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7.
Die Uniform

In der sechsten Woche, daß Wilhelm Voigt von der gerüsteten Burg am Memel nach Potsdam gefahren war, bekam er die Ausweisung aus Berlin und dreißig Vororten; doch wurde ihm eine Frist eingeräumt von vierzehn Tagen.

Nun es soweit war mit seinem So oder So, machte er einen letzten Versuch in Rixdorf, sein Niederlassungsrecht zu bekommen; denn er wollte alles getan haben. Der Polizei-Kommissar hörte sich ein Dutzend seiner ausgedachten Sätze über die beabsichtigte Heirat mit Geduld an; dann wehrte er seinen steigenden Eifer mit der Hand ab: Er habe hier weder ein Paß- noch ein Standesamt; und für eine Heirat wären die Papiere der Heimatgemeinde erst recht nötig. Wenn er ihm einen Rat geben dürfe, sei es der, ohne Widerrede nach Tilsit zu fahren, um keinen Konflikt mit der Staatsgewalt heraus zu fordern; er hätte nicht mehr viel Haare zu verlieren!

Ja freilich! sagte Wilhelm Voigt und strich seinen Bart auf eine schalkige Weise, die den Polizei-Kommissar erstaunte, holte seinen Hut von der Bank, wo er ihn der freien Rede wegen abgelegt hatte, und ließ sich seine Abmelde-Bescheinignng aus Rixdorf geben.

Bei dem Direktor der Schuhfabrik hatte er schon gekündigt: er habe in Prag eine kleine Erbschaft gemacht! und auch der Schwester verriet er nicht, daß er in Berlin bleiben wollte. Sie würden bald von ihm hören! versicherte er, als sie zum letzten Abend dasaßen, und war so aufgeräumt, daß er von seiner Kriegskasse sprach und andere Tollheiten machte; nur die Frau Römer saß einsilbig dabei, weil sie seinen Sprüchen nicht mehr traute. Der Buchbinder, dem er die Miete bis auf den Pfennig bezahlt und noch ein Päckchen Tabak zum Abschied geschenkt hatte, philosophierte vom Zukunftsstaat: ob man dann auch noch Polizei brauche? und die Schwester weinte, daß er nun doch wieder zu den Böhmen und Türken ginge.

Du kannst nicht anders fahren, als die Schienen gelegt sind! belehrte sie Wilhelm Voigt zum andern Mal und schnitt mit einer Handbewegung weiteren Widerspruch ab.

Am andern Morgen packte er seine geringen Sachen in den alten Reisekorb, den ihm die Schwester billig abließ, und fuhr zum Schlesischen Bahnhof, wo er ihn am Handgepäck abgab, sich eine Wohnung zu suchen. Vorher trat er bei einem Barbier ein, seinen in Wismar gezüchteten Vollbart abnehmen zu lassen. Er sei Aufseher in einer Eisfabrik, versicherte er todernst: da blieben ihm immer die Schneeflocken im Bart hängen.

Nachher vor dem Spiegel sah er befriedigt, wie fremd er sich selber mit dem grauen Schnurrbart unter den eingefallenen Backen vorkam. Er ließ sich Haare und Flausen sorgfältig abbürsten und ging auf die Suche nach einer Wohnung, die nicht weit von der Stadtbahn und dennoch abseits genug wäre. Er fand sie bei einem Zeitungshändler in der Langen Straße hinten hinaus im vierten Stock. Da hatte er seinen besonderen Schlüssel und brauchte Niemanden heraus zu klingeln. Er holte seinen Korb und erkundigte sich bei der Frau, die ein rechtes Berliner Straßengewächs war, mit Umstand, wo er sich anmelden müßte, fuhr aber zum Potsdamer Bahnhof auf den erstbesten Zug.

Für den Kleiderhändler hatte er eine lange Geschichte fertig, warum er so lange nicht gekommen wäre. Aber der sanfte Schmerbauch war weder mißtrauisch noch neugierig und verkaufte ihm die Hauptmann-Uniform vom ersten Garderegiment zu Fuß mit Helm, Mütze, Mantel und Degen, weil sie zu verkaufen sein Geschäft war, und weil der Käufer sie bar bezahlte.

Wilhelm Voigt trug ihm auf, alles gut verpackt an den Bahnhof bringen zu lassen, gab ihm den Abendzug an und schritt durch die Nauener Vorstadt hinaus, in Sanssouci Besuch zu machen, wie er dem Händler, der ihn bis an die Tür bedienerte, nachlässig sagte.

 

Sanssouci

Es war unterdessen Mitte Oktober geworden, und der Regenwind vergangener Tage hatte die rostigen Blätter über den Rasen gekehrt, die nun in der Sonne zum Trocknen dalagen. Auch die Terrassen, als er hinauf ging, waren schon abgeräumt, und nur oben standen noch ein paar Bäume in ihren Kübeln.

Wilhelm Voigt wußte die Tür, wo man klingeln mußte; und als er sich allein durch die kühlen Räume führen ließ, behielt er den nachlässigen Gang eines alten Militärs bei; ja, er ahmte auch die Sprechweise nach und setzte an jedes einzelne Ding soviel Sorgfalt, es zu betrachten, daß der Diener aus seiner anfänglichen Murrheit über den verspäteten Besucher respektvoller wurde und ihn am Ende, das Trinkgeld an der linken Hosennaht, trotz seinem Zivil militärisch grüßend entließ.

Hat geklappt! schnarrte Wilhelm Voigt vor sich hin, die Treppe hinab steigend; und weil er aus seiner Geschichtsforscherei noch allerlei wußte, sagte er unten: Bonsoir! wie der König, als er in Lissa unter die österreichischen Offiziere trat.

Sich weiter zu üben, speiste er in der Wirtschaft von neulich zur Nacht, neugierig, ob die Soldaten auf seinen Ton horchten, in dem er mit den Kellnern umsprang. Und mußte über sein Gehabe lachen, wie er im Dunkeln zum Bahnhof marschierte, als ginge ihm eine Truppe zur Seite.

In der Langen Straße kam er mit seinen Paketen ungesehen zum vierten Stock hinauf in sein Zimmer; und ob er nur eine Petroleumlampe und über dem Waschtisch einen ärmlichen Spiegel hatte, zog er sogleich alles an, seine Hauptmannsfigur abwechselnd im Rock und Mantel, im Helm und in der Mütze zu betrachten. Den Helm beschloß er lieber zu lassen, weil es zu umständlich war, ihn über die Treppe hinab und hinauf zu bringen. Sonst aber war er mit seinem Einkauf zufrieden; und als er die Glieder ausstreckte, sagte er in seine dunkle Kammer hinein noch einmal: Bonsoir!

 

Übung am Schlesischen Bahnhof

Den andern Tag ließ er verstreichen, ging nur zur Neuen Wache, das Schauspiel der Ablösung gleichsam als alter Militär in Zivil zu genießen; und erst in der Dunkelheit wagte er, die erste Probe auf sein Exempel zu machen.

Mit seiner Schachtel marschierte er zum Schlesischen Bahnhof, wo er einen Zehner einwarf und dafür einen zwar engen doch verschwiegenen Ort sich umzukleiden bekam. Er tat das trotz der Behinderung seiner Ellbogen ohne Ungeduld, bis er sich völlig in Ordnung wußte und als Hauptmann aus der Tür trat, die danach für einen neuen Zehner und Anwärter bereit stand.

Die Schachtel mit seiner Zivilkleidung ließ er durch einen Dienstmann, der gerade an den Ort kam, zum Handgepäck tragen, verstaute den Zettel im Rockärmel und trat seinen Dienst an. Er wußte nämlich, daß auf dem Schlesischen Bahnhof um die Abendzeit kleine Truppentransporte aller Art anzukommen pflegten, und wollte an einem sein Ding erproben. Es kehrten an diesem Abend aber nur ein paar Urlauber zurück, die ihm mit der Kaltblütigkeit gedienter Soldaten die Ehrenbezeugung erwiesen; und schließlich war es ihm recht, daß es nicht gleich zu einer ernsthaften Diensthandlung kam.

Er schritt noch eine halbe Stunde lang in der Halle auf und ab, sich als alter Kavallerist an die Fußgängerei zu gewöhnen, und hatte keine Not, die gelegentlichen Grüße mit der notwendigen Herablassung zu erwidern: die Uniform machte alles von selber. Einmal sprach er den Portier an, der sogleich die Hacken zusammen nahm; und einen älteren Mann, der aus irgend einem Irrtum den Hut vor ihm zog, beglückte er mit der Frage, wo er sich das Eiserne Kreuz verdient habe? Dann erschien es ihm geraten, die Übung abzubrechen. Er machte noch einen Spaziergang, die Breslauer Straße hinunter bis an den Holzmarkt und die Jannowitzbrücke, und probierte die Schrittweisen aus, nachlässig schreitend oder energisch ausgreifend, aß zurück gekehrt im Wartesaal eine Bratwurst, ehe er das zweite Zehnpfennigstück an die Unternehmung setzte und mit seiner Hauptmannswürde in der Schachtel den Schlesischen Bahnhof verließ.

 

Nauen

So geht es nicht! überlegte Wilhelm Voigt, als er wieder in seinem Zimmer war, nicht nur von der Treppe kurzatmig; und der Hals war ihm wund gescheuert von dem ungewohnten Kragen. Er rieb ihn mit Hirschtalg ein, den ihm die Schwester für die wunden Füße gegeben hatte, und holte den Plan von Berlin und Umgebung heraus, noch eine Stunde lang bei der Petroleumlampe den weiteren Feldzug an der Karte zu studieren.

Er mußte, das sah er bald, gegen Tegel hinaus, wo die Wachen der Schießplätze leicht abzufangen waren; und Nauen schien ihm von dort aus das sicherste Ziel; das wollte er zunächst rekognoszieren.

Aber als er andern Tags vom Bahnhof Jungfernheide aus seine militärische Unternehmung schon in der Frühe begonnen hatte, und in Nauen ausstieg, bemerkte er zu seinem Schrecken, daß die ehemals verschlafene Kleinstadt durch den neuen Zauberturm der Funkentelegrafie belebter war, als er es gebrauchen konnte. Er wagte nicht einmal, dort zu essen, und ging mit gespitzten Ohren zum Bahnhof zurück. Da schien die Berliner Garnison ausgezogen zu sein, ihn zu fangen, indem er fast in einen Schwarm von Generalstäblern und Offizieren der Kriegsakademie hinein gelaufen wäre, die, vom Bahnhof kommend, ihn schon aus der Ferne – das sah er genau – neugierig bemusterten, wer da wohl vom ersten Garderegiment zu Fuß in Nauen wäre?

Es gelang ihm noch mit einer Rechtsschwenkung, hinter die Deckung eines Möbelwagens zu kommen und in die Nebenstraße zu entweichen; doch hatte Wilhelm Voigt, als er glücklich wieder im Bahnhof Jungfernheide war, wo er sich umzog, genug von Nauen und Spandau, das er auch noch hatte passieren müssen. Weil ihn aber seine Geistesgegenwart an jenem Morgen in Köpenick erinnert hatte, da er mit eben solch einer Schwenkung dem reitenden Gendarm entwischte, bekam sein Feldzug auf einmal ein strategisches Ziel, auf das er seine Taktik einstellte: Von Tegel eine Schießwache holen und damit in Köpenick Militärgewalt spielen!

 

Frühdienst

Als Wilhelm Voigt am andern Morgen um halb drei Uhr aufgestanden war, die Stadt Köpenick mit bewaffneter Macht zu überziehen – der vor den Behörden ein ausgewiesener Zuchthäusler war und keine andere Legitimation seiner Kriegsführung als die Hauptmanns-Uniform in der Pappschachtel hatte – folgte er einem tollkühnen Einfall, weil er nicht wieder die lästige Verkleidung am Schlesischen Bahnhof haben wollte. Er zog die Uniform in seinem Zimmer an und verließ kurz nach drei Uhr die Wohnung als Gardehauptmann in Mantel und Mütze; den Helm ließ er auch diesmal stehen, weil er ihm lästig und bedenklich schien.

Wie es um diese Zeit anders kaum zu erwarten war, schlief alles im Haus; er mußte sich mit einem Wachsstreichholz die Treppe hinab leuchten. Auch draußen war noch Nacht, und nur gegen den Schlesischen Bahnhof hin mischten sich die Vorläufer des kommenden Tages schon in die Nachzügler des vergangenen. Ein Betrunkener, der sich an den Hauswänden vorbei tastete, lallte ihn an: Herr Hauptmann, wo haben Sie Ihre Kompagnie? und ein Soldat, der mit Paketen belastet in Urlaub wollte, riß sich aus seiner Schlaftrunkenheit auf, daß ihm eine Schachtel auf den Boden fiel.

