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2.
Der Schusterlehrling

Als die Stadt Tilsit noch eine gerüstete Burg war, hängten sie einen Dieb an den Galgen und löschten seinen unehrlichen Namen aus im Gedächtnis; als der Schuhmachersohn Wilhelm Voigt aus dem Gefängnis entlassen wurde, war sein Diebstahl vor dem Gesetz des Richters Lewald gebüßt, aber nicht vor dem Galgen der Sitte: vor ihr blieb er geächtet als Dieb, denn die Sitte kennt keine Erbarmung.

Er ging eben erst in sein vierzehntes Jahr, und die Hasenaugen, wie der Obermaat Heincke sagte, standen noch immer in einem blassen Knabengesicht; aber das Urteil war ihm bis in die grauen Haare gesprochen, daß er nicht auf die Sonnenseite des Lebens durfte, wo die Ämter und Ehren sind. Trotz seiner neuen Klassenmütze mußte er Schuhmacher werden, weil weder die Lehrer noch Schüler in der Oberrealschule einen Obertertianer dulden wollten, der wegen Bettelei und Diebstahl vorbestraft war.

Ob er die Werkstatt kannte wie jeden andern Raum des Hauses und oft zum Spiel mit geklopft hatte: nun er als Lehrling darin saß und es war bitterer Ernst, daß er den Zwirn durch das Schusterpech ziehen oder die Sohlen mit Glas abschaben mußte, kam ihm der niedrige Raum, der mit kahlen Fenstern hinten hinaus ging und keine andere Aussicht hatte als auf den Hof, wie die Fortsetzung des Gefängnisses vor, dahinein seine mißratene Jugend eingesperrt worden war. Schuster! riefen ihn nun die Dragoner, wenn er seinen Trotz abends durch das Tor der Kaserne hinein wagte. Und als ihn zuerst zwei Mitschüler mit seinem Pack kommen sahen, darin er die Stiefel zur Rundschaft trug, gingen sie hochmütig in ihren Klassenmützen vorüber, während die seine ungebraucht oben im Schrank lag. Schuster! riefen auch sie, als wäre es eine Schmach, dieses Handwerk zu treiben.

Sie kamen aus besseren Häusern und trugen ihre Mützen unbekümmert zur Schau, bis sie zur Universität nach Königsberg gingen, Ärzte, Richter, Pastoren oder wieder Lehrer zu werden wie ihre Väter. Sein Vater war der Schuhmacher Adalbert Voigt, der den ererbten Wohlstand im Wirtshaus vergeudete und über den Niedergang des Handwerks klagte, indessen er das Geschäft dem Gesellen und seinem bestraften Sohn überließ, dem jede andere Tür als die seiner Hände Arbeit zugesperrt war. Der Geselle hieß Martin Nagler und war ein Schwabe aus Mergentheim, der durch seine Braut in Tilsit hängen geblieben war. Als sie ihm mit einem Polen davon ging, der hohe Glanzstiefel und ein Sammetbarett trug, hatte er nicht mehr heim kehren wollen aus Trotz und Beschämung und hockte schon länger in der Werkstatt des Adalbert Voigt, als die Tochter Elisabeth alt war, jeden Tag so mürrisch am Morgen, wie er am Abend den letzten Stiefel hinwarf.

Bei diesem raunzigen Schwaben saß Wilhelm Voigt die Tage ab, das Handwerk zu lernen, indessen sein Vater nur noch auf dem Schild neben dem blechernen Stiefel als Schuhmacher stand. Er hatte durch den Obermaat eine Bekanntschaft mit dessen Schwager gemacht, der Beiföller hieß und Güteragent war. Durch den war er auf die Fährte gekommen, den Garten vor der Stadt zu verkaufen; und als er dafür trotz der reichlichen Provision an den Beiföller mehr Geld bekam, als er je für möglich gehalten hatte, war er auf die Spekulation mit Grundstücken verfallen, womit er die Löcher im goldenen Boden des Handwerks zu flicken hoffte.

