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Als er am andern Mittag mit seinem Wachstuchköfferchen aus der gerüsteten Burg hinaus fuhr, hatte Wilhelm Voigt einen Strich durch die Heimat gemacht, der ein Strich durch seine ganze Vergangenheit sein sollte. Und während der drei Tage, die er von Tilsit bis Erfurt reiste, unter vielerlei Leuten und nicht immer bequem in der vierten Klasse, war dies der Gedanke, an den er die meiste Grübelei setzte: wie er sich selber mit seiner Vergangenheit los werden könnte? Denn seit dem Blick in den zersprungenen Spiegel mißtraute Wilhelm Voigt seiner Natur, und der höhnische Riegel hinter seinem Rücken rasselte immerzu, wenn er sich eines Dinges vermessen wollte.
So kam er am dritten Nachmittag in Erfurt an mit dem Vorsatz, einzig den Namen aus seiner Vergangenheit mit in die Zukunft zu nehmen; und vor nichts so sehr auf der Hut zu sein als vor dem, was ihn aus dem Schustertag hinaus locken wollte. Wie Einer im Zuchthaus einmal gehöhnt hatte: Du brauchst nur Nutzen zu sagen, wo sie dir große Worte vormachen, und du findest dein Wurmloch! so wollte er unterkriechen in Erfurt und mit Fleiß und Geduld sein Fortkommen suchen.
Der geringe Verdienst seiner zwölf Jahre hatte sich leidlich summiert; wenn er auf äußerste Sparsamkeit hielt, konnte er sich einige Zeit ohne Lohn üher Wasser halten. Er suchte darum nach einem Quartier, das abseits läge und so billig wie möglich wäre, und fand es zuletzt bei ärmlichen Gärtnersleuten, die draußen gegen den Steiger hinaus Gemüse zogen, das die Frau auf dem Markt verkaufte.
Es war ein ältliches Ehepaar ohne Kinder, der Mann sehnig und braun mit krumm gearbeitetem Rücken und einfältigen Augen, die Frau rot vom Wetter, kugelrund und zu einem Späßchen geneigt. Das Zimmer, wie sie es nannten, war eigentlich nur ein Bretterverschlag oben im Giebel, und der Stieg hinauf stand erst im Begriff, aus einer Leiter eine Treppe zu werden.
Wir sind nur einfache Leute, sagte der Gärtner, aber hier geht der Kamin von der Küche durch und macht es im Winter warm!
Weil es noch heißer Sommer war, beunruhigte Wilhelm Voigt diese Sorge nicht. Er stellte sein Wachstuchköfferchen in den Verschlag, der neben der Tür die Schrägung des Daches ausfüllte, und suchte die Holzwand nach einem Nagel ab, seinen Hut daran zu hängen, der immer noch der braune aus der Friedrichstraße war; die Kleidung hatte er um seiner langen Gestalt willen wechseln müssen.
Am Samstag und Sonntag ging er dann noch in Erfurt herum, sah den Dom und das Getürm der Severikirche, die hohe Steintreppe dazwischen und was ihm sonst in den Weg kam, aber wie er keinen Menschen ansprach, hielt er auch den Blick verschlossen, als ob die winkeligen Straßen, die Erker und spitzen Dächer, das weite Tal, in dem die Stadt Erfurt mit den großen Blumengärten liegt, ihn in neue Verstrickungen verlocken könnte. Und am Montag früh trat er seine Lernstelle in der Schuhfabrik an, von seinem Handwerk los zu kommen, das den goldenen Boden an die Fabrik verloren hatte.
Der Werkmeister Löllke
Wilhelm Voigt stellte es vorsichtig an, daß die wenigsten seinen Namen erfuhren; und als er merkte, was für ein Schutz ihm die Sprache war, indem er die Thüringer Mundart so wenig verstand wie die Thüringer die seine verstanden, behielt er sie mit Vorbedacht bei. Dem Werkmeister Löllke freilich, dem er sich vorstellen mußte, waren die Dialekte so geläufig wie die Maschinen. Der behende Mann aus Memleben an der Unstrut war in der ganzen Welt herum gekommen, wo Schuhe gemacht werden; das Maschinenfach hatte er drüben in Amerika gelernt, und es gab hüben keine Neuheit mehr, die ihn verblüffte.
Auch der Teufel ist keine Hexerei, wenn man die Nähte von hinten ansieht! sagte er, als er ihn zunächst an den Pantograph stellte, wo die Muster für die Schäfte geschnitten wurden. Und Wilhelm Voigt merkte bald, daß es für den behenden Werkmeister tatsächlich keine Hexerei in all den merkwürdigen Maschinen gab, die emsig ratterten, das Schusterhandwerk überflüssig zu machen; er kannte ihre Tücken und wußte die Krankheiten zu heilen, an denen sie wie die Menschen litten. Im übrigen hatte er ein scharfes Auge auf die Hände, die zur Bedienung der Maschinen noch nicht ganz zu entbehren waren; und wenn er wie der Züllichauer ein Sprichwort gebraucht hätte, wäre es gewiß: Besser flink als fleißig! gewesen.
Der Lohnschleicher
Weil die Arbeitssäle keine schwarzen Löcher waren wie die meisten Schusterwerkstätten mit Abfällen und geringem Werkzeug, weil alles am Schnürchen schnurrte wie im Zuchthaus, fand Wilhelm Voigt sich bald in seinem Tagwerk zurecht; und der Löllke war mit ihm zufrieden, als er seine Geschicklichkeit bemerkte. Nur den andern Arbeitern schien er von Anfang an verdächtig, weil er sich absonderte und ihren Gesprächen auswich. Sie hielten für Hochmut, was seine Not war, und hießen ihn, der seine von der Krankheit gebeugte Gestalt nicht wieder völlig aufrichten konnte, den Lohnschleicher, weil sie wußten, daß er umsonst an der Maschine stand.
Indem er sich so in der Fabrik und draußen menschenscheu absonderte, indem er überdies zur kahlsten Sparsamkeit genötigt war, wenn er die Lernzeit aushalten wollte, geriet Wilhelm Voigt von selber in eine Lebensweise hinein, die ihn in den Ruf eines Sonderlings bringen mußte. Mittags aß er in einem abseitigen Wirtshaus, das dem Bruder der Gärtnersfrau gehörte, und abends verkroch er sich in seinen Bretterverschlag unter dem Dach; denn auch gegen die Hausleute schien es ihm geboten, die Maske zu tragen.
Rauchen und trinken hatte er sich im Zuchthaus nicht angewöhnen können; weil er aber nicht Abend für Abend untätig dasitzen konnte, verfiel er zuerst auf das törichte Ding des Flickschusters Neveling, aus Hollundermark Figürchen zu schnitzen und sie stückweise in eine Medizinflasche zu versenken. Er hatte sich schon damals in Pasewalk daran versucht, und die erste Kreuzigungsgruppe geriet ihm leidlich. Er schenkte sie der runden Gärtnersfrau, die wie ein Kind in die Hände klatschte. Bei der zweiten kam er in Schwierigkeiten; und weil er schließlich nicht in den Wirtschaften damit hausieren konnte, verlor er die Lust, das blöde katholische Zeug – wie der Gärtner mißbilligend sagte – weiter zu machen.
So blieb ihm zuletzt doch wieder nichts übrig, als zu lesen; und es kam durch den Schutzheiligen aller deutschen Schuhmacher: Hans Sachs, daß er wieder in seine Geschichtsforscherei und zwar an eine in Erfurt näher liegende Beschäftigung, Geschichte aus den Gassen und Häusern, statt aus Büchern zu studieren, geriet.
Der Lokalforscher
Eines Morgens am Sonntag, schon im späten September, hatten ihm die Gärtnersleute nach der Gewohnheit die Zeitung hinauf gelegt. Darin fand er eine spaßige Geschichte, daß Hans Sachs auf der Wanderschaft eine Nacht im »Alten Schwan« zu Erfurt gewohnt habe und am Morgen von dem zornigen Wirt in einen zugebundenen Sack gesteckt worden sei, weil er seine Zeche nicht bezahlen konnte. Da es schönes Herbstwetter war, zog Wilhelm Voigt seinen Rock an, das bezeichnete Haus in der Gotthardstraße Nummer 27 zu suchen. Er fand es bald und kam so dazu, die seltsamen Brückenhäuser der sogenannten Kräme zu betrachten. Während die Erfurter Bürger in den Kirchen saßen und darum die Straßen leer waren, tappte er Haus für Haus mit den Gedanken ab, was sich darin alles abgespielt haben möchte?
Da Erfurt nicht nur mehr ehrwürdige Bauwerke hat als sonst leicht eine Stadt, sondern auch von Bonifazius bis Napoleon berühmte Männer jeder Art nennen kann, die durch seine Straßen gingen und ritten oder in künstlichen Sänften getragen wurden, so braucht einer nur die Augen aufzumachen – und das tat der Lohnschleicher aus der Schuhfabrik nach diesem Zufallsmorgen jeden Sonntag danach – in Erfurt ein Bilderbuch der deutschen Geschichte zu haben.
Als Wilhelm Voigt einmal das Tor am Martinsstift betrachtet hatte, durch das Luther ins Kloster gegangen war, fing er zum dritten Mal in seinem mißglückten Leben an, in den Büchern zu lesen, die er diesmal in einer Volks-Leihbibliothek fand.
Da waren es weder die windigen Helden seiner bunten Hefte noch jene, von deren Taten Langes und Breites in den Geschichtsbüchern stand, sondern die hier waren alle gleichsam noch vorhanden. Er konnte das Haus sehen, wo die Gemahlin des Schwedenkönigs die Nachricht vom Tode Gustav Adolfs bei Lützen erfuhr; indem er am Ort der Erlebnisse war, ging es ihn selber an, was er las. So kam er nach seiner Gewohnheit bald in einen hitzigen Eifer und wurde einer von jenen Käuzen, die man Lokalforscher nennt, die aber meist nur Wühlmäuse im Schutthaufen der Vergangenheit sind.
Weil er dies alles auf eigene Faust betrieb, während er werktags pünktlich im Maschinensaal der Schuhfabrik stand, wo der flinke Löllke die Gegenwart kommandierte, wurde Wilhelm Voigt zuerst den Gärtnersleuten eine Merkwürdigkeit und – weil die Gewöhnlichen nichts so interessiert wie das Ungewöhnliche – danach auch den Arbeitern in der Fabrik, die ihn Tag für Tag menschenscheu kommen, seine Arbeit verrichten und gehen sahen. Als er aber erst selber merkte, daß der Ruf seiner Sonderlichkeit nicht nur eine vortreffliche Maske war, den gewesenen Zuchthäusler zu verstecken, sondern daß er damit zu einer sichtbaren Achtung kam, fing er an, seine Rolle selbstgefällig zu spielen. Er war unversehens jemand geworden, nach dem die andern sahen; und wenn es vor ihren Augen auch nur eine halbe Narrheit war, die er trieb, wenn er noch nie so in der kahlen Fremde gelebt hatte wie in diesem Erfurter Winter; wer die Einsamkeit wie er drei Jahre lang in Moabit und neun in der »Sonne« zwangsweise erfahren hatte, dem konnte dies gleichwohl als Freiheit vorkommen.
Hätten ihm nicht eines Tages im Frühjahr hämische Hände die Maske vom Gesicht gerissen, Wilhelm Voigt wäre vielleicht mit der Zeit wieder in den Alltag eingegangen, wie es hundert andern gelingt mit böseren Streichen, die nicht ans Licht kamen oder wieder vergessen wurden. Ihm aber war bestimmt, immer wieder in die Schlingen seiner eigenen Natur zu geraten.