Wilhelm Voigt nahm das eine wie das andere nur halb wahr, ihm machten allein seine ausgetretenen Stiefel Sorge, die ihm bei der Lampe auf einmal als wenig passend für einen Hauptmann aufgefallen waren. Ich bin im Dienst! tröstete er sich nach seiner Gewohnheit, mit sich selber zu sprechen, wenn er allein war; und als er die steinernen Treppen im Bahnhof hinauf ging, nahm er jede Stufe mit einem festen Tritt, als wollte er auch den Stiefeln ihr Recht beweisen. Er forderte eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Köpenick, die er in den Ärmel steckte; und dem Schaffner, der ihm die Tür aufmachte, nickte er zu, daß sie beide frühen Dienst hätten! über welche Herablassung sich der graubärtige Mann freute; denn er sagte: Zu Befehl, Herr Hauptmann!

Dies wiederum machte, daß sich die dunkle Gestalt eines Menschen vom Polster aufhob, der das Licht verhüllt hatte, den versäumten Schlaf nachzuholen. Auch dem winkte er leutselig ab: Lassen sie nur! Ich steige in Köpenick aus.

Dann sind Sie nicht mehr von gestern wie ich, Herr Hauptmann? fragte der Mann, und Wilhelm Voigt antwortete lachend: Nein, erst von heute!

 

Rekognoszierung

In Köpenick war es immer noch dunkel und so neblig, daß ihm die trübe Lichterschnur nur auf kurze Sicht den Weg durch die Damm-Vorstadt zur alten Mitte wies, wo das Rathaus stand, das er besichtigen wollte: er hatte nämlich gehört, es gäbe zwei Rathäuser dort, ein altes und ein neues. Nachdem er gesehen hatte, daß für seine Unternehmung nur das neue mit dem großmächtigen Turm in Frage kam, und nachdem er dem Nachtwächter, der da mürrisch den Morgen abwartete, den militärischen Gruß abgewinkt hatte, ging er, den Gasthof zu suchen, in dem er vor vierzig Jahren auf seiner Flucht eingekehrt war.

Durch Zufall fand er ihn auch und trat ein, weil schon Licht brannte, seinen Morgenkaffee zu nehmen. Bereits der Flur stand mit gelben Kacheln neumodisch ausgelegt, und drinnen war die alte Gaststube in braune Nischen aufgeteilt, davon er eine in Beschlag nahm. Statt eines Kellners kam die blond betürmte Wirtin selber, die nach Berlin wollte, wie sie dem Hauptmann gleich mitteilte. Während er seinen Kaffee schlürfte, fragte er die redelustige Frau über die Stadt Köpenick und ihren Bürgermeister aus: Einundzwanzigtausend Einwohner, außer vielen Wäschereien auch Färberei und eine Linoleum-Fabrik. Der Bürgermeister verkehre hier. Ein strenger Herr! sagte sie.

So, ein strenger Herr? quittierte Wilhelm Voigt nachdenklich, indem er seinen Kaffee bezahlte. Die blonde Wirtin mochte meinen, daß sie zuviel gesagt habe: Nur im Amt! schwächte sie ab und reichte ihm zum Abschied ihre Patschhand wie einem Stammgast.

Als er sie nachher auf dem Bahnhof wiederfand, wollte sie offenbar die frühe Bekanntschaft fortsetzen; aber ihm schien es richtiger, mit hochgeklapptem Mantelkragen den Frostigen zu spielen, indem er eifrig gegen das Ende des Bahnsteigs ging, wohin der Lichtschein nicht reichte; denn es war immer noch dunkel.

 

Flausen

Erst gegen Berlin wurde es hell; und als er am Alexander-Platz ausstieg, war der fahle Morgen dabei, die letzten Schatten der Nacht auszukehren. Es gibt einen sauberen Tag, Herr Hauptmann! fiüsterte der Barbier in der Rosenthaler Straße, bei dem er sich rasieren ließ: Heute hätte unsereins auch lieber Kommisstiefel an!

Wilhelm Voigt konnte nicht umhin, nach den seinen zu sehen; aber sie staken im Dunkel unter der Theke; und es war nur eine Redensart von dem Barbier, der bei den Gardefüsilieren gedient hatte, wie er dem Herrn Hauptmann ebenso flüsternd verriet. Dennoch war es zum ersten Mal seit der Frühe, daß ihm sein Ding bedenklich wurde; und als er hinaus kam, wo der Himmel hinter den dünnen Wolken blau zu blühen versuchte, sah er mit Schrecken ein, daß er nun im Tag gefangen war; denn vor dem Dunkel konnte er keinesfalls in die Lange Straße zurück kehren. Noch länger seine Uniform durch Berlin zu tragen, schien ihm gefährlich. Wofür hat der Dachs seine Höhle? fragte er sich und ging in eine Kaffeestube, dort noch eine Stunde geduldig zu warten, ehe er eine geschlossene Droschke nach der See-Straße nahm. In einer geschlossenen Droschke, hatte er einmal gelesen, könnte der Kaiser selber ums Schloß herum fahren und es kennte ihn keiner.

Der Kutscher ratterte ihn die lange Chaussee- und Müller-Straße hinunter und dann in der See-Straße links bis zur Versuchs-Anstalt für das Braugewerbe, wo er zunächst in den Ausschank ging, Überlegung und Mut zu fassen; denn gegenüber in der Jungfernheide waren die Schießstände, wo er die Wachen holen wollte.

So dreist er in der dunklen Frühe ausmarschiert war, so zweifelhaft war er nun, wo er sich im hellen Vormittag – denn die Sonne war immer fleißiger hinter dem dünnen Wolkengewebe her – militärischen Augen aussetzen sollte. Er mußte sich selber einen Feigling schimpfen, ehe er den notwendigen Gang an den Schießständen vorbei machte, sich über die Wachen zu informieren.

Was ist denn, wenn sie dich fischen? fragte er in seine Bedenklichkeit hinein: Du hast eine falsche Uniform an; das kann nicht viel kosten!

Es ging auch alles günstiger, als er gedacht hatte; ein paar Soldaten grüßten ihn, einem Offizier begegnete er nicht, bis er zurück kam und in das Reichelsche Lokal wollte, plötzlich um eine Ecke herum und auf der selben Seite kam ihm ein Major der Luftschiffer-Abteilung entgegen, dem er auf keine Weise ausweichen konnte. Er nahm den gewissesten Schritt seiner Stiefel und vergaß im Augenblick ganz, daß er selber ein Hauptmann der Garde und der andere nur ein Major von den Luftschiffern war, so ausgezeichnet grüßte er ihn. Und es mochte wohl dieser Gruß gewesen sein, daß der andere, wie er deutlich am Schritt hörte, sich nach ihm umwandte. Er aber ging seinen Schritt weiter und widerstand der Lockung nach rechts zurück zu blicken, während er sich schräg über die Straße in das Lokal wandte.

Nur, als er sich dort gesetzt hatte, schlug er mit der linken Hand auf den Tisch vor Unmut über seine Unsicherheit, wagte sich aber fürs erste nicht mehr aus der Glasecke heraus, wo er vor der kühlen Luft geschützt in der Sonne saß, bis er gegessen hatte und die Zeit der Ablösungen seinen Aufbruch nötig machte, wenn er nicht bis zur Dunkelheit dasitzen und beschämt in die Lange Straße zurück schleichen wollte.

 

Der Gefreite

Dienst! kommandierte Wilhelm Voigt sich selber, klopfte mit einem Fünfmarkstück den Kellner heran, zahlte und trat in den Mittag hinaus, der für Oktober zu warm geworden war und nach Heide roch.

Weil es noch eine Viertelstunde zu früh war, und weil er keineswegs auffallen wollte, ging er um das Krankenhaus herum an den Kanal und bog eben aus der Sylter Straße ein, als ihm eine Wache von der Schwimm-Anstalt Plötzensee in den Weg kam, an die er garnicht gedacht hatte.

Die Begegnung geschah so unerwartet, daß er kein anderes Gefühl aufbrachte, als unbeachtet vorbei zu kommen. In diesem Augenblick, wo ihn alle Dreistigkeit verließ, warf ihm der Zufall ein Fangseil zu, das er sogleich ergriff. Weil nämlich der Gefreite, der die Wache führte, gleichfalls überrascht war und weil die Begegnung übereck auf einer reichlichen Rufweite geschah, wollte der sich törichter Weise aus der Patsche helfen, indem er geradeaus sehend, den Hauptmann nicht zu bemerken schien. So tat er zwar das, was der Verblüffung Wilhelm Voigts das angenehmste hätte sein müssen; aber der erlebte zum andern Mal, daß eine Uniform aus sich selber handelt; denn sofort und zu seinem eigenen Schrecken rief er: Halt!

Mit diesem Halt trat er in seine Rolle ein. Bis dahin war ihm die Uniform doch nur eine Verkleidung gewesen. Jetzt nötigte sie ihn zu handeln, und im Augenblick gab es keine Bedenklichkeit mehr. Kein Soldat des alten Fritz hätte seinen Auftrag entschlossener anpacken können als Wilhelm Voigt, der von diesem Halt an so sicher war, als hätte er die Berechtigung aller Instanzen hinter sich bis zur allerhöchsten hinauf, deren Rock er trug.

Und weil der Zufall bekanntlich nur dem hilft, der ihn zu halten weiß, und weil darum das Glück dem Kühnen gehört, der geistesgegenwärtig genug ist, zu greifen, was ihm zufällt, hatte der Gefreite, so plötzlich gestellt, kaum seine Meldung gemacht, woher und wohin? als über die Tiefe der Straße querüber auch schon die erste Schießstands-Wache zog.

Wilhelm Voigt sandte sofort einen Mann, die zweite Wache heran zu holen, die auch von einem Gefreiten geführt wurde. Als der stramm seine Meldung gemacht hatte, war die Truppe auf zehn Mann angewachsen, vier Füsiliere und sechs Grenadiere. Die anzuführen, war nicht gerade ein Hauptmann nötig; so übergab Wilhelm Voigt dem ersten Gefreiten, der aus Homberg am Rhein und darum schlagfertig war, die Führung und setzte den andern an die Queue, wie sie das beim Militär heißen. Dann sagte er der so formierten Armee kurz, daß sie jetzt nicht zur Kaserne marschieren, sondern durch ihn in einer wichtigen Dienstleistung kommandiert würde, und gab als nächstes Ziel den Bahnhof Puttlitz-Straße an.

Abteilung marsch! kommandierte der erste Gefreite, der um seiner Unterlassung willen Sorge hatte, die Knöpfe zu verlieren, und besonders diensteifrig war. Wilhelm Voigt, der vermeintliche Hauptmann, sah seine Truppe wohlgefällig marschieren, indessen er mit der nachlässigen Sorgfalt, die ihm in seiner Situation geboten schien, hinterher ging.

 

Dienst

Auf dem Bahnhof Puttlitz-Straße löste Wilhelm Voigt selber die Fahrkarten für sich und die Soldaten und gab dem Gefreiten Geld, in Rummelsburg, wo sie umsteigen mußten, jedem Mann ein Glas Bier zukommen zu lassen. Daß sie pflichtgemäß einstiegen, sah er mit einem Seitenblick; er selber fuhr in der zweiten Klasse, angeblich in eine Zeitung vertieft, die er breit vor sich hielt.

Auch in Rummelsburg ging alles nach seinem Befehl, nur schien es ihm, der sich abseitig hielt, als ob die Zivilisten zu dreist und neugierig mit den Soldaten sprächen. Er ließ seinen Leuten die kurze Freiheit, überlegte aber, während er diesmal allein im Abteil nach Köpenick fuhr, dort schärfer zu sein, damit ihm nicht eine Nachlässigkeit das Spiel verdürbe.