Er war nun immerfort unterwegs, sei es, ein neues Stück Erdboden ausfindig zu machen, das irgendwo zwischen kommenden Bauplätzen lag, sei es, über die geplante Eisenbahnstrecke oder über sonst ein Projekt läuten zu hören, oder einen Dummkopf zu finden, der ihm für einen Bauplatz den Zukunftswert gab, den er sich dafür ausgerechnet hatte.

Auf die Dauer kam nicht mehr oder weniger heraus als bei seinem Handwerksbetrieb auch, nämlich nichts als die Vergeudung von Zeit und Geld. Denn weil in solchen Geschäften die Listigen von den Dummen leben, verschwand in den Luftschlössern seiner Bauplätze, was ihm der Agent mit dem Gartengeschäft als Köder hingeworfen hatte. Für Wilhelm Voigt lag in dieser Wendung der Vorteil, daß es dem Schuhmacher bequem war, an ihm einen Nachfolger zu haben, dem er die Verantwortung für die Werkstatt überlassen konnte; denn den Laden bediente schon lange die Mutter.

So lief die böse Knabenzeit des Schuhmachersohns in eine Jünglingschaft aus, die ihm zwar keine Hoffnungen machte, aber auch nicht mehr mit Tücken voll gehängt war. Er klopfte und schabte und lernte die bockigen Launen des Martin Nagler auswendig wie seine Schimpfworte, die bei den gleichen Gelegenheiten immer die selben waren; er lief die Kundschaft ab und legte es darauf an, hier einen Groschen und dort einen Sechser zu kriegen, sodaß es ihm meist in der Tasche klimperte, und weil die Mutter zwar keinen Prinzen mehr an ihm hatte und ihm keine Sammetkleider mehr nähte, aber sie hielt ihm das Seine sauber und steckte ihm manches zu: so gab es Zeiten, wo er fröhlich pfiff trotz seiner Schwestern. von denen hatte Elisabeth kurz eine Stellung bei einer Regierungsratwitwe gehabt, war aber bald wieder nach Hause gekommen, der Mutter zu helfen, was sie zwar weniger tat, als daß sie mit einem Häkelzeug hinter dem Fenster saß und melancholisch die Straße bewachte; Luise ging auf die Töchterschule und wollte Lehrerin werden: beide schämten sich ihres mißratenen Bruders und zürnten der Mutter, daß sie an ihm mit zitternder Liebe hing.

 

Kriegsluft über Litauen

Aber die gerüstete Burg, in dem sich ihr Kleinbürgerleben wie hundert andere sein karges Behagen mit Sorgen flickte, stand noch immer am Memel und sah hinüber ins litauische Land, wo mit dem Herbst der nächtliche Himmel zu brennen begann. Erst einzeln, dann häufiger kamen die Flüchtlinge herüber, die danach mit stummen Stirnen am Wasser standen; und in der Zeitung waren Berichte gedruckt, daß hinter dem Horizont Häuser und Scheunen und Ställe mit Pferden und Vieh verbrannt und Menschen tot geschlagen würden, als wäre Krieg; es war aber nur der Aufstand in Litauen und Polen, den die Russen grausam dämpften.

Wilhelm Voigt las die Berichte, indem der Martin Nagler einen schwäbischen Freund bei der Zeitung hatte, der ihm die nassen Abdrucke brachte. Im Frühling aber fingen die Ufer an, von Waffen zu blinken, weil aus Königsberg Gendarmerie gesandt war; auch die Dragoner gingen viel über, am andern Ufer zu üben. Manchmal am Abend hing die Fähre schwarz beladen von Flüchtlingen, die mit rückgewandten Gesichtern über den Strom kamen und den Tilsitern das Blut unruhig machten; am meisten dem Unteroffizier Lizewski, der selber von drüben war, ganz nahe der Grenze, und durch Briefe mancherlei wußte. Wartet nur! sagte er und spuckte aus, weil er Tabak kaute: ehe Palmarum ist, werden wir schießen hören! Und als Wilhelm Voigt einmal mit ihm am Sonntag auf der Straße nach Tauroggen hinaus geritten war – denn der Lizewski hatte die Pferde von einem beurlaubten Leutnant in Pflege, und er half ihm, sie auszureiten – geschah es tatsächlich, daß sie die scharfen Peitschenschläge der Karabiner hörten. Vor ihnen zog sich ein Waldsaum lang gegen Osten; und als sie dort absaßen, die Pferde hindurch zu führen, brachen aus der Tiefe drei Manner heraus auf kleinen struppigen Pferden. Einem hing der Arm wie eine Stange herunter, und der andere schwenkte eine blutige Hand.