Herr Frieding
Die Schuhfabrik Linger wurde damals von einem Direktor Frieding geführt, einem ältlichen Herrn, der stets in der selben grauen Kleidung ging, über einem weißen Bart eine goldene Brille und eine blanke Stirn zeigte; denn er blieb baarhaupt im Winter und Sommer. Er wohnte nicht weit von der Fabrik in einem Haus, das hinter Kugelakazien gebuckelte Fensterscheiben hatte und trotz seiner einfachen Wände vornehm zwischen den Villen stand.
Dieser Herr Frieding, der Junggeselle war und in der Fabrik für so menschenscheu galt, wie es Wilhelm Voigt notgedrungen sein mußte, sprach ihn eines Mittags an, als er zum Essen ging; denn auch sein kurzer Weg führte gegen den Steiger. Er hatte ihn bisher, wenn er die Arbeitssäle abschritt, nur gelegentlich durch die Brille prüfend betrachtet; nun fragte er freundlich, er habe gehört, daß er sich für die Lokalgeschichte von Erfurt interessiere? Er selber tue das auch und besäße allerlei Dinge, die für den Kenner wertvoll wären, Stiche, und seltene Bücher. Die würde er ihm gern einmal zeigen!
Weil sie darüber schon vor dem Haus mit den gebuckelten Scheiben waren, nickte er zum Abschied, als wäre seine Ansprache nur eine von den Freundlichkeiten gewesen, die solche Herren zu leicht wieder vergessen; aber Wilhelm Voigt tat schon die Ansprache wohl. Er dachte, als er den Weg zwischen den winterlich kahlen Gärten zu seinem Wirtshaus ging, den komischen Gedanken, daß es immer ältere Männer mit Brillen sein müßten, die freundlich zu ihm wären. Und richtig am Sonntag Abend ließ ihm der Direktor durch den Löllke sagen, er solle am Sonntag um neun Uhr in sein Privatbüro kommen!
Wilhelm Voigt machte sich so sauber zurecht, wie er es in seiner Ärmlichkeit vermochte; denn obwohl er seit einiger Zeit eine Lohnstelle hatte, war sein Verdienst noch im Anfang. Das Privatbüro, in das ihn der Portier mit abschätzigen Blicken führte, war ein fast kahler Raum mit weiß lackierten Türen und hellen Wänden, an denen in schmalen Eichenrahmen alte Stiche von Erfurt hingen, die möge er unterdessen betrachten! sagte der Direktor von seinem Schreibtisch her, bis er die Morgenpost durchgesehen habe! Wilhelm Voigt tat das scheu genug, weil er sich durch die Brille im Rücken beobachtet glaubte; nicht lange aber, so trat der Herr Frieding neben ihn, zeigte ihm dies und jenes; und war über alles Erfurtische so genau unterrichtet, daß aus dem Gespräch fast eine Geschichtsstunde wurde.
Zuletzt mußte sich Wilhelm Voigt in den Sessel setzen und einige Bücher ansehen, die zwar vergilbt, aber in braunem Leder neu gebunden waren. Er tat auch das in der Folgsamkeit, die ihm in der zwölfjährigen Lehrzeit angewöhnt worden war; und nur einmal bockte etwas in ihm, als er sich der gleichen Empfindung gegen den Grafensohn erinnerte, weil aber dem Direktor sichtlich nichts ferner lag, als ihm eine Kameradschaft anzutragen, verwand er das wieder vor seiner schweigsamen Gemessenheit. Zum Schluß mußte er ein Buch mitnehmen, in dem etwas über die Erfurter Schwedenzeit stand. Bitte in einen Umschlag tun! sagte der graue Herr Frieding, und es schien Wilhelm Voigt, wie wenn er ein wenig verlegen lächelte, die schroffe Anweisung scherzhaft zu machen, als er ihn freundlich nickend entließ.
Andern Tags, als der Direktor durch den Arbeitssaal ging, sah er ihn und seine Arbeit genau so prüfend durch die Brille an, wie alles andere; aber als Wilhelm Voigt ihm das Buch nach drei Wochen noch nicht zurück gebracht hatte, ließ er ihn durch den Löllke daran erinnern und gab ihm andern Morgens in der gleichen Freundlichkeit zu verstehen, daß er es ruhig noch behalten könne: er habe nur seiner etwaigen Schüchternheit nachhelfen wollen! Und blieb beharrlich in dieser Art, bis Wilhelm Voigt Vertrauen in das zwiespältige Verhältnis gewann, daß er werktags im Arbeitssaal stand wie die andern, sonntags aber ins Privatbüro kommen durfte, sich Bücher zu holen oder alte Stiche und Karten zu betrachten.
So brachte ihn seine merkwürdige Geschichtsforscherei über den Winter unverhofft dazu, eine geachtete Rolle zu spielen; und wenn die nie völlig geschwundene Sorge nicht gewesen wäre, als alter Zuchthäusler entdeckt zu werden, hätte er übermütig sein können vor dem Neid der andern, die – das merkte er bald – über sein Glück wisperten und immer aufsässiger gegen den hergelaufenen Ostpreußen wurden, der nicht bloß ein närrischer Kauz war, wie sie in der ersten Feindschaft gedacht hatten, sondern wahrhaftig ein Lohnschleicher. Denn so sieht die Gerechtigkeit bei denen aus, die sie erwarten, statt sie zu üben, daß ihr Neid keinem gönnt, über eine Brücke zu gehen, die ihnen selber versperrt ist.
Die Wölfe leiden den Wolf nicht
Wilhelm Voigt mußte bald merken, daß die Gehässigkeit hinter ihm her lauerte; und dies war der alte Leichtsinn seiner Natur, als das Frühjahr die Erfurter Blumengärten zu wecken begann, daß er meinte, den Neid mißachten zu können um der sichtbaren Achtung willen, die er von dem Direktor erfuhr; bis ihn ein böser Maitag aus dem Traum weckte.
Einige Tage vorher hatten die Arbeitssäle fast leer gestanden, weil die Frühjahrs-Kontrollversammlung gewesen war; und Wilhelm Voigt hatte verwundert ziemlich allein zwischen Knaben, Greisen und Frauen seine Maschine bedient. Da er zwar hohlbrüstig aber mit gesunden Armen und Beinen zur Arbeit kam und nach seinem Alter noch militärpflichtig sein mußte, hakte sich der Verdacht ein, den er am meisten befürchtet hatte. Irgend wer mußte es aufgebracht haben, und am Sonntag war der Streich ausgebrütet worden, daß Wilhelm Voigt, als er am Montag früh an seine Maschine kam – es war die neue Sohlendurchnähmaschine, die der Löllke ihm zum Ärger der andern anvertraut hatte – einen Zettel daran geheftet sah, auf dem mit Rotstift geschrieben das eine Wort »Moabit« stand.
Er wollte im ersten Schrecken danach greifen, den Zettel abzureißen, aber die Hand hing ihm zu schwer, sie zu erheben; und als er über den Schwindel hinweg kam, wurde ihm herzübel, daß er sich abwandte, die Tür zu erreichen. In diesem Augenblick pfiff Einer; und auf den Pfiff fing ein Hohngelächter an, lauter als das Geklapper der Maschinen. Lohnschleicher! Lohnschleicher! höhnte es in den schwankenden Takt seiner Schritte hinter ihm her, bis er draußen im Flur war, wo das eiserne Treppengeländer in Windungen hinab ging.
Er kam nicht weiter, weil da ein Fenster geöffnet war, durch das ihn frische Luft anwehte. Während er noch stand, sich mit beiden Händen an dem Gitter festhaltend, wischte der Löllke vorüber, den Vorfall zu melden; er aber mußte sich auf die Steinstufen setzen, so schwach war ihm. Nicht lange, so kam der Direktor vor dem Werkmeister her die Treppe herauf und hatte seine sonstige Gemessenheit verloren. Offenbar wollte er in den Arbeitssaal, Ruhe zu stiften; als er Wilhelm Voigt dasitzen sah, winkte er ihm und wandte sich wieder hinab, nickend, wie wenn etwas geschehen wäre, was er erwartet hatte.
Von dem Löllke ermahnt, folgte ihm Wilhelm Voigt in das Privatbüro, wo er so oft im Sessel hatte sitzen dürfen und jetzt stehen mußte, indessen der graue Herr Frieding seiner kaum achtend auf und ab ging. Ich bin schuldig an dem Ganzen! sagte er schließlich und blieb lange vor einem Stich stehen, bis er sich Wilhelm Voigt zuwandte und ihm erklärte, daß er natürlich von Anfang an durch die Polizei informiert gewesen wäre. Er habe ihm helfen wollen und geschadet: Die Wölfe leiden den Wolf nicht!
Wilhelm Voigt hörte aus seinen Worten nur das eine von der Polizei. Sie habe es ihm vertraulich mitgeteilt, und von hier aus habe keiner je etwas erfahren, wollte ihn der Herr Frieding trösten, der sein Gesicht sah. Er aber in der Hilflosigkeit seiner Niederlage haßte in diesem Augenblick seine Freundlichkeit mehr als die Feindseligkeit oben im Arbeitssaal, weil er hier am tiefsten gedemütigt war.
Ob er gleich seine Entlassung haben könnte? fragte er. Entlassung nicht, nur Urlaub! entgegnete der Direktor nach einer Weile und reichte ihm die Hand, was er bis dahin niemals getan hatte.
Als Wilhelm Voigt nachher durch den Steigerwald lief – in seine Kammer konnte er nicht um diese Zeit, und die Stadt war ihm verhaßt – deklamierte er sich vor, ob es nicht am einfachsten wäre, einen Strick zu kaufen und sein Elend an einen der schwarzen Äste zu hängen, die im Wind ächzten; denn was er auch plante, überall war die Zuchthaus-Nummer, die er abgehängt glaubte, in seinen Papieren. Nur mit einem falschen Namen hätte er die los werden können!
Am vierten Nachmittag kam ein Bote aus der Fabrik, ihn zum letzten Mal in das Privatbüro des Direktors zu holen, der ihm eine Stellung in Eisenach ausgemacht hatte. Man wisse dort, wer er sei, und nehme keinen Anstoß an seinen Papieren. Nur, wenn er ihm einen Rat geben dürfte, so möge er mit den Wölfen heulen! sagte er noch, und überreichte ihm Zeugnis und Lohn bis zum fünfzehnten, damit er Reisegeld habe!
Wilhelm Voigt war unterdessen wieder gesammelt, dem grauen Herrn Frieding für seine Freundlichkeit dankbar zu sein, und sagte es auch, nahm in der andern Frühe Abschied von den Gärtnersleuten, die herzlich betrübt waren, und fuhr mit der Bahn nach Eisenach. Seine Geschichtsbücher aus dem Zuchthaus ließ er, in einer Kiste vernagelt, zurück.
Der Pisek
Eisenach ist gegen Erfurt kaum eine Stadt zu nennen, so schön es zwischen Wäldern liegt und so weitberühmt die Wartburg darüber prahlt. Wilhelm Voigt sah an dem Morgen weder die Burg noch die Wälder; sein Blick war grimmig verschlossen, als er über die Bahnhofstraße hinauf in die Stadt ging, darin er als entlassener Zuchthäusler aus Gnade Arbeit finden sollte. Der Besitzer der kleinen Schuhfabrik, ein fröhlich beleibter Mann, sah ihn am Nachmittag mit gewaltsamem Wohlwollen an. Es wird schon werden! lachte er ermutigend und klopfte ihm auf die Schulter; ließ dann den Werkmeister rufen, der ihm seinen Platz an der Gelbdoppelmaschine zeigte.
