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Die alte Zenz nannte die zuwideren, grantigen Stimmungen, in denen sie sich zuweilen befand, ihre Übergangl.
»Tage, an denen man nit g'sund ist und nit krank, an denen man sich halt mit aller Gewalt nit rausreißen kann aus seiner dummen Laune,« beschrieb sie diese besonderen Zustände, – die nicht allzu häufig waren zu Babettls Glück! – ausführlich.
Und für Huberta war der Aufenthalt in der Stadt bei ihren Verwandten ein einziges solches Übergangl.
Z'wider und grantig war sie auch, wenn auch nicht äußerlich und gegen andere, sondern tiefinnerlich gegen sich selbst.
Mit aller Macht konnte sie sich nicht herausreißen aus ihrer gedrückten Stimmung.
Nicht gesund war sie und nicht krank.
Sie litt an zwei peinvollen Übeln neben ihrer schon mitgebrachten Stadtangst und Stadtleidigkeit.
Sie hatte das Gehen und das Reden verlernt.
Ersteres, weil sie Tanzstunde nehmen mußte auf Frau Theas Anordnung, um sich das schwere, feste Auftreten, das Thea nicht fein fand, abzugewöhnen und sich einen leichten, schwellenden Gang anzueignen. Einen leichten Gang, den hatte sie, wie sie meinte, im Wald doch eigentlich gehabt! Hier auf den harten Straßen und in den Wohnungen mit den vielen Sachen schritt es sich für sie allerdings recht unbequem. Und seit sie's besser lernen sollte, ward's schlimmer. Seitdem war's ihr, als ginge sie immer auf Walzen.
Das Verlernen des Redens war so gekommen: die drei Mädels, ihre Schwippschwägerinnen, Theas Schwestern, die mit ihrer französischen Erzieherin im oberen Stock der Professorsvilla wohnten, hatten sie innig gebeten, sie solle nicht steif, sondern flott und munter sein.
An Giselas Geburtstagsfest, in das Huberta am ersten Tag ihres Stadtaufenthalts hineinschneite, hatte ein junger Freund der Familie, Herr Kurt von Meilenstein, der Gundel vertraut, mit der Forstmeisterstochter sei es recht schwer. Er habe es mit den verschiedensten Gesprächsstoffen ohne Glück mit ihr versucht. Die Waldverwandte sei ganz ohne Interessen. So eine Forstmaid stelle man sich durchaus anders vor.
»Sonnig, wonnig, freundlich, frisch!«
Die goldblonde Gundel umarmte und küßte die Huberta am Abend zärtlich und redete ihr mit ihrer lieblichen Stimme wohlwollend zu: »Gelt, du tust uns die Liebe und gibst dich freier? Nicht so wortkarg! Sitzest nicht steif da wie ein Flintenladestock?« »Legst gewinnende Liebenswürdigkeit an den Tag,« erklärte die etwas lichtblondere Gisela mit graziöser Handbewegung.
Elly, die Jüngste und Reizendste, fügte, Huberta im Kreise herumschwenkend, der Belehrung noch hinzu: »Nimmst uns zum Vorbild, süßes Kind!«
Das war leicht gesagt!
Diese gesprächigen und eleganten Mädchen mit allem Schliff und allen Schlagworten moderner Stadtjugend! Huberta fand sich, wenn sie versuchen wollte, es ihnen gleich zu tun, unausstehlich. Und ihr erster Versuch zu freiem, munterem Gespräch war erst recht ein Mißerfolg.
»Was die für Ausdrücke hat!« entsetzte sich eine junge Dame aus Giselas Freundschaft. »Die braucht Worte wie Aasgeier! Und Sauhatzen! Und verludertes Wild!!!«
Da gab es wieder zarte, verlegene Ermahnungen der jungen Mädel. Und Huberta ward nun ganz unsicher. Sie wollte doch schon ihres Vaters wegen keinen verwilderten Eindruck machen. Bei jedem Wort überlegte sie: War's nicht zu dumm? Und war's auch nicht zu jagerhaft?
Statt gesprächiger wurde sie deshalb nur stiller, und dieses Stillsein wurde ihr selbst von Tag zu Tag mehr zur Pein. Sie kam in eine Haßstimmung gegen sich selbst, schalt sich, beutelte sich innerlich, während die anderen unbefangen scherzten und lachten.