Da die Flüchtlinge Waffen trugen, rief der Lizewski Halt! Er sprach zwar gleich litauisch mit ihnen und war gut Freund; aber er führte sie nach Tilsit hinüber, und Wilhelm Voigt ritt hinterher, als brachten sie Kriegsgefangene heim.

Seit diesem Sonntag wehte für ihn Kriegsluft um die gerüstete Burg; am liebsten hätte er heimlich das alte Gewehr des Großvaters genommen, das zuhinterst im Kleiderschrank versteckt stand, und wäre im Dunkeln über den Memel gefahren, den Krieg gegen die Russen mitzumachen. Denn die Tilsiter wußten wohl, wie der politische Wind von Berlin nach Petersburg wehte, aber sie hielten es mit den litauischen Insurgenten. Indessen war Wilhelm Voigt geschreckt, eine dritte Flucht zu wagen; so wurde aus seiner Kriegslust nur dies, daß er jeden Abend und auch tagsüber, wenn er zur Kundschaft geschickt war, in den aufgeregten Straßen herum strich.

So fahrig tat er zuletzt seine Dinge – der über den Herbst und Winter schon gleich einem Gesellen den Pechdraht an den Schweinsborsten durch die feinen Höcher der Ahle zu ziehen verstand – daß der Nagler anfing zu schelten. Denn der Schwabe liebte weder Pferde noch Soldaten oder gar Krieg, und war grimmig, daß man die Flüchtlinge frei herüber ließ. Eingesperrt gehören sie alle! raunzte er, aber Wilhelm Voigt kannte die Geschichte von seiner entlaufenen Braut und wußte, daß sein Grimm dem Polen mit den Glanzstiefeln galt. So ließ er ihn poltern und hielt es heimlich doch mit den Insurgenten, noch ohne Ahnung, daß er selber sobald einen Anlaß haben sollte, es mit den Russen zu halten.

 

Wiedersehen

Als Wilhelm Voigt eines Vormittags – die Sonne machte schon die Wände der Häuser warm, obwohl kaum Frühjahr war – sein schwarzes Schustertuch leer und sauber gefaltet unter dem Arm trug und durch das Gedränge quer über den Markt kam, sah er dort einen älteren Knaben kaum größer als sich und auch so blaß, nur schon wie ein Herr gekleidet, vor einem Stand mit Seefischen stehen. Der erste Schrecken sagte ihm, wer es war; aber er strich wohl ein Dutzend mal um ihn herum in immer engeren Kreisen, bis der andere ihn wahrnehmen mußte. Da war es wahrhaftig das Gräfchen von der Pahlen und hatte sein Ferienspielzeug trotz der Jahre auch nicht vergessen.

Ach so, Tilsit! lachte er, als ob er sich jetzt erst besänne, und reichte ihm fröhlich die Hand. Seitdem Wilhelm Voigt von der Schule fort geschickt war, hatte er außer dem Unteroffizier Lizewski kaum eine Kameradschaft zu haben gewagt; auch die Vergangenheit, aus der sich die Fischaugen des gräflichen Knaben gegen ihn aufschlugen, lag in schwarze Erfahrungen gesenkt. So wußte er dem jungen Herrn, der sich ganz wie ein solcher gab, nichts zu antworten; nur seine Augen quollen voll Tränen, von denen er selber nicht wußte, was darin Bitterkeit und was sein russisches Glück war. Aber der Graf von der Pahlen schien so ehrlich erfreut, seinen Reitkameraden wieder zu finden, daß er ihm gleich erzählte, woher und wie er nach Tilsit käme.