Indessen, als sie dort ausgestiegen waren und zum Abmarsch bereit standen, meldete der wachthabende Gefreite, durch die murrende Mannschaft offenbar dazu genötigt, daß sie noch kein Mittagessen gefaßt hatten; und weil es immerhin schon auf vier Uhr ging, half es nichts; die hungrigen Mägen mußten ihr Teil haben. Wilhelm Voigt winkte also zunächst einmal den Gefreiten ungnädig ab, weil sich schon Neugierige sammelten, gab dann von sich aus Befehl – als hätte er es garnicht anders vorgehabt – die Gewehre zusammen zu stellen und in der Bahnhofswirtschaft einen Happen zu nehmen, wozu er wiederum Geld und eine Viertelstunde Zeit gab. Während die Truppe aß, ging er als Hauptmann im Korridor auf und ab und mußte einmal energisch ans Fenster klopfen, weil die übermütige Jugend den zusammen gestellten Gewehren zu nahe kam. Der Aufenthalt vor dem Angriff ärgerte ihn, und daß er selber daran schuld war, noch mehr; denn nichts schien ihm unlieber, als daß einer im Rathaus vorher Meldung machen könnte. So dicht am Feind beschloß er, das Kommando selber zu übernehmen.

 

An die Gewehre!

Pünktlich nach einer Viertelstunde meldete der Gefreite die Mannschaft zur Stelle. An die Gewehre! kommandierte Wilhelm Voigt; und als er das Seitengewehr aufpflanzen ließ, selber die Plempe heraus reißend, sah es wie Gefechtsbeginn aus, obwohl sie nur zehn ungeladene Gewehre am hellen Nachmittag im kleinstädtischen Frieden von Köpenick waren. Nun gab es kein Rührt Euch! mehr; strammen Schrittes marschierte die kleine Mannschaft in die Damm-Vorstadt ein und die Lange Straße hinab auf den Rathausturm zu, der am sechzehnten Oktober 1906 keinen Krieg erwartete und die Truppe gleichmütig heran kommen ließ.

Als Wilhelm Voigt auf dem Rathausplatz Halt kommandierte, sah freilich die Sache für seinen Gleichmut schon bedenklicher aus. Die Schulzeit war gerade zu Ende, so hatten sich bald einige hundert Kinder gesammelt, die schreiend und einander überrennend den festen Schritten der bewaffneten Macht gefolgt waren; und noch nie mochten auf dem Platz soviel Fenster gleichzeitig aufgerissen worden sein wie nun, wo in den drängenden Lärm auch schon vieler Erwachsenen die Kommandorufe schollen.

In das Rathaus führten drei Portale; so hatte er schon am Morgen seinen Plan gemacht, den er nun ohne Aufenthalt durchführen ließ: an jedes Tor kam ein Füsilier mit dem Kriegsbefehl, niemand hinein noch heraus zu lassen, während der vierte von ihnen, eben der Gefreite, Ordonnanz und Wachthabender der sechs Grenadiere wurde, mit denen sie in das Hauptportal hinein und über die Treppe zum ersten Stock hinauf marschierten, wo das Amtszimmer des Bürgermeisters lag.

 

Der Rock des Königs

Dorthin war der Lärm offenbar noch nicht gedrungen; denn hinter der ersten Tür saß der Stadtsekretär seelenruhig auf seinem Drehstuhl und schrieb. Er bekam ohne Umstand zwei Grenadiere zur Seite gestellt und die Weisung, sich reisefertig zu machen, da er nach Berlin auf die Neue Wache gebracht werden müsse. Der erschrockene Mann wollte etwas sagen, hob aber nur die beiden Hände und ließ sie wieder sinken, sich der bewaffneten Macht bedingungslos zu ergeben.

Hinter der nächsten Tür, als der diensteifrige Gefreite sie aufmachte, saß der Bürgermeister der Stadt Köpenick selber, ebenso emsig arbeitend wie sein Sekretär, nur im Sessel an einem stattlichen Schreibtisch, und er sah aus wie der blonde Spitzbart in Königsberg. Seiner Unnahbarkeit sicher, mochte er zunächst meinen, daß einer seiner uniformierten Beamten ungebührlich herein käme, und schien geneigt, den Dreisten anzurüffeln. Als er jedoch über den Kneifer hinweg einen Hauptmann des ersten Garderegiments erkannte und hinter ihm die Seitengewehre der Grenadiere, sprang er auf beide Füße und sah mit geöffnetem Mund, weil ihm das Wort darin stecken blieb, dem Verhängnis dieses bewaffneten Einbruchs entgegen.

Sie sind der Bürgermeister von Köpenick? fragte ihn Wilhelm Voigt so barsch, wie er konnte; und als der andere, nicht ohne den Nacken zu heben: Allerdings! antwortete, eröffnete er ihm auf allerhöchsten Befehl, indem er die Hacken zusammen nahm und salutierte, daß er sein Arrestant sei und ihm auf die Neue Wache in Berlin folgen müsse!

Da war der Bürgermeister von Köpenick freilich kein Sekretär, der sich wortlos verhaften ließ; er wollte nach der ersten Bestürzung wissen, warum und wieso? und seine Hände sanken durchaus nicht ergeben nieder. Aber Wilhelm Voigt hatte seine Armee hinter sich, die mit aufgepflanztem Seitengewehr das Zeichen zum Angriff erwartete. So brauchte er schließlich auch hier nichts zu tun, als den beiden vordersten Grenadieren das widerspenstige Stadtoberhaupt zu übergeben. Es waren zwei Polen, die nicht allzuviel deutsch verstanden, aber sie trugen den Rock, vor dem auch der Bürgermeister von Köpenick in seinem großmachtigen Rathaus ein Zivilist war.

 

Die überraschte Polizeigewalt

Als Wilhelm Voigt aus diesem ersten Gefecht auf den Gang zurück kam, bestand seine bewaffnete Macht nur noch aus der Ordonnanz und zwei Grenadieren; und die Polizei war noch nicht gesichtet. Für einen Augenblick bangte er, der Feldzug könne verloren gehen; aber seine Uniform war ihrer Sache gewisser. Sie schritt die Treppe und dann den Korridor links hinab, bis auf einem ovalen Schild: Der Polizei-Inspektor stand. Hier machte der Gefreite von selber die Tür vorsichtig auf; und so kam ihre kleine Armee zum Humor dieses Feldzuges. Ganz friedlich saß da die Polizeigewalt von Köpenick im Sessel und schlief, den Mund auf die blödeste Schläferweise halb geöffnet und die Hände über den runden Bauch gefaltet.

So hatte der Polizeigewaltige von der Eroberung seiner Festung nicht das geringste gemerkt und war keine furchterweckende Erscheinung, als er, von der Hand Wilhelm Voigts an der Schulter sanft geweckt, sich in einer höheren Gewalt sah. Er sprang durchaus nicht auf, sondern blieb noch eine Weile mit blinzelnden Augen sitzen, als ob er sich so aus dem Alpdruck der Wirklichkeit in den Schutz seines Nachmittagsschläfchens zurück retten könnte, bis Wilhelm Voigt ihn fragte: ob er dafür von der Stadt Köpenick bezahlt würde, daß er hier säße und schliefe?

Nein, durchaus nicht! gab er der Wahrheit entsprechend zu, und als ihn der vermeintliche Hauptmann aufforderte: er möge die Freundlichkeit haben, sich auf den Rathausplatz zu begeben und dafür zu sorgen, daß Ordnung bliebe! nickte er zustimmend und tappte hinaus wie ein Rekrut.

Die beiden Grenadiere grinsten mit allen Zähnen, und der Gefreite sagte noch rechtzeitig: Zu Befehl! weil er sich fast rheinisch versprochen hätte. Wilhelm Voigt aber hatte einmal seine Rache gekühlt, und der Anblick dieser Kläglichkeit allein war ihm der Feldzug wert, wie er auch ausginge; zudem fühlte er mit diesem Abgang sein Hauptmannspatent fest in der Hand.

Zum Stadtkämmerer! kommandierte er laut, hatte aber die Tür noch nicht gefunden, als der Polizei-Inspektor mit großen Augen und geradezu gesträubten Haaren zurück kam: der Posten ließe ihn nicht hinaus! ihn, vor dem sonst alles eine Gasse machen mußte. So schlimm war dieser höllische Absturz für die Polizeigewalt von Köpenick, daß, als ihm der Gefreite auf einen Wink von dem alten Zuchthäusler die Erlaubnis erwirken wollte, sein Gehirn einen komischen Einfall hatte, diesem in Unordnung geratenen Amtsdienst zu entwischen: Er möchte den Herrn Hauptmann gehorsamst um Urlaub bitten; er müsse baden!

Da gingen den beiden Grenadieren freilich die Mäuler ganz auf, und der Gefreite aus Homberg am Rhein drehte sich prustend zur Wand. Wilhelm Voigt war es nun wirklich eine Rache für vieles in seinem geschundenen Leben, daß er dem Badebedürftigen wohlwollend auf die Achselstücke klopfte: Urlaub gewährt! sagte er und grinste selber wie die Grenadiere hinter dem Polizeigewaltigen her, als der sich aus dem Staub machte.

 

Die Stadthauptkasse

Damit war der Feldzug gewonnen und alles, was noch kam, Sieg und Beute. Zwar, ehe sie zur Hauptkasse hinein kamen, stand schon wieder Einer da: der Kassenbote wollte Durchlaß haben, Geld von der Post zu holen. Durchlaß kann nicht gewährt werden! entschied Wilhelm Voigt kurzerhand und winkte dem Gefreiten, die Tür zur Stadthauptkasse zu öffnen.

Ein geräumiges Zimmer mit stark vergitterten Fenstern tat sich vor seinen Blicken auf – das verkehrte Zuchthaus, dachte er: dort soll keiner hinaus, hier soll keiner herein – und in der Mitte standen vier Gestalten über Kreuz im Gespräch, die sofort Front machten. Die Herren wollen sich an ihre Plätze begeben! verfügte er zunächst; und als sich die Beamten gehorsam hinter ihre Pulte gestellt hatten, fragte er: Wer ist hier Kassenrendant?

Ich! meldete sich einer von den Vieren und trat wie ein Schulknabe aus der Bank, den Befehl entgegen zu nehmen: Er solle sofort Kassenabschluß machen, weil er verhaftet sei und in einer halben Stunde zur Neuen Wache in Berlin gebracht werden müsse! Folgsamer als der Bürgermeister war er zunächst dazu bereit: Nur müsse der Herr Hauptmann dann auch den Kassenboten durchlassen, weil er das Geld von der Post zum Abschluß brauche. Durchlaß gewährt! sagte Wilhelm Voigt und winkte seinem Gefreiten, den Mann durch den Posten zu bringen, indem er selber den Kassenraum wieder verließ. Die beiden letzten Grenadiere blieben darin zur Aufsicht, und den Gefreiten, als er sich vom Portal zurück meldete, stellte er vor die Tür, ihm zugleich die Aufsicht über den unteren Teil des Rathauses übergebend, während er selber, nun allein, wieder die Treppe hinauf ging, das obere Stockwerk zu inspizieren.

Er war noch kaum in der Mitte, als ihm der Kämmerer, von einem der Grenadiere begleitet, mit einem neuen Bedenken nachkam: Er könne den Abschluß nicht machen ohne Befehl des Bürgermeisters! Weil der Mann, unter ihm stehend, nur für einen Augenblick das Gesicht gegen ihn hob, dann aber gerade aus sah in der Höhe seiner Füße, hatte Wilhelm Voigt das unangenehme Gefühl, er sähe auf seine verdammten Stiefel. Mehr um die zu verbergen, als schroff zu sein, wandte er sich gegen die Stufen und sagte über die Schulter zurück: Das wäre ihm gleich; er würde ihn dann sofort abführen lassen und einem andern Beamten den Auftrag geben! worauf der Rendant hinter ihm her zugab, daß er unter diesen Zwangsumständen den Abschluß machen würde!

 

Dienstakten

Über den Verdruß an seinen Stiefeln wegzukommen, trat Wilhelm Voigt fester auf, als er durch den oberen Gang marschierte, und dies hatte zur Folge, daß überall die Türen zugeklappt wurden; auch im Rathaus schien die Nachricht von der kriegsgemäßen Besetzung unterdessen bis zum letzten Schreiber durchgedrungen zu sein. Nur die Tür zum Bürgermeister blieb offen, und als er hinein ging, nach dem Rechten zu sehen, wünschte das zerknitterte Stadtoberhaupt einen Polizeidiener für sein Gepäck, und außerdem seine Frau zu sprechen. Den Polizeidiener verweigerte er ihm; aber die Frau ließ er sofort durch einen Grenadier herunter bitten. Als sie mehr empört als ängstlich aus der Dienstwohnung im oberen Stock herunter kam, spielte er den artigen Hauptmann, teilte ihr den unliebsamen Sachverhalt schonend mit und führte sie selber zu ihrem trostbedürftigen Mann: Solange der Bürgermeister noch hier sei, könne sie ungehindert mit ihm verkehren!

