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Huberta Sollacher steht vor dem offenen Gewehrschrank ihres Vaters, in dem sich vierzehn vor Blankheit und Reinheit an Holz- und Metallteilen schimmernde Gewehre verschiedensten Alters und Kalibers in Reih und Glied befinden. Das fünfzehnte der Reihe hat die Försterstochter eben zur Hand genommen.
Es ist Sonnabend. Sie hat die ganze Gesellschaft gründlich gereinigt und geputzt, von außen und innen, hat jedes einzelne sorgsam auseinander genommen, um Schmutz und Feuchtigkeit zu entfernen. Ganze Haufen von dünnem, porösem Seidenpapier hat sie zu Pfropfen geballt, diese vermittels eines Stocks hin und her gestoßen durch die Läufe der Schrot- und Kugelbüchsen, bis das anfangs schwarz werdende Papier, um das sie immer neue Hüllen wickelte, schließlich schneeweiß herauskam. Hähne, Verschlußteile, Schaft, Außenteile hat sie ebenso gereinigt. Mit den Putzlappen, die sie in reicher Anzahl und hellster Sauberkeit in der unteren Querlade des Gewehrschrankes aufgespeichert hält, hat sie dann gerumpelt und geschrumpelt. Mit Petroleum getränktes Werg mußte ein paar hartnäckige Rostflecken wegzaubern. Die Laufseele, d. h. das Innere des Laufes der Büchsen und Flinten, muß glatt und blank und frei von jeder Spur von Rost sein; sie weiß, dies ist die erste Vorbedingung des guten Schießens. Vaters Flinten sind zum Teil alt, sind ein Menschenalter hindurch tagaus, tagein, zu jeder Tag- und Nachtstunde und bei jeder Witterung im Freien herumgetragen und gebraucht worden; das sieht ihnen niemand an.
Sie so schön instand zu halten, daß sie alle überstandenen Gebrauchsstrapazen lachend zu verleugnen scheinen, das gehört mit zu Hubertas Obliegenheiten.
Von dem Vater, den Brüdern, den Jagdgehilfen hat sie die Gewehrpflege nach und nach gelernt, sie ihnen abgesehn bis zu immer größerer Vollkommenheit.
Mit den Schwungfedern wilder Enten fettet sie die geputzten Gewehrteile nach der Reinigung sorglich ein, ein rotseidenes ehemaliges Kinderhalstüchel von ihr dient zum Abwischen des Fettes und Öls. Dann wird das Gewehr mit peinlicher Sorgfalt wieder zusammengesetzt.
Bei dieser Tätigkeit geht der Försterstochter das Babettl, ein Dirndl, das mit seiner hellen Gesichtshaut und seinen weinroten Zöpfen einen wundernetten Anblick bietet und das Küchenhilfe und Stubenmadel im Forsthaus ist, zur Hand.
Mit ruhiger gemessener Freundlichkeit und Herrinnenwürde gibt Huberta dieser ihre Anweisungen und Belehrungen.
Unter fortwährendem: »Bitt' schön, Fräuln!« »Scho recht, Fräuln!« »Dank' schön, Fräuln!« führt das Rotköpfel sie aus, bescheiden und dienstbeflissen und mit einer Miene, als wolle sie eigentlich bei jedem Worte tief knixen.
Es ist beiden Ernst, der Huberta ums Anstellen, dem Babettl ums Rechtmachen und Folgen. Und doch ist, unter der Oberfläche versteckt, ein besondrer Reiz und Zauber bei diesem Verkehr zwischen Herrenkind und Magd: die Erinnerung nämlich, was sie für Unbände und Wildfänge miteinander waren in ihrer gemeinsamen Kinderzeit.
Sie sind zusammen aufgewachsen. Babettl ist der alten Zenzl jüngstes Schwesterkind, ein Waislein, das um Zenzls und christlicher Nächstenliebe willen von seinem vierten Jahre an im Forsthaus mit aufgezogen ward. Mit dem Försterfräuln verbinden es außer großem gegenseitigen Gernhaben unzählige gemeinsame, der Vergangenheit angehörige Vagabundenstreiche.