Sein Vater als Kavallerie-Offizier war mit gegen die Polen ausgerückt, indessen die Gräfin mit dem Sohn noch nach Petersburg reisen gewollt hatte. Sie waren unterwegs rechtzeitig gewarnt worden und hatten ihren Weg gegen Heydekrug abgelenkt, wo deutsche Verwandte von ihnen ein Gut besaßen. Dort hätten sie sieben Wochen gewartet und wären nach Tilsit gekommen, weil es geheißen habe: von hier über Tauroggen sei der Weg wieder sicher. Dies aber war, wie sie zu spät erfuhren, nicht richtig; so wohnten sie seit heute Nacht im ›Grünen Baum‹, wo sie fürs erste bleiben wollten, bis der General Murawjew die Rebellen ausgebrannt hätte.

Wilhelm Voigt wußte, daß sie nicht die einzigen russischen Gutsherrenleute in Tilsit waren; er hatte manche von ihnen gesehen, die nur selten und scheu auf die Straße kamen, von den litauischen Flüchtlingen mit Haß betrachtet und von den Einwohnern beflüstert. Nun ging der einzige Knabe, mit dem er je eine richtige Kameradschaft gehabt hatte, neben ihm her ans Ufer hinab, wie die Füße sie führten, und hieß die Litauer verächtlich Rebellen, für die er das Gewehr des Großvaters aus dem Kleiderschrank holen gewollt hatte: er, der nur ein Schusterlehrling neben dem Grafensohn war, wie jener wußte, und wegen Bettelei und Diebstahl mit Gefängnis bestraft, was der andere nun auch wohl erfahren würde.

Als wäre er wieder in fremden Kleidern ertappt worden, war es Wilhelm Voigt neben dem Knaben zu Mut, der wie ein Herr ging und außer seiner eigenen Fröhlichkeit nichts zu wissen schien. Ob er widerstrebte, er mußte sogleich mit in den ›Grünen Baum‹, wo die Gräfin zwar eine halbe Stunde auf sich warten ließ; dann aber war sie freundlich und ließ die Mutter grüßen.

So zwiespältig war diese Begegnung für Wilhelm Voigt, daß er heimlief in der Furcht, sich versäumt zu haben, aber in der viel größeren, die Gräfin mit ihrem Sohn würde am Nachmittag kommen und alles erfahren. Es fehlte nicht viel, so wäre er – der mechanisch sein Schustertuch wieder heraus holte, das er in die Tasche gesteckt hatte, als er den Grafensohn sah, und dem der Trotz gegen Tränen aufstieg – so wäre er an diesem Mittag zum dritten Mal fort gelaufen; und diesmal hätte er die Stiefel des Gutsherrn im Wasser gefunden.

 

Die Reitkameraden

Als am Nachmittag die Gräfin des Weges zu Fuß kam, den ihr Verwalter damals mit Rossen gefahren war, gab sie sich unbefangen wie an dem Morgen; auch der gräfliche Knabe fragte nicht weiter, sah die Schusterwerkstatt mit den beiden wassergefüllten Glaskugeln und alles Werkzeug an, als ob er selber damit umgehen wollte: nur, als die Rede darauf kam, daß Wilhelm Voigt immer noch ritte und in der Kaserne gute Pferde bekommen könnte, wurde er wild, und wollte sogleich hinüber.

Die Mutter, fiebrig hoffend, daß ihrem Sorgenkind das Glück über den Weg gelaufen wäre, hatte ihn für den Besuch heraus geputzt, soviel sie vermochte; und weil der Vater in Grundstücksgeschäften – wie es hieß – über Land war, wurde ihm trotz dem brummigen Nagler der Nachmittag in der Werkstatt geschenkt. Drüben fanden sie gleich den Lizewski, der, als er den Namen des Grafen hörte, ihnen dienstfertig die Pferde des Leutnants überließ, freilich mit der Weisung, daß sie nur eine Stunde ritten und diesseits des Memel blieben.

So kam es statt zu der gefürchteten Eröffnung zu einem Ritt in den Frühlingstag, auf dem Wilhelm Voigt, wie einmal in Rußland, zunächst examiniert wurde. Obwohl der junge Graf ein vorzüglicher Reiter geworden war, schien er auch diesmal mit seinen Reitkünsten zufrieden. Und wie an diesem ersten Nachmittag ritten sie danach an jedem weiteren die Pferde des beurlaubten Leutnants aus: dem Lizewski wurde dadurch eine Mühe gespart, und dem Schuhmacher Voigt war es der gräfliche Umgang wert, daß sein Sohn sich den freien Nachmittag machte.