Seine Großmütigkeit, die ihm durch einen Blick der stattlichen Bürgermeisterin verdankt worden war, hatte ihn über den Ärger der Stiefel hinweg gebracht. Als er wieder hinab kam, weil sich da Einer gegen die Treppe vorgewagt hatte und durch den Gefreiten nicht zurück halten ließ, war es ein Beamter mit Briefschaften, die der Bürgermeister unterschreiben müsse! Er nahm ihm das Zeug kurzerhand ab, wie wenn es lauter Bittschriften wären; aber sofort ahmten andere, die in den Türen gelauert haben mochten, sein Beispiel nach, so daß Wilhelm Voigt in wenigen Minuten die Hände voll Dienstakten hatte.

 

Verstärkung

Da er nichts anderes damit anzufangen wußte, würgte er sie in seine Manteltasche; denn draußen wurde der Lärm bedrohlich. Eine scharfe Stimme hatte da eine Auseinandersetzung mit dem Posten; und als er selber nachsah, war es der Oberwachtmeister des Kreises Teltow, den der Teufel daher führte, ihm das gewonnene Spiel doch noch zu verderben, der hatte aber nur den schönen Oktobertag benutzt, einen Dienstritt nach Köpenick zu machen; und als er strammen Schrittes auf Wilhelm Voigt zutrat, wollte er durchaus nicht den falschen Hauptmann verhaften, wie der erwartete, sondern sich bei dem vermeintlichen zum Dienst melden.

Mit dieser überraschenden Meldung erhielt Wilhelm Voigt eine Verstärkung, die draußen dringend nötig war, wo Kopf an Kopf gedrängt die Köpenicker standen, mit Flüchen und Späßen die Entlarvung ihrer Verwaltung abzuwarten. Er schickte den ortsbekannten Mann hinaus mit dem Auftrag Ordnung zu halten und wollte sich eben wieder erleichtert dem inneren Dienst zuwenden, als der Gefreite meldete, draußen hätten sich auch noch die Stadtverordneten von Köpenick aufgesammelt und wollten zu einer anberaumten Sitzung herein.

Sie sollen sich draußen setzen, wenn es so wichtig ist! verfügte er im ersten Ärger; aber dann schien es ihm doch richtiger, die Bürgervertreter drinnen als draußen zu haben. Er trat also vor an das Portal und ließ die Herren, Stück für Stück zählend, eintreten, bis es achtzehn waren. Kopfzahl stimmt! bestätigte der dicke Letzte selbstzufrieden, daß sie ihr Bürgerrecht gegen die Militärgewalt durchgesetzt und vor allen Dingen den gewöhnlichen Köpenickern ihre Wichtigkeit dargetan hatten.

 

Voll und ganz

Darüber kam der Gefreite schon wieder mit einer Meldung: Im Kassenraum stimme es nicht. Der Rendant wünsche den Herrn Hauptmann dringend zu sprechen!

Kann er haben! sagte Wilhelm Voigt, den die Viehzählung übermütig gemacht hatte, und ließ sich die Tür aufmachen, darin breitbeinig stehen zu bleiben. Er könne den Abschluß doch nur auf Befehl des Bürgermeisters machen! trotzte der Stadtkämmerer, und diesmal schien er durchaus entschlossen zu sein. Aber Wilhelm Voigt war es eben so sehr: Der Bürgermeister ist verhaftet wie Sie selber! erklärte er scharf und hob seine behandschuhte Linke, den zornigen Herrn zu dämpfen. Die Verwaltung der Stadt Köpenick bin ich. Und Sie werden auf meinen Befehl den Kassenschluß machen, weil ich hier keine Unordnung zurück lassen kann!

Auf Ihre Verantwortung! rang sich der Stadtkämmerer ab.

Auf meine Verantwortung! bestätigte Wilhelm Voigt, winkte jede weitere Erörterung ab und trat von der Bühne zurück, dem Gefreiten die offene Tür überlassend. Die Geschichte hatte ihn angestrengt, und draußen war das Gewoge der unbefriedigten Zuschauer noch aufgeregter geworden. Überflüssigerweise meldete sich nun auch noch der Wachtmeister von Köpenick zum Dienst, für den er aber sofort einen wichtigen Auftrag hatte: Er solle bei der nächsten Fuhrhalterei drei Wagen requirieren, möglichst gedeckt, und sie in den Hof des Rathauses fahren lassen, damit die Herren unbehelligt von der Einwohnerschaft einsteigen könnten!

Zu Befehl! schnarrte der Wachtmeister in strammster Haltung und wollte fort; aber er hielt ihn auf eine fast vertrauliche Art zurück: Ob er sich auf ihn verlassen könnte, daß er als sein Bevollmächtigter den Bürgermeister und den Stadtkämmerer – den Stadtsekretär ließ er als unwichtig fallen – jeden in besonderen Wagen nach Berlin zur Neuen Wache brächte, höflich aber unbedingt? Dann brauchte er selber nicht mit, und es wären nur zwei Fuhrwerke nötig!

Er werde das Vertrauen des Herrn Hauptmann voll und ganz rechtfertigen! versicherte der Wachtmeister und fegte mit Feuereifer davon, seinen eigenen Bürgermeister abführen zu können.

 

Das Paßformular

Als der Diensteifrige hinaus war, schien es Wilhelm Voigt an der Zeit, sich einen Augenblick von dem strengen Geschäft auszuruhen; das leere Zimmer des zum Baden beurlaubten Polizei-Inspektors war dazu der geeignetste Raum, auch lag es am nächsten. So ging er kurzerhand hinein, setzte sich in den Sessel und streckte die müden Beine lang aus, nicht abgeneigt, mit einem Schläfchen den Dienst des Mannes anzutreten.

Dabei sah er wiederum seine ausgetretenen Stiefel, aber diesmal erinnerten die ihn daran, daß er der ausgewiesene alte Zuchthäusler Wilhelm Voigt unter Polizeiaufsicht war, der seine Lust gebüßt hatte und nun an den nutzbaren Ertrag denken müßte, wobei der Paß das wichtigste vorstellte.

Er ließ seine Augen herum suchen, fand aber bald, daß es hier weder Akten noch Formulare gäbe, weshalb der Polizei-Inspektor auch wohl so unbehelligt geschlummert hatte.

Unschlüssig, wie er es weiter anstellen sollte, trat er wieder hinaus auf den Gang, wo sich unterdessen allerlei neue Bittsteller angesammelt hatten, die auf seine Entscheidung warteten. Unter ihnen war auch ein junger Mann vom Elektrizitäts-Werk, der irgend etwas Amtliches im Rathaus besorgt hatte und mit eingesperrt war, der aber unbedingt fort mußte. Sich zu legitimieren, hielt er seinen geöffneten Paß hin; als Wilhelm Voigt ihn aufmerksamer als die anderen Schriftstücke in die Hand nahm, sah er den Stempel des Landratsamtes und merkte nun erst, daß ihm die Erinnerung an den Paß mit den Zwillingen durcheinander gekommen war: Er hätte in eine Kreisstadt gemußt statt nach Köpenick, wo sie nur eine Bürgermeisterei hatten.

Mit dieser Einsicht war der nutzbare Zweck seines Feldzuges erledigt; er ließ den jungen Mann, der sich mit den Hacken klappend bei dem Herrn Hauptmann bedankte, durch den Gefreiten hinaus bringen und tappte wieder die Treppe hinauf, sich der Abwicklung seines militärischen Geschäftes zu widmen; denn nun waren es nicht mehr die Stiefel allein, die ihn warnten, Fersengeld zu geben, ehe das Rathaus von Köpenick aus seinem militärischen Alpdruck erwachte.

 

Die Legitimation

Schon traf er das Stadtoberhaupt ungebärdiger, als er es seiner Frau überließ. Sie hatte ihm zur Herzstärkung Kaffee gebracht; und weil es die Männer offenbar tapferer macht, wenn sie eine Frau als Zuschauer haben, wollte der Bürgermeister von Köpenick, ehe er sich weiteren Befehlen fügte, aufs Bestimmteste die Legitimation zu einer so ungewöhnlichen Behandlung sehen.

Ich denke, sagte Wilhelm Voigt kaltblütig und wies auf die Grenadiere, die sofort Haltung annahmen, ich bin legitimiert genug! Weil der Bürgermeister selber Leutnant der Reserve war und also wußte, daß ein Offizier aus Potsdam nicht ohne Auftrag der Stadtkommandatur über eine Berliner Mannschaft verfügen konnte, mußte ihm diese Legitimation tatsachlich genügen.

Es gab dann noch, durch die unerschütterliche Freundlichkeit des Hauptmanns herbei geführt, eine Unterhaltung, in deren Verlauf Wilhelm Voigt der Bürgermeisterin auf ihren Wunsch gestattete, mit ihrem Gatten nach Berlin zu fahren; nur müsse er sie bitten auszusteigen, ehe die Neue Wache in Sicht käme; sonst könnte er Ungelegenheiten haben! Dem Bürgermeister selber nahm er das Ehrenwort ab, keinen Fluchtversuch zu machen; und mit der Bitte, ihm seinen unangenehmen Auftrag nicht zu verübeln, verabschiedete er sich von dem verdonnerten Paar.

 

Das Zunftwappen

Draußen war unterdessen die halbe Einwohnerschaft von Köpenick versammelt, und im Rathaus ging es zu wie in einem aufgestörten Bienenkorb: überall standen die Türen offen und spähten Köpfe heraus. Als Wilhelm Voigt einen kleinen Herrn, der ihm dreist auf dem Gang entgegen kam, unfreundlich ersuchte, sich an seine Arbeit zu begeben, stellte der sich als der stellvertretende Bürgermeister von Köpenick vor. Das ist mir äußerst angenehm! sagte Wilhelm Voigt und übergab ihm mit den Briefen aus seinen Manteltaschen die weitere Führung der Stadtgeschäfte. Wenn er ihn sonst noch brauchte, würde er ihn rufen lassen!

So war er mit dem stellvertretenden Bürgermeister endlich auch die lästigen Briefschaften los; als letzten den Stadtkämmerer zu versorgen, ging er die Treppe hinunter und war nun schon so gewiß, daß er dem Gefreiten lustig zunickte. Wir werden es bald geschafft haben! sagte er und ließ sich die Tür in das Kassenzimmer öffnen. Da hatte der Kämmerer unterdessen den Abschluß gemacht und das vorhandene Geld mit viertausend Mark und einigen Pfennigen auf den Tisch gezählt. Wilhelm Voigt mußte nachzählen und, als es bis auf ein Geringes stimmte, die bereits ausgefüllte Quittung unterschreiben.

Dabei kam unversehens aus dem Hauptmann von Köpenick der Schuhmacher Wilhelm Voigt zu Tage und zwar auf kuriose Art: Weil er in Handschuhen zu schreiben nicht gewohnt war, auch die Unterschrift überlegen mußte, zog er den rechten Handschuh ab und merkte erst, als seine alte Schusterhand auf dem Papier lag, daß am Goldfinger der Messingring des jungen Holbrecht mit dem Zunftwappen stak: auf gelbem Grund der schwarze Stiefel mit rotem Absatz und Futter. Als die Hand einmal dalag, konnte er sie weder wegnehmen, noch den Ring abziehen. In drei Teufels Namen! fluchte ihm Einer inwendig, indem er unter den Augen des Beamten die Unterschrift hinbrachte, die nach etwas Adligem aussah, aber nur je den ersten Buchstaben der sieben Worte: Von mir als Beauftragten im ersten Garderegiment! enthielt und, wenn sie leserlich gewesen wäre, v. Mabieg gelautet hätte.

Der Ordnung wegen ließ er die Scheine in gelben Umschlägen und das bare Geld in Säckchen versiegeln. Aber ehe er die unverhoffte Kriegsbeute einpacken konnte, hatte der Stadtkämmerer noch ein Bedenken: Und hier, Herr Hauptmann, sagte er höhnisch und wies auf den offenen Geldschrank, hier liegen noch zwei Millionen in Staatspapieren, die auch der Stadt Köpenick gehören! als ob er ihm die auch noch aufhalsen wollte.

Ihr habt gehört, daß hier zwei Millionen liegen! sagte Wilhelm Voigt zu den Grenadieren, die diesmal nicht grinsten, aber ihre Mäuler standen dennoch auf vor der Unfaßbarkeit einer solchen Summe: Das geht mich nichts an! faßte mit der Hand, die immer noch ohne Handschuh war und das Wappen seiner Zunft zeigte, die schwere Tür und warf sie zu.

Dann erst packte er die Stadtkasse ein – die Umschläge mit den Scheinen in die Brusttasche, die Säckchen in die Seitentaschen des Mantels – gab dem Stadtkämmerer die Anweisung, sich reisefertig zu machen, und seinen Beamten den Befehl, die Räume zu verschließen, ehe er die Wache aus dem Kassenzimmer heraus zog, das er mit dem herablassenden Gruß eines Hauptmanns vom ersten Garderegiment zu Fuß verließ.

 

Von Köpenick zurück

Draußen übergab er dem Gefreiten aus Homberg, der sich die gefährdeten Knöpfe durch seinen Diensteifer wieder gesichert hatte, das Kommando: In einer halben Stunde die Wachen einziehen, die Mannschaft noch einmal in eine Wirtschaft führen – wozu er ihm Geld gab – mit der Bahn zurück nach Berlin fahren und sich bei der Neuen Wache in Berlin melden: von Köpenick zurück!

Da er sich auf den Feuereifer des Wachtmeisters verlassen konnte, den eigenen Bürgermeister und Stadtkämmerer als Arrestanten nach Berlin zu bringen, war sein militärischer Auftrag erledigt; und eben wollte er sich dem Portal zuwenden, als aus dem Kreis der Stadtverordneten, die den Fall unterdessen mit der ihnen zustehenden Weisheit überlegt haben mochten, ein Abgesandter raschen Schrittes hinter ihm her kam.

Sie wünschen? fauchte er ihn an, mit gezücktem Blick den letzten Streich abzuwenden, der ihm den Abzug doch noch verderben könnte. Aber der Stadtverordnete wollte nur wissen mit allem Respekt, wie er stirnrunzelnd sagte, ob der Auftrag des Herrn Hauptmann dem Bürgermeister oder der Stadt Köpenick gelte?

Natürlich nur dem Bürgermeister! grollte Wilhelm Voigt, indem er endlich seinen Handschuh über das Zunftwappen zog; und auf die weitere Frage, noch einmal mit allem Respekt: wie lange die Besetzung des Rathauses noch dauern würde? Noch eine halbe Stunde! womit der Abgesandte, vollauf befriedigt über den Erfolg seiner Mission, zu den neugierig wartenden Auftraggebern zurückkehrte. Draußen, wo der Lärm der Neugierigen mit einem Schlag leiser wurde, als der Herr Hauptmann selber im Portal erschien, winkte er lässig den Oberwachtmeister heran, übergab ihm nach Abzug der Mannschaft den Oberbefehl über das verwaiste Köpenick und ging durch die Menge, die seiner Uniform willfährig eine Gasse machte und ihn als den Helden des Tages bestaunte, die wohlbekannte Straße zum Bahnhof zurück; dort hatte er das Glück, gleich einen Zug zu erwischen, der ihn rasch nach Berlin brachte, während im Hof des Rathauses zu Köpenick der Bürgermeister, von seiner treuen Gattin ins Unglück begleitet, und der Kämmerer die Wagen bestiegen, in denen sie umständlicher zur Neuen Wache gerumpelt werden sollten, für welche Fahrt der Bürgermeister sein Ehrenwort gegeben hatte, keinen Fluchtversuch zu machen, und der Stadtwachtmeister mit seinem in solchen Dingen geübten Blick ein Bevollmächtigter war, auf den sich Wilhelm Voigt unbedingt verlassen konnte.

 

Der Stiefelladen

Auf eine halbe Stunde war er mit seinen vom Geld der Köpenicker Stadtkasse gebeulten Taschen gesichert, weil seine Truppe ihn solange schützte; und bis die Droschken an der Neuen Wache waren, das konnte zwei Stunden dauern. In Rummelsburg schien es ihm immerhin besser, nicht an der Friedrichstraße anzukommen, wie sein Billett lautete. Er stieg mit allem Bedacht seiner Hauptmanns-Uniform aus, die ihm auf der kurzen Bahnfahrt doch wieder nur eine Verkleidung geworden war, ging die Viertelstunde hinüber zur Hochbahn und fuhr zum Hallischen Tor, wo er sich wieder eine geschlossene Droschke nahm.

An irgend einen Stiefelladen! kommandierte er in nachträglicher Wut über seine Nachlässigkeit; und der Droschkenkutscher mit dem Nikolausbart sagte, nach der Peitsche fassend: Jawohl, Herr Hauptmann! In dem Schuhgeschäft verblüffte er das Fräulein durch seine Fachkenntnisse ebenso wie durch die Löcher in seinen Strümpfen. Er behielt die Dinger, die ihm großartig paßten, wie er sagte, gleich an den Füßen, nahm die alten, als das krausköpfige Mädchen die in eine Schachtel packen wollte, einfach bei den Lederohren, sie so in den Wagen zu tragen.

Auch in dem Kleiderladen an der Friedrichstraße, wohin er sich fahren ließ, weil er keinesfalls in der Uniform heimfahren durfte, brachte er den Verkäufer durch seine drastische Laune aus seiner Gemessenheit; denn seit Köpenick schien ihm alles zu sagen und zu tun möglich. Nur so dreist, sich in dem teuern Laden umzukleiden, wohin der Kutscher den scherzhaften Herrn Hauptmann gefahren hatte, war er nicht. In der raschen Überlegung, wo er das am bequemsten machen könnte, kam ihm der Gedanke an ein Alibi, wie die Juristen das nennen; und weil der Teufel ihn sowieso ritt, hieß er den Kutscher nach Rixdorf fahren.

Während er in dem dunklen Kasten durch die beleuchteten Straßen rumpelte – ihn sah keiner, aber er konnte alles beobachten – malte er sich aus, wie er als Hauptmann bei seiner Schwester Elisabeth eintreten würde, den Schwager Buchbinder wie die Frau Römer erstaunend. Wenn er sich dann umgezogen hatte, konnte er gemächlich nach der Langen Straße gehen, weil niemand seine dortige Adresse wußte.

Über diesen Gedanken fuhr ihm die erste Besinnung durch seinen Kopf, wie er nun doch Soldat und gleich Hauptmann geworden war, einen Handstreich auszuführen, zwar nicht so gefährlich, aber ebenso abenteuerlich wie die in den bunten Heften. Man könnte darüber auch ein solches Heft schreiben! beschloß er seine Gedanken und nahm sich vor, es zu tun.

 

Umkleidung

Die Straße nach Rixdorf hinaus war weit, und während er in dem Lederkasten über das endlose Pflaster gerüttelt wurde, kamen ihm über sein Alibi und die geträumten Prahlereien Bedenken, bis er die Torheit einsah und einen vernünftigen Abgang suchte. Er hätte nun Geld zu fahren, wohin er wollte! sagte er sich und faßte nach der Stadtkasse in seinen Taschen, wenn er erst wieder da unten im Balkan wäre, brauchte er keinen Paß mehr; oder er könnte dort einen kaufen. So beschloß er, sich im Bahnhof Rixdorf umzukleiden und mit dem Nachtzug vom Anhalter Bahnhof nach Prag zu fahren.

Aber die Rixdorfer Stations-Einrichtungen, als er dem Droschkenkutscher ein reichliches Trinkgeld gegeben hatte, das der Alte schmunzelnd einsteckte, und als er in der schwachen Beleuchtung die Örtlichkeit ansah, waren schlecht geeignet für die Verwandlung in Zivil. So tat er wieder einmal, was ihm der Augenblick eingab, indem er kurzerhand nach rechts abschwenkte und, die alten Stiefel in der Hand, zum Tempelhofer Feld marschierte, wo er einen verstohlenen Winkel für seine Absicht suchte und auch in der von allen Seiten fahl durchleuchteten Dunkelheit fand.

Eine Art Schuppen, der aber wieder halb abgebrochen war, bot ihm den Unterschlupf, wo er endlich den Hauptmann los werden konnte. Er faltete als neu eingekleideter Zivilist die Uniformstücke sorgfältig zusammen und verstaute sie unter Brettern so, daß er sie im Notfall wieder finden konnte. Erst dann, als er mit schwer gefüllten Hosen- und Brusttaschen dastand, merkte er, daß er einen Hut zu kaufen vergessen hatte; und dafür fiel ihm der Helm in der Langen Straße ein. Es half nichts, er mußte ihn erst wie das andere Zeug verstecken und sich seinen Hut holen.

Noch einmal eine Droschke zu nehmen, war ihm zu teuer; auch hätte er in dieser abgelegenen Gegend schwer eine finden können. So ging er zur Hermannstraße, stieg dort in eine Straßenbahn und fuhr zum Schlesischen Bahnhof, wo er im Wartesaal ein Brot und ein Bier nahm, als ob es sonst in der Gegend keine Wirtschaft gäbe. Er merkte es selber, daß er nun, wo die Anspannung nachließ, Torheiten machte, aber darum ging er doch bloßköpfig mit den Stiefeln in der Hand nach der Langen Straße, wo er nach siebzehn Stunden Dienst endlich wieder ankam. Als er seine Klappe sah, ließ er die Stiefel fallen und alle anderen Pläne, erst einmal seine Müdigkeit auszuschlafen, weil er von hier aus morgen so gut wie heute den Helm im Kanal versenken und zum Anhalter Bahnhof gehen konnte.

 

Der Hauptmann von Köpenick

Am Morgen, als Wilhelm Voigt erwachte, war der Lärm draußen schon lange im Tag, und die Sonne blinkerte an seinen Scheiben herum, als wollte es schönes Wetter werden wie gestern. Er brauchte lange, alles zu bedenken, was gestern gewesen war, und mußte die Augen dabei wieder schließen, damit ihn die Wände nicht störten! Noch als er sich notdürftig zurecht gemacht hatte und über den engen Flur zu der Wirtin hinüber ging, wie sonst seinen Morgenkaffee bei ihr zu trinken, war er nur in einer Art Schlafwandel wach.

Aber die Frau des Zeitungshändlers, die selber am Schlesischen Bahnhof Zeitungen ausrief, indessen ihr Mann an der Jannowitzbrücke einen richtigen Stand hatte, saß in der Küche am Tisch und die Tränen hingen ihr noch an den roten Backen. Sie hatte in der Zeitung gelesen und so gelacht, daß sie noch immer keinen Atem bekam. Da: Der Hauptmann von Köpenick! stöhnte sie, zeigte auf den fett gedruckten Titel und lachte von neuem, indessen Wilhelm Voigt stehend den ersten Kriegsbericht überflog. An die Zeitungen hatte er nämlich garnicht gedacht, und ihm drehte sich alles, wie er die gedruckten Worte von sich selber las.

Aber sowas! sagte die Frau enttäuscht, die auf einen Lachausbruch gewartet hatte und sein todernstes Gesicht sah. Sie sind mir auch so Einer, meinte sie geringschätzig, den man erst unter den Armen kitzeln muß, damit er zu einem Witz lacht!

Indessen sie den Kaffee aus der Röhre holte und die Tasse hinstellte, hatte sich Wilhelm Voigt an den Tisch gesetzt, immer von neuem mit dem gleichen todernsten Gesicht zu lesen. Das ist doch nicht richtig! tadelte er einmal und machte die Frau von neuem lachen: Richtig nicht, aber recht, daß denen auch einmal der Paß verhauen wird! trumpfte sie auf und konnte sich nicht genug wundern über so einen Mieter, der für den Affenstreich gar keinen Humor hatte. Das muß ein ganz Abgefeimter gewesen sein, nicht solch ein Tranpott wie Sie! stellte sie fest und konnte nicht aufhören, ihm all die lächerlichen Umstände zu erklären, die er offenbar garnicht begriff.

Denn Wilhelm Voigt saß vor der Zeitung mit der dicken Überschrift wie der Reiter überm Bodensee in dem Gedicht und starrte mit einem so merkwürdigen Gesicht auf die schwarzen Buchstaben, daß die Zeitungsfrau zuletzt selber die Lust zu lachen verlor. Sie ginge jetzt zu ihrem Mann auf den Stand! schalt sie und hatte schon alles auf- und hergeräumt für den Mittag. Ihr humorloser Mieter mußte in sein Zimmer abziehen; nur die Zeitung durfte er mitnehmen. Da nahmen ihn die selben Wände wie vorgestern auf, und er selber ging auch nicht anders hin und her; nur war er zwischendurch Hauptmann gewesen, und die Uniform lag auf dem Tempelhofer Feld, wie die abgerechnete Kasse der Stadt Köpenick in der obersten Schublade seiner Kommode auf Verwendung wartete. Er hatte seine Rache gehabt und das viele Geld dazu bekommen, damit er fahren konnte, wohin er wollte; denn daß sie ihn diesmal fingen, schien ihm ganz unmöglich.