Für wie undankbar mußte man sie halten! Wenn sie den Leuten doch wenigstens sagen könnte, daß sie sich bloß genierte! Sie hatte es doch so gut, dachte sie oft. Die Verwandten waren so aufmerksam bedacht für ihr Wohl. Die besten Stunden suchte man ihr aus, geschmackvolle Kleider und Hüte wurden für sie eingekauft, und so viel Schönes gab's. Die Schwägerin Thea konnte man immer nur voll Entzücken anschaun mit ihrer graziösen Gestalt und dem reizenden Gesicht; ebenso lieblich wie sie als Frau war das kleine Giselchen, Professors Töchterl, als Kind. Man müsse sie doch beide herzlich lieb haben, sagte sich Huberta täglich zehnmal. Es tat ihr nur so weh, daß sie mit diesem Kind nicht so umzugehen verstand, wie mit den Bauernkindern und den drei Neffen, Hardl, Jakob und Mutl, drunten am Lech. Eine Gereiztheit sogar war in ihr gegen dies Kind.
Das war blaß, fein und überzart, und deshalb war ein ewiges fahriges Ängstigen um das, was es wollte und sollte, nicht wollte und nicht sollte, ein Ängstigen um sein Essen, Schlafen, Aufstehen, Spazierengehen in der armen, ebenfalls recht zarten und feinen Frau Professorin.
Nie wollte Giselchen, wozu die andern ihm zuredeten.
Thea wurde ihres Lebens nicht froh aus Angst um das Kind. Das weinte so viel. Im letzten Monat war kein Tag vergangen, an dem es nicht geweint hatte. Frau Thea wußte es genau, denn sie führte Buch über sein Weinen vor lauter Ängstlichkeit. Es war ein unablässiges Bewerben, Schmeicheln, Zureden um das Kind. Huberta konnte da nicht mittun. Abends wünschte sie ihm manchmal etwas schroff: »Gute Nacht! Gute Besserung!« mit dem herzhaften Hintergedanken: »Letztere nicht nur äußerlich!«
Die drei jungen Schwägerinnen, – das war auch etwas so Schönes, das sie nicht ganz würdigte. Die schönsten Mädchen der Stadt waren es! Und gleich drei!
Ja, wenn sie alle durcheinander redeten und lachten, schwätzten und schwirrten, war's oft, als seien's ihrer dreißig. Und jede hatte noch drei bis sechs Freundinnen. Freunde waren auch vorhanden. Professors gaben viel Gesellschaften, in denen die Jugend eine große Rolle spielte. Natürlich wurden sie auch wieder viel eingeladen.
Und alle die vielen jungen und älteren Leute, die dadurch zu ihrem Bekanntenkreis gehörten, waren Huberta wohlgesinnt. Die jungen Mädchen erkannten wohlwollend an, Huberta sei nett; etwas sehr ländlich freilich; es fehle eigentlich nicht viel, man könne auch nicht sagen was, so sei sie hübsch. Elly, die als angehende Malerin solche Dinge sehr sachlich nahm, hatte herausgefunden, ihre Züge seien charaktervoll, aber ein bissel zu sehr Profil.
Bei jedem Begegnen frugen Männlein und Weiblein Huberta, wie es ihr in der Stadt gefalle.
»Fad!« hätte sie laut herausschluchzen mögen.
Stattdessen gab sie im sorgsam gewähltesten Hochdeutsch Bescheid: »Danke sehr! Es geht mir vorzüglich! Es gefällt mir gut!«
Jeder Versuch, sich etwas umschweifender auszudrücken, blieb ihr im Munde stecken.
So überflüssig kam ihr das Gered, zu dem sie sich zwingen sollte, auch meistenteils vor.
Sollte sie die mühsame Spitze, an der Gundel sich für ein Ballkleid abarbeitete, auch noch loben, bezaubernd, himmlisch finden, wie die Freundinnen es taten?
Und Giselas Gesang, der ohnehin so viel gerühmt wurde, wonnig? Ellys Porträtversuche großartig? Der einen Freundin neuen Hut süß? Der andern Herbstkostüm ideal?
Oder gar die Witze des Herrn von Meitzenstein mit tz – dieser junge Mann nannte sich bei Vorstellungen selbst so – großartig?