Bis sie der Oberst des Regiments eines Tages auf der Landstraße nach Ragnit ertappte. Aber auch der war freundlich, als er den Namen von der Pahlen hörte, und stellte dem jungen Grafen sogar eines seiner eigenen Pferde zur Verfügung; nur den Schuhmacherlehrling sah er merkwürdig an.

Er müsse natürlich morgen sogleich seinen Besuch bei dem Oberst machen! plauderte nachher der gräfliche Knabe in seiner unbekümmerten Art. Wilhelm Voigt war gewiß, daß dann die Sprache auf ihn kommen würde, der als Schusterlehrling sowieso kein standesgemäßer Umgang war. Dann müsse er morgen wohl allein reiten! sagte er bedrückt, als sie die Pferde nach ihrer Gewohnheit besorgt hatten und durch das Kasernentor hinaus gingen. Als wäre schon alles vorbei, übersah er die Hand, die ihm sein Kamerad, fröhlich erhitzt von dem Ritt, heute wie immer zum Abschied reichte, und lief davon. So unausweichlich sah er den bösen Augenblick kommen, daß er an diesem Nachmittag seine Sonntagskleider sogleich auszog und zu dem grinsenden Schwaben in die Werkstatt kam, wieder Schuster zu sein; und so verbissen in seinen Groll war er zuletzt, daß er heulend in seiner Kammer lag, verbittert auf sein kurzes Glück und gegen den unbekümmerten Grafensohn, als wäre schon alles eingetroffen, was er befürchtete.

 

Zur Strafe abkommandiert

Ob etwas vorgekommen sei mit dem Herrn Grafen? fragte die Mutter erschrocken, als Wilhelm Voigt am andern Mittag nach dem Essen sogleich in die Werkstatt wollte, statt wie sonst hinauf in die Kammer, sich fertig zu machen. Er schüttelte nur den Kopf und hing seine Schürze um, dumpfen Auges der Schusterlehrling zu sein, der er war und dessen Rechte ihm keiner absprechen konnte.

Um die vierte Stunde des Nachmittags aber kam sein Kamerad, ihn zu holen, und war befremdet, ihn in der Werkstatt zu finden. Obwohl sich der Vergrollte eben dies hundertmal mit verhehlten Gedanken erhofft hatte und den Hammer kaum zu halten vermochte vor wilder Befriedigung, stand er zu seiner eigenen Erstaunung nicht auf vom Schemel: Ich mag nicht reiten! trotzte er und hatte eine Gewohnheit des Schwaben angenommen, als er dreimal und jedesmal härter das Wort in die Sohle hämmerte.

Hinter dem jungen von der Pahlen war aber schon der Schuhmacher in die Werkstatt getreten, der an diesem Nachmittag zufällig nicht über Land war. Der fühlte sich, wie er mit Untergebenheit sagte, gegen den Herrn Grafen verpflichtet, seinem Sohn Vernunft bei zu bringen. Er hätte dazu am liebsten den Knieriemen gebraucht, aber die Rücksicht auf den vornehmen Besuch hinderte ihn, mehr als Worte zu machen, die ihm schwer genug fielen; denn Wilhelm Voigt hörte, wie ihm die Zunge verquer im Mund lag, und die Röte im Gesicht kam nicht allein von dem Zorn. Zur Strafe abkommandiert ging er mit in die Kaserne, wo der Lizewski das Pferd vom Oberst bereit hielt für den gnädigen Herrn, wie er nun sagte, und den Fuchs des Leutnants für seinen Begleiter.

Es wurde diesmal kein fröhlicher Ritt, obwohl der Partner Scherze genug machte, die Laune zu retten, deren Verdüsterung ihm unbegreiflich war. Zum Abschied drohte er, andern Tages wieder in die Werkstatt zu kommen. Wilhelm Voigt aber, dem mit den lallenden Worten des Vaters die ganze Bitterkeit seiner Jugend aufgestanden war und der das fröhliche Lachen um der unbekümmerten Umstände willen haßte, aus denen es kam, er ging auch diesmal ohne Abschied fort. Und ob er sich selber sagte, daß er auf diese Weise die gefürchtete Eröffnung am ehesten herbei führen würde: so wollte er eben das, um sich an seiner Unbekümmertheit zu rächen.

Indessen, als ihn der andere am nächsten Tag fragte, da er, diesmal rechtzeitig von der Mutter geschickt, am Tor der Kaserne stand: Warum er nicht mehr zur Schule ginge? sodaß er ihm hätte sagen können, was mit ihm war, zuckte er leichthin mit der Schulter: Weil er das elterliche Geschäft übernehmen müßte! Das Wort war aus der Zeitung gelesen, und er hörte sich selber zu, wie er log oder die Wahrheit verschwieg; aber er kam aus seiner Zerspaltung nicht mehr heraus, daß er Furcht um die Freude und einen Haß auf den unbekümmerten Frager hatte, obwohl ihm nichts Lieberes als diese Unbekümmertheit geschehen konnte.

Und ob die Zeit auch hier wie überall die Wellen im Sand auslaufen ließ, sodaß sie wie früher die Wege um Tilsit abritten: der Untergrund blieb, daß der Schuhmachersohn, sich selber zu übertönen, auf eine Weise herausfordernd wurde, die sein Kamerad nicht mehr fröhlich quittieren konnte. Als erst einmal ein scharfes Wort zwischen ihnen gefallen war, blieb von der Knabengemeinschaft zuletzt nur eine Reitstunde übrig, in der Wilhelm Voigt kaum mehr als eine Art Reitknecht vorstellte: so überlegen zeigte sich nun der Grafen- dem Schuhmachersohn.

 

Am gelben Stein

Bis zu dem Augenblick, da er so aus Furcht die Freundschaft verwirkte, hatte Wilhelm Voigt ganz vergessen, daß es ein Russe war, mit dem er täglich ausritt. Nun brachte ihm ein Erlebnis auch noch diese Besinnung in seine Verbitterung hinein; ein Erlebnis freilich, das ihn sogar halb mit seinem Vater aussöhnte. Seit Wochen nämlich war es schon so, daß der Nächte lang ausblieb, aber er saß nicht im Wirtshaus, das wußte der Martin Nagler genau; auch hieß es, der einäugige Pferdehändler aus Lodz sei wieder gesehen worden.

Einmal am Abend schlief Wilhelm Voigt schon in seiner Kammer unter dem Dach, da klopfte ihn seine Schwester Luise heraus: Er solle der Mutter helfen! Unten würde der Vater verlangt, der aber sei nicht zu Haus! Als er, rasch in die Kleider geschlüpft, über die dunkle Treppe herab kam, stand bei der Kerze im Flur ein Mann, den er sogleich als den dicken Wirt der Ausspannung in Königsberg wiedererkannte, der aber erkannte ihn nicht.

Ob er den Weg zum Gelben Stein wisse? fragte er barsch, und als Wilhelm Voigt Ja sagte: ob er ihn in der Nacht hinführen könnte? Der Meister – denn er hielt ihn für den Lehrling – sei auch da und warte!

Die Mutter mit der Kerze in der Hand nickte traurig, als er sie fragend ansah. Der Wirt wollte nicht, wie er sagte, die kostspielige Zeit hier verstehen: Zum Teufel! drängte er: Rasch in die Stiefel und mit! Ehe die Sonne aufgeht, muß die Bagage gesichert sein!

Indessen die Mutter, die mehr von der Sache zu wissen schien, ihm Kappe und Halstuch holte für die Nacht, zog er die Stiefel an. Komm gleich zurück! bat sie noch, dann ließ sie den Mann mit ihm auf die Straße, wo die Häuser in schwarzer Dunkelheit gegen den lautlosen Himmel standen; denn es war Neulicht.