Von beiden, das sah Wilhelm Voigt gleich, war keine Vertraulichkeit zu befürchten; aber mit den Wölfen zu heulen, wie ihm der freundliche Herr Frieding geraten hatte, vermochte er darum doch nicht. Er war zu sehr verdrossen, einem Wort und einer Miene zu trauen. Wie unter Wasser ging er die ersten Wochen in Eisenach herum, war pünktlich und genau bei seiner Arbeit und verkroch sich brütend in sein kahles Dachzimmer, das er diesmal bei armen Fabrikleuten gefunden hatte, die nur nach dem Mietgeld fragten.
So war es auch noch, als ihn eines Tages ein kleiner Tscheche ansprach, der nicht weit von ihm seinen Stand hatte. Der mußte ihn lange beobachtet haben; denn als er sich auf dem Nachhauseweg an ihn hängte, wußte er über seine Art Bescheid. Ob Wilhelm Voigt ihn rechts abschüttelte, er kam von links wieder, und schließlich geriet er in eine Art Duldung seiner Zudringlichkeit, sodaß sie ein paarmal abends miteinander in einer Gartenwirtschaft saßen, ein Glas Bier nach dem Lederstaub zu trinken; denn das Frühjahr hatte unterdessen die warme Sonne auch in das Eisenacher Tal hinein gelassen.
An einem dieser Abende kam es heraus, daß der Tscheche, der Pisek hieß und das Gesicht einer Spitzmaus hatte, nicht bloß um Lohn in der Schuhfabrik arbeitete; er war eine Art Spion aus Prag, der die deutschen Einrichtungen ausbaldowerte und geschickte Arbeiter fing. Er konnte ihm, als er erst seiner Bereitwilligkeit, ins Ausland zu gehen sicher war, eine gut bezahlte Stellung in Prag anbieten. Für den Fall, daß er an der Grenze oder sonst mit der Polizei Schwierigkeiten hätte, zeigte er ihm ein verfaltetes Papier, auf den Namen Karl Richard gebürtig in Pilsen, lautend, das er ihm aber aus Prag wieder abliefern müsse!
Als Wilhelm Voigt das Blatt in den Händen hielt, las er den Namen mit gieriger Freude, die ihn selber erschreckte; denn da warf ihm das Glück den Zettel hin, den er mehr als etwas anderes brauchte. Er wäre, das falsche Papier zu kriegen, ohne Lohn nach Prag gegangen; und daß er es weder dort noch sonst abgeben wollte, dazu war er grimmig entschlossen.
Gleich nach der vierzehntägigen Kündigung, die der Besitzer mißtrauisch fragend und der Werkmeister mit einem Fluch aufnahm, trat er die Reise ins Böhmerland an; und war er in Eisenach wie ein kranker Wolf eingeschlichen, so fing er in Prag schon leise an zu bellen, weil er endlich die Grenze der deutschen Polizeigewalt hinter sich hatte, und weil er sich in der tschechischen Sprache versteckter vorkam als im Thüringer Dialekt.
Die Brüder Goldbaum
Die angeblichen Fabrikanten in Prag waren zwei jüdische Brüder, namens Goldbaum, und die Fabrik stak vorlaufig in einem schwarz geteerten Schuppen; aber sie hatten alt gekaufte Maschinen nebst einigen Leuten und waren gewiß, ihr Ding in die Höhe zu bringen. Wo es fehlte, griffen sie selber an, und Wilhelm Voigt mußte bald merken, daß sie dem Züllichauer als Schinder überlegen waren. Aber soviel er sich tagsüber placken mußte, weil er für alles und jedes gerufen wurde, er tat es ohne Verdruß um der Genugtuung willen, daß ihm als Karl Richard nicht mehr die Zuchthaus-Nummer anhing, die den Wilhelm Voigt in seinen Papieren verfolgte, bis der Tod sein Kreuz darüber malte. Denn die falsche Anmeldung, vor der er gezittert hatte, war ihm in Prag leichter als je eine rechte in Deutschland gelungen.
Die Goldbaums wohnten in keinem Haus mit gebuckelten Scheiben hinter Kugelakazien. Sie waren noch kleine Jüden, wie sie es nannten, und hielten sich nicht für zu gut, abends nach der Arbeit, was freilich manchmal erst gegen zehn Uhr war, noch ein Viertelstündchen mit ihm zusammen in einer Kaffeestube zu sitzen. Auch fanden sie bald Gefallen an seiner unverdrossenen Schweigsamkeit und luden ihn Sonntag-Nachmittags zu Spaziergängen ein. Weil da oft Verwandte mitgingen, kam Wilhelm Voigt unvermutet dazu, in Prag Familien-Bekanntschaften zu haben, die zwar alle jüdisch aber meist freundlicher zu ihm waren, als sonst die kleinen Bürgersleute sind. Wie sollen wir anders sein können! sagte ihm einmal ein buckliger Vetter der Brüder Goldbaum, der Rechtskonsulent und in den mannigfachen Gerichtsfällen der Branche ihr Berater war: Da wir soviel geschunden worden sind!
Sie sind wie ich! mußte Wilhelm Voigt denken und war gewiß, sie wären nicht anders zu ihm gewesen, wenn sie seine Nummer gewußt hätten. So war das Jahr, das er als Karl Richard in Prag verlebte, das härteste, was die Arbeit anbelangte, aber das heiterste seines Lebens bisher. Er wurde in der emsig flutenden Stadt den Zuchthäusler Wilhelm Voigt los, und fand sie darum so schön wie keine. Denn auch seine närrische Geschichtsforscherei hatte er mit an den Nagel gehängt.
Er sah nur, wie die Moldau breit durch die Hügelstadt floß, wie drüben der Hradschin am Sonntagmorgen mit allen Fenstern und Dächern blinkte, der abends so düster stand, wie hinter der Josephstadt, wo er selber bei einem jüdischen Schneider wohnte, das Getümmel der Altstadt lärmte, und wie der Verkehr sich Tag und Nacht über die Karlsbrücke schob; wie die Anhöhen rundum fröhlich gebaut waren und sich alles so flink wie der Pisek gehabte, dessen Spitzmausgesicht er hundertmal wieder fand und jedesmal dankbar grüßte.
Eva
Daß Wilhelm Voigt auf die Dauer nicht bei den Brüdern Goldbaum bleiben konnte, hatte er bald gemerkt; aber daß er es nur ein Jahr lang aushielt, kam durch eine Näherin, die mit dem Rechtskonsulenten verwandt und merkwürdiger Weise wie der, wenn auch nicht so schlimm, verwachsen war. Das Mißgeschick ihres Leibes hatte die kleine Person weniger fröhlich gemacht, als sie es sonst nach ihrer Natur gewesen wäre; und der traurige Blick ihrer Augen, als einmal draußen in Koschir getanzt wurde, hatte Wilhelm Voigt gerührt, sie zu holen.
Er machte mit seinem blonden Schnurrbart, der dem Karl Richard übermütig gewachsen war, und mit seiner Art, sich soldatisch zu geben, die er von der Reiterei übrig behalten hatte, keine üble Figur. So wurde aus gelegentlichen Gesprächen und Spaziergängen ein freundschaftlicher Verkehr, in den er hinein geriet ohne Sorgen, daß er von der andern Seite ernsthafter gemeint sein könnte.
Als nach einem schneereichen Winter die Moldau braun und gefährlich, im Sonnenschein wieder hell und freundlich geworden war; als die weißen Wolken des Frühlings wie frisch gewaschene Wäsche über Prag hingewirbelt wurden und die ersten Gewitter den Sommer eingedonnert hatten: war es jedoch mit abendlichen Stelldicheins so weit, daß er sich aus dem Staub machen oder als Mann der Näherin bleiben mußte, welcher Rolle er sich in keiner Weise geneigt und gewachsen fühlte.
Nach seiner sparsamen Art war er unterdessen zu einem kleinen Stück Geld gekommen; auch lockte ihn schon lange das nahe Wien, von wo keiner wieder kam, ohne mit schwärmerischen Augen die Stadt an der blauen Donau zu rühmen; und bei den Brüdern Goldbaum, denen sich nun, da sie ihr Ding im Gang hatten, billigere Kräfte anboten, war er fällig geworden: so tat er eines Freitag-Abends, was er schon lange im Sinn hatte, und kündigte seine Stellung.
Die Goldbaums waren sichtlich erlöst, daß ihnen kein Gojim in die Familie geriet; sie hielten sich streng am Glauben. So blieb ihm der Abschied von der Näherin, die schwer an dem Namen Eva trug, als die einzige Schwierigkeit übrig, der er sich nicht entziehen konnte. Sie saßen den letzten Nachmittag zusammen am Ziskaberg; und die Näherin wußte, was es hieß, daß er nun ging.
Sie werden nicht wieder kommen, und Prag ist so schön! sagte sie und strich zärtlich über das Schaubild der Stadt, die unter den Fingern der weißen Näherinnenhand ihr rotes Dächerwerk zeigte; dann begann sie mit starr geöffneten Augen auf eine lächelnde Art zu weinen, die Wilhelm Voigt so von Herzen rührte, daß er ihr Worte sagte, die für den Augenblick ehrlich gemeint waren. Sie hörte ihm gierig zu; und als er sie in der Dämmerung vor ihre Tür gebracht hatte, nahm sie beide Hände von ihm und küßte sie dankbar. Doch als er sich auch zu ihr beugen wollte, stieß sie ihn von sich und lief in das Haus, sodaß er lange auf der Straße stand, das Licht an ihrem Fenster abzuwarten; aber es kam nicht.
Der Erzherzog
Für Wien hatten ihm die Brüder Goldbaum eine Empfehlung mitgegeben; und der Mann, an den sie gerichtet war, nahm ihn sogleich an. Er wohnte in einer Sackgasse der inneren Stadt, die vom Grünanger seitab ging, und hatte zwar keine Fabrik aber ein Maßgeschäft, in dem – wie er nebenbei sagte – nur für Standespersonen, von der Gräfin aufwärts gearbeitet würde. Aber es standen auf dem geräumigen Boden, wo die Werkstatt untergebracht war, doch so viel Maschinen, daß eigentlich nichts mehr die gepriesene Handarbeit war; und Wilhelm Voigt sollte die Gelbdoppelmaschine für Damenschuhe bedienen.
Er blieb aber nicht eine Woche lang in der Werkstatt, weil ihm die Polizei Schwierigkeiten machte, als er aus Furcht vor seinen Papieren es hinaus gezögert hatte, sich anzumelden. So sehr er sich heraus reden wollte, der uniformierte Beamte blieb unnahbar wie ein Erzherzog und gab ihm keine Bewilligung, arbeitshalber – wie er sagte – Aufenthalt zu nehmen. Er solle froh sein, ohne Strafe wieder hinaus zu kommen! Damit war sein Übermut von der blauen Donau schon aus; auch sein Chef, der kugelrund und glatzköpfig aber hellhörig war, wußte ihm keinen anderen Rat, als daß er ihm eine Empfehlung nach Budapest mitgäbe: mit der Wiener Fremdenpolizei wäre nicht zu spaßen, wenn sie erst einen im Augenschein hätte.
Wilhelm Voigt nahm die Empfehlung mit und strich den gekürzten Lohn ein: weil er doch Schaden an ihm gehabt habe! beteuerte der wohlgenährte Mann. Aber als er mit seinem Wachstuchköfferchen an den Südbahnhof kam, fuhr der Zug nicht, der ihm gesagt worden war; und in den drei Stunden, die er auf den Abendzug wartete, kam ihm der Trotz hoch, daß er von den gerühmten Herrlichkeiten Wiens so gut wie nichts gehabt haben sollte.
Er suchte sich einen bescheidenen Gasthof in der Nähe; und wie er seinen Namen eintragen sollte, war sein Trotz schon übermütig geworden. Weil dem Arbeit suchenden Karl Richard der Aufenthalt verweigert worden war, blieb der Vergnügungsreisende Wilhelm Voigt erst recht. Und ob er sich mit diesem Doppelspiel seiner Namen anfänglich in Unruhe brachte, lief er doch noch vier Tage lang in Wien herum. Er kaufte sich einen Stadtplan, sah die Hofburg und den Stefansdom außen und innen, war dreimal im Prater und einmal auf dem Kahlenberg draußen, um der Türkenbelagerung willen; und als er sich am fünften Morgen auf die Südbahn setzte, half ihm der Triumph, der Wiener Fremdenpolizei ein vermeintliches Schnippchen geschlagen zu haben, über den Ärger fort: die lustige Stadt sobald verlassen zu müssen.
Nach dem strengen Arbeitsjahr in Prag schien es ihm, er habe sich die vier Vergnügungstage in Wien leisten können; und einmal unterwegs – niemand war hinter ihm, und sein Geld reichte noch eine gute Weile – bekam er Geschmack daran, sich in die Welt wehen zu lassen. Sie sah zwar anders aus als jene, in die er seine Jugendabenteuer hinein geträumt hatte; aber etwas von der alten Unrast fand endlich Erfüllung, als er mit der Südbahn nach Budapest und von da gleich nach Jassy in Rumänien fuhr.
Die Reise nach Jassy
Der Schwager des Wieners nämlich, an den seine Empfehlung lautete, hatte die Fabrikation aufgegeben und betrieb nur noch seinen Laden. Handel ist Nutzen! deklamierte er: Produzieren ist Risiko, Nutzen mit Schaden gepflastert!
Er empfahl ihn zwar an den neuen Besitzer seiner verkauften Fabrik; aber der hatte kaum eine brauchbare Maschine und war ein Ungar, der kein Wort Deutsch verstand. Auch die Stadt Budapest behagte Wilhelm Voigt garnicht, wo der gemeine Mann – wie der Sachse sagte, neben dem er arbeiten mußte – egal, was er triebe, nur Stiefelputzer der Grafen und Herren wäre! Nach einigen verdrießlichen Wochen nahm er die Hand des Zufalls an, indem ihn eines Tages der Ladenbesitzer bestellte: Ein Verwandter von ihm in Jassy habe ihm um einen tüchtigen Mann aus der Branche geschrieben, weil er dort eine Schuhfabrik aufmachen wollte. Er würde die Reise bezahlen.
Als Wilhelm Voigt Lust zeigte, nahm ihn der eifrige Mann in seine Stube hinter dem Laden, die so kläglich war, wie vorn alles in falscher Kostbarkeit prahlte, und gab ihm den Brief als Pfand; denn darunter stand in deutscher Sprache geschrieben, daß dem Überbringer die billige Klasse bezahlt würde. Er zeigte ihm auf der Karte, wo Jassy lag, daß er die Donau hinab fahren müsse bis ans Eiserne Tor, dann mit der Bahn über Bukarest in die Moldau hinauf, wo nahe der russischen Grenze Jassy läge. Er könne auch von Orsowa bis Galatz mit dem Schiff fahren, und dann erst mit der Bahn; doch sei es länger.
Wie heißt weit? gestikulierte er dann: ob du fünf Tage fährst statt einem! Und in sieben bist du gewiß dort!
Als Wilhelm Voigt staunend den Namen Goldbaum unter dem Brief las, wurde der kleine Mann hitzig, daß ihm die schwarzen Locken in sein blatternnarbiges Gesicht fielen. Warum soll er nicht Goldbaum heißen? eiferte er: Der Mann kann deutsch und ist gut! Wenn du ihm einen Gruß von seinen Vettern in Prag bringen kannst, umso besser für dich!
So kam es durch einen Namen, daß Wilhelm Voigt, der doch nur nach Wien gewollt hatte, eine Reise von Budapest nach Jassy machte, die weiter als die von Tilsit nach Erfurt war und schwieriger als eine Reise in Deutschland. Auch wurden neun Tage daraus statt fünf oder sieben; und die Umstände, die er fand, waren so, daß er niemals neun Tage lang dahin zu reisen mutig gewesen wäre, wenn er die Stadt, das Haus und den Mann vorher gesehen hätte; aber er blieb fünf Jahre lang dort, wo mehr Hütten als Häuser, wo die Straßen der Stadt nicht gepflastert und außen nur Lehmwege waren.
Stefan Goldbaum
Denn anders, als ihn je Einer begrüßt hatte, nahm ihn der Stefan Goldbaum auf, als er den Brief aus seinen Händen empfing und hörte, er wäre ein Jahr lang bei seinen Vettern in Prag gewesen. So kommst du mir zu, wie Tobias zu Raguel kam, und willst mir Glück bringen! Und hältst meinen Brief in der Hand, wie Asarja die Handschrift Gabaels hatte, als ihn Tobias gen Rages in Medien sandte!
Er rief aus allen Winkeln des Hauses zusammen, was darin Lebendiges war, die schon silberhaarige Frau Sarah und die sieben Kinder; und alle mußten den Fremdling bestaunen, der die Vettern in Prag kannte.
Und wie die Begrüßung an diesem ersten Abend war alles bei dem Stefan Goldbaum danach: die Kammer zur ebenen Erde, die nur einen Lehmboden hatte und einen Kasten mit Stroh, aber das Linnen darüber war sauber; die Fabrik, zu der nur die vier Eckpfähle in die Erde geschlagen waren, aber er hatte eine Kiste voll Katalogen über alle Maschinen; der laute Jammer, daß er kein Geld hätte, die vielen Mäuler in seinem Haus zu ernähren, aber er gab ihm am ersten Morgen sein Reisegeld wieder, billige Klasse berechnet, wie in dem Brief stand, und redliche Münze.
Anders nicht, als wäre er in das Land der Bibel geraten, kam Wilhelm Voigt die bunte Fremdheit vor; wenn er auf die Straße trat, war ihm die Tracht so fremd wie die Sprache, wie die Gebärden der Menschen und ihr Geschrei. Daß es überhaupt eine Stadt geben konnte wie Jassy, in der die Hälfte aller Einwohner aus Juden bestand, hätte er nicht für möglich gehalten; aber die Zuversicht, die er seit Prag hatte, daß er mit ihnen besser zurecht käme als mit den Leuten in Erfurt und Eisenach, enttäuschte ihn nicht.
Wenn er von seinem Stefan Goldbaum aus, dem die Haare geringelt um die Ohren hingen und dem der schwarze Rock klatschend um die Beine schlug, sobald er lief – und er lief immer – wenn er von diesem Mann aus, der die Worte des ganzen alten Testaments auswendig zu kennen schien, an den grauen Herrn Frieding mit seiner goldenen Brille dachte, an seine eigene Geschichtsforscherei in Erfurt: kam es ihm vor, als wäre er dort noch immer im Zuchthaus gewesen. Hier aber, wo alles unordentlich durcheinander lief und schrie, wo die Erwachsenen wie Kinder lachten, weinten und sich stritten, um am Ende doch wieder zu lachen: Hier war die Freiheit anders, als seine Knabentorheit sie geträumt hatte, aber sie war da.
Manchmal kam er sich vor wie ein Hund, den sich der Stefan Goldbaum hielt, so mußte er für seine Einfälle laufen; aber wie über Nacht aus Balken, Brettern und Lehm die Fabrik aufgestellt wurde, wie eines Tages eine alte Lokomobile mit vielen Pferden und noch mehr Geschrei anrückte, die treibende Kraft der Maschinen zu sein, von denen schon einige in Kisten verpackt dastanden, wie jedes Ding von heute zu morgen, scheinbar unordentlich hingestellt, doch in Richtigkeit kam: ging alles lustig zu wie bei dem Onkel Patzig, als sie die neue Turbine bauten. Und wenn der Stefan Goldbaum auch nichts erfand: erfinderisch, das Erfundene zu gebrauchen, war er reichlich.
Ehe der Winter den grausamen Ostwind über Jassy zu wehen begann, war die Fabrik unter Dach; und ob sie darin nur in Pelzmänteln arbeiten konnten, das Zauberwerk der Maschinen kam Stück für Stück in Gang. Im März machten sie schon richtige Schuhe, und im Mai, als die Luft aus der Dobrudscha herauf den Winter wie einen bösen Spuk fort geweht hatte, fing der Stefan Goldbaum mit dem Bau eines Lagerhauses an, das anders als die Fabrik gleich aus Steinen errichtet wurde, mit stark vergitterten Fenstern und einer eisernen Tür.
Wilhelm Voigt, der den rastlosen Mann täglich zehnmal die selben Klagen deklamieren hörte, womit er die Seinen ernähren solle, mußte sich wundern, woher er das nötige Geld nahm; aber es war immer aufs neue zur Hand, wenn er wieder einmal auf der Bank gewesen war; zu welchem Zweck er sich stets heraus putzte, als ginge er dort zur Synagoge, der für seine Gläubigkeit, wenn er den Gebetskasten an der Stirn trug, viel weniger sorgsam war. Er selber bekam nur seinen Lohn, wenn er ihn dreimal verlangte. Je nachdem es nötig war, mußte er den Direktor der Fabrik, den Werkmeister und Aufseher oder Handlanger spielen; es gab keine Lehrlingsarbeit, die ihm nicht abverlangt wurde; und wenn er alles besah, war er der Schabbes-Goi im Hause des Juden. Ja selbst in der Küche mußte er helfen, wenn es der Frau Sarah nötig schien: und dennoch war er mit seinem Dasein zufrieden, weil er sich nicht mehr in der Mißachtung sah. Und dann war noch der Knabe Samuel da, den er liebte.
Der Knabe Samuel
Von den sieben Kindern des Stefan Goldbaum waren drei durch eine Pause von den vier kleinen getrennt; die beiden ältesten Töchter, denen die Männer schon ausgesucht waren und die sich wenig um den neuen Hausgenossen kümmerten, und Samuel, der Sohn, der sich von Anfang an mit Inbrunst an ihn hängte. Das war ein sehr blasser doch schöner Knabe mit Brombeer-Augen und hochmütigen Lippen, frühreif und alles schmerzlich verachtend, was aus Jassy war. Er witterte in ihm die Fremde und wollte mit unstillbarer Gier wissen, wie es in Berlin und Wien, in Prag und Budapest aussähe.
So ging es Wilhelm Voigt in Jassy, wie es dem Obermaat Heincke in Tilsit gegangen sein mochte: als seine Erlebnisse für die Ansprüche nicht ausreichten, schilderte er mehr, als er gesehen hatte, und gebrauchte die buntesten Farben für seine Lügen. Wenn Samuel mit lüsternen Augen sagte: Erzähle, Carlo! kam es ihm nicht im Geringsten auf die Wahrheit an, im Gegenteil: es mußte so unwirklich wie möglich sein, von der Alltäglichkeit abzustechen.
Und nur in einem war das Verhältnis anders als bei dem Obermaat, indem hier der Knabe kommandierte, und Wilhelm Voigt mußte ihm in allem willfahren, weil er sonst wie ein böses Tier wurde. Seinem Vater, der wie Eli schwach mit seinen Kindern war, verachtete er; aber mit seinem Carlo ging er prahlerisch um wie ein Herr mit seinem Hund.
Zumeist um dieses Knaben Samuel willen blieb Wilhelm Voigt als der vermeintliche Karl Richard fünf Jahre lang im Hause des Juden zu Jassy und dachte kaum noch, jemals wieder hinaus zu kommen. Es waren nicht die Abenteuer der bunten Hefte, die er da fand, und oft genug kam er sich wie der Martin Nagler in Tilsit vor; aber die zwölf Jahre Zuchthaus hatten ihm die Geduld angewöhnt, die er bei dem Stefan Goldbaum brauchte. Und schließlich saß er nicht gleich dem Schwaben da, Schuhsohlen zu klopfen; es kamen Leute ins Haus, die ihn den Herrn Direktor nannten.
Auch Pferde gab es in Jassy genug und gegen den Pruth hin weite Landschaft, einen langen Galopp auszuprobieren, wenn er den Gärtnersleuten oder dem grauen Herrn Frieding in Erfurt so vor die Augen gekommen wäre, sie hätten den braunen Kerl in der rumänischen Tracht gewiß nicht wieder erkannt, der sich hier nicht mehr zu verstecken brauchte und dennoch versteckt war. Denn ohne die Gier des Knaben Samuel hätte in Jassy keiner nach seinem Vorleben gefragt, weil hier der Tag aus sich selber lebte und keiner andern Hausordnung als der seiner Lüste und Einfälle bedurfte.
Odessa
Eben der Knabe Samuel aber trug Schuld, daß Wilhelm Voigt zuletzt doch wieder aus Jassy fortkam, wo er zwar nicht in Ehren aber in der Befriedigung seiner Natur grau geworden wäre. Der blasse Knabe war in den Jahren rasch zu einem Jüngling gewachsen, dessen Sucht in die Welt sich glühendere Bilder ausmalte als die in den bunten Heften des Schusterlehrlings in Tilsit.
Daß er ihm kein verlorener Sohn würde, gab ihn der Stefan Goldbaum in eine Schuhfabrik nach Odessa, dort den kaufmännischen Betrieb zu lernen, und für Wilhelm Voigt hatte er eine Stellung in der selben Fabrik ausgemacht, seinem Sohn ein Engel Asarja zu sein! wie er weinenden Auges sagte, als er mit Sarah und allen Kindern an der Station stand, Abschied zu nehmen.
Aber der Samuel, wie sie hinaus fuhren und die Stadt Jassy zum letzten Mal sahen, die sich malerisch aus dem Tal des Bahluju – so heißt der Nebenfluß des Pruth, an dem die Stadt liegt – gegen die Weingärten hob, und die frühe Sonne blinzelte darüber her: der Samuel tat einen Vogelschrei und hob die Fäuste gegen die Stadt seiner Heimat, ihr zu fluchen. Wilhelm Voigt hörte den Schrei und den Fluch und erschauerte, wie ein Hund erschauern mag, der seinen Herrn schreien und fiuchen hört. Nichts in seinem eigenen Willen hätte ihn von Jassy fortbringen können, wo seine Natur ihre Weide fand wie ein Bibelwort des Stefan Goldbaum sagte; und dennoch hatte es der flackernden Bitte des flehenden Vaters nicht bedurft, weil er den Knaben Samuel liebte, obwohl der längst ein herrschsüchtiger Jüngling geworden war, ihn nach seinen Launen zu plagen. Er wußte, daß dies eine Unglücksfahrt wurde und konnte sein Schicksal nicht einmal beklagen, so war er seiner Neigung verfallen.
Als sie zusammen über das Schwarze Meer – das aber blau war, wie in Deutschland die Kornblumen sind – nach Odessa gefahren waren, hätte auch der wirkliche Engel Asarja den Samuel nicht hindern können, seine Lust zu büßen. Wilhelm Voigt konnte nichts tun, als ihm zu Willen sein; und weil er von all den Dingen, die er dem Knaben vorgeprahlt hatte, das wenigste wußte, indem er nach seiner Natur nichts als ein kleinbürgerlicher Schuhmachersohn war, stellte er nur seinen folgsamen Schatten vor; und wo dem Jüngling der Schatten lästig war, ging er allein. Als sein Geld mit dem eigenen völlig aus war, fluchte der Samuel Wilhelm Voigt, wie er Jassy geflucht hatte; eines Tages im Herbst blieb er fort, und es hieß, er sei mit einer Schauspielertruppe nach Moskau gefahren.
Lodz
Wilhelm Voigt saß allein in der großen und reichen Stadt Odessa, wo der unerschöpfliche Reichtum der russischen Korn- und Weizenfelder verhandelt wurde und wo er durchaus nicht mehr der Herr Direktor, sondern der schlecht gelöhnte Maschinist einer Schuhfabrik war. Nach Jassy zurück ohne den Samuel konnte er nicht, und ihm nach Moskau zu folgen, wie er zuerst wollte, war er durch seine Erfahrung gewarnt. So strich er wieder als kranker Wolf herum, wie es in Eisenach war; aber diesmal konnte ihm kein Pisek aus der Schwäche seiner Natur helfen, sich immer an einen andern zu hängen, welche Schwäche ihm durch einen Zwang seines Blutes in eine so klägliche Verlassenheit ausgegangen war.
Ich sitze verlassen da, wie die Näherin am Ziskaberg saß! sagte sich Wilhelm Voigt eines Tages, und weil er die Jämmerlichkeit eines verlaufenen Hundes in Odessa nicht los wurde, nahm er die erste Gelegenheit wahr, zu entweichen. Als ihm nicht lange danach von einem Bruder seines Chefs, der eine Schuhfabrik in Lodz anfangen wollte, der Werkmeisterposten angetragen wurde, ließ er die Stadt am kornblumenblauen Meer und machte die unendliche Eisenbahnfahrt, die ihn aus der sonnigen Herbstüppigkeit mitten in den schmutzigen Eiswinter der polnischen Fabrikstadt führte.
Dort freilich, wo über Rauch und Lärm, über Armut und Schmutz, über dem Gewimmel häßlicher Straßen der düstere Winterhimmel lag, wo die Unordnung ohne die bunte Freiheit von Jassy und ohne die biblische Menschlichkeit des Stefan Goldbaum war, wo der Tag nur noch Stunden, und die Stunden ihren sinnlosen Pendelschlag hatten: hielt er es nur bis zum Frühjahr aus. Als es ihm glückte, eine Stelle in Riga zu kriegen, fuhr er Hals über Kopf davon; denn mit dem Paß, den ihm der Stefan Goldbaum für Odessa besorgt hatte, konnte er in ganz Rußland reisen.
Riga
Wenn die Stadt Riga auch nicht an der Ostsee lag, wie er gedacht hatte, so floß doch die mächtige Düna an ihrer Breitseite hin; über den Türmen hatten einmal die Fahnen der Hansa geweht, und die Hälfte der Einwohner war immer noch deutsch. Wilhelm Voigt sah sich nach sieben Jahren doch wieder heimgekehrt; die Moldaustiefel und die Tracht dazu, die schon in Lodz nicht mehr recht gepaßt hatte, mußte er ganz ausziehen. Nur den Namen Richard behielt er bei, notgedrungen, weil sein russischer Paß darauf ausgestellt war, und weil keine Zuchthaus-Nummer daran hing. Die braune Farbe seiner langen Fremde war im Lodzer Winter ausgebleicht, aber dafür hatte er Zeit gehabt, seine Erfahrung mit dem Samuel unter die Füße zu bringen.
Auch die Stellung in Riga war mehr nach seinen Wünschen als die in Lodz. Zwar stand auf dem Messingschild neben dem Tor ein russischer Name, aber den Mann dazu fand er inwendig nicht. Die kleine blitzblanke Fabrik gehörte zwei Brüdern Sinsheimer, von denen der ältere nur stiller Teilhaber war. Der Axel, wie sie den jüngeren im ganzen Geschäft nannten, kannte merkwürdiger Weise die Brüder Goldbaum in Prag wie den Vetter Stefan in Jassy, sodaß Wilhelm Voigt, wie er danach erzählte, durch jüdische Hände von Erfurt über den Balkan nach Riga herum gereicht worden war.
Der Graf von der Pahlen
Weil ihm Riga zu nahe bei Tilsit lag, hatte sich Wilhelm Voigt zunächst aller Bekanntschaft enthalten wollen; aber der Zufall warf seinem Schicksalsgewebe, kaum daß er sich aus dem Balkan heimgekehrt fühlte, den Faden zu, der in seiner Jugend der bunteste gewesen war.
Als er an einem Sonntag-Vormittag über den Schloßplatz stocherte, wo die Militärmusik spielte und die Offiziere auf der mit Seilen abgesperrten Gasse durch das drängende Volk Corso ritten, sah er einen von ihnen erstaunt und erschrocken an, weil er aus seinem braunen Gesicht den Grafen von der Pahlen erkannte. Er war unterdessen gewitzigt genug, daß ein Werkmeister in der Schuhfabrik keine Bekanntschaft für einen gräflichen Offizier wäre; so wandte er seinen Blick ab, gegen das Ufer hinunter aus dem Gedränge zu entweichen.
Aber als er da auf einer Bank saß und über die breite Düna hinüber starrte, aufgestöbert durch die unerwartete Begegnung, ließ der Zufall den Faden nicht fallen, indem der Graf, diesmal zu Fuß mit einer neckischen Dame, dicht vor ihn zu stehen kam, ihr draußen etwas zu zeigen. Über ein Vierteljahrhundert hinweg erkannte er jede Bewegung wieder, und wie der andere, als ob er seinen Blick im Rücken gefühlt hätte, sich nach ihm umwandte, mochten ihn selber die Jahre nicht unkenntlich gemacht haben, so überrascht blieb der Blick des Grafen an seinem Gesicht hängen.
Weil ihn die Dame im selben Augenblick etwas fragte, wandte er sich gleich ab und ging mit seiner Begleiterin scherzend gegen den Schloßplatz zurück. Als Wilhelm Voigt jedoch schon hämisch registrierte, er habe ihn erkannt und natürlich verleugnet – zugleich erleichtert, der verhängnisvollen Begegnung entgangen zu sein – kam er raschen Schrittes ohne die Dame zurück, sagte zwar noch seinen Namen, als ob er zweifelte, gab ihm aber schon, der bestürzt aufstand, mit der alten Knabengebärde die Hand, fragte kein Wort über das Wie und Woher, als ob es das selbstverständlichste der Welt wäre, seine Knabenbekanntschaft aus Tilsit nach einem Vierteljahrhundert in Riga wieder zu finden.
Und schien so in allem der gleiche geblieben, daß er ihn von der Stelle auf die Reitbahn mitnahm, wo sein Bursche mit zwei Pferden wartete. Der durfte zu Fuß heimgehen und Wilhelm Voigt mußte hinauf in den Sattel. Weil er in Jassy Übung gehabt hatte, fiel auch diesmal die Prüfung nicht übel aus. Der Galopp ist zu hart, der Trab ist recht! bescheinigte der Graf, als sie eine ziemliche Schleife in die Landschaft hinaus geritten waren, und nahm ihn, der sich mit allerlei Lügen ausreden wollte, mit in sein Haus, das abseits zwischen verwahrlosten Hecken lag und außen nicht aussah, als ob es einem Offizier als Wohnung diente; inwendig war alles so breit und kostbar, wie Wilhelm Voigt noch nie eine Einrichtung gesehen hatte. Er mußte da ein Glas Jalta-Wein mit ihm trinken und kam nur durch einen hartnäckigen Vorwand davon los, mit dem Grafen zu Tisch sitzen zu müssen.
Die Gräfin
Die Gräfin war nicht daheim gewesen; aber als er am nächsten Sonntag in der Frühe einen Ritt mit dem Grafen nach Dünaburg an der Ostsee gemacht hatte und heiß und staubig, wie nur je die Dragoner in Tilsit heiß und staubig gewesen waren, wieder mit in das Haus genötigt wurde – seine Frau wisse Bescheid und wolle ihn unbedingt sehen; er sei eine alte Bekanntschaft von ihr – fand Wilhelm Voigt niemand anderen als die Tochter des tollen Grafen wieder, der er mit den Brüdern Knirr die Streiche gespielt hatte.
Sie war eine große und schwere Frau geworden und mußte um einer nicht völlig ausgeheilten Hüftentzündung willen im Rollstuhl gefahren werden, hatte aber noch immer die großen Mädchenaugen und war im Fahrwasser ihrer Tante auf eigene Faust noch ein Stück weiter ins Soziale gesegelt. Sie hieß in Riga, wie Wilhelm Voigt danach erfuhr, der hilfreiche Rollstuhl; und ein Witzbold hatte den Scherz in Umlauf gebracht, daß der Graf von der Pahlen Spielschulden mache, um den Rest seines Vermögens vor den armen Leuten zu retten!
An diesem ersten Vormittag mußte ihr Wilhelm Voigt von Jassy erzählen, wie das arme Bauernvolk in der Moldau lebe, und ob irgendwo Industrie sei? Was er selber bei dem Stefan Goldbaum, in Odessa und Lodz als Lohn erhalten habe? Ob es noch Zunft gäbe da unten? Oder schon gar Gewerkschaften? Alles, was sonst nur die Sozialisten anging, wollte sie wissen. Auch faßte sie ihn scharf an, daß er die Jahre so hingebracht hatte, ohne sich um die andern zu kümmern. Wir sind alle Wilde! strafte sie: Und daß wir keine Kannibalen mehr sind, deshalb brauchten wir keine Kirchen!
Von seinem Zuchthaus sagte sie nichts, auch nannte sie ihn nicht bei Namen, sagte nur scherzend Herr Landsmann! Aber Wilhelm Voigt hatte ein Gefühl, daß sie ihn schonen wollte wie der Herr Frieding. Als er aus der Unterredung fort kam, die wie eine Schulstunde gewesen war, hätte er am liebsten gleich den Weg zum Bahnhof genommen, sich wieder nach Jassy zu flüchten; denn hinter ihren Fragen sah er die Fortsetzung kommen, bis er doch wieder wie in Erfurt als der entlassene Zuchthausler Wilhelm Voigt dastände, der als Karl Richard Werkmeister in Riga war.
Ob der Graf das Unpassende seiner Reitbekanntschaft einsah, oder ob ihm das Morgengespräch mit seiner Frau verdächtig geworden war: Wilhelm Voigt merkte bald, daß er ihn mied, obwohl er freundlich blieb, wenn er ihn sah. Die Gräfin hingegen fand Vorwände, den Herrn Landsmann kommen zu lassen. Obwohl ihre Fragen nicht die Fortsetzung nahmen, die er befürchtete, erinnerte ihn ihre bohrende Art an die Gewissensbearbeitung in der »Sonne«, und es dauerte lange, bis er die Art des Lehrers Heinrich darin spürte, nur daß sie immer todernst blieb, wo jener fröhlich mit den Zwickelfalten gelacht hatte. Aber nun stand es schon so um Wilhelm Voigt, daß der Gedanke ihn unruhig machte, er möchte eines Tages auch dessen Stahlbrille Rede stehen müssen.
Der Werkmeister Richard
Wilhelm Voigt versäumte seine Besuche bei der Grafin mit immer neuen Vorwänden; er fing an, diese Plagerin zu hassen, weil sie ihn mit ihren Fragen in Dinge hinein ziehen wollte, die er mit dem Wilhelm Voigt abgetan hatte. Dafür aber ging er von sich aus mit Verbissenheit in die bürgerliche Achtung ein, die Riga dem Werkmeister Karl Richard darbot. Es gab einen deutschen Männergesangverein, in dem er mit seinem geschulten Baß willkommen war; es gab einen deutschen Theaterverein und sogar einen Kegelklub, wo er Eingang suchte und fand; und die Gefahr, einen Bekannten aus Tilsit zu treffen, wurde immer blasser für ihn. Nach einem Jahr wußte er manche Familie in Riga, in der er sich Sonntag-Nachmittags zu einem Schwatz ansagen durfte, und auch schon Mütter, die ihn in Hinsicht auf ihre Töchter betrachteten. Denn er hielt sorgfältig darauf, in seiner Kleidung und auch sonst zu zeigen, daß er als Werkmeister in der Schuhfabrik eine gut bezahlte Stellung hatte.
So gingen die drei Jahre in Riga noch günstiger hin als die in Prag und Jassy. In den gleichen Verhältnissen, aus denen der Löllke in Erfurt eine Unnahbarkeit für ihn vorgestellt hatte, stand er nun selber als eine Art Feldwebel im bürgerlichen Leben da: nur, daß der Rechenfehler mit seinem falschen Namen dazu nötig gewesen war, den die Schwester Elsbeth danach fast aufgedeckt hätte.
Schwester Elsbeth
Es war im ausgehenden Winter des dritten Jahres und sie gingen in Riga noch auf den glatt gefrorenen Schneedämmen hin, die sich zwischen den Häusern über der Straße aufgebaut hatten, sodaß überall Eistreppen zu den ausgeschaufelten Haustüren hinab führten, als der Alex an einer Lungenentzündung erkrankte und starb.
Es gab ein großes Begräbnis, bei welchem der Werkmeister Richard im Namen der Arbeiterschaft einen Kranz nieder legen mußte; aber als die erste Bestürzung vorüber ging, zeigte sich, daß der ältere Bruder Sinsheimer nur dem Alex zu Liebe sein stiller Teilhaber gewesen war: er verdiente seine Rubel an der Börse direkter. Als er keinen Käufer für die Fabrik fand, weil die erste Hochflut der Schuhfabrikation sich überschlagen hatte, beschloß er kurzer Hand, sie eingehen zu lassen, und kündigte den Arbeitern und Angestellten zum ersten April.
Damit war die Werkmeisterschaft Karl Richards zu Ende; aber nun schien ihm der Zufall noch ein besonderes Glück zu winken, an das er von sich aus nicht zu denken gewagt hatte. Die Krankenschwester der Grafin nämlich war aus diesem Zufall – den er lange als eine besondere Tücke befürchtet hatte – eine Schwester seiner Zimmerherrin und im Gegensatz zu dieser eine behende Person, der man die Kraft, mit der sie den schweren Rollwagen schob, nicht ansah. Da er sie aus dem gräflichen Haus wie von den gelegentlichen Besuchen bei ihrer Schwester allmählich kennen gelernt hatte, war aus seiner Art, mit Handbewegungen und kleinen Aufmerksamkeiten den Mann von Welt zu spielen, etwas geworden, das die Elsbeth Riegel, so hieß sie, für Freundschaft und mehr nahm.
Wilhelm Voigt hatte ihr in der ersten Bestürzung, als die Fabrik noch zum Verkauf ausgeschrieben stand, einmal großsprecherisch gesagt: wenn er Geld hätte, getraute er sich selber für den Axel einzuspringen. Unter seiner Leitung würde der Bruder Sinsheimer gewiß stiller Teilhaber bleiben, sodaß garnicht viel Geld nötig sei, die Fabrik zu erwerben; nur lange sein Erspartes dazu natürlich nicht! Es war ihm halb Ernst und halb Prahlerei gewesen; aber die Schwester Elsbeth hatte eine Anregung daraus gehört, ihm in der Fabrik und sonst mehr als eine Teilhaberin zu sein. In einer Unterredung unter vier Augen, die abends in seinem Zimmer stattfand – bei halboffener Tür, der Schicklichkeit wegen – machte sie ihm den Vorschlag, sie wolle ihr eigen Erspartes mit dem seinigen zusammen legen; wenn dann noch etwa die Frau Gräfin den fehlenden Teil auf Zinsen gäbe, könnte sie dem kleinen Büro ebenso gut vorstehen wie er dem Werkstattbetrieb!
Sofern Wilhelm Voigt ihre eigentliche Absicht aus dem verschämten Augenniederschlag der Schwester Elsbeth spürte, war ihm der Vorschlag eher bedrohlich, als daß er ihn lockte; aber weil es hier noch um ein anderes ging, nämlich dies, daß er dann selber so gut Fabrikant war, wie sie Fabrikantin werden wollte: ging er eine Woche lang in Plänen herum, die anders aussahen als die Knabenträume, die ihn aber an ein Ziel geführt hätten, das die Vollendung seines bürgerlichen Aufstieges in Riga gewesen wäre.
Er wehrte sich mit allen möglichen Bedenken; weil aber die Schwester Elsbeth rätselhafter Weise nun jeden Abend Zeit für einen raschen Sprung in sein Zimmer fand, ließ er sich zuletzt bestimmen, bei der Gräfin den Versuch zu machen, nach dem die sonst vernünftige Person immer wilder verlangte. Er tat es freilich im Gefühl von rundum drohenden Gefahren, unter denen die anrückende Ehe nicht die geringste war, schon um der Papiere willen.
Der hilfreiche Rollstuhl versagt
Die Gräfin, von seinem Besuch und auch wohl von seiner Absicht unterrichtet, war an dem Tag leidender als sonst. Sie saß zwischen Kissen in ihrem Rollstuhl am Ofen aufgebaut und fror, trozdem draußen die Sonne den Frühling in den Schnee zu locken suchte. Zuerst nahm sie die Lesebrille ab und hörte alles sorgfältig an, was er stockend und ungeschickt genug vorbrachte; denn vor ihren Augen versagten seine weltmännischen Handbewegungen. Nachdem er die Pläne der Schwester Elsbeth vor ihr aufgebaut hatte, als ob es seine eigenen wären, klappte sie das Buch auf ihrem Schoß zu mit der Brille darin: Erstens, sagte sie und legte ihren Zeigefinger gewichtig auf den Ofensims, erstens gäbe sie kein Geld auf Zinsen, weil sie das für unsittlich halte! Zweitens, und sie legte den Mittelfinger auf dem Ofensims zu, zweitens wäre der Menschheit nicht damit gedient, daß wieder einer Fabrikant würde, statt zu arbeiten! Und drittens könne es für seine Natur nichts ungeschickteres geben, als in die Schwierigkeiten einer Existenz zu geraten, der er in keiner Weise gewachsen sei! Dieses keinerlei anzudeuten, klopfte sie dreimal mit den drei Fingern, die nun nebeneinander auf dem Ofensims lagen, und nahm das Buch aus ihrem Schoß wieder zur Hand, die Brille aus der Haft zu erlösen.
Und scheinbar ganz nebenbei, aber mit dem vollen Aufschlag ihrer großen Mädchenaugen gegen ihn, fragte sie: Und unter welchem Namen schließlich er in den Kauf eintreten wolle?
Auf eine Antwort schien sie nicht gerechnet zu haben; denn sie reichte ihm sogleich mit einem gütigen Lächeln, das Wilhelm Voigt völlig verwirrte, unbefangen die Hand zum Abschied: Also, Herr Landsmann, es wäre Zeit, die dummen Streiche zu lassen!
Abschied
Nach diesem mißlungenen Anleiheversuch bei der Gräfin waren die Pläne der Schwester Elsbeth aus, die noch am selben Abend einen verweinten Sprung zu ihm tat. Sie versuchte zwar ihr Ziel noch mit anderen Finanzierungen zu erreichen, die immer frauenhafter wurden; aber Wilhelm Voigt war der Boden in Riga heiß geworden, auch hatte die Mahnung der Gräfin sein Selbstbewußtsein böse geschüttelt. Daß sie über das, was sie wußte, offenbar reinen Mund hielt, wirkte auf ihn wie die Mädchenschule in Tilsit; nur verstand er sie diesmal besser und war gewarnter in seinem Gefühl, ihr zu folgen.
Während die Schwester Elisbeth ihre verzweifelten Anläufe machte und es sogar bei dem Sinsheimer selber versuchte, hatte er schon auf einige Stellenangebote in der Fachzeitung geschrieben, unter seinem eigenen Namen, postlagernd Riga; und eines Tages erhielt er einen Brief aus Potsdam, daß er dort zum zehnten April zwar nicht als Werkmeister doch als Maschinist unter annehmbaren Bedingungen eintreten könnte. Die Schwester Elisbeth nahm die Mitteilung wie eine Todesanzeige auf, und er hatte Sorge, sie würde ihm als Rückstand gescheiterter Hoffnungen in den Armen bleiben.
Als er am zweiten April von allerlei Bekannten an die Bahn gebracht wurde, war sie nicht darunter, angeblich, weil ihr die Gräfin keinen Urlaub gegeben habe. Wilhelm Voigt wußte auch, daß die für einige Tage nach Petersburg gereist war, weil er bei seinem Abschiedsbesuch, den er sich tapfer abrang, nur den Grafen gefunden hatte. Wenn er einmal nach Potsdam käme, wollten sie dort den Galopp auf preußische Art üben! sagte der mit allen Zähnen lachend, erwartete aber kaum, daß er die Redensart ernst nähme.
Wilhelm Voigt legte es zu dem andern, was ihm der Abschied einbrachte; es war im Einzelnen nicht viel, aber im Ganzen bedeutete es doch, daß der Karl Richard in Riga zu einer bürgerlichen Achtung gekommen war, die sich der Wilhelm Voigt in seiner Erfurter Einsiedelei nicht hätte träumen lassen.
Es war ihm trotzdem herzlich leid, daß er fort mußte; und er sah aus der Bahn nach den Türmen der Stadt nicht ohne Sorgen zurück, was ihm die Grenze brächte. Aber er mußte aus den falschen Verhältnissen heraus, das hatte ihn der Nachmittag bei der Gräfin gelehrt; und wenn ein Trotz und fester Entschluß mit ihm fuhr, so der, seinen Namen in der Heimat wieder ehrlich zu machen: was dem Karl Richard möglich gewesen war, das sollte dem Wilhelm Voigt auch gelingen; und die Zuchthaus-Nummer sollte ihm nicht wieder ein Bein stellen, wie es in Eisenach war, als er die Nerven verlor!
Mit dem rindsledernen Koffer in Tilsit!
Als Wilhelm Voigt in Tilsit ausstieg, stiegen die Jahre in Riga mit aus; der Graf von der Pahlen hätte den Dienstmann nicht gelassener anrufen können als er, der ihm den rindsledernen Koffer gab und hinter seiner Eilfertigkeit gemächlich hinterher schritt, den Schuhmachermeister Adalbert Voigt zu besuchen.
Der blecherne Stiefel war sein Gold wieder los geworden; er sah rostig aus, und von der blonden Stämmigkeit seiner Stiefmutter, die er allein zu Hause fand – denn der Vater war nach Allenstein gefahren, ausgerechnet an dem Tag den Obermaat Heincke zu begraben – war nicht viel übrig geblieben. Die verhärmte Frau hatte nun selber einen Sohn von sieben Jahren, der dem angeblichen Onkel ängstlich auswich, weil er von seinem Vater aus keinen Anlaß haben mochte, Männern zu trauen.
Wilhelm Voigt sah gleich, daß die Stiefmutter mißtrauisch über seine etwaigen Absichten dachte, ängstlich besorgt, ihrem Knaben zuzuscharren, was aus dem Verfall des ehemaligen Wohlstandes noch zu retten war. iLr sagte ihr darum großartig, daß sie von ihm keine Ansprüche zu befürchten brauche, kaufte seinem Stiefbruder eine Trommel, die der sich vergeblich zu Weihnachten gewünscht hatte, und fuhr am dritten Tag weiter. Denn der Schuhmacher Voigt versäumte sich nach seiner Gewohnheit, und mit dem schlampigen Gesellen sprechen, der für den Martin Nagler in der Werkstatt hockte, mochte Wilhelm Voigt nicht; der Schwabe aber war eines Tages, eisgrau und taub, nach Mergentheim gefahren, in der Heimat begraben zu sein.
Kollege Birkenbeil
In Bromberg mußte sein Zug siebenundzwanzig Minuten lang auf den Anschluß warten. Während Wilhelm Voigt auf dem Bahnsteig auf und ab ging, die steifen Beine zu bewegen, auch schien die Sonne schon warm, wurde er bei seinem Namen Richard angerufen; und als er sich – des Namens noch gewohnt – umwandte, stand da mit dem Fuß auf dem Trittbrett seines Zuges ein Kollege namens Birkenbeil, mit dem er in Lodz bekannt geworden war. Der hatte jetzt dort seine damalige Stellung inne, war aber nach Obornik unterwegs, sich zu verloben. Er sei durch die Zeitung an seine Braut gekommen, sagte er zwinkernd, und kenne sie nur aus der Fotografie. Sie sei bereits siebenunddreißig, habe aber einiges Geld, und er möchte sich damit ein kleines Geschäft kaufen.
Wilhelm Voigt wußte, daß der kleine Birkenbeil stets auf sein Fortkommen bedacht gewesen war, hatte sich aber mit seiner harmlosen Pfiffigkeit gut vertragen; als der ihm nun das Versprechen abnahm, Pfingsten bei seiner Hochzeit zu sein, schlug er unbedacht ein: er möge ihm nach Potsdam postlagernd schreiben, wenn es so weit wäre! Nachher ärgerte er sich zwar über das Versprechen, das er als Wilhelm Voigt unmöglich halten konnte; aber er tröstete seine Verstimmung: es würde sich schon eine Form finden, der Einladung auszuweichen!
In Berlin, wo er zwei Tage blieb, ehe er nach Potsdam hinaus fuhr, gelüstete es ihn, bei seiner Tante die Adresse der Schwester Elisabeth zu erfahren; die Kunsthandlung Knörke war aber verschwunden, und statt der Bilder hingen Strümpfe im Fenster. Ohne die Tante konnte er auch die Schwester nicht finden, weil sie nach dem Tod ihres Brecht wieder verheiratet war; und die Stiefmutter hatte ihm nicht einmal den Namen ihres neuen Mannes sagen können.
So ging er gänzlich fremd Unter den Linden spazieren, vom Brandenburger Tor bis zum Schloß, und wunderte sich, was für ein großspuriges Wesen sich in der Stadt breit gemacht hatte. Er sah sie nun fast weltmännisch an, weil er Prag und Wien kannte, in Odessa am Schwarzen Meer gewesen war; und seine Selbstsicherheit fühlte, indem er die veränderte Stadt in Augenschein nahm, daß er selber mit vierzig Jahren auch etwas anderes als den unerfahrenen Jüngling von damals vorstellte, der sich von dem Tiroler große Sprüche vormachen ließ.
Potsdam
Die Stellung in Potsdam war angenehmer, als er nach dem unansehnlichen Briefbogen erwartet hatte; und ein hübsches Zimmer mit dem Blick aufs Wasser fand sich auch bald, wo er seinen rindsledernen Koffer mit der Genugtuung auspackte, nicht mehr der arme Teufel von Erfurt zu sein.
Nur auf der Polizei, als er seine Papiere vorzeigte, blätterte der Beamte stirnrunzelnd darin und sah ihn mit dem preußischen Blick an, den er in Jassy vergessen gelernt hatte. Es gab allerlei peinliche Fragen nach seiner langen Abwesenheit, nach seinen Arbeitsstellen im Ausland, und das Ergebnis war, daß die Papiere vorlaufig deponiert werden müßten: er bekäme einen Empfangsschein dafür, und wenn sich alles in Ordnung erwiese, neue Papiere; mit diesen sei weder ihm noch den Behörden gedient!
Wilhelm Voigt faltete den Empfangsschein zwar mit gespielter Harmlosigkeit zusammen und steckte ihn vor den Augen des Mannes in seine Brieftasche aus Juchtenleder, sich mit einer gewagten Verbeugung zu empfehlen; aber er hatte einen faden Geschmack auf der Zunge, als wollte ihm wieder herzübel werden wie damals in Eisenach, da sie ihm den Zettel auf die Maschine gesteckt hatten. Und so lange er in Potsdam blieb, kam er nicht aus der Unruhe heraus, mit seinem ehrlichen Entschluß eine Dummheit gemacht zu haben. Als Karl Richard, dachte er oft, hätte ich meine Ruhe!
Denn Wilhelm Voigt war, das sah er jeden Tag neu, wenn er von der Arbeit kam oder hinging und jeden dritten Mann auf der Straße in Uniform sah, mitten in die gerüstete Burg geraten, von der Tilsit nur ein Außenwerk war. Aber er hätte nicht an der Kaserne geboren sein müssen, eben darin doch bald wieder seine heimliche Lust zu finden, wieviel Uniformen es in Potsdam gab.
Gerade an dem Morgen, da er vom Meldeamt kam, geriet er zuerst an den Laden, wo sie nebeneinander im Schaufenster standen, wenn es des Königs Röcke wären, dachte er, sollten sie nicht wie Käse und Rindfleisch zum Verkauf ausgestellt sein dürfen! Es brauchte einer nur dreist und vermögend genug zu sein, zwar hier nicht in Potsdam selber, wo sich die Offiziere von Angesicht kannten, aber irgend wo draußen im Land einen Hauptmann zu spielen! Und so oft er an dem Laden vorüber kam, wandelte ihn ein Übermut an, dies selber einmal zu versuchen mit einem gemieteten Pferd oder zu Fuß!
Er wußte zwar, daß dies nur der Wurm seiner ungebüßten Soldatenlust war; aber er war ja in Jassy auch in der rumänischen Tracht geritten; und lange Hosen wie überhaupt Zivil paßte zum Reiten nun einmal nicht.
Reputation
Gleich nach Himmelfahrt fragte Wilhelm Voigt einmal mit schlechtem Gewissen nach auf der Post; da lag der Brief des Birkenbeil tatsächlich, schon längst auf ihn wartend. Er nahm ihn mit dem Zettel des Pisek in Empfang und schwur sich, es sollte zum letzten Mal sein; denn nun dachte er nicht mehr daran, nach Obornik zu reisen.
Aber der Brief, als er ihn las, war mit feierlichem Umstand geschrieben. Zugleich im Namen seiner Braut lud ihn der Birkenbeil nunmehr nach Obornik zur Hochzeit auf Pfingsten ein und erinnerte ihn flehentlich daran, daß er bereits zugesagt habe. Er dürfe ihn keinesfalls sitzen lassen, weil er als Waisenkind – er wisse ja, welcher Art – gegenüber der mißtrauischen Familie seiner Braut auf die Reputation einiger Freunde angewiesen sei, unter denen er als weitgereist und welterfahren nicht seinesgleichen hätte.
Wilhelm Voigt, der nach dem ersten Schrecken auf dem Meldeamt das Selbstbewußtsein seiner Rigazeit wieder gefunden hatte, der schon dreimal in Sanssouci war und sich mit dem Gedanken trug, die Bücherkiste aus Erfurt kommen zu lassen, weil er wieder mutig war, sich als Preuße zu fühlen: las kein Wort in dem Brief des Birkenbeil mit solcher Genugtuung wie das von der Reputation.
Obornik liegt hinten in Posen! sagte er sich: was kann es schaden, daß ich da noch einmal der Karl Richard bin? Er kaufte sich sogleich Briefpapier und schrieb mit ebenso schwungvollen Sätzen wie Schriftzügen, daß er sich nichts Besseres wüßte, als einer so freundlichen Einladung Folge zu leisten. Von seinem Chef, bei dem er schon gut angeschrieben war, nahm er sich Urlaub für den dritten Pfingsttag und fuhr am ersten wohlgemuter, als er gekommen war, aus Potsdam nach Obornik, nicht im Geringsten ahnend, was für eine Unglücksfahrt das für ihn werden sollte.
Die Hochzeit in Obornik
Es war unterdessen vollendetes Frühjahr geworden; und wo Buchen oder Birken zwischen den Kiefern standen, prahlte ihr junges Grün, wie die Befriedigung in Wilhelm Voigt prahlte, daß er nun doch eine reputierliche Person vorstellte, auf die man in Obornik solchen wert legte.
Die Fahrt ging über Kreuz und Schneidemühl; und kurz vor Küstrin meinte er fast, die Straße wieder zu erkennen, auf der er damals nach Zechin kam, wo die Scheune brannte und der rote Elias sich an ihn hängte. Es zuckte etwas in ihm; aber er raffte den Vorhang der Erinnerung zu, weil er jetzt nur der Karl Richard sein wollte.
In Obornik stand der Birkenbeil mit einigen Leuten am Bahnhof, und seine pfiffigen Augen lächelten, daß ihm auch dies noch geraten war. Wilhelm Voigt hatte sich schon in Riga einen schwarzen Rock zugelegt und machte mit seinem breiten Hut – wie er sich selber bestätigte – eine gute Figur vor den andern, die ungeschickt dastanden, während er allen die Hand gab und gleich einen Spruch über den schönen Frühling begann: Es hätte auch in die Hochzeit regnen können!
Und so weltmännisch, wie er am Bahnhof ankam, benahm er sich während der ganzen Hochzeit, zu der aus Obornik und meist aus Wronke, weil da die Braut eigentlich herstammte, kleinbürgerliche Verwandte zusammen gekommen waren, denen der Birkenbeil von der Weitgereistheit seines Freundes – wie er ihn geflissentlich nannte – Wunderdinge gesagt haben mochte.
Die eine von den beiden Tanten, zwischen denen er zu sitzen kam, wollte wissen, ob es wirklich in Jerusalem geschneit habe, und die andere fragte nach dem goldenen Horn der Türken. Er half sich mit Andeutungen und kleinen Aufschneidereien durch und war, als er vom Polterabend mit in das Haus eines lustigen Bäckers genommen wurde – der auch zur Verwandtschaft gehörte – wie der ihm sagte: das Ereignis dieser Hochzeit geworden. Sogar die Braut, die schon ein wenig eingeschrumpft war und alles mit zweifelnden Augen ansah, was ihr der Birkenbeil beigebracht hatte, mußte ein paarmal laut wie ein Schulmädchen über seine Witze lachen.
Wilhelm Voigt hatte in Riga noch einen Tanzkursus mitgemacht, als er gemerkt hatte, wie nötig dies für einen Junggesellen wäre, der in Familien ging; und er war in der Nachahmung des Tanzlehrers zu einer großartigen Weise gekommen, mit den Händen zu sprechen, auch eine Verbeugung ohne Kratzfuß zu machen. Aber was er bisher nur zögernd angewandt hatte, darin ließ er sich auf der Hochzeit in Obornik gehen, dem Birkenbeil zu Liebe, der ihn bewundernd und dankbar anblinzelte, die Rolle des reputierlichen Weltmanns zu spielen.
Und weil er seine Eitelkeiten bisher nur verdrückt hatte anbringen können, hier aber durfte er seiner Unwiderstehlichkeit sicher sein, so wurde es – wie er dem Birkenbeil, ihn zu erfreuen, sagte – der lustigste Tag seines Lebens, wo es ihm endlich gelang, mit einer Rolle Beifall zu ernten, den seine geschundene Natur brauchte.
Eine Frühlingsnacht
Als darum in der Hochzeitsnacht unter den Leuten von Wronke der Plan aufkam, sie wollten im Mondschein heim gehen, statt in Obornik zu schlafen, ließ Wilhelm Voigt sich unschwer bestimmen, daß er am andern Tag ebenso gut von Wronke über Kreuz heim fahren könnte, wie auf dem langweiligen Umweg über Schneidemühl! wenn ihm dort einer ein Lager abträte, am Vormittag noch ein paar Stunden lang auszuschlafen! machte er zur Bedingung; und als sich ein junger Sattlermeister dazu erbot, erklärte er sich bereit.
Sie waren eine ganze Schar und Einer zählte achtzehn Personen, als sie mit dem lauten Umstand solcher Abschiede in der ersten Stunde des noch aus den östlichen weiten aufliegenden Tages, wie Wilhelm Voigt getreu seiner Rolle deklamierte, aus Obornik abmarschierten. Und wenn sich auch unterwegs einige abzweigten, ein Dutzend blieb doch zusammen, das bald dicht an der blinkenden Warthe entlang, bald durch hügelige Felder und Wald des Weges dahin zog, manchmal singend, dann wieder plaudernd und voll von jenem sanften Drang, mit dem eine Mondscheinnacht die Menschen des Alltags vor ihren Wagen binden kann.
Der Tag war schon da vor der Sonne und das weiche Mondlicht in seiner glasharten Helligkeit vergangen, als sie an das Schützenhaus kamen, das eine halbe Stunde vor Wronke am Waldrand lag. Weil keiner die Fröhlichkeit der Mainacht abbrechen wollte, in der sie gewandert waren, und weil die aus Wronke eine Scheu vor den Dächern haben mochten, die sie schon auf sich warten sahen mit ihrem Werktag: so lagerten sie auf dem Schützenplatz, wo zum Pfingstfest unter den Bäumen im Gras schon die Bänke und Tische für den Sommer eingepflockt worden waren, und begehrten, ehe sie in Wronke einzogen, noch eine rechte Lust zu haben.
Tanzen! jubelte ein junges Ding, das die Brombeeraugen des Samuel hatte und eine von den beiden Schwestern war, die er auf ihren Wunsch ein gutes Stück der Nacht rechts und links im Arm geführt hatte.
Im Schützenhaus stände ein Instrument, sagte der Sattlermeister, dessen Frau die ältere Schwester war, und ein anderer wußte, daß man hinten nur den Schneeverschlag über der Kellertür abzuheben brauchte, dann könnte man ohne Schlüssel hinein. Wilhelm Voigt, der Löwe dieser Hochzeitsfeier, mußte selbstverständlich der Anführer sein, als sie in den Keller einstiegen und durch die von innen entriegelte Tür das Orchestrion hinaus schafften; denn sie wollten auf dem Rasenplatz tanzen.
Unglücklicher Weise fanden sie dabei ein Fäßchen Bier, das vom Pfingstfest unangestochen übrig geblieben war. Das rollten sie mit heraus, und Wilhelm Voigt war derjenige, der den Kran einschlug, denen, die durstig waren von dem langen Marsch, einen schäumenden Frühtrunk einzuschenken.
So wurde es eine ungeplante aber laute Nachfeier der Hochzeit, die sie da in der Morgenfrühe am Schützenhaus abhielten. Wilhelm Voigt tanzte ausgelassen mit und war unter den Sängern, die in Wronke einziehend den Morgenschlaf der Bürger störten, der stimmgewaltigste. Wie es abgemacht war, nahm ihn der Sattlermeister mit in seine Wohnung, wo er zwar kein Bett, aber ein bequemes Sofa mit einer Decke bekam; und die übermütige Schwester der Frau hatte ihm einen Kuß zum Abschied gegeben, wofür er ihr einen langen Brief aus Potsdam versprach, und er würde bald wiederkommen nach Wronke.
Der Mann mit dem Kaiserbart
Dieses alles war Wilhelm Voigt geschehen, als ob seine Müdigkeit toll geworden wäre; und es war kein guter Schlaf, in den er danach fiel. Er träumte von Dingen, die noch ausgelassener waren; und als er am Mittag zum Bahnhof ging, mit verwüstetem Kopf und Blei in den Gliedern – der Sattlermeister schlief noch und seine Frau in der Nachtjacke hatte ihm rasch einen Morgenkaffee gekocht – war er verdrießlich, daß er seine in Obornik erworbene Würde an diesem Morgen in Wronke wieder aufs Spiel gesetzt hatte.
Er wollte gerade an den Schalter gehen, eine Fahrkarte zu lösen, und war noch weit davon, sich wieder in der Alltäglichkeit zu fühlen, als ihm der Ortspolizist in den Weg trat: Der Bürgermeister von Wronke wünsche ihn vor der Abfahrt noch etwas zu fragen; das Rathaus sei nicht weit! Da es noch fast eine Stunde war, bis der Zug kam, hatte Wilhelm Voigt keinen Grund, dem rotnasigen Mann die Bitte abzuschlagen, zumal seine Uniform ihr einen ihm nicht unbekannten Nachdruck gab.
Der Bürgermeister war ein Mann mit dem weißen Kaiserbart; und was er wissen wollte, bezog sich natürlich auf das Schützenhaus. Denn weil die Straße dicht vorüber führte, waren da in der Frühe schon Leute gegangen, die den Einbruch und Diebstahl des Bieres bemerkt hatten, und von Einem war Wilhelm Voigt an dem großen Hut wiedererkannt worden.
Es gab sogleich ein umständlich protokolliertes Verhör; und obwohl er seinen Worten nach der Gewohnheit dieser Nacht mit den Handbewegungen des Tanzlehrers Gewicht gab, weder die Worte noch die Hände konnten den Kaiserbart von der Harmlosigkeit des Spaßes überzeugen. Er sollte die Namen der andern angeben; und als er vorgab, keinen zu kennen, sagte er ihm den des Sattlermeisters auf den Kopf zu; und dann tat er das, wozu er als die Polizeigewalt von Wronke berechtigt war; er ließ den angeblichen Böhmen Rarl Richard verhaften und von dem Polizisten hinter eine Tür bringen, wo schon zwei andere anscheinend um ähnlicher Pfingsterlebnisse willen auf den Pritschen lagen und schnarchten.
Wilhelm Voigt hatte noch auf dem Gang mit hallenden Worten und beschwörenden Händen gegen diese unerhörte Behandlung eines reputierlichen Hochzeitsgastes protestiert; als aber das Schloß knirschte und der Nagelschritt des Polizisten verklang, fiel in einem einzigen Augenblick alles von ihm ab, was als Vergessenheit über die Gewohnheit seiner zwölf Zuchthausjahre geweht war: er setzte sich auf eine der noch leeren Pritschen und starrte gegen die Kalkwand, als wären die zehn Jahre seitdem nur der Traum einer verrückten Nacht gewesen, aus der er wieder in die unabänderliche Wirklichkeit erwacht war.