An die zu erinnern, ist das Babettl immer geneigt, sehr viel öfter, als die Huberta willens ist, sie zu hören. Wenn's nach dem Babettl ginge, so erklänge es den ganzen Tag: »Fräuln, wissen's noch? Fräuln, können's Ihna noch erinnern?«
»Wissen's noch,« hat das Plappermäulchen vorhin eben beim Flintenputzen herausgesprudelt, »wie mir haben Pritsch kriegt, mir zwei und der Sepp, weil mir extra noch Schuh und Strumpf aus'zogen haben und barfuß durch den Wald in die Schul g'stapft sind im hohen Schnee, bei der grausigen Kält damals, wo's knistert und knaxt hat im Wald, als ob's brennen tät? – Der Herr Forstmeister ist grad einer Fuchsfährten nach'gangen und hat die Fährt' von uns drei Barfüßle g'funden. Schlecht ist's uns 'gangen beim Heimkommen; statt Küchln Karwatschen! Aber der Herr Forstmeister hat dann auf den Nachmittag zum Kaffee die Küchln doch noch erlaubt. Zu Maria Lichtmeß ist's gewesen, in dem schrecklich kalten Winter damals. Gelt, das wissen's doch noch, Fräuln?«
Huberta sagt kurz, wenn auch in der Erinnerung lächelnd: »Ja, ja! Eil' dich aber nur recht mit deiner Flinten. Laß die alten G'schichten jetzt! Schau, wie spät!«
»Wissen's auch noch die vielen Triangel, die Sie Ihnen in die Röckl gerissen haben beim Klettern auf die Bäum'?« fährt Babettl unbeirrt fort. »Damit sind S' dann immer ganz stat zu mir kommen: ›Kannst mir's flicken, du? A Hak' ist an mir hängen blieben!‹ Wie a Eichkatzel habn's damals klettern können. Von ein'm Ast zum andern und bis in die letzten Enden, daß die Äst' sich bogen haben. Mistelbeeren, die wüsten Dinger, haben S' sich g'holt. Die haben S' so gern gegessen damals, wissen's noch? Lieber als was Süßes! Und wie S' immer auf die ganz hohe feichtene Tann Fichte. klettert sin', die auf 'm Bergl g'standen is, um auf die Uhr z' schaun im Kirchturm übern See? Einmal habn S' sich da um a Stund g'irrt. Die Stund haben wir zum Blaubeerpflücken benutzt. Wie wir dann ins Schulzimmer 'kommen sind, war die zweite Stund, die Singstund, schon ang'fangen, und der Herr Schulinspektor war da und hat zuhören gewollt. Ganz bei Ihnen, Fräuln, hat er grad g'standen mit dem ernsten Gesicht. Wissen's noch? Sie haben's recht schön machen wollen und haben den Mund sperrangelweit aufg'sperrt. Der war bis hinten kohlschwarz von d' Blaubeeren. Der Herr Schulinspektor hat sich nit halten können vor Lachen. Wissen's noch?«
»Und wie's die Schul' einmal haben schwänzen wollen, Fräuln, weil S' Ihr Aufgab' nit g'schrieben haben? Einmal in der Haselnußzeit. Sie sind vornweg g'rennt. Wir haben denken sollen, der Sepp und ich, Sie wären schon lang voraus. Wie wir am Backofen vorüberkommen sind, hat der Sepp auf einmal wie am Spieß g'schrieen: ›A Löw! A Löw!‹ Zurück ins Forsthaus ist er' g'rennt, wie b'sessen hat er dort 'rum g'schrien: ›Im Backofen liegt a Löw!‹ Wie wir dann alle nachg'schaut haben, wer war's, Fräuln? Sie! Ihre dicken Zöpferln haben's sich aufg'flochten vor Langeweil, die gelben Haar sind Ihnen so lockig und so zottelig ums Gesicht g'hängt, ak'rat wie dem Löwen in der Biblischen Geschicht sei Mähn'. Der alte Schönwieser Sepp, der grad Holz g'schlagen hat auf'm Hof, hat Sie rauszogen aus'm Versteck. Wissen's noch?«
Huberta weiß alles noch. Sie ist nur im Ausgraben dieser despektierlichen Erinnerungen zurückhaltend. Und eben jetzt hat sie die bestimmte Weisung erlassen: »Babett, schaff'! s' ist mit Schwätzen genug!«
Woher soll das Babettl den Respekt bekommen, wenn sie sich mit ihr immer wieder in die Erinnerungen an diese geliebte wilde, unbändige Kinderzeit verspinnt?
Sie hat die Kinderschuhe, die Springinsfeldschuhe, längst ausgezogen mit ernstem Entschluß.
Die Kinderzeit liegt hinter ihr wie eine Sage.
Und sagenhaft war sie auch.
Alles war damals anders, so vorzeitlich schön und eigen, einzig dadurch, daß noch nicht tausend Schritte vom Forsthaus entfernt und ungefähr ebenso weit von jedem der sechs einzelnen verstreuten Einödhöfe, die gemeinsam den Dorfnamen Gereut tragen, ein Bahnwärterhäusel als Eisenbahnhaltestelle lag, wie es jetzt der Fall ist. Kein Schienenweg zog seine blanken Schlangenlinien zwischen den hohen grünen Fichtenbaummauern durchs einsame Waldrevier.
Ein Graspfad nur, eine »Holzschnitten,« mit harten, von den Holzfuhren eingedrückten Doppelfurchen, führte nach dem See, an dessen jenseitigem Rande, im weitläufigen großen Seeflecken und Sommerfrischort, sich die nächste Schule befand.
In diese Schule ist die Huberta gegangen, auf besagtem Graspfad, oder lieber noch durch ganz unwegsamen Wald.
Mit der Laterne war man im Wintermorgengrauen immer aufgebrochen, das Försterkind, als es noch ganz klein war, mit dem Babettl Hand in Hand, der Sepp in der Mardermütze voraus mit dem wandernden, strahlenspinnenden Licht.
Über eine Stunde war der Weg bis zum Rande des Sees.
An kalten, schneelosen Wintertagen sauste man auf spiegelglatter Schleife oder im Schlittchen über den See, Babettl und Huberta stattlich vom Sepp gezogen.
Im Sommer trat an Stelle von Schleife und Schlitten der Kinder eigenes Boot.
Das lag zwischen den Fischerbooten am Ufer festgepflockt. Das Babettl durfte dem Sepp rudern helfen. »Huberta tut zu sehr planschen,« hatte der Sepp verächtlich verkündet. Ja, immer das Babettl! In den ersten Schuljahren fühlte Huberta die Bevorzugung des Rotköpfls von seiten des Sepp manchmal recht kränkend.
»Du g'fallst mir!« sagte der Sepp greinend und puffte das Babettl dabei kräftig in die Seite. Die folgte dem Sepp auch schön aufs Wort, wie keinem anderen. Beim Rudern bildeten die beiden mitsammen ein vortreffliches Gespann.
Lautlos, im sicheren Takt, tauchten sie die Ruder ein, daß kein Tropfen spritzte. In schnurgerader Fahrt ging's nach dem gegenüberliegenden Schuldorf zu. Grün angestrichen war der Waldkinder Boot, und rot waren die Ruder. Dieses nasse, in der Morgensonne leuchtende Rot, aus dem glitzernden See, war so schön. Huberta hat sich daran gefreut, lange, ehe sie noch die Schönheit der Berge ringsum begriff, lange, ehe sie einsah, daß ihr Schulweg etwas sei, um das sie Tausende von Kindern beneiden konnten.
Sie saß zuerst ein paar Jahre mit den Dorfkindern, auch mit dem Babettl und dem um drei Jahr älteren Waldheger-Sepp, ihren Spielgenossen, in der Schulstube, der geräumigen, hellen Eckstube mit den kleinen hellgrünen Rouleaux vor den vielen Fensterchen, hinter deren Scheiben die bunten Kressen und Geranien leuchteten, daß es manchmal war wie in der Kirche mit den bunten Scheibenfenstern.
Dann kam zu dem Lehrer, der alt wurde und die vielen Kinder in den drei Klassen nicht mehr bändigen konnte, ein junger Hilfslehrer, der später einmal sein Nachfolger werden sollte.
Der richtete außer seinem Dorfschulunterricht auf des alten Kollegen Rat eine kleine Extraklasse ein für das Arzt-, das Postwirts- und das Forstmeisterstöchterchen und die kleine Agnes vom Schlößchen Rieden, deren Angehörige gern etwas höher hinaus wollten mit der Schulbildung ihrer Kinder.
Die vier Mädchen in der Extraklasse hatten es gut.
Manches wußte der Herr Lehrer besser als sie; manches wußten sie besser. Das sagten sie einander fröhlich und im schönsten Frieden.
Der Herr Lehrer wußte alles ganz genau, was in Büchern stand. Die Herren im Herrenstübel in der Post, Doktor, Post-, Eisenbahn- und Forstbeamte, der Herr Pfarrer und der evangelische Herr Pastor hatten gemeint, er sei unheimlich gescheit. Die Postwirtswabi hatte es deutlich gehört. Immer rede er von »neuen Büchererscheinungen.« Dies sei zuweilen etwas unbequem.
Ja, das hatten die Kinder auch bald herausgemerkt: gescheit war er, der Herr Vollhuber mit dem feinen, zarten Gesicht und dem feinen, zarten kohlschwarzen Bärtchen, der rein zum Spaß seinen Namen zu führen schien!
Er war einer armen Witwe Sohn.
Für außergewöhnlichen Fleiß in der Volksschule hatte er eine Freistelle im Seminar bekommen. Da hatte er jede Gelegenheit wahrgenommen, zu lernen und sich zu bilden; ganz vollgepfropft hatte er sich mit Wissen, ohne nur ein Bröckchen wieder fallen zu lassen von dem Erfaßten.
Er hatte gründliche Kenntnisse in Geschichte und Geographie, in Naturwissenschaften, Literatur und Sprachen.
Bei dem konnten die Kinder einen ganzen Batzen lernen, meinte bewundernd der alte Lehrer.
Das taten sie auch. Und nebenbei lernte der Lehrer bei ihnen einen ganzen Batzen.
Was nicht in den Büchern stand, das wußte er nämlich nicht.
Wie die Blumen, die er im Bilde kannte nach Staubfädenzahl und Blütenstand, mit deutschen und lateinischen Namen, in Natur eigentlich aussahen, davon hatte er keine Ahnung.
Er war in der Stadt, zwischen seiner verwitweten Mutter Giebelstübchen und dem Seminar aufgewachsen, immer mit der Nase im Buch, war nie in ein richtiges Dorf gekommen, denn um die Stadt waren auf Meilen hinaus nur Fabrikdörfer und Fabriken; er kannte Berge, Täler, Wälder und Seen nur von der Landkarte, kannte den Dialekt der Dorfleute nicht, noch die Sprache der Vögel.
Daß der Fink »Tui-ti-ti« macht, wenn er sich über den warmen Sonnenschein freut und »Schütt- Pschütt,« wenn er Regen verkündet, »Pink-Pink« dagegen, wenn er im Frühling sein Weibchen lockt, das brachte ihm bei einem Gang durchs Dorf zum erstenmal die Huberta bei. Das »Zi-zi-zi,« den Abendgesang des schwanzwippenden Hausrotschwänzchens auf dem Dachfirst, der so traulich klingt, lehrte sie ihn dann noch kennen und das muntere, unternehmende Geschwätzel der kleinen Meisen im Gezweige der Tannen und Obstbäume.
Der Herr Lehrer schüttelte bei der Belehrung ganz versonnen den Kopf.
»Woher ihr das alles wißt – – –!«
Huberta sagte: »Das weiß mer halt –«
Die Kinder wußten aber noch einiges mehr.
Sie hatten manchmal bei blitzblauem Himmel ihren Regenschirm mit und sagten ganz bestimmt vornweg: »S' gibt Regen.«
»Ja, weil die Katz sich doch auf den Hinterkopf legt! Und die Hähne am Tag immer kräh'n und die Schwalben tief fliegen,« begründeten sie's.
Die Agnes von Rieden meldete: »Mir ist heute früh im Hofe ein Schwalberl durch die hohle Hand durchgeflogen. Hab' müssen mein Gummimäntelchen anziehn deshalb.«
Daß ein Schwälbchen und ein Gummimantel in einem Zusammenhang stehn können, das hatte der Herr Lehrer noch nicht gewußt. Er hatte auf Wetter überhaupt noch nicht sehr geachtet.
Ob's regnete oder die Sonne schien, – in der Stadt bei seinen Büchern war's ihm egal gewesen.
Auf dem Land, wo die kleinsten Kinder oft stundenweit von den entfernten Höfen in die Schule gehn, wo Ernte und Viehzucht, kurz, das ganze Leben, vom Wetter abhängt, kommt das Wetter mehr in Betracht. Die dümmsten Dirndln und Buben kennen sich aus mit den Wetterzeichen.
Im Laufe sehr kurzer Zeit hat der Herr Lehrer sie auch weggehabt. Er hat sich viel zu den Kindern hingestellt in Feld und Wald und an den See, zu Hütbubn und Beer- und Schwammerlsucherinnen und Fischerkindern. Mit den Forsthauskindern ist er oft den halben Weg heimwärts durch den Wald gegangen. Da hat er die Ohren gespitzt, gelauscht und gestaunt über das, was sie ihm alles sagen konnten aus der Natur. Die Namen der Berge jenseits vom See haben sie ihm zuerst genannt. Da war's ganz anders, als wenn er sie von der Landkarte mit der kleinen Schrift ablas. Eine Sehnsucht kam über ihn nach den Höhen der Berge, heiß und groß.
Der ist er nachgegangen im Laufe der Jahre. Auf der mächtigsten Landkarte der Welt hat er Umschau gehalten. Von Jahr zu Jahr hat er von der mehr und mehr gelernt.
Und den Kindern hat er, wie der Schulinspektor nach Schluß der Schulzeit sich ausdrückte, eine ganz nette Bildung beigebracht.
Er hat's ihnen freilich nicht leicht gemacht.
Huberta Sollacher hat nicht umsonst diesen festen Zug um den Mund, der besagt: »Zum Spaß bin ich nicht auf der Welt!«
Der Schullehrer hat sie stramm dran genommen mit Aufgaben und Uebungen in allen Fächern.
Vater und Brüder nahmen sie dran, als gäb's keinen Schulmeister mit höherem Ehrgeiz für seine vier Auserlesenen.
Hüben und drüben gab's hohe Ansprüche, ernste Pflichten.
Durch tüchtige Ansprüche, von tüchtigen Menschen gestellt, ist aber auch schon manch tüchtiges Menschenkind herangereift.