Er packte auch schon seinen Kram für die Abreise zurecht; nur lachen, wie die Zeitungsfrau gewollt hatte, konnte er immer noch nicht. Schließlich kam ihm der Helm als das einzige in die Hände, was von der Uniform übrig geblieben war; er stellte ihn wie ein Weihnachtsspielzeug auf den Tisch und wußte, warum ihm so jämmerlich wie damals zu Mut war, als der Schuhmacher Voigt den Tisch mit dem Essen umgeschmissen hatte: Er hatte den Hauptmann gespielt wie Einer und war doch nur ein alter Zuchthäusler, dem weder die geraubte Stadtkasse noch sonst etwas helfen konnte, weil sein Leben verschlissen war.

 

Die Blume dem Hauptmann!

Mittag war schon vorüber, als Wilhelm Voigt es zwischen den Wänden nicht mehr aushalten konnte und verdrossen hinunter ging, irgendwo in einer Wirtschaft etwas zu essen. Kaum aus Vorsicht hatte er weder den neuen Anzug noch die neuen Stiefel angezogen; und wie er seine gebeugte Gestalt aus der Langen Straße gegen den Holzmarkt schob, sah er nicht aus, als könnte ihn eine Verkleidung zum Hauptmann des ersten Garderegiments machen; und ihm selber war es verleidet, daran zu denken. Darum merkte er zuerst nicht, daß es etwas anderes als der blaue Oktobertag war, worüber sich die Leute freuten. Einige, die allein kamen, lachten doch mit dem ganzen Gesicht, und wenn ihrer mehrere miteinander gingen, brachten sie lautes Gelächter mit. Auch im Wirtshaus, wo er sich an einem abseitigen Tisch einen stillen Platz gesucht hatte, war der Schelm in die Gäste wie in die Kellner gefahren. Was Einer auch sagte, immer kam etwas hinterher, das knatternd belacht wurde und dessen einziger Witz Köpenick war. Noch während er seine Suppe aß, geschah es an dem rund besetzten Stammtisch, daß Einer sein frisch gefülltes Bierglas hob und die Blume dem Hauptmann von Köpenick darbrachte. Darüber stießen zuerst die an dem runden Tisch an, bis zuletzt das ganze Lokal den Ruf aufnahm und selbst der bläßliche Jüngling an seinem Tisch mit ihm auf den Hauptmann anstieß, für einen Augenblick aus seinem bekümmerten Gesicht lächelnd.

 

Der berühmteste Mann von Berlin

Und so wie in dem Wirtshaus fand er es nachher überall, als er sich nach dem Essen gegen das Zentrum vorwagte – das Polizei-Präsidium südlich durch die Stralauer Straße umgehend – und in der Probierstube am Spittelmarkt einen Kaffee trank. Ja, je weiter er von da in die Stadt hinein kam, desto fröhlicher schienen die Berliner durch den Handstreich auf Köpenick geworden zu sein; als er zuletzt aus der Friedrichstraße in die Linden einbog, sah es da aus, als ginge alles nur um den falschen Hauptmann spazieren, was er bis zum Pariser Platz und wieder zurück streichend auffing, war immer das selbe Vergnügen. Einmal hörte er einen von drei jungen Herren, die vor ihm hergingen und sehr nach der Mode gekleidet waren, zu den andern sagen, die er zur Bekräftigung an den Ellbogen faßte: dessen könnt ihr sicher sein, daß der Hauptmann von Köpenick heute der berühmteste Mann von Berlin ist!

Was der junge Herr so überzeugend sagte, mußte wohl wahr sein; denn als Wilhelm Voigt immer hinter den Dreien her an die Stelle kam, wo sich vor vierzig Jahren die Berliner ebenso um die Kanonen von Königgrätz gedrängt hatten, sah er gegen die Neue Wache eine schwarze Menge. Da scheinen sie den Kerl schon zu haben! munterte der gesprächige junge Mann die beiden andern auf; und weil sie ihre Schritte beschleunigten, tat Wilhelm Voigt es auch, obwohl er gewiß war, daß sie sich irrten, oder die Behörden hatten einen falschen gepackt.

Es war aber garnichts da, als die leere Neugier; wie wenn die Neue Wache seit gestern die größte Sehenswürdigkeit wäre, standen die Berliner da und starrten zu den Grenadieren hinüber, die sich wie eine Neuerwerbung im Zoologischen Garten angestaunt vorkommen mochten.

Ganz einfach! dozierte der junge Herr wieder, der zuerst sein Monokel ins Auge geklemmt hatte und es enttäuscht wieder fallen ließ: Jeder möchte den dreisten Kerl natürlich gegen Eintrittsgeld sehen. Weiß der Teufel, es wäre mir selber einen Hunderter wert, drei Worte mit ihm zu sprechen!

Hierzu hätte Wilhelm Voigt lachen müssen; er kam aber nicht aus seiner Stumpfheit heraus. Und noch als er in der Dunkelheit nach der Langen Straße zurück ging, weil er doch flüchten wollte, war er wie auf den Kopf geschlagen. Erst, als er in seiner Kammer den übrig gebliebenen Helm auf der Pappschachtel und die Schachtel auf dem Tisch stehen sah, kam er in andere Stimmung.

Er stülpte sich das Gerät auf den Kopf und sah in den Spiegel, sich selber Fratzen zu schneiden. Dazu deklamierte er: Der Schmetterling ist ausgekrochen! weil ihm – er wußte nicht warum – das Wort von dem jungen Holbrecht einfiel, als sie im Mondschein auf dem Marktplatz zu Wismar standen. Hierüber fiel er in solche Verrücktheit, daß er auf ein Haar mit dem Helm auf dem Kopf zu der Zeitungsfrau hinüber gegangen wäre.

Er brachte sich zwar zur Vernunft, aber als er danach wieder die Treppe hinab ging, dachte er nicht mehr an seine Flucht; erst wollte er sein Vergnügen auskosten, wie sie in der ganzen Stadt Berlin über den falschen Hauptmann von Köpenick lachten, und nicht wußten, daß er, der alte Zuchthäusler Wilhelm Voigt aus Tilsit es war, der sich für seine Ausweisung gerächt hatte.

 

Dreitausend Mark Belohnung

So kam der Helm an diesem Abend nicht in den Kanal, und am nächsten auch nicht; außerdem brauchte sich seine Wirtin nicht mehr über ihren stumpfsinnigen Mieter zu ärgern, so neugierig war Wilhelm Voigt geworden und so eifrig, alles zu sammeln, was in den Blättern über den Hauptmann von Köpenick stand. Es ist praktisch, daß Sie so an der Quelle sitzen! sagte die Wirtin einmal am Morgen, als er wieder mit einem Pack alter Zeitungen in sein Zimmer abzog. Er las Wort für Wort aller Berichte genau, und wo etwas Falsches stand, machte er Striche. Zu der Vermutung, daß es ein ganz gewiegter Hochstapler sein müsse, wahrscheinlich ein entgleister Offizier um der genauen militärischen Kenntnisse willen – denn außer dem fehlenden Helm wäre alles exakt gewesen – schrieb er unter einem großen Fragezeichen an den Rand: Warum kein Mann aus dem Volk?

Auch draußen, wo in den Tagen danach von den Köpenickern als neuen Schildbürgern gesprochen wurde, mischte er sich dreist in ihre Gespräche; denn es ärgerte ihn, daß alles an ihrer Dummheit gelegen sein sollte. Als es hieß, der Bürgermeister habe sein Amt nieder legen müssen, weil seinetwegen die ganze Welt über Köpenick lache, fand er das falsch: Der habe sich doch von der ganzen Gesellschaft am besten benommen!

Und als erst die Plakate an den Säulen erschienen, daß auf die Ergreifung des falschen Hauptmanns dreitausend Mark Belohnung ausgesetzt wären, lachte die Zeitungsfrau nur noch über die Verrücktheit ihres Mieters, der ihr mit immer ausgeklügelteren Vorschlägen kam, sich das Geld zu verdienen. So ein Abgefeimter wartet darauf, daß Sie ihn fangen! höhnte sie ihn, der nun viel draußen herum stand, den Leuten die Bekanntmachung vorzulesen mit seinen Erklärungen, wie man es anfangen müsse, den Hauptmann von Köpenick endlich zu erwischen. Freilich ging er nicht mehr rasiert seit dem Tag und ohne Kragen in seinen alten Kleidern.

 

Der verweigerte Hunderter

Daß er an den Anhalter Bahnhof und über Prag in den Balkan gewollt hatte, daran dachte er kaum noch im Eifer, bei der Entfaltung dieser Sache dabei zu sein, auf die, wie er aus den Zeitungen wußte, nicht nur Berlin, sondern die halbe Welt wartete. Er allein konnte die Neugier stillen, und er ging immer übermütiger darin herum. Und eines Nachmittags, als ihm der Zufall noch einmal sein Fangseil in die Hände warf, war er dreist genug zu einem Streich, der nicht so mühsam wie der in Köpenick, aber noch frecher war.

Als legte er es darauf an, daß sie ihn endlich fingen, hatte er diesmal den neuen Anzug und die neuen Stiefel angezogen, nach seiner Gewohnheit herum zu hören, was es Neues von Köpenick gäbe. Einen Regenschauer am Potsdamer Platz abzuwarten, stieg er zu Josty hinein und stöberte da in den Zeitungen herum. Wie er sich dann unbefriedigt in den Stuhl zurück lehnte, so recht gestimmt, in das Lokal hinein zu rufen: Wenn ihr wüßtet, wer hier sitzt! fiel sein Blick auf einen Herrn am Nebentisch, in dem er sogleich den jungen Mann an der Neuen Wache wiedererkannte. Der hatte auch seine Zeitung gelesen, gähnte und rief nach dem Ober. Einem unwiderstehlichen Einfall folgend, zahlte Wilhelm Voigt auch; und als sie nacheinander durch die Glastür hinaus getreten waren, wo nun schon wieder blasse Sonne in der Nässe blinkerte und der junge Herr eine Weile unschlüssig stand, die Handschuhe anzustreifen, trat er, militärisch die Hand an den Hut legend, zu ihm heraus und sagte höflich, daß er ihm sogleich einen Hunderter schuldig sein würde!

Wieso? fragte der junge Herr verdutzt und hob sein Monokel ins Auge, ihn nicht ohne Unverschämtheit zu betrachten.

Na, gab Wilhelm Voigt dreist zurück, sagten Sie nicht an der Neuen Wache, daß es Ihnen einen Hunderter wert wäre, mit dem Hauptmann von Köpenick drei Worte zu sprechen? Und dies waren schon mehr!

Nur für einen Augenblick ließ der verdutzte junge Herr seine Zähne sehen; dann fiel das Monokel ins Band und er lachte aus vollem Hals: Es geht doch nichts über euch Balten! Aber ich bin kein Bürgermeister, kein Rendant und kein Polizei-Inspektor!

Dreitausend Mark für hundert ist doch eigentlich kein kleines Geschäft! beharrte Wilhelm Voigt mit einer Dreistigkeit, über die er selber staunte. Aber nun war es dem Herrn zuviel: Wenn Sie zudringlich werden, Männeken, rufe ich den Schutzmann!

Na, denn nicht! sagte Wilhelm Voigt, indem er sich in die Potsdamer Straße wandte: Aber den Hunderter sind Sie mir schuldig!

 

Die Kriegskosten

Nach diesem Streich war er übermütig genug, hinaus nach Kirdorf zu fahren, wo ihm der Buchbinder erstaunt die Tür aufmachte und nach seiner Frau rief, die einer Nachbarin im ersten Stock bei der Wäsche half. Woher des Weges? fragte der Schwager; und die Schwester weinte nach ihrer Gewohnheit vor Rührung. Er hätte nun doch seinen Paß in Tilsit bekommen und führe zum ersten November nach Prag in Stellung! schwindelte er und brauchte – als sie am Tisch saßen, das Wiedersehen mit einer Flasche Wein zu feiern, die er mitgebracht hatte – das Gespräch nicht auf den Hauptmann von Köpenick zu bringen.

Das ist gerade so, wie der Herr Schwager einmal gesagt hat! philosophierte der Buchbinder: Mit der Uniform kannst du in Preußen alles machen!

Die Schwester aber fand es schlecht, daß der falsche Hauptmann die Stadtkasse mitgenommen hätte.

Das Geld läge vielleicht daheim in der Kommode! entgegnete Wilhelm Voigt. Und schließlich habe der Mann doch Auslagen gehabt mit der teuren Uniform und der Beköstigung seiner Mannschaft! Und als der Buchbinder gleich anfing, die Kriegskosten, wie er sagte, Stück für Stück zu berechnen, half er ihm dabei mit dem Bleistift; und der Schwager mußte sich wundern, wie genau er das alles wußte. Als wärst du selber dabei gewesen! sagte er.

Wilhelm Voigt sollte natürlich zum Abend da bleiben, aber er drückte sich, als die Zeit kam, daß Frau Römer heimkehren mußte. Daß er sie grüßen ließ; darüber ging die Schwester achselzuckend hinweg! Hingegen fragte sie schon in der Tür, wo er denn über die Zeit wohne? In der Langen Straße Nummer so und so, im vierten Stock! sagte Wilhelm Voigt ohne Bedenken.

 

Die rechte Fährte

Daß er der Schwester seine Adresse verraten hatte, ärgerte ihn noch, als er nach einem verwüsteten Abend in sein Zimmer trat und bei der Petroleumlampe die Wände sah, die nun schon anfingen, bekannt zu sein. Es stand aber so mit ihm, daß er nicht länger da bleiben konnte; und daß er von neuem hinaus sollte, war ihm noch mehr verdrießlich. Am besten wäre es gewesen, sie hätten mich gleich in den ersten Tagen gefangen! hatte er schon mehr als einmal gedacht. Denn so grimmig sein Triumph war, daß sie ihm mit ihrem vermeintlichen Hochstapler nicht auf die Spur kamen, der alle Tage seelenruhig durch Berlin ging, an den Plakatsäulen seine Belehrung gab und solche Tollheiten machte wie heute im Kaffee Josty: so wenig bekam er selber von seiner Weltberühmtheit zu schmecken.

Aber eben in dieser Nacht, wo er mit derartigen Gedanken noch lange bei seiner Petroleumlampe saß und verdrießlich in den Zeitungen herum stocherte, war die Kriminalpolizei auf der Fährte, die zunächst eine Fährte wie andere war – denn zweitausend Anzeigen, wie er später erfuhr, hatten sich um die dreitausend Mark Belohnung bemüht – nur daß sie diesmal hinter dem zugewanderten Schuhmacher Voigt aus Tilsit her nach Rixdorf hinaus ging, statt weiter in den Kaschemmen Berlins zu suchen.

Um drei Uhr in der Frühe wurde das Haus in Rixdorf, wo der Schuhmacher Wilhelm Voigt angeblich bei seinem Schwager, dem Buchbinder Manz, wohnte, polizeilich umzingelt und erst bei der weinenden Schwester, dann bei der entrüsteten Frau Römer als seiner angeblichen Braut Haussuchung gehalten. Sie suchten in allen Schränken, im Speicher und Keller, und fanden den alten Zuchthäusler nicht, gegen den sie die Waffe schußbereit hielten. Der schlief unterdessen in der Langen Straße; und die Spur wäre wieder eine Fährte ohne Ende gewesen, wenn Wilhelm Voigt nicht am Abend noch seinen dreisten Besuch ausgeführt hätte. So konnte die Frau Buchbinder Manz, der mit schlimmen Strafen gedroht wurde, zuletzt nicht mehr bei ihrer Beteuerung bleiben, daß sie den Aufenthalt ihres Bruders nicht wisse.

Es war schon hell, als die Kriminalisten endlich in der Langen Straße mit der selben Vorsicht zu Werk gingen. Sie fanden drei alte Leute friedlich am Kaffetisch sitzen, den Zeitungsmann von der Jannowitzbrücke mit seiner Frau und ihren unangemeldeten Schlafburschen, der den enttäuschten Beamten nicht gerade nach einem Hauptmann aussah. Die Belohnung war aus ihren Gesichtern bis auf einen geringen Rest zurück gewichen, als sie Wilhelm Voigt aufforderten, mit auf das Polizei-Präsidium zu kommen, wofür sie trotz der Nähe einen Wagen bereit hielten.

 

Ja, freilich

Auch das Kriminal ist ein Geschäft, und es waren zwei, die endlich die richtige Fährte hatten; sie waren nicht eilig gewesen, den andern ein Licht aufzustecken. Der Beamte gar, dem der vermeintliche Verbrecher mit dem freundlichen Mitleid vorgeführt wurde, das für diese Art von Bekanntschaft ein altes Übereinkommen der Kriminalpolizei ist, der Beamte sah die Gestalt, die sie ihm da in der Frühe anschleppten, nur mit spöttischem Vorbehalt an. Sind Sie der Schuhmacher Wilhelm Voigt aus Tilsit? fragte er einmal vorläufig, ehe er die Personalien amtsmäßig aufnahm; und als Wilhelm Voigt bejahte: Ob er vom Jahre 1891 bis 1906 im Zuchthaus zu Rawitsch eine Strafe wegen erschwertem Einbruch abgesessen und dort einen Zuchthäusler namens Kallenberg gekannt hätte?

Dazu konnte er nur nicken, nicht Ja sagen, weil ihm die Frage verriet, wem die Polizei die Fährte verdankte?

Ob er dem Kallenberg einmal gesagt habe, wenn er ein richtiges Ding drehen wolle, würde er dazu Militär requirieren?

So, habe ich das meinem Judas gesagt! gab Wilhelm Voigt diesmal zur Antwort, sodaß der Beamte, verblüfft über die Wendung, sich endlich den Mut nahm zur letzten Frage, mit der er nicht lächerlich hatte werden wollen: Ob er dann vielleicht auch der Hauptmann von Köpenick wäre?

Ja freilich! sagte Wilhelm Voigt da und hob im Eifer die beiden Handflächen vor, sodaß die erfahrenen Kriminalisten nicht wußten, wollte er die Arme nach der Gewohnheit für die Handschellen hinhalten oder nur einen scherzhaften Versuch machen, den Herren zu ihrem Fang zu gratulieren.

 

Ruhm

Das erste Verhör, in das sie Wilhelm Voigt nahmen, dauerte zweieinhalb Stunden; aber es war ein lustiges Frage- und Antwortspiel, was sie da trieben, weil zuletzt alles lachte. Und als der Hauptmann von Köpenick in das Untersuchungs-Gefängnis hinüber gebracht wurde, sah es im Polizei-Präsidium aus, als hätte in einer Fabrik die Mittagsglocke geläutet, so belebt waren die Gänge und Fenster von Neugierigen, die aus den wichtigsten Dingen Zeit fanden, einen Blick auf den angeblichen Flickschuster zu erwischen, der nun, da sie den frechen Spaßvogel hatten, tatsächlich der berühmteste Mann von Berlin war.

Denn so ist es mit dem Ruhm, daß seine Träger begafft werden, während sich die Gaffer im Polizei-Präsidium um den Anblick des Hauptmanns von Köpenick bemühten und draußen schon Neugierige standen wie vor der Neuen Wache; während in den Redaktionen die Federn und Lettern fieberten, die Nachricht noch in die Zeitung zu bringen; während die Telegramme in allen Himmelsgegenden des Reiches zu ticken begannen, über die Grenzen hinaus in die Kabel, als wäre der Reichstag aufgelöst oder ein Kriegsschiff gesunken mit Maus und Mann – aber wo die Nachricht tickte, wo sie mit Tinte geschrieben oder mit Schwärze gedruckt und wo sie mit gierigen Augen gelesen wurde: da sprang der Schalk, der diesen frechen Ruhm gemacht hatte, in die Herzen über – während darum an diesem Tag im späten Oktober zuerst Berlin, dann Deutschland und zuletzt ein beträchtliches Stück der Welt von neuem über den Hauptmann von Köpenick lachten, der als »Flickschuster« doppelt beschämend für die Hereingefallenen war; während sein Ruhm in Millionen Herzen fröhlich rumorte: saß der Träger im Untersuchungs-Gefängnis am Alexander-Platz als ein alter gebrechlicher Mann, der die neuerdings veränderten Umstände seiner Wohnung mit dem ungebrochenen Schalksmut einer Natur hinnahm.

 

Zelle Nr. 15

Es war seine siebente Zelle, wie Wilhelm Voigt an den Fingern abzählte, seit Tilsit, Prenzlau, Moabit, Sonnenburg, Posen und Rawitsch – denn Königsberg, Wongrowitz und Gnesen rechnete er nicht – aber diesmal war er wie ein Hotelgast mit spaßigen Bemerkungen hinein geleitet worden; und wenn er den hellen Raum besah, hatte er noch keine solche Wohnung gehabt, nur daß der Blick in den grauen Himmel durch eiserne Vierecke aufgeteilt und die Tür einseitig verschließbar war. Sonst hatte er einen sauberen Tisch mit einem richtigen Stuhl davor, und das schon tagsüber aufgeschlagene Bett konnte ihm als Liegesofa dienen, was ihm in Rücksicht auf seinen gebrechlichen Zustand freundlich erlaubt wurde.

Er hätte gern von der Erlaubnis alsbald Gebrauch gemacht, weil sie ihn so früh aus der Langen Straße geholt hatten; aber wie er schon zweimal beim Essen gestört wurde, so ging es ziemlich den ganzen Tag; und Wilhelm Voigt mußte sich wundern, wieviel amtliche Vorwände es gab, die Neugier zu befriedigen. Er war froh, als der Abend den Dienststunden im Polizei-Präsidium ein Ende machte. Und wie in der Nacht, da er von seinem siebzehnstündigen Dienst in Köpenick heimkam, so erschöpft schlief er auch in dieser ersten seiner Untersuchungshaft; nachdem er schon einen Vorgeschmack hatte, das nun ein anderes Dasein für ihn als das des ausgewiesenen Zuchthäuslers begann.

 

Meyer II

Zum Inventar seiner Zelle gehörte ein geräumiger Spiegel. Als sich Wilhelm Voigt darin am andern Morgen besah, war er beleidigt, daß sie ihn so vom Kaffeetisch weg geholt hatten, ohne Kragen und nicht rasiert. Er setzte seine Melone auf, die jämmerliche Erscheinung eines alten Stromers zu vollenden, und war, als der Aufseher Meyer II kam, voll Groll wie ein Gast, dem die Bedienung seines Hotels nicht zusagt: Wenn ich heute wieder fotografiert werde wie gestern, murrte er, will ich rasiert sein und einen Papierkragen haben!

Er hatte ein Gefühl, daß er dergleichen Beschwerden als Hauptmann von Köpenick vorbringen könne, und dem Aufseher – der einen Specknacken und als Augen zwei blaue Schlitze hatte – kam es nicht unverschämt vor. Er sagte mit unverkennbarem Ehrgeiz, den berühmtesten Mann von Berlin in seiner Abteilung zu haben, Herr Voigt zu ihm und setzte seinen Wünschen nicht die unerbittliche Hausordnung entgegen, obwohl er sie keineswegs übertrat.

Auch unsereins ist ein Mensch! gab er freimütig zu: Man kann nach der selben Vorschrift so oder so sein, Herr Voigt; aber was bei dem Einen angebracht ist, ist es nicht bei dem Andern!

Bei dem Hauptmann von Köpenick, über den schließlich auch Meyer II Tränen gelacht hatte, schien viel angebracht. Als er erst den Reisekorb mit seinem Kram in die Zelle bekam, konnte er sich nach Belieben einrichten. Den Helm haben wir leider beschlagnahmen müssen und die Stadtkasse von Köpenick auch! sagte der Aufseher spaßhaft und unterschlug, daß einiges davon gefehlt hatte: den Gast nicht zu kränken, der somit auf Nummer 15 seines Hotels, wie der Verteidiger mit der ihm eigenen spöttischen Redeweise sagte, nach den nun einmal vorliegenden Umständen gut untergebracht war.

 

Waffenstillstand

Der Verteidiger war diesmal kein welker Mann wie der in Rawitsch, sondern ein flinker Herr, der sich ein ausgedehntes Vergnügen daraus machte, seinen Klienten zu besuchen; und Wilhelm Voigt hatte sich ihn sozusagen aussuchen können, weil sich mehrere freiwillig meldeten. Der teilte ihm eines Tages plaudernd mit, was unterdessen alles um seine Person gesagt und geschrieben worden war, und auch, was für ihn geschehen würde, sein Alter zu sichern. Einige Zeitungen wären bereit, für ihn zu sammeln; eine Dame der ersten Gesellschaft, die ungenannt bleiben wolle, habe ihm eine lebenslängliche Rente zugedacht; und gerade heute sei ein junger Herr mit einem Hunderter bei ihm erschienen, den er dem Hauptmann von Köpenick bei Josty schuldig geworden wäre!

Das ist der von der Neuen Wache! triumphierte Wilhelm Voigt und war für einen Augenblick aus der Grämlichkeit munter, die er sich wie ein überfälliger Hotelgast angewöhnt hatte; saß aber gleich wieder in seiner üblen Laune da, daß sie ihn zuerst herum gejagt hätten und nun solch ein Wesen um ihn machten, bloß, weil er dem Militarismus eines ausgewischt habe: was kann mir das alles nützen, murrte er, wenn ich nachher doch wieder im Zuchthaus sitze?

Der Verteidiger nahm seine schwarze Hornbrille ab, was er immer tat, wenn er einen Gedanken hatte: Zuchthaus keinesfalls! Wenn Gefängnis, sei die nachträgliche Begnadigung so gut wie sicher. Nur müsse er dann seinen bockigen Widerstand aufgeben und alles gestehen. Machen Sie endlich Frieden mit der Behörde, Herr Voigt, da Sie nun doch einmal der Sieger sind!

Der kleine Mann stand beschwörend vor Wilhelm Voigt, der mit aufgestütztem Kopf grollend am Bettrand saß, und es sah komisch aus, wie er ihm die Hornbrille ins Gesicht hielt. Die Sache aber, um die er seinen Klienten beschwor, war die: Gleich im ersten Verhör hatten sie Wilhelm Voigt mit seinen Helfershelfern geplagt, weil sie dem alten Schuhmacher allein den Streich nicht zutrauten. Dieses Mißtrauen in seine Person und der sonstige Hochmut der Kriminalisten waren ihm so wider den Strich gegangen, daß er ihnen mit seiner versteckten Uniform gründlich den Paß verhauen hatte, wie die Zeitungsfrau sagte. Dreimal schon waren sie vergeblich am Kreuzberg und zweimal in der Jungfernheide gewesen, an der genau bezeichneten Stelle zu graben, und hatten mit allen Kniffen aus seiner Hinterlist nichts heraus gebracht als den Rat: noch einmal Dreitausend Mark an die Plakatsäulen zu kleben! Oder die Spree abzulassen!

Wie nun sein Verteidiger – der ohne die schwarze Hornbrille genau solch ein Spitzmausgesicht wie der Pisek hatte – das Wort vom Frieden sagte, und daß er der Sieger wäre, sprang ein Rest von dem Schalk in Wilhelm Voigt auf, daß er seine lange Gestalt vom Bettrand hob, die rechte Hand in die Hüfte stützte und die Linke großartig ausstreckte: Frieden nicht! Waffenstillstand gewährt! sagte er und verriet dem Verteidiger das Versteck der Uniform.

 

Friedensschluß

Der Friede wurde am 1. Dezember geschlossen; und sie hatten den großen Schwurgerichtssaal für die Verhandlung einräumen müssen, weil die Räume der Strafkammer nicht ausreichten. Eigentlich wäre ein Theater geeigneter gewesen, spöttelte der Verteidiger, da hätten sie eine bessere Bühne gehabt und mehr Platz für die Zuschauer.

Denn wer als Berliner Beziehungen hatte, wollte natürlich dabei sein, noch einmal über den Spaß zu lachen, daß ein alter Zuchthäusler mit zehn Gardesoldaten den Staat in Trümmer schlug, wie nachher Einer im Eifer der großen Worte sagte, die in den Plädoyers üblich sind.

Während Wilhelm Voigt als der einzige Angeklagte in den Saal geführt wurde – denn Helfershelfer hatten sie mit allen Kniffen keine gefunden – hörte er vor der Tür die fröhliche Unruhe vieler Menschen, die sich auf einen Spaß freuten; aber sein Eintritt warf eine Stille über den Saal, die gleichsam aus Hunderten Fäden gewebt war, zwischen seiner Gestalt und je einem Paar Augen gespannt.

Auch in Prenzlau, Wronke und Gnesen waren Zuhörer gewesen; aber sie hatten den Raum hinter der Schranke nur wie eine Schmiere kläglich gefüllt. Hier saßen und standen sie dicht gedrängt im Theater, und Wilhelm Voigt hatte nie ein solches Bild von Reichtum gesehen wie dieses in Pelzen und bunten Kleidern. Und weil kein Schauspieler oder Sänger so die Operngläser an sich gerissen hätte wie er, wäre das nun der richtige Augenblick gewesen, seinen Triumph auszukosten.

Er wurde es aber nicht, und es war keine Schüchternheit, daß Wilhelm Voigt lange mit niedergeschlagenen Augen auf der Angeklagten-Bank saß, ehe er seinen Blick vorsichtig in die Gläser zu heben vermochte. Hätten sie etwa geklatscht, er wäre dreist zu einer großartigen Handbewegung geworden. Nun aber warf diese Stille, daß all die Gläser und Augen den berühmtesten Mann von Berlin suchten und einen von seinem kläglichen Leben gebeugten Kleinbürger sahen, darin einige ihren geschundenen Menschenbruder erkannten: nun warf diese Stille ein Echo aus ihm zurück, daß ihr Gelächter der blamierten Behörde gegolten habe, daß er als ihr Spaßmacher doch nur wieder auf der Angeklagten-Bank säße, ausgestoßen zu werden.

Und diese Stille, darin das Gelächter der Stuben und Straßen erstarrt war, wie die Gläser vor den Augen, wurde stumm, als die Anklage ihre fünf Paragraphen herzählte: unbefugtes Tragen einer Uniform, unbefugte Ausübung eines Amtes, Freiheitsberaubung, Betrug und Urkundenfälschung; denn so sah die juristische Grundlage der allgemeinen Fröhlichkeit aus.

Als dann zum ersten Mal allen vernehmlich die schartige Stimme des alten Mannes in den Saal hallte, weil Wilhelm Voigt über sein Vorleben ausgefragt wurde, machte der baltische Klang den Zuhörern Hoffnung, wieder aus ihrer Stummheit zu kommen; denn die Balten waren, das wußte jeder Berliner durch ihre Sprache und sonst eine komische Sorte.

Das Vorleben Wilhelm Voigts war, juristisch betrachtet, die Geschichte seiner Strafen vom Richter Lewald bis zum Staatsanwalt in Gnesen; vom Wachtmeister Schmude und dem Obermaat Heincke, vom Seefahrer Krak und vom Samuel Goldbaum kam nichts darin vor. Der gewesene Zuchthäusler und der alte Mann, der da stand, kamen erst wieder zusammen, als die Fragen des Richters sich dem Hauptmann von Köpenick zuwandten, wie er zu seinem Streich und zu der Uniform gekommen wäre? Da endlich begann die verstummte Fröhlichkeit im Saal wieder zu kichern und Antwort für Antwort dreister zu lachen.

Und das Gelächter fiel gleichsam über sich selber her, als die ersten Zeugen der Anklage, als die bewaffnete Macht von zehn ungeladenen Gewehren, wie sie in Köpenick einmarschiert war, in die Schranken des Gerichts einrücken mußten. Denn weil hier kein Kommando kam, Tritt zu fassen, aber ihr Schritt verlangte Takt, sah es sonderbar aus, wie sie gleichsam aus dem Gehorsam entlassen, ihren Befehlshaber suchten. Dem aber war keine Uniform angetan worden, die eigentliche Schalksmacht seines Streiches vorzustellen, sodaß die zehn Tornister, Helme und Gewehre in den Schranken einer ihnen fremden Macht hilflos und komisch dastanden, als sollten sie vor dem Ernst einer Strafkammer eine Posse aufführen.

Ob auch das Gelächter des beglückten Publikums durch den Vorsitzenden scharf gestillt wurde, es blieb in den Schlupfwinkeln des Saales eingenistet, jedesmal aufs neue gegen den Richtertisch vorzubrechen, wenn ein anderer Zeuge, in die Schranken des Gerichte gerufen, vor die Operngläser der Öffentlichkeit kam. Als ob die Posse von Köpenick aufdringendes Verlangen wiederholt werden sollte, mußte jeder das Stichwort seiner komischen Rolle abwarten, in die allgemeine Fröhlichkeit zu kommen; und wieder mehr als auf Zivilisten war der Übermut aus Uniformen aus. Den Bürgermeister und seinen Rendanten nahm er mit gnädigem Kichern hin; über den badebedürftigen Polizei-Inspektor, den diensteifrigen Wachtmeister von Köpenick und den Oberwachtmeister des Kreises Teltow fiel der Beifall ungehindert her.

Trotz der Verwarnungen des Vorsitzenden wurde aus der Posse erst wieder eine Strafkammer, als die Entlastungszeugen aus Rawitsch der Nummer 208 Gutes nachsagten; und der Saal war blank wie das Gesicht des Mannes, als der Hofschuhmacher Holbrecht auf die Fragen des Richters zwar mit so, so! begann, dann aber seinem ausgewiesenen Hausgenossen ein durch keinen Vorbehalt eingeschränktes Lob mit Worten sagte, davon jedes feierlich überlegt war. Da hatte die Fröhlichkeit nichts mehr zu lachen, da glitt an den Fäden der gespannten Stille die Frage zu Wilhelm Voigt hinüber, der mit weit und glücklich geöffneten Augen nach seinem Lobsprecher sah: warum die hohlen Schultern dieses alten Mannes mit siebenundzwanzig Jahren Zuchthaus gedemütigt worden waren?

Denn zwischen der feierlichen Stille, die der Hofschuhmacher aus Wismar in den Saal zurück gebracht hatte, und dem dreisten Gelächter war ein schwarzes Loch in den bürgerlichen Lebensboden gerissen worden, auf dem sich das Theater dieser Strafkammer so unbesorgt abspielte. Als ob der Regisseur ein Stück Hölle nicht versäumen wollte, hatten zwei Aufseher den Kallenberg in der Zuchthauskleidung herein gebracht. Vor dem frechen Blick, mit dem er das Publikum musterte, und vor dem höhnischen Lächeln seiner Zähne – weil er seines Anteils an den Dreitausend Mark Belohnung sicher war – hatten sich die meisten Gläser von den Augen gesenkt.

Wie von einem Albdruck war der Schrecken im Saal geblieben, als die Aufseher diesen Kronzeugen der Staatsgewalt wieder hinaus geführt hatten. Dem Übermut war böse in die Ferse gestochen worden; und es hatte des blanken Gesichtes aus Wismar bedurft, zwischen Uniform und Talar den Freimut der bürgerlichen Menschlichkeit wieder aufzurichten, für den das Schwert und die Waage der gerüsteten Burg eine harte Notwendigkeit waren.

Wilhelm Voigt, als der Kallenberg hinaus gebracht wurde, hatte einen tiefen Seufzer aus der Menge gehört; und es war über ihn gekommen, als wäre seiner eigenen vom wilden Haß durchwühlten Brust ein Schrei entfahren. Als ihn sobald danach die feierlichen Worte des Hofschuhmachers aus der Hölle seiner tiefsten Erniedrigung in den Himmel der höchsten Anerkennung hoben, die seine Ohren je gehört hatten: war ihm der grausame Pendelschlag seiner Erdenbahn mitten durchs Herz gefahren. Beiden, dem Zuchthäusler und dem Hofschuhmacher war er Hausgenosse gewesen, der nun die letzten Stunden seines Waffenstillstandes abwartete, bis ihm das Urteil noch einmal vier Jahre Gefängnis zu seinen achtundzwanzig Jahren legte.

Als aber alles vorüber war, als das Theater ausging und die Menge sich in die Unruhe auflöste, aus der die Stille gekommen war: da fiel das Menschenwort, das einen Punkt unter das Schicksal des Schuhmachersohnes aus Tilsit setzte. Mit einem Blick auf den alten Holbrecht, der in dem Aufbruch still dasaß, als wartete er, seinen Hausgenossen wieder mit zu nehmen, mit einem Gruß in das blanke Gesicht und auf die ruhigen Hände des Mannes aus Wismar löste der Richter, der Wilhelm Voigt das letzte Urteil gesprochen hatte, sich aus dem Talar seines Amtes und setzte das Barett ab.

Wie wenn dies selbstverständlich in einer Strafkammer wäre, kam er auf Wilhelm Voigt als seinen Menschenbruder zu, gab ihm die Hand, wünschend, daß er die Strafe gesund überstehen möge!

Ich werde sie besser überstehen, als ich das andere überstanden habe! sagte Wilhelm Voigt, und es war ihm selber, als blinkte der Schalk noch einmal durch die tiefe Erschütterung seiner Tränen: Denn nun, Herr Richter, habe ich Frieden gemacht.


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