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Der kleine Brezelträger

Fastnacht war es vor nun wohl dreißig Jahren, Fastnacht im Thüringer Waldland.

Unermüdlich fleißig hatten die Wolken den Winter über Schnee heruntergeschüttet. Und wenn auch die Tannenriesen, die die meisten Bergkuppen und -rücken bedeckten, die weiche, weiße Decke unwillig abgeschüttelt hatten, so lagen doch Grashalden, Schonungen und Täler tief, tief darin eingemummt. Schallend klangen durch die Schneestille die Axthiebe der Holzhauer in den Wäldern, und der Dohlen und einiger Raubvögel Schreie unterbrachen den Winterschlaf des weiten Waldlandes, während auf den Holzwegen das Hüh der Fuhrleute und das Räderknarren der großen Stammfuhren erscholl. Alle andern Stimmen des Waldes waren verstummt. Die Quellen und Rauschebäche lagen im Eisesschlaf, und die fröhlichen Sänger waren alle fern. Wie ein Zauberbann lag's über der ganzen Natur und infolge dessen auch über den Walddörfern, die ja eins sind mit ihrem Wald.

Freilich das Leben der Menschen geht auch in der harten Kälte und Schneestille weiter. Mit allen seinen tausend Fäden spinnt es sich fort durch die Winterszeit. Wenn der murmelnde Dorfbach in seiner tiefen Kerbe auch tot und erstarrt ist, das Brünnlein rinnt doch fort, und die Herzen schlagen warm. Die Menschen ziehen sich mit ihren Gewerben mehr in die Häuser zurück, und in den einfachen, von Tannenreisig durchheizten Stübchen entfaltet sich manche Traulichkeit, die das Sommerleben unter freiem Himmel, das Sommerleben in Feld und Wald zurückgedrängt hatte.

Da klappern die Webstühle. Die Holzschnitzer basteln mit ihren scharfen Messern allerlei Gerät aus kernigem Holz; da schnitzt oder drechselt einer Pfeifen, während die Weiber kleine Metallringe mit weißem Zwirn zu sauberen, dauerhaften Hemd- und Bettknöpfen überspinnen. Puppenleiber und -gliedmaßen werden aus Pappmasse geformt. Meister Hirt ist jetzt Maler und Riemer; er bemalt die Kummete seiner Herde nach uralten Mustern mit fröhlichen, bunten Farben für den neuen Lenz, bessert die Glockenriemen aus und stimmt die Weideglocken, die er dem Dorfvieh am letzten Weidetag abgenommen hatte, durch Hammerschläge sorgfältig neu zu Baß-, Mittel- und Diskanttönen, damit sie ineinanderklingend wieder das schöne, harmonische Geläut ertönen lassen, sobald der Frühling die Waldweiden mit duftigen, würzigen Kräutern überzogen und der Klang des Hirtenhorns den Wiederbeginn seiner Herrschaft in Wald und Feld verkündet hat.

So geht der Winter traulich hin. Außer den liebgewonnenen Beschäftigungen schmückt ihn die Ausübung so mancher alten Sitte. Fröhliche Weihnachts- und Neujahrsbräuche sind in den Thüringer Waldnestern ja noch überall im Schwang. Die jungen Leute haben in den Spinnstuben gescherzt und gelacht und sich Geschichten erzählt zum Entzücken und Gruseln; die alten Thüringer Waldmärchen sind in den Gemütern alle noch lebendig. Die Jugend hat die blinkenden Schneebahnen mit ihren Schlitten belebt, ja sogar auf Tannenklötzen sind sie unter Lachen und Schreien hinuntergesaust.

Und nun ist der Februar gekommen und mit ihm die Fastnacht.

Aus Hannjörg Rechenbachs, des Unterdorfbäckers, Hause wirbelt lichtblauer Holzrauch schon seit Tagesbeginn in die scharfkalte, wunderbar klare Bergluft.