Der Gelbe Stein lag gegen Splitter und war eine Platte im Ufersand, die nur bei niedrigem Wasser zu Tag kam; rechts ab von der Straße führte dort ein Sandweg hart an den Fluß, nicht unweit der Stelle, wo Wilhelm Voigt einmal die Reitstiefel des Gutsherrn ertränkte. Sie hätten bis dahin gut eine Stunde gehabt; aber sie waren kaum einige hundert Schritte vor der Stadt, als aus der Dunkelheit ein Wagen auftauchte und vorn hinaus andere, eine ganze Kolonne, die da stand, als wäre es Militär. Es waren aber Fuhrleute aus Königsberg; und der dicke Wirt, der von dem kurzen Weg verschnaufte, schickte ihn vor an den ersten Wagen, indessen er selber stöhnend in den letzten hinein kletterte.

Es standen da acht Gespanne, wie er im Vorbeigehen zählte, alle mit runden Planen gedeckt, wie damals der Mehlwagen vor Königsberg; und auf den vordersten stieg er ins Dunkle hinein zu dem Fuhrmann, der davon aufwachte und sogleich die Pferde anziehen ließ. Sie fielen in einen mühsamen Trab, und das Gerassel der andern Wagen begann zu folgen, wo der Weg zum Gelben Stein abging, mußten sie langsam fahren im Sand, sodaß sie gegen das Wasser mit leise ächzenden Rädern ankamen.

Wilhelm Voigt hatte genug von diesem nächtlichen Schleichhandel gehört, um gleich zu merken, daß die Königsberger Fuhrleute Waffen und Munition für die Aufständischen führten, die am Gelben Stein heimlich übergesetzt werden sollten; auch daß sein Vater auf diese Weise über Hand war, hatte er schon vermutet. Er erkannte seinen Schritt gleich, wie er mit andern dunklen Gestalten vom Wasser herauf kam, die wagen so nahe wie möglich an die bereit liegenden Boote zu leiten; aber sie sprachen nicht miteinander.

Auch die andern achteten seiner nicht, während sie ihre eifrige Arbeit begannen, die schweren Kisten aus dem Wagen in die Schiffe zu schleppen. Komm gleich zurück! hatte die Mutter gesagt; aber er hätte kein Knabe sein müssen, sofort mit Begierde dabei zu sein, wo etwas wie ein Stück Krieg geschah. Als nach Stunden alles verladen war, wäre er gern mit den Booten, die wie eine Flotte dalagen, hinüber gefahren; aber da trat ihm der Vater in den Weg: Du scherst dich mit den Fuhrleuten zurück! befahl er: Ich habe noch drüben zu tun.

So war sein Krieg für diese Nacht aus; doch kam er mit dem gleichen Fuhrmann nach Tilsit zurück, als wäre ihm am Gelben Stein endlich die Lebenstür aufgegangen, weil dies kein Spiel mehr, sondern Ernst, aber kein mühseliger Alltag war.

Die Mutter hatte noch Licht, als er – vor der Stadt abgesetzt – pochenden Herzens nach Hause kam, aber sie zeigte sich nicht; als er ihr klopfte, rief sie nur Gute Nacht! und es klang, als weinte sie durch die Worte.

 

Der Handelsherr

Es war nicht zum letzten Mal, daß Wilhelm Voigt in den nächtlichen Schleichhandel hinaus kam. In Kürze fuhr er schon mit den Booten hinüber, wo andere Wagen warteten, auch mit runden Planen bespannt, die Kisten in die nächtliche Tiefe hinein und gegen die Grenze zu fahren, dahinter Häuser und Scheunen, Ställe mit Pferden und Vieh verbrannt und mit der Munition geschossen wurde, die sie den Aufständischen zubrachten.

Einmal gelang es ihm, sich zu verstecken und mit in den Wald zu fahren, wo die Wagen zur Morgenfrühe abgespannt wurden. Auf einer Lichtung stand mit drei oder vier Zelten ein Kriegslager aufgeschlagen, und der dort auf einer Patronenkiste sitzend kommandierte, war der Pferdehändler aus Lodz. Er sah zwar mit dem erloschenen Auge unter der kahlen Stirn und den schwarzhaarigen großen Händen mehr wie ein Räuberhauptmann als wie ein Handelsherr aus; aber er war es offenbar, der die andern entlöhnte und an dem Handel verdiente.

Mit solcher Lust war Wilhelm Voigt bei diesem nächtlichen Kