jahr zusammen verkehrt und gespielt hatten, kam die Zeit, wo sie sich überlegten, wer die Pferde eigentlich striegeln und putzen sollte, wenn sie beide in die Schule müßten. Denn das stand nahe bevor.
Die Sorge war umsonst. Sie hatten neben den Schulstunden noch eine ganze Menge Zeit für Rosse und Rößlein, denn in Hansels Schule gab's jeden Tag nur drei Stunden, in Ernsts Schule gar nur zwei.
Überhaupt war in dessen Schule alles viel feiner, wie er sich rühmte. Da waren achtundachtzig Jungen in einer Klasse, in Hansels nur zwölf. Aber Hansel gönnte dem Freund die siebenundachtzig Klassengefährten und beneidete ihn in seinem kleinen, guten Herzen weiter nicht. Er gönnte ihm, daß er jeden Tag eine Stunde früher nach Hause kam, gönnte ihm, daß er mit seiner ganzen Klasse im Sommer vom Herrn Lehrer ins große Schwimmbad geführt wurde, gönnte ihm überhaupt alles Gute, denn er hatte ihn sehr lieb und bewunderte ihn sehr.
Nur einmal hat er ihn im stillen ein bißchen beneidet. Das war im Sommer, als die Bäume voll Kirschen hingen und die Kornfelder ganz bunt von Klatschrosen und Kornblumen waren, als die Grillen zirpten in den gemähten Wiesen, wo man Purzelbäume schlagen und wettlaufen konnte.
Daß es so schön war in der Welt, erfuhr Hansel nämlich nur durch Ernst. Der arme Hansel war krank und lag im stockdunklen Zimmer, schon wochenlang. Er hatte die Masern gehabt, und danach war eine sehr böse, lange Augenentzündung gekommen – mit vielen Schmerzen. Ganz still mußte er liegen und durfte nicht ins Licht sehen. Zum Glück durfte ihn wenigstens Freund Ernst besuchen, seit die Maserkrankheit – die Ernst übrigens auch schon gehabt hatte – ganz vorüber war.
Langweilig wär's ja, sagte Ernst, denn in dem verdunkelten Zimmer war natürlich an Spielen nicht zu denken. Aber als guter Freund kam er doch, und es war gut, daß man im dunkelsten Dunkel doch seinen Mund findet, denn Hansels Mutter half mit gutem Kirschkuchen und schönen Butterbroten über die Langeweile weg. Und schließlich konnte man im Dunkeln auch sehr hübsch erzählen.
Das tat Ernst um so reichlicher, je schöner ihm der vorgesetzte Kirschkuchen schmeckte.
Er hatte furchtbar viel zu erzählen, von allen Jungens und aus der biblischen und aus der Naturgeschichtsstunde und vor allem von den Schulspaziergängen. Zwei hatten sie schon gemacht. So was Schönes gab's in Hansels Schule nicht. In langem Zuge zogen die achtundachtzig, einer mit der bunten Fahne voran, ein Lehrer und ein Fräulein Lehrerin mit. Durch die Felder ging's hinaus auf die abgemähten Wiesen. In einem Milchgarten bekam jeder Junge ein großes Glas Milch zu trinken, und Waschkörbe voll Weißbrötchen wurden dazu verteilt. Sie hatten einen Hasen laufen sehen, einen ganz kleinen, und ein Rebhuhn mit Jungen, und große Sträuße brachten sie mit nach Hause; und in dem Milchgarten gab's auch eine mächtige Schaukel, wie ein Schiff. Sechs Jungen gingen auf einmal hinein.
Wenn man so etwas erlebt, ist's schön. Aber wenn man so etwas erzählen hört und liegt dabei im Bett, im dunklen Zimmer, dann stellt man sich's noch viel schöner vor, und die Sehnsucht nach der Freiheit steigt dann in einem auf und will in Tränen überfließen.
Das durfte aber ja nicht sein.
Streng verboten war es dem Hansel seiner schlimmen Augen wegen zu weinen. So lag er ganz still und schluckte nur manchmal. Und immer dachte er an die Wiesen und die Felder und die Schaukel, und als Ernst eines Tages sagte: »Heute machen wir wieder eine Partie!« da kam sogar etwas wie ein ganz klein bißchen Neid in seine Seele.
Es war solch ein langer, langer Nachmittag! Heiß war's im Krankenzimmer. Mutter und Marie, das Stubenmädchen, saßen abwechselnd bei dem kleinen Kranken und erzählten ihm Geschichten. Aber manchmal hörte Hansel gar nicht so recht darauf, was sie sagten. Er dachte: »Könnte ich nur mal einen einzigen Schwung auf und ab mitschaukeln! Ja, könnte ich wenigstens die Sträuße sehen, die sie sich pflücken!«
Ernst hatte ihm versprochen, einen mitzubringen. »Der nützt mir ja doch nichts, ich sehe ihn ja doch kaum,« hatte Hans ganz betrübt gesagt.
»Schadet nichts, du riechst ihn doch!« war Ernsts Antwort gewesen. Aber Hansel hatte traurig gesagt: »Wenn ich ihn doch sehen könnte! Aus Riechen mach' ich mir nicht so sehr viel. Darauf freu' ich mich fast gar nicht.«
Nun freute er sich aber doch. Der lange, lange Nachmittag ging nämlich zu Ende, und Ernst mußte ja bald mit dem Strauße kommen. Eigentlich freute er sich nur auf Ernst. Immer ungeduldiger ward er. Ob er gar nicht kommt? Ob er's etwa ganz vergessen hat?
Nein, hoppla! da tapsten draußen schon Freund Ernsts kleine, derbe Lederschuhe, und seine laute, derbe Stimme klang noch lauter als gewöhnlich: »Ich will zu Hans!«
Darauf hörte er Marie rufen: »Junge, was hast du denn da mitgebracht?«
»Das ist für Hans!« klang es in Ernsts kurzer, nicht sehr höflicher Art zurück, und in dem Augenblick tapsten die quietschenden Schuhe schon nahe an Hansels Bett, und vor Hansels Augen schimmerte und glühte plötzlich etwas mitten im Dunkeln, ganz fein und zart, golden und grüngolden, winzig kleine Lichtpünktchen, durcheinander tanzend und schwirrend. »Ach, die Sternchen!« rief Hans beglückt. Aber Ernst belehrte ihn sofort sehr gründlich: »Das sind keine Sternchen, das sind Leuchtkäfer, Glühwürmer. Die hab' ich dir mitgebracht, damit du auch was siehst! Da!«
Eine große Flasche war's, die er ihm in die Hand drückte, mit einem durchlöcherten Papier verbunden. Seine kleine Brummstimme zitterte ordentlich vor heimlichem Glück und vor Wichtigkeit. Er erzählte nun hastig, daß er erst einen großen, bunten Strauß für seinen Freund gepflückt hatte, mächtig groß, aber die Blumen hätten nicht gerochen, das habe ihn geärgert. Dann habe der Lehrer die Jungens auf einmal alle zusammengerufen, und jeder habe in einen großen, tiefen Topf hineinsehen dürfen. In dem seien zwischen Gras und Blumen glänzende Pünktchen herumgeschwirrt. Das wären Leuchtkäfer, unterm Jasminbusch hätte er sie gefunden. Am Tage sähe die niemand, aber abends in der Dunkelheit finge das Laternchen, das sie alle bei sich trügen, zu glühen an, und dann säh's herrlich aus, wie sie so herumschwirrten. Und in dem Topfe, in dem es dunkel war, leuchteten sie auch. Der Herr Lehrer hatte eins herausgenommen und den Kindern genau gezeigt. Etwas Besonderes war so nicht daran zu sehen.
»Scharf zugucken mußt' ich, wie ich die dann im Jasminbusch für dich gesucht habe,« erklärte Ernst. »Geschaukelt hab' ich gar nicht. Erst mußt' ich die Wirtin gräßlich lange betteln, bis sie mir die Flasche gab. Und dann habe ich mich gleich längs unter den Busch gelegt und nicht geruht, bis ich die zwölfe beisammen hatte. Dem Herrn Lehrer sagt' ich's, wozu, da hat er mir's erlaubt und mir auch noch ein bißchen gezeigt, wo sie am liebsten sitzen. Ich dachte, der wird sich freuen, der Hans. Den Strauß hab' ich Muttern gegeben. Freust du dich denn auch recht?«
Unbeschreiblich, über alle Maßen hat sich der Hansel gefreut. Er rief gleich mit lauter, glückseliger Stimme die Mutter herbei und Marie. »Nein, du guter Ernst! Du Guter, Guter!« rief er immer von neuem. »So was Schönes! Mutter, sieh nur, sieh nur! Marie, Sie dürfen sie sich auch ganz genau ansehen! Haben Sie schon mal Leuchtkäfer gesehen?«
Marie sagte: »Nein, im Leben nicht!« Ganz erstaunt und ganz entzückt war sie. Die Mutter fand Ernsts Idee so lieb und gut, daß sie ihm den ganzen Kirschkuchen, der vom Nachmittag noch übrig war, gab. Ein blankes Geldstück für seine Sparkasse gab sie ihm auch. Und sie streichelte seinen kurzgeschorenen, schwarzhaarigen Kopf, der sich weich anfühlte wie das Fellchen von einem Maulwurf, und sagte, er solle nur immer ihrem Hansel ein so guter Freund bleiben.
*
Die Glühwürmchen haben dem kleinen Kranken über manche dunkle Stunde fortgeholfen. Mehrere Wochen mußte er noch liegen. Nach und nach wurde sein dunkles Gefängnis erhellt. Die Heilung ging gut vor sich. Als die Sache überstanden war, da hatten die Eltern wenigstens die Gewißheit: Unseres Sohnes Augenlicht ist völlig gerettet. Hell und klar wie früher blitzten die lustigen, braunen Augen. Und was wenige Kinder wissen, das wußte Hans nun ganz genau: welch ein wunderbares, herrliches Geschenk Gottes die Sehkraft der Augen ist, was der entbehrt, der sie nicht hat. Die ganze Welt kam ihm noch einmal so schön vor, der Himmel mit seinen Wolken, die grünen Gärten und Wälder, Blumen und Früchte, Vaters und Mutters liebe Gesichter. Daß der halbe Sommer vorüber war, beklagte er nicht. Nun waren die Tage um so schöner und klarer. Pflaumen und Äpfel hingen an den Bäumen. Fast täglich wurden Ausflüge gemacht. Ernst hatte einen blauen Matrosenanzug von Hans geschenkt bekommen und durfte häufig mit. Eine lustige Zeit war's.
Nur dadurch wurde sie für Hans getrübt, daß Ernst eines Tages sehr stolz erzählte: »Wir ziehen aus!« Weit, weit weg, wo Hans überhaupt noch nie hingekommen sei, wollten sie ziehen. Königsweg hieße die Straße. Sein Vater werde für einen andern Fuhrherrn fahren, mit zwei Pferden. Und er käme in eine Schule, da seien noch mehr Jungens als in der jetzigen.
Hans kränkte es tief, daß er das alles so lustig erzählte und über die Veränderung gar kein bißchen traurig war. Das sagte er ihm auch. Aber Ernst meinte vergnügt: »Ich kann dich ja mal besuchen. Ich finde den Weg, du fändest ihn freilich nicht!«
*
Er schien ihn aber leider auch nicht zu finden. Hans wartete nach dem großen Abschied, bei dem er ihm vor lauter Abschiedsschmerz zwei kranke Pferde, ein dreibeiniges und ein zweibeiniges ohne Schwanz, geschenkt hatte, Tag für Tag, Woche für Woche auf Ernsts Kommen, aber immer vergeblich. Er schrieb sogar zwei Ansichtskarten an seinen ehemaligen Freund, leider nur mit Ernst Schulze, Königsweg, adressiert, da er vergessen hatte, nach der Hausnummer zu fragen. Der Königsweg war aber sehr lang. Und jedenfalls kamen die Karten beide nicht an; denn keine Antwort kam, und kein Ernst erschien. Hansels Vater versprach, sich bei Gelegenheit einmal auf der Polizei zu erkundigen. Da er aber sehr viel zu tun hatte, fand er nicht gleich Zeit, und Hansel, den er gebeten hatte, ihn zu erinnern, vergaß dies leider. Denn nach und nach vergaß er nämlich den ganzen Ernst. Mutters Bruder, der Hauptmann war, wurde nach der Stadt versetzt. Der hatte sechs Jungen in allen Größen. Und Onkel und Tante Hauptmann mieteten eine große Wohnung im Nebenhaus. Da hatte Hans auf einmal so viele Freunde, wie er sich nur wünschen konnte. Es wurde eine sehr schöne, fidele Zeit, so schön, daß Hans sich mehr und mehr über Ernsts Treulosigkeit tröstete. Lange, lange nicht mehr solch scharfen Stich gab es ihm im Herzen, wenn er an ihn dachte.
*
Aber lieb hatte er ihn doch noch, das merkte er eines Tages.
Marie hatte eine Besorgung in einem weit entfernten Stadtviertel zu machen, und da es ein schöner, stiller Winternachmittag war, durfte er mit. Sie fuhren lange mit der Pferdebahn und gingen dann durch viele ihm ganz unbekannte Straßen, sehr schmale, stille, kleine. In einer der allerengsten stand ein blasser, magerer Junge in einem dünnen, zerrissenen Röckchen mit einem großen, dicken Schal um den Hals vor einem Bäckerladen und sah unverwandt zu der großen Zuckerbrezel auf, die an einem roten Bande im Schaufenster hing. Unwillkürlich interessierte sich Hans nun auch für diese große Brezel und stellte sich neben dem andern Zuschauer auf. Dabei sah er diesem ins Gesicht.
Plötzlich wurde er dunkelrot, und der andere mit dem blassen Gesicht bekam auf einmal auch rote Backen.
»Hans!« schrie er.
Und »Ernst!« rief Hans, alles Bösesein vergessend. »Ich dachte, du wärst's doch nicht, wie ich doch schon sah, daß du's warst!« setzte er hinzu und sah den Kameraden, der sich so sehr verändert hatte, mitleidig und verlegen von oben bis unten an.
»Bist du denn krank?« fragte Marie, die nun auch hinzugekommen war, »So blaß! Und so dünn angezogen! Junge, wo ist denn deine Mutter? Leidet die denn das? Was ist denn das?«
Ernst gab kurz und bündig Auskunft: »Meine Mutter ist schon lange auf dem Kirchhof!«
»Tot?« schrie Marie erschrocken.
»Ja, tot!« sagte er traurig, aber ziemlich ruhig, als sei diese Sache nun einmal unabänderlich. »Unsere neue Wohnung liegt im Keller. Da hat sie sich erkältet. Zum Begräbnis hatte ich frei. Aber Mutter, die war gut! Wenn sie nur wiederkäm'! Jetzt friert's einen immer so –«
Marie sagte mit einem tiefen Seufzer: »Du armer Kerl!« Was sein Vater nun mache, wer für ihn koche, wer sich um ihn kümmere, fragte sie.
Ernst streckte die rotgefrorenen Hände in die Taschen und dachte erst ein Weilchen nach. Vater käme überhaupt selten nach Hause, sagte er dann langsam. Der äße im Kutscherkeller irgendwo. Für ihn bezahle er bei den Nachbarsleuten für Essen, aber viel kriege er da nicht. Mutter habe mit Waschen Geld verdient, da habe es immer so gute Sachen gegeben: Brot und Kaffee und Käse und weiße Bohnen und Biersuppe manchmal zu Mittag.
Ein Schlucken und Schluchzen befiel ihn. Wenn Hans sich getraut hätte, wäre er ihm um den Hals gefallen, so leid tat er ihm in diesem Augenblick.
»Mein armer Ernst!« sagte er nur. Und statt der Umarmung fühlte er mit der kleinen Hand im Fausthandschuh rasch in die Tasche, wo sein mit Nickeln gefülltes Geldbeutelchen steckte, und war im Fluge im Bäckerladen drin.
Die Brezel, die große mit dem roten Band im Schaufenster, wollte er für Ernst kaufen in großem Mitleid und großer Liebe. Die wäre unverkäuflich, die sei aus Pappe, wurde ihm erklärt. Aber frische Semmeln gab's und kleine Brezeln und Streuselkuchen. Davon kaufte er ein großes Paket.
Das Geschenk war nach Ernsts Geschmack. »Du brauchst nicht alles gleich aufzuessen,« sagte Hans, ihm zusehend. Aber da war Ernst schon beim vorletzten Stück Kuchen, und dann meinte er, das eine letzte aufzuheben, lohne sich nicht. Bis zum letzten Krümchen aß er auch dieses. Und dann sagte er, nun sei's ihm gleich viel wärmer und wohler vom Magen aus. Und dem Hans war es auch so herrlich warm und wohl vom Herzen aus. Ernst mußte noch ein Stückchen mitgehen. Ach, wie gemütlich war das trotz der großen Traurigkeit! Wie viel hatte jeder zu erzählen! Die Ansichtskarten hatte Ernst nicht bekommen. Sie waren nach vier Wochen wieder aus dem Königsweg weggezogen ins Weckegäßchen Nr. 4, hier ganz in der Nähe. Da sei die Mutter gleich krank geworden und dann nach ihrem Tode er selber ein bißchen. Und dann seien seine Sachen so zerrissen gewesen, da habe er sich geschämt.
»Komm nur nun bald!« sagte Hans. »Schäme dich nicht! Meine neue Hose ist auch zerrissen, und Mutter muß sie erst flicken! – Komm auf jeden Fall! Komm recht bald! – Bitte, bitte, komm!« rief er ihm noch inständig bittend nach.
*
»Er kommt, Mutter!« versicherte er zu Haus, nachdem er die unerwartete Begegnung ausführlich erzählt hatte. Der Tod von Ernsts guter, braver Mutter hatte der menschenfreundlichen Frau Landgerichtsrat unendlich leid getan. Das Herz täte ihr weh, wenn sie an den einsamen, verlassenen Jungen dächte. Dem müsse geholfen werden, sagte sie. Viele Sachen lägen da, denen Hans entwachsen sei, und die er entbehren könne, und in der Küche wäre manche Schüssel gutes, warmes Essen übrig. Wenn Ernst käme, sollte er sich vor allem einmal recht gründlich satt essen. Dann wolle sie mit ihm sprechen, weiter für ihn sorgen, ihn kleiden.
»Hat er dir's denn bestimmt versprochen, daß er kommt?« fragte sie. »Sonst schicke ich die Sachen lieber hin!«
Hans sagte: »Ganz bestimmt, er kommt! Er hat's ja fest versprochen.«
Das hatte Ernst freilich getan. Und daß man halten muß, was man verspricht, das wußte er auch.
Darum war es ihm recht unangenehm, daß es ihm am nächsten Tage auf einmal so sehr schlecht wurde. So schlimm war's, daß er nicht einmal aufstehen konnte, um sich im Nachbarstübchen seinen Topf warmen Kaffee und sein Stück Brot herüberzuholen. Vater war schon früh um sieben aufgestanden und fortgegangen. Da lag er den ganzen Vormittag allein, ohne daß jemand nach ihm sah, mit schmerzendem Kopf, mit schmerzendem Leib. Und die Gedanken vergingen ihm immer. Er schlief nicht recht und träumte doch so komische Sachen, von Mutter, die gar nicht tot war, und von Hans, den er besuchen wollte, wobei er sich immer in den Straßen verlief.
Als er auch zum Mittagessen nicht hinüberkam, schaute endlich die Nachbarin zu ihm hinein. Die fing laut an zu lamentieren, als sie ihn sah. Schwer krank sei er, er glühe ja nur so vor Fieber. Sie könne ihn nicht pflegen. Nein, sie könne nicht. Sie habe mit ihren fünf Kindern genug zu tun. Und zwei Aufwartungen dabei! – Aber irgendwie bekam sie es doch fertig, in den nächsten acht Tagen öfter nach dem kleinen Kranken zu sehen. Er tat ihr doch zu leid. In dem Kinderkrankenhause, wo sie anfragte, war alles überfüllt. Da kochte sie ihm doch manches Süppchen, brachte ihm manchen kühlen Trunk, holte sogar den Armenarzt für ihn herbei.
Nur barsch tat sie alles, unter viel Zürnen und Klagen. Und so viele, viele Stunden lag der arme, kleine Kranke doch allein. Sein Vater war so selten zu Haus. Der hatte jetzt doppelt viel zu fahren. Weihnachtszeit wär's, hatte die Nachbarin einmal gesagt. Das hatte er gehört wie im Traum.
Immer dunkler und verworrener wurde es ihm zu Sinn. Er wußte gar nicht mehr recht, wo er war, bald bei Hans im kleinen Pferdestall, bald bei Vater im großen, bald auf dem Kirchhof, bald in der Schule, bald auf einer großen, großen sonnigen Wiese oder in einem Wirtsgarten, lang ausgestreckt unter einem Jasminbusch. Da suchte er Glühwürmchen. Es war schwer, denn es war so lichter Tag, und da leuchteten sie ja nicht.
Dann aber, im Dunkeln, bei Hans, da begann ihr Glanz. Wie oft lebte er in seinen Fieberträumen die Stunde wieder durch, jene schönste Stunde seines Lebens, wo er dem kranken Freunde die Glühwürmchen gebracht hatte!
Auch jetzt! Kein richtiger Schlaf war's, in dem er sich befand. Er wußte, er lag da im dunklen Zimmer, das Lämpchen war verlöscht, das bißchen Feuer im Ofen ausgegangen, der Abend war so lang, und er war ganz allein. Hie und da, nur zwischen dem Wachen, kam ein Träumen über ihn.
Immer waren's heut die Glühwürmchen. Da wieder!
Auf einmal aber setzte er sich im Bette auf und starrte mit großen Augen erstaunt vor sich hin. Nein, jetzt träumte er nicht, jetzt wachte er! Und da waren ja die Glühwürmchen ganz wahrhaftig. Die Tür war aufgegangen, ein großer Schwarm kam hereingeschwirrt.
Hans brachte sie! Hans! Wahrhaftig Hans!
Und die ganze Stube war ja davon auf einmal hell.
»Hans, wo kommst du denn her? Wo hast du denn die vielen Glühwürmchen her?« rief er mit heiserer Stimme, die noch barscher klang als gewöhnlich.
Da sah er aber schon, wie er sich geirrt hatte. Da hörte er ein lustiges Lachen, und Hans kam näher mit seinem Lichterschwarm an sein Bett heran.
»Keine Glühwürmchen! Ein Weihnachtsbaum! Weihnachtslichtchen!« schrie er in fröhlichster Aufregung.
Dann stockten ihm freilich das Lachen und die Fröhlichkeit. Entsetzt sah er den Freund an.
»Bist du krank? Bist du deshalb nicht gekommen?« fragte er zaghaft.
Ernst sagte mit gewissem Stolz: »Na, aber wie krank!« Dann aber kamen ihm gleich die Tränen gestürzt: »Ach Hans, es tat wirklich gar zu weh, mein Kopf und mein Bauch!« Er wimmerte schmerzlich, lachte dann aber gleich wieder zwischen den dicken Tränen hindurch.
»Der schöne Baum! Der soll mein sein? So schön! Wirklich mein?« fragte er.
Hans sagte: »Ja, ja! Und Marie wartet noch draußen mit einem großen Korb. Ich sagte, fünf Minuten sollte sie warten. Ich wollte erst mal mit dem Baum vornweg, das hatt' ich mir so ausgedacht, weil du nicht kamst. Ich wollte dir doch so gern eine große Freude machen. Du hast mir doch auch eine gemacht! Weißt du noch, als ich krank war?«
»Marie, nun können Sie kommen!« schrie er dann hinaus.
Es war ihm auf einmal angst geworden.
Ernst war so weiß geworden und lächelte so engelhaft.
Das war aber beides bald vorbei. Die Freude über die reiche Bescherung, ein kräftiger Schluck und ein kräftiger Bissen dazu taten Wunder. Ernst lachte ganz vergnügt zehn Minuten später. Marie hatte ihm das Bett so schön zurecht gemacht, ihn gewaschen, ihm ihr eigenes reines Halstüchel umgebunden. Als der Baum ausgelöscht werden mußte, hatte sie ihm sein Lämpchen vollgefüllt und angebrannt.
»Und nun sieht öfter einmal eins von uns nach!« hatte sie gesagt.
Ernst sagte: »Ich dank' für alles!« Mehr Worte machte er nicht, aber wie er's meinte, konnte man deutlich aus dem Glanze seiner Augen sehen.
*
Mit dem Weihnachtsbesuch Hansels war alles besser geworden für den kranken Ernst.
Daß ein Kind irgendwo krank oder verlassen lag, konnte Hansens Mutter nicht hören, ohne sich gründlich zu kümmern und gründlich zu helfen. Sie sorgte dafür, daß in einem Pflegehaus für Kinder sofort ein Platz frei ward für den kleinen Kranken. Dort hat sie ihn mit Hans oft besucht. Er hat sich auch bald erholt. Und dann ging die Fürsorge von Hansens Eltern erst recht weiter.
Ernst ist jetzt in einer Erziehungsanstalt, wo er zu einem braven Menschen herangezogen wird. Sein Vater bezahlt die eine Hälfte der Kosten, Hansels Vater die andere.
Da gibt es gesunde Kost, guten Unterricht, Aufsicht und im Sommer wieder Spaziergänge mit bunten Fahnen.
Sonntags darf er Hans besuchen.
Die beiden haben sich versprochen, sie wollten sich nie wieder aus den Augen verlieren ihr Leben lang.