Der Hannjörg hat's gestern schon wichtig gehabt mit Vorbereitungen und hat's heute doppelt wichtig. Uralter Sitte nach hat zur Fastnacht immer einer von der Bäckergilde des Kirchspiels das Vorrecht, Fastnachtsbrezeln zu backen und zu verkaufen. Vier Bäcker sind in dem langgestreckten Walddorf und dem mit eingepfarrten kleinen nachbarlichen Häusernest. Da gibt's zu tun in Hannjörgs Backstube, in der sonst nur zur Kirmeszeit und vor den hohen Festen ähnlich reges Leben herrscht. Im übrigen wird zweimal wöchentlich, Mittwochs und Sonnabends, Brot gebacken, zu dem man am Montag das Korn in dem drei Stunden entfernten Marktflecken auf dem Wochenmarkt gekauft hat. Am Dienstag bekommt das Getreide der Müller, und am Mittwoch holt man das Mehl. So geht das Gewerbe behaglich und ohne zu große Anstrengung Woche für Woche und läßt dem Hannjörg, der wie die meisten Thüringer ein leidenschaftlicher Musikant ist, hübsch Zeit zum Einüben neuer Stücke auf seiner geliebten Klarinette für den Kirchenchor und die Tanzmusikergilde, zu deren beider treuen und wichtigen Mitgliedern er zählt.

Ein feiner Musiker ist er, der Hannjörg, aber ein feiner Bäcker ist er auch. Gar behutsam wird abgewogen und geschmeckt, ob der Fastenbrezelteig auch in nichts von der alten Güte und Gediegenheit abweicht, und mit fast künstlerischem Schwunge wird dann das Ausrollen, Formen und Verknüpfen der Brezeln betrieben. Eine feinere Sorte wird mit Zucker und Mohn bestreut. Bei der gewöhnlichen Sorte kommt es nur auf die schöne, lichte Goldfarbe an, die der Backofen dem Teige zu geben hat. Diesen hat die Ann-Lene, des Bäckermeisters Frau, heute eigenhändig geheizt. Mit besonders befriedigtem Schmunzeln auf dem netten, freundlichen Gesicht entzieht sie dem Rachen des glühenden Freundes eben die ersten Bretter voll delikat duftender, wohl ausgebackener, knuspriger Fastenbrezeln.

Warum sie so besonders gemütlich und vergnügt dazu in sich hineinlacht? Nun, der tadellos gelungenen Backware wegen nicht allein. Ein besonderes kleines Familienereignis ist mit diesem Fastnachtsbrezeltag verknüpft. Der schon ältlichen Bäckersleute Jüngster, das zuletztgeborene Söhnchen, der jetzt sechsjährige Karl, soll heute zum erstenmal als Brezelverkäufer ins Dorf und ins Nachbardörfchen gehen. Der Hannchrist, der nächstälteste, sechzehnjährige Sohn, der das Geschäft auch von seinem sechsten Jahre an besorgt hat, ist auf Wanderschaft gegangen; die älteren Töchter und Söhne sind aus dem Haus, teils schon selbständig und verheiratet, teils in Stellung. Karlchen ist also daran, ist darangekommen wie die andern alle einmal. Zu Ostern soll er in die Schule eintreten, und jetzt tritt er ein in seinen Beruf. Und das stimmt die Mutter so stolz, so froh, so wehmütig. Es ist, als ob beim jüngsten Kind das Mutterherz alles besonders gefühlvoll und wichtig nimmt. Das jüngste Kind, – um das schwebt meist etwas besonders Verzärteltes, Zartes. Und das Karlchen, das ist nun auch noch ein besonderer kleiner Kerl. Entschieden ist er nicht so kernhaft ausgefallen wie seine Brüder, die etwas an sich hatten von des Meister Vaters kräftigem Hausbrot. In Karlchens Wesen ist mehr etwas von ganz eigen und zart gewürztem Kuchenteig. Die großen, blauen Augen des blonden Jungen blicken träumerisch und lieblich aus dem zarten Gesicht, dem ein gewisser lauschender Zug eigen ist. Karl liebt Vaters Klarinettenspiel mehr als alle wilden Jungenspiele des Walddorfes, sogar Schlittenrutschen von den Berglehnen herab mit inbegriffen. Die Melodie der schönen Kirchenlieder und der gemütlichen Tänze, die von den Dorfmusikern reihum beim Vater und den andern geübt wurden, spielt er, ohne daß ihn jemand die Noten gelehrt hätte, mit einem Finger auf dem alten Tafelklavier nach. Dem feinen Sang der Rotkehlchen und Schwarzblättchen in den Bauern überm Roßhaarkanapee in der Wohnstube kann er stundenlang lauschen. Seine größte Lust ist es, wenn er im Sommer des Hirten Horn am Dorfende, wenn alles Vieh zusammengeblasen ist, ins Hirtenhaus zurücktragen darf; seiner melodiösen, langgezogenen Töne wegen ist es ihm wie etwas Heiliges, das vom alten Hirten aus einer langen, ausgehöhlten Baumwurzel selbstgefertigte, mit Bindfaden überwickelte und grünem Lack überzogene Horn. Nur etwas geht ihm noch darüber: das ist Valtin Füldners, des jungen, lustigen Dorfschneiders, Waldhorn. Wenn das erklingt im übenden Kirchenchor, dann scheint sich dem stumm lauschenden Karl der Himmel aufzutun in goldener Herrlichkeit, und wenn das Waldhorn hervorklingt in den Dorftänzen, da tanzt etwas in Karlchens Herzen, was er gar nicht mit Worten wiedergeben kann, aber ungefähr so ist's, als tanze der Bach durch den Grund, der Sonnenschein auf dem Waldmoose und das junge Engelvolk im Himmel auf samtblauem Plan.

Valtin, der zwanzigjährige Schneider, der in Gestalt eines dunkelblauen Bürgermeisterrockes neulich schon sein Meisterstück gemacht hat, der so besonders schön das Waldhorn bläst, dem die weißen Zähne so blitzen und die schwarzen Augen so glänzen beim fröhlichen Lachen, ist für den kleinen, stillen Karl eine Art höheres Wesen, der Gegenstand seiner heimlichen anbetenden Verehrung und Liebe.

Das alles, was ihn innerlich so belebt und bewegt, hat den Jungen nicht zu der richtigen Derbheit und Keckheit gelangen lassen, die einem Thüringerwald-Jungen eigentlich zugehört. Das Wesen des kleinen Karl ist fein und weich wie seine langen Locken.

Ein Junge so recht zum Verzärteln ist's! Deshalb, meint im stillen der Vater, mag es der Mutter einmal nachgesehen werden, wenn sie heute etwas zu viel Firlefanz getrieben hat, um ihren Jüngsten zum ersten Brezelaustraggange auszurüsten.

Eine nagelneue Wanne, wie die Leute den weidengeflochtenen, breiten Korb im Orte nennen, hat sie vom Vetter Korbflechter gekauft, obwohl bei der geringen Benutzung die Wanne von Karlchens Amtsvorfahren, seinen großen Brüdern, noch in genügend gutem Zustande war. Nagelneues breites, leuchtendrotes Wollband hat sie zum Umhängen darangenäht und extra noch zu Schleifen an den Henkeln verknüpft. Unter Karlchens dicker, grauer Wolljacke leuchtet tannengrün eine von der Mutter selbstgestrickte Weste. Ein Paar schwarze Fausthandschuhe liegen auf dem Tisch, und neben seinem Frühstücks-Suppenteller fand Karl heute eine dick mit goldgelber Butter bestrichene Semmelzeile; diese hatte die Mutter dem gar nicht eßlustigen Jungen mit Bitten und Schmeicheln hineingezwungen. Und damit war alles bereit. Die neue Wanne war mit Brezeln gefüllt, das grüne Ledertuch mit der weißen Aufschrift von Vaters Namen darüber gebreitet.

Nun also den Korb umgehängt und hinaus ins Leben, in den künftigen Beruf hinein, kleiner Bäckerkarl!