So sehr sie sich anstrengte, sie konnte es nicht!
Auch über Kunst, Theater, Bühnengrößen, die sie zu sehen bekam, sich in lauten Worten begeistern, konnte sie nicht.
Auf dem Land, im Hochwald und in den Bergen wird man mit den großen Herrlichkeitsworten sparsam und wählerisch.
Was man auch sagen möchte über alles das Schöne dort ringsum, – es reicht doch nicht zu. So sagt man einfach »schön« als Höchstes. Und wenn man von einem Menschen das Beste, Liebste denkt, das Höchste von ihm hält, so sagt man: »der ist recht!«
Nicht einmal schön finden konnte Huberta die meisten der vielen mühsamen Arbeiten der Mädchen: die Stickereien und kleinen Malereien und Brennereien. In ihren Augen waren es Nixigkeiten, mit denen man niemandem etwas half.
Und völlig »recht« war ihr unter diesen Stadtleuten auch niemand. Ihr geliebter Bruder nicht einmal! Warum sagte der seiner schönen, seinen Frau nicht offen und ehrlich: »Liebes Kind, ich möchte dich so sehr gern für mich allein haben!? Warum müssen die vielen, vielen Menschen immer um uns sein?«
Daß er es dachte, sah ihm Huberta doch so deutlich an. Ihrem Bruder konnte sie viel zu Gefallen tun. Das war für sie wenigstens ein großer Trost. Ihm half sie im Laboratorium der Akademie beim Präparieren von Holzquerschnitten, Baumsamen, Pilzen, – nützlichen und Parasiten, – Vogeleiern, forstschädlichen Raupen, Käfern und Schmetterlingen, Moosen und Flechten, die sie zum Teil selbst im Walde gesammelt und nach der Stadt geschickt oder mitgebracht hatte für die Sammlungen und Herbarien, die Spiritusgläser und Glaskästen, – Proben von allem, was da kreucht und fleucht im Wald und zum Belehrungsobjekt für die werdenden Forstleute dienen kann.
Das waren vergnügliche, wohlschmeckliche Stunden! Dabei hatte sie den gelehrten Herrn so ganz für sich, konnte ihn so gemütlich fragen:
»Mein lieber Hochgelehrter, wie heißt man doch gleich den Rüsselkäfer, den Schädling, mit seinem lateinischen Namen? Wie viel gibt's nach deiner Aufstellung Nadelbaumarten im deutschen Wald?« u. s. w., u. s. w.
Und sie konnte ihm immer wieder berichten und erzählen – ohne Redescheu, denn Rupert gegenüber vergaß sie die – vom Wild- und Forststand daheim, konnte ihm allerhand merkwürdige Beobachtungen und Entdeckungen mitteilen, so z. B.: »Denk' doch, du, ein Feldhuhn ist neulich vor Vetter Modereggers Augen aufgebäumt!« das heißt, es war vor dem Hunde, der es gestellt, auf einen Baum geflüchtet. Ein seltner Fall im Jagdleben!
»Und ein Feldhühnervolk hab ich neulich gesehn, – das vergeß' ich mein Lebtag nicht. Zusammengestellt zu einem Klümperl, und alle Schnäbel nach oben gerichtet, weil ein Falk über ihnen stand! So grundgescheit wie die Viecherl manchmal sind in der Not! Man kann's gar nicht fassen!«
Der Professor sah sie schalkhaft an.
»Hubertl, ist's auch nicht Jägerlatein?«
Sie beeidete mit feuriger Lebhaftigkeit die Wahrheit ihrer Aussprüche. Herzlich konnten die Waldgeschwister dann zusammen lachen.
Und wenn der Wind in den immer kahler werdenden Bäumen der Promenade zauste und zerrte, stellten sie sich zusammen vor, wie der jetzt tief hineingreifen würde in die schweren, tropfennassen Fichten- und Tannenzweige der Hochwaldriesen, wie das orgeln und rauschen würde, knaxen und ächzen und krachen.
Sie sagten's einander nicht, wie gern sie jetzt im nassen, würzigen Duft und in kalter Frische im wilden Winde so recht weit ausschreiten möchten unter tiefem Atemholen im feuchten Moos unter den stöhnenden, knarrenden Bäumen. Aber sie verstanden einander.
Der Professor riß dem Mädchen einmal ganz erregt ein Buch aus der Hand, ein neues, gutes, über den deutschen Wald, von einem seiner besten Freunde:
»Das lies nicht, du! Da kriegst eine zu rasende Sehnsucht! Nimm's mit heim! Da kannst's lesen!«
Sie sagte, ihm erstaunt in die Augen sehend: »Ist schon recht!«
Rasende Sehnsucht, ja, die hatte sie ohnehin! Waldsucht, Höhensucht, Heimsucht! Das kann einen Menschen ja umbringen auf die Läng', fand sie, als sie vier Wochen da war.
So schlimm hatte sie sich's nicht gedacht! Und abends war's immer am ärgsten! Da zerrte und zauste es an ihr, wie der Wind an den alten Bäumen. Da sah sie förmlich die heimischen Tannen, sog die kräftige Heimatluft in Gedanken ein.
Im Theater und in Konzerten war's vollends dumm!
Je Schöneres sie genoß, je mehr, je tiefer sie es empfand, je stürmischer es in ihr. Herz griff, je sehnsüchtiger dachte sie hinterdrein: »Nun aber heim! Nichts Neues jetzt mehr! Dies ruhig und schön ausklingen lassen, daheim, im geliebten Wald!«
Nach diesen Genüssen gingen unterwegs und zu Haus immer die langen Unterhaltungen über das Genossene los. Und dann befiel sie wieder die Redeangst, die Scheu und Schüchternheit vor den wortgewandten andern; – ernste, trockene Worte nur brachte sie mühsam heraus. Gar nichts hören, gar nichts reden hätte sie am liebsten mögen. Einer vertrauten Freundin höchstens mit leiser Stimme mancherlei zuflüstern von dem, was sie empfand!
Und eine solche war nicht zur Hand.
Haben hätte sie eine Freundin zwar können während des Übergangls in der Stadt.
Eine unter dem zahlreichen Völkchen des Schwippschwägerinnenverkehrs bot sich ihr an. Es war eine, die überall war, aber doch keinen rechten, festen Anschluß hatte, eine etwas zerfahrene, die Tochter einer Professorswitwe, Gerda Häuser mit Namen.
Die schüttete ihr eines Tages ihr Herz aus.
Sie sei unverstanden, sagte sie. Und Huberta, das sähe sie, sei es auch. Die jungen Mädchen verstünden sie nicht, ihre eigene Mutter nicht einmal. Sie habe einen höheren Drang in sich, schwärme für das Ideale. Und die Mutter wolle sie zu allerhand kleinlicher Haus- und Küchenarbeit verwenden. Sie seien beide tiefere Naturen, Huberta und sie. Deshalb wollten sie sich einander anschließen, wenn es Huberta recht sei.
Huberta dankte, lehnte aber freundlich ab. Ihr war's nicht recht.
»Ihre Mutter, scheint's, ist erst recht unverstanden von Ihnen,« sagte sie in leisem, zögerndem Ton und versuchte dem Mädchen dann näher darzutun, wie sie zu dieser Meinung käme.
Sie hatte die Frau Professor öfter gesehen: bei ihrer Schwägerin erst einmal, dann oft unterwegs aus der Straße, in Läden, aus dem Markt, immer mit Paketen und gefüllten Einkaufstaschen schwer beladen, müd und abgehetzt. Sie hatte ängstliche, liebe Augen, die Frau, war zart und bleich. Gerda war groß, dick und rund. Drei Pensionäre hatte die verwitwete Professorin zu versorgen, außer ihren Kindern. Neulich war sie in eine vier Treppen hoch gelegene Wohnung umgezogen. Elly hatte es bei Professors erzählt. Gerda Häuser war nämlich mit Elly in der Malstunde gewesen den ganzen Vormittag, obgleich es ihr Maltag nicht war.
»Wir ziehn um. Da bin ich der Mutter doch überall nur im Wege!« hatte sie ihre Anwesenheit erklärt.
Huberta schlug dieser Gerda nun vor, sie solle doch lieber ihrer Mutter Freundin werden, eine recht hilfreiche, statt ihre! Sie setzte es ihr bescheiden und doch klar auseinander und fand auch die rechten Worte, so daß Gerda laut ausrief:
»So hab' ich mir das ja noch gar nicht bedacht!«
Sie schien es aber nun, stumm neben Huberta herschreitend, auf einmal zu bedenken.
»Ich kann auch sonst nicht«, gestand Huberte hieraus scheu. »Ich habe schon eine Freundin!«
Gerda lauschte wißbegierig auf. Wer die wäre, wie die hieße, wollte sie wissen.
Huberta aber mochte den Namen kaum sagen. Sie errötete, als sie ihn endlich herausbrachte, wie eine junge Braut.
»Agnes von Rieden,« sagte sie mit glücklichem, weichem Klang der Stimme.
»Ist die zu Haus? Bei Ihnen?« begehrte Gerda zu wissen.
Huberte sagte: »Ja, daheim! Das heißt nein, nicht daheim! Jetzt ist sie in der französischen Schweiz, in der Pension, – Grüß Gott!«
Die beiden Mädchen hatten einander auf dem Promenadenring getroffen; Huberta kam von der französischen Konversationsstunde.
»Ich muß mich schleunen, muß heim. Wir essen pünktlich!«
Mehr zu sagen und auszuplaudern über ihre Freundschaft mit Agnes von Rieden, das war Huberta nicht willens und nicht imstande.
Die Freundschaft war anders als die aller Freundinnen hier in der Stadt. Kein Küssen und Umarmen, kein Herzerl- und Schatzerlsagen war's.
Acht Jahre lang hatte sie mit Agnes von Rieden auf einer Schulbank gesessen, und sie hatten sich einander eigentlich nur immer scheu und trotzig angesehen während dieser Zeit, die beiden: jedes Wort, das sie miteinander sprachen, war wie mit einem Häkchen versehen gewesen.
»Ja, du! Natürlich kannst nur du allein einen Strauß binden!« knurrte die Agnes. – Die hatte nämlich jeden Strauß, den die Huberta Sollacher dem Schulmeister brachte, für tausendmal schöner angesehn, als jeden von sich.
»Setz' du dich nur obenan! Ich mag nicht Klassenerste sein, wenn's der Herr Lehrer auch zehnmal sagt! Du weißt ja doch alles am besten, gelt?« sekkierte die Huberta die Agnes mit gereiztem und herausforderndem Anschaun nach der Osterversetzung.
Dafür befahl Agnes der Postwirts-Gabi ein andermal patzig: »Borg' der Huberta Dein Lesebuch, sie hat ihr's vergessen! Schau du mit mir hinein! Mein's wird sie ja doch nicht wollen!« –
»Da hört! Das Fräulein von Rieden! Das benutzt die seinen lateinischen Blumennamen auch außer der Schul', unterwegs, für alle Tag! Für die gewöhnlichen Bauernamen ist die jetzt auch schon zu strotzig.« (Ein aus Stolz und protzig zusammengezogenes, selbsterfundenes Huberta-Wort.) – –
»Ja, du bist die G'scheitste!«
»Ja, du bist die Feinste!«
»Ja, du in deinem Wald!«
»Ja, du in deinem Schloß!«
So hatten sie sich gehakt und gehäkelt während der ganzen Schulzeit.
Und die Huberta hatte doch während all der vielen Schulstunden der ganzen acht Jahre sozusagen keinen Blick verwandt von der Agnes seinem, stolzem, entzückendem Gesicht.
Am schlimmsten war die Häkelei am letzten Tage der acht Jahre geworden, als der Lehrer schon seine schöne und gewaltig dröhnende Abschiedsrede an die vier Schülerinnen gehalten hatte und, gefolgt von zweien derselben, die es eilig hatten mit den Hinauskommen für immer, aus dem Schulzimmer geschritten war.
Da hatten der Agnes die schwarzen Augen schwer voll glitzerndem Wasser gehangen.
»So, jetzt kannst froh sein,« Begehrte sie höhnisch und trotzig gegen Huberta auf. »Jetzt geh' ich in die französische Pension! Jetzt siehst mich zwei Jahr nimmer!«
Und Huberta hatte sie fest angeschaut, als wolle sie sie in sich hineinessen mit ihren Blicken.
»Und du kannst noch froher sein! Du siehst mich, wenn ich's einrichten kann, dein Lebtag nimmer!«
Während sie das aber sagte, ward sie ganz blass. Es ward ihr schwimmend und schwarz vor den Augen. Sie sank mit der Stirn auf die Schulbank und schluchzte laut auf.
Und da kniete die Agnes auf einmal neben ihr, schlang die Arme um sie und schrie:
»Du, ich sag' dir jetzt was, jetzt, wo wir doch auseinandergehn! Du weißt's auf hundert Meilen nicht, wie gut ich dir bin! Mei Herzensfreud' warst und mei Herzensfreud' bist und mei Herzensfreud' bist gewesen in der ganzen Schulzeit! Weil d' mich nicht hast leiden können, hab ich halt auch getan, als könnt ich dich nicht leiden.«
Huberta hat zuerst gar nichts gesagt als – mit meterlang gedehnten Worten: »Ich dich nicht leiden!«
Dann nach und nach gab's Aufklärungen, wie sie sich gegenseitig gut leiden gekonnt!
Zwei Tage haben sie dann einander nicht von der Hand gelassen. Einen Tag war die Huberta im Schloß Rieden zu Gast, wo sie auf das Bestehen ihrer Freundschaft erst bei Tisch mit dem alten Herrn von Rieden, dem Großvater der Agnes, der sie erzogen, mit Tiroler Wein anstießen, dann beim Braumeister im Privatstübel mit sirupdickem, süßem Malzextraktbier. Die berühmte Schloßbrauerei, aus der alle Gastwirte ringsum das Bier bezogen, gehörte ja zum Schlößchen Rieden, und die Einnahmen des alten Schloßherrn, dessen Vorfahren Ritter gewesen, flossen zumeist aus dem Bier.
Dann kam die Agnes einen Tag ins Forsthaus in den Wald, wo der Sollacher, der Max, über das rührendzarte Freundschaftsverhältnis der beiden Mädchen gehörig frozzelte und die Agnes ihrer Länge und Dünne wegen »Schlangnes« taufte, weshalb sie ihm, wo sie konnte, aus dem Wege ging.
Diese Tage waren trotz dieser kleinen Unebenheiten wie ein schöner Traum.
Die Agnes ist dann nach der französischen Schweiz abgedampft, wo sie sich in der Sprache und allerlei Gelehrsamkeit ausbilden sollte, für den Fall der Not. Denn um ihres Großvaters Vermögen spielte ein Familienprozeß, von dem es abhing, ob sie einmal ganz arm oder recht reich werden würde.
Huberta hatte vom Sonnenaufgang ihres Scheidetages an Veilchen für Agnes zum Abschied gepflückt, und es waren so viel geworden, daß die Agnes außer ihren drei Stück Handgepäck noch vier im Coupé hatte, lauter große Veilchenstrauße und Veilchenkörbe.
»Meine liebe, liebe Freundin! B'hüt dich Gott! Bleib' mir treu!« hat ihr die Agnes mit festem Handdruck beim Abschied gesagt.
Huberta hat so leis geflüstert, daß man's kaum hören konnte: »Mein Liebling!«
Seitdem haben sie einander viele Briefe geschrieben. Jeden Montag warteten Huberta und der Dackl daheim voll Spannung am Gartenpförtchen auf den Landpostboten. Nie umsonst. Und jeden Sonnabend gab Huberta dem Manne einen Brief mit: » A Mademoiselle Agnes von Rieden, Villa Laure, Genève, Suisse.«
Der Sollacher frozzelt sie, wenn er es sieht. Der frozzelt sie überhaupt mit der »Schlangnes«, daß es nimmer schön ist.
»Du, die wird sicher strotzig werden in der feinen Pension! Wenn die heimkommt, wird die nix mehr von dir wissen wollen. Die wird sich wohl feinere, gebildetere Freundinnen anschaffen, là-bas, à Genève en Suisse! Wirst's sehn!«
Huberta rauft dann immer mit ihm, im Scherz natürlich, aber doch mit merkwürdig ernst blickenden, glitzernden Augen.
Ganz sicher und getrost, wie man einer Freundschaft sein soll, ist sie ihrer Sache nicht, trotz der Agnes lieben guten, wunderschönen Briefen.
Sie hat eine düstre Befürchtung, eine Regung der Eifersucht, deren sie sich schämt. Die kann sie aber nicht los werden, so viel Mühe sie sich auch gibt.
Ob die Agnes sich unter ihren Pensionsschwestern nicht wirklich eine Freundin sucht? Es ist so merkwürdig, daß Agnes in keinem ihrer Briefe diese Mädchen auch nur mit einem Worte erwähnt.
Huberta hat einigemal schüchtern nach ihnen gefragt. Nun wagt sie es nicht mehr, denn Agnes von Rieden antwortete nicht mit einem Worte drauf.
Die Agnes erzählt vom blauen Genfer See, von französischen Studien, von schönen französischen Vorträgen, die sie hört, von Mademoiselle Saure, der Vorsteherin des Pensionats, vom Montblanc, dem schneeweißen Riesen, den sie in ganz weiter Entfernung von ihrem Zimmer aus leuchten sieht, vom Schloß Chillon, den Dents du Midi, der alten Kirche St. Pierre, in welcher einst Calvin gepredigt hat – – – kein Wort von Mitpensionärinnen und Mitschülerinnen. »Wir« heißt es, wenn sie von den schönen Dampfschiffahrten und Wandertouren spricht.
» Dix à douze jeunes filles à la maison,« hat in der Zeitungsannonce gestanden, auf welche diese Pension für Agnes von ihrem Großvater ausgewählt worden ist.
Diese » dix à douze jeunes filles« schweben Huberta beständig als Schreckgespenster vor.
Eine von ihnen kann ihr das geliebte Herz der Agnes stehlen, Agnes kann eine lieb gewinnen! Kann sie vergessen! Sie zittert, wenn sie nur daran denkt!
»Und extra bleib' ich ihr dann treu! Und im ganzen Leben will ich von keiner anderen Herzensfreundin etwas wissen!« hat sich Huberta unter ernsten Kämpfen fest und feierlich vorgenommen.
Dieser Vorsatz trug wohl noch besonders dazu bei, daß Huberta den andern Mädchen in der Stadt so fremd und fern blieb.
Es sei nicht recht. Man müsse sich ein wenig anstrengen, um die Herzen zu gewinnen, mußte die Tante sie oft tadeln und ermahnen.
Einen der nettesten, beliebtesten jungen Herren habe sie direkt beleidigt.
Es war Herr von Meitzenstein mit tz.
»Sie haben auch das schöne Blondhaar der Familie,« begann dieser, ein reicher Gutsbesitzerssohn aus der Umgegend der Stadt, der einige Semester Forstwirtschaft studieren wollte, die Unterhaltung mit ihr. »Sie sollten es nur etwas mehr aufbauschen!«
Huberta entgegnete: »Irgendwelche Haare muß man doch haben! Aufbauschen ist nicht mein Geschmack!« Das war nicht nur gradan, war patzig und keck! Sie fühlte es wohl!
Gegen diesen Herrn von Meitzenstein war sie aber auch zu sehr geladen! Sie hatte sich bei den Mädchen erkundigt: »Warum stellt der sich eigentlich so kurios vor? Mit dem tz?«
Er habe es nötig, belehrte sie darauf Gundel. Er täte es, um Verwechslungen vorzubeugen.
»Weil es nämlich hier in der Stadt eine zweite Familie Meizenstein gibt, die sich bloß mit dem z schreibt. Diese Meizensteins haben Bankrott gemacht. Es waren reiche Leute, sie hatten ein Bankhaus, machten ein Haus, gaben viele Gesellschaften. Jetzt sind sie total verarmt und haben einen kleinen Blumenladen.
Huberta frug: »Sind's brave Leut'?«
Gisela gab, sich die Sache überlegend, zu: »Das schon!«
»So a Lumperei dann von dem tz!« fuhr's der Huberta laut heraus in einem Ton, daß die Gundel sie erstaunt ansah und lachend sagte: »Bei deiner Herstellung scheint Schießpulver verwandt zu sein, mein Forstprinzeßlein!«
Am anderen Tage gab Huberta dem Mann mit dem tz die patzige Antwort.
Elly verkündete ihr hinterdrein, es habe ihn verwundet. Und Huberta werde es büßen müssen, fürchtete Elly. Meitzenstein habe es einigen Freunden erzählt, wie unmanierlich Huberta sich gegen ihn benommen hätte.
»Möchtest du es auf Bällen nicht zu spüren haben, daß du Gegner hast!« meinte die fürsorgliche Elly bedenklich.
Huberta tröstete sich. Auf Bällen? Was könne denn da Extraschlimmes sein?