Des Vaters Lehren schallen noch einmal laut. Auf dem Kirchplatz, vor des Schulzen Haus, soll Karl auszurufen beginnen, und vor jedem Haus, die Hauptdorfstraße lang, soll er dann recht laut rufen:

»Kauft Brezeln! Fastenbrezeln! Warme, weiche Fastenbrezeln!«

Den schallenden Ton, in dem seine Brüder ihre Ware angepriesen hatten, machte der Vater dem Karlchen selbst noch einmal vor.

»Nur unverzagt! Brauchst dich nicht zu genieren als Sohn vom Bäcker Hannjörg,« mahnte er. Ein paar gute Ratschläge der Mutter folgten dann auch noch, die bezogen sich aber aufs Warmhalten und auf schnelles Laufen, damit er sich ja nicht erkälte. Karlchen zitterte am ganzen Leibe. Bleich und ernst, ohne ein Wort zu sagen, hatte er sich den Korb umhängen, die Mütze mit den Ohrenklappen aufsetzen, die Fäustlinge anziehen lassen. Mit großen Augen, wie hilfesuchend, sah er darauf bald den Vater, bald die Mutter an.

Als die aber ernsthaft mahnten: »Nun geh, nun geh!« da duldete die gewohnte Folgsamkeit keinen Aufschub weiter. Viel reden war ohnehin nicht seine Sache, er war ein stiller Junge. Mit hängendem Kopf und gesenkten Blicken trollte er sich, von der Eltern herzlichsten Wünschen begleitet, fort durchs Gäßchen, am gefrorenen Bach hin, die Krümme, eine nach ihrer krummen Richtung benannte Dorfstraße, entlang, immer dicht an den Häusern hin dem Kirchplatze zu.

Vor dem Schulzenhaus, dem zwischen den alten Fachwerkbalken neu rosa getünchten großen Hause, sollte er also beginnen.

Sein Herz schlug, je mehr er sich diesem Hause näherte, desto lauter und ungestümer in seiner Brust.

Mit heimlicher Angst und in tiefer Mutlosigkeit hatte er diesem Tage seit Wochen entgegengesehen.

Mit lauter Stimme: »Kauft Brezeln!« zu schreien, schien ihm etwas Ungeheuerliches, überaus Großes und Gewagtes.

Nun noch dazu vor des Schulzen Haus!

Der große, starkbeleibte Schulze, der sechs Kühe und vier Pferde im Stalle hatte, dünkte dem Karl so etwas Ähnliches wie der König des Ortes.

Ein immer heftigeres Zittern überfiel den kleinen Brezelträger. Als er zum Ausrufen ansetzen wollte, versagte ihm die Stimme, und er konnte keinen Ton herausbringen.

»Nein, zwischen diesem Haus und der Kirche anfangen,« sagte er sich in immer steigender Angst und Aufregung, »das kann ich einfach nicht!«

Die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Um ein paar Kindern zu entgehen, die mit ihren Büchern und Schiefertafeln über das andere Ende des Kirchplatzes liefen, flüchtete er rasch hinter den großen Holzstoß vor des Schulzen Haus. Still und geduckt lief er nach einer Weile von da in eine Nebengasse.

Ein stilles, altes, sehr ärmliches Gäßchen war das. Die Nachtwächterswitwe, ein paar von der Gemeinde erhaltene Arme und Hannliese, eine alte Kräutersammlerin, wohnten dort in ihren vereinzelt stehenden niederen Häuschen.

Ob er es hier einmal wagte, seine Brezeln ausrufen?

Ja, so viel Mut faßte er, das wollte er!

»Kauft –« hatte er mit zitternder Stimme eben zart und leise begonnen, da fuhr aus der Hannliese zerfallenem, windschiefem Hause eine kohlschwarze Ungestalt mit schreiendem »Miau!« ihm blitzschnell über den Weg, daß er förmlich zusammenbrach vor Schreck und schreiend ein paar Schritte zurückflüchtete. Was war das für ein Ungetüm?

Nichts anderes als Hannliesens großer, schwarzer Kater war's. Gegenüber von Hannliesens Hütte hockte er sich auf einen umgestülpten Milchtopf auf dem Zaun und sah Karl mit gelbfunkelnden Augen drohend an.

An dem vorübergehen? Nein! Dem ohnehin schon aufgeregten Karl fehlte dazu aller Mut. Kleinmütig trat er den Rückzug an und näherte sich mit bangem Herzklopfen wieder dem Kirchplatz.

Da kam ihm ein helfender Gedanke.

Drüben, jenseits der Kirche, führte die Tiefengrundstraße ja hinaus in den Wald. Nur vereinzelte, freundliche Häuser standen da hinter den jetzt dick beschneiten Obstbäumen tief in den schneeweißen Grasgärten, ganz zuletzt ein freundliches, schönes, großes Haus mit Balkons und Veranden.

Ein Major aus Gotha, Herr Hildebrand, hatte es sich gebaut und wohnte im Sommer darin mit seiner Frau und seiner kleinen Lene. Vor diesem Hause stand Karl schon im Sommer gern, aber wie heimlich und gemütlich war es ihm mit seinen geschlossenen und vernagelten Fensterläden erst jetzt! Ungeniert konnte er vor dem im Winterschlaf liegenden Hause seiner Stimme freien Lauf lassen.

»Kauft Brezeln! Kauft Brezeln! Warme, weiche Fastenbrezeln!« rief er mit seiner zarten Kinderstimme wohl ein dutzendmal vor dem hübschen, wollig angeschneiten Gitterzaun.

Da wurde ihm wohler; nun hatte er's doch einmal über die Lippen gebracht, das schwere Wort. Sein Mut, sich nun auch vor andern Häusern hören zu lassen, stieg nun ein wenig. Unter leisen, freundlichen Ausrufen: »Kauft Brezeln!« ging er langsam und unbehelligt die Tiefengrundstraße zurück.

Kein Mensch hörte ihn in den tief zurückstehenden Häusern, und wenn jemand an ihm vorbeikam, verstummte er von selbst tief errötend, der schüchterne Brezeljunge.

Als er jedoch in die belebteren, bekannteren Straßen zurückkam, überfiel ihn aufs neue die alte Angst. Da stand er wieder auf dem Kirchplatze. Wohin nun? Ja, wohin?

Ratlos ließ er nach allen Seiten die Blicke schweifen.

Ach, da – ein Waldhornton! Nicht von seines Abgottes, des Schneider-Valtins, Mund, das unterschied er ganz genau, aber doch aus dem Schneiderhaus.

An dem Schneiderhaus hingen nun leuchtend, zagend und wagend zugleich seine Blicke. Wie magnetisch zog es ihn da hinüber. Sein Herz klopfte auf einmal ganz eigen mutig und froh.

Da, wieder ein Hornton!

Tapferkeit und Tatenlust schwellten nun auf einmal mächtig des schüchternen Jungen Brust.

Mutig überschritt er den Kirchplatz, marschierte vor dem Schneiderhause auf und ab und rief so lange immer lauter und lauter, tapferer und tapferer: »Kauft Brezeln! Kauft Brezeln! Warme, weiche Fastenbrezeln!« bis sich des Schneider-Valtins fröhliches Gesicht am Fenster zeigte und die lustigen Augen des Meisters ihm zuwinkten, er solle nur hereinkommen.

Das läßt der Bäcker-Karl sich nicht zweimal sagen. Hinein zum Füldner-Valtin, in das Stübel, wo das Waldhorn hängt! – Leuchtend vor Lust springt der Brezeljunge das Haustreppchen hinan. Die kleine Klingel, die dem jungen Meister wichtig die Kunden ankündet, läutet, und als er an die Meisterstube anklopft, erklingt laut und schallend nicht nur ein einfaches, sondern ein doppeltes »Herein!«

Aber hier gibt es kein Zagen! Nur ein sonntägliches, sonniges Freuen herrscht jetzt in des Kindes Brust. Frisch und froh öffnet Karlchen die Tür. Da aber erstirbt mit einem Schlage all das sonnige Leuchten in ehrfürchtigem Starren, in wildem Schreck.

Der Meister, der in tiefem Ernst mit gekreuzten Beinen auf dem schneeweißen Eichentisch sitzt und den weißen Heftfaden durch schwarze Tuchstücke zieht, ist nicht allein. Fast bis an die Decke des weißgetünchten Stübchens ragend, steht neben ihm eine ehrfurchtgebietende, markige, massige Gestalt. Mit blauem Tuchrock, den blitzblanke Knöpfe verzieren, mindestens doppelt so viele und doppelt so blanke, als der Gendarm sie auf seinem Waffenrock trägt, ist er angetan. Ein roter Kragen schmückt seinen Hals, rote, schmale Streifen zieren seine Hosen. Sein Gesicht ist streng und ernst. Ein großer, schwarzer Schnurrbart macht es noch gewaltiger, und gewaltig ist auch sein Tritt, als er plötzlich nach der Tür schreitet und sie verriegelt, gewaltig seine Stimme, als er sich dann Karl nähert und ihn in herrischem Tone fragt:

»Du verkaufst also Brezeln, wie ich sehe, hier im Ort?«

Leise wie ein Hauch brachte Karlchen ein verschüchtertes, zitterndes Ja heraus.

»Nun,« schrie der Fremde ihn an, »so zeige mir einmal sofort deinen Gewerbeschein! Händler müssen, wie dir wohl bekannt sein wird, einen Gewerbeschein besitzen, von der Polizei ausgestellt. Fehlt ihnen der und werden sie erwischt, so haben sie fünf Taler Strafe zu zahlen, oder sie werden eingesperrt. Also zeige den Schein!«

Gebietend streckte der mächtige Mensch dem vor ihm förmlich zu Nichts hinschwindenden Brezeljungen die große Hand entgegen. Wer der furchtbare Mann wohl war? Der Ober-Gendarm gewiß! Ein Grauen erfaßte Karl. In hilfloser Angst sah er von dem Furchtbaren zum Füldner-Valtin hinüber. Warum blickte er nicht einmal auf von seiner Ärmelhaftnaht auf dem Schneiderbrett?

Ja, wenn der auch gegen ihn war, wenn der ihn auch verließ – – – –

In einem jähen Schrei machte sich der Angstaufruhr in der Seele des armen Kerlchens plötzlich Luft.

Ausreißen! Der Gedanke kam ihm als einzige mögliche Hilfe in seiner Not. Kaum hatte er ihn gefaßt, da hatte er auch schon den Türgriff in der Hand, hatte den Riegel, den der Gendarm vorgeschoben, zurückgedrückt, war draußen im Flur, riß die Tür mit der bimmelnden Klingel weit auf, flog die Stufen hinunter wie gejagt, über die Straße, den Platz, die Krümme entlang, am Bache hin in immer atemloserer Flucht. Todesangst, daß der Mann des Gesetzes ihn verfolgen könne, beflügelte seinen Lauf. Noch waren keine Verfolgerschritte zu hören. Also nur fort, immer weiter fort! Ein Trupp Schulkinder, die frühesten, die schon um acht gingen, kam jetzt eben aus der Schule. Schnell, schnell vor diesen ausgerissen! Am Bache hin und über das Brückchen hinüber! Auf der von den Schulkindern glatt geschlitterten Schneebahn fliegt sich 's ja beinahe, als ob man Flügel hätte!

Der kleine Brezelträger

Der kleine Brezelträger.

Ja, wirklich, fliegen, nur etwas gar zu gewaltsam, Hals über Kopf – Holterdiepolter!

Wo die Brücke sich senkt zum Sträßchen hinab, gleitet Karlchen auf der spiegelglatten Schleife aus und schlägt hin, so lang er ist. Das rote Trageband reißt, und die Brezelwanne fliegt im Schwunge ein halb Dutzend Schritte vor ihm her und schüttet ihre leckere Ladung nach allen Seiten auf die Gasse über den Schnee.

Das war der Höhepunkt von Karlchens Leiden. Daß auch der stillste Junge in einem solchen Augenblick seinem Schmerz und Entsetzen in wildem Gebrüll Luft macht – wen sollte das wundern?

Als wenn ihn der »Aufschüsser«, wie der Thüringer Gemeindediener heißt, der Mann, der die Vagabunden zum Tore hinausbefördert mit dem uralten Eisenspieß in der Hand – als wenn der ihn an besagtem Spieße hätte, so jämmerlich schrie der arme Kerl.

Durch das Geschrei angelockt, kamen die Schulkinder zu Schau und Hilfe. Die fanden die Brezeln im Schnee, und zu allererst halfen sie diese auflesen, aber nicht in Karlchens Korb, wie man sich denken kann, sondern in die hungrigen Mägen.

Je mehr Brezeln darin verschwanden, desto kläglicher wurde Karlchens Wehgeschrei.

Das Gesicht immer fester in den Schnee pressen, gar nichts mehr sehen, gar nicht mehr aufstehen – das schien von ihm jetzt endlich als letzte Ausflucht erwählt worden zu sein.

Wimmernd, die Arme weit von sich gestreckt, blieb er liegen, bis ihn plötzlich jemand aufhob, auf die Arme nahm, den leeren Brezelkorb dazu aufraffte und durch den auseinanderstiebenden Schulkinderschwarm mit diesen beiden Fundgegenständen rasch von dannen ging.

Im ersten Schreck hatte Karl gedacht, es sei der Entsetzliche, der – Ober-Gendarm. Aber freundliche Worte und ein Blick in ein gutes, bekanntes, mitleidiges Gesicht beschwichtigten ihn rasch. Der Valtin war sein Retter, der Schneider-Valtin.

»Aber nicht zum Gendarm bringen, nicht einsperren!« schrie Karlchen unter heißem, zeterndem Schluchzen.

Der Schneider-Valtin sagte, ihn rasch seinem Elternhaus zutragend: »Ach Unsinn! Bist sechs Jahr, Karlchen, und weißt noch nicht mal, was ein Gendarm ist und was ein Soldat? Schulzen Schuchards Heinrich, der bei der Infanterie dient in Gotha und jetzt zu Haus zu Besuch ist, hat sich einen Spaß mit dir machen wollen. Der hat dich geneckt! Mich hat's eigentlich gleich gedauert, aber ich hab' ihm den Spaß nicht verderben wollen. Spaß muß doch sein! Und daß du solch ein Angsthase bist, hab' ich doch nicht gedacht. Guck mal an, wie gut, daß ich dir nachgegangen bin! Nur ruhig, heule nicht, Karlchen! Jetzt holen wir neue Brezeln. Für die andern schickt dir der Schulzen-Heinrich hier einen blanken Taler. Und die neuen trag ich dann mit dir aus. Sollst mal sehen, wie das Geschäft geht, wie ich dann für dich schreien will: »Warme, weiche! Warme, weiche!«

*

Und so geschah's. Dem schüchternen Brezeljungen ist sein erster Brezelaustrag-Tag noch zu einem recht fröhlichen geworden.

Der Füldner-Valtin ist sein Freund geblieben von diesem Tage an. Karl hat später das Waldhorn bei ihm blasen lernen. Das bläst er heute noch im Kirchenchor, zur Kirmes und zum Tanz gar schön.

Die Bäckerei seines Vaters hat sein Bruder übernommen. Der Karl hat im Tiefengrund, der jetzt ein schöner Sommerfrischort geworden ist, eine kleine, schmucke Konditorei und ein schönes Häuschen zum Vermieten an Sommergäste. Dicht neben dem Hause des Majors aus Gotha liegt es. Der ist nun ein sehr alter Herr, aber auf den Arm von Frau Lene, seiner Tochter, gestützt, kann man ihn immer noch durch den Waldgrund wandern sehen. Oft kehrt er dann beim Nachbar Karl ein und spricht mit ihm über alte und neue Zeiten im lieben Thüringer Wald. Und so oft dieser einem Brezeljungen begegnet, erinnert er sich lächelnd an den Tag, an dem er als kleiner Knirps zum erstenmal gerufen hat:

»Kauft Brezeln! Kauft Brezeln! Warme, weiche Fastenbrezeln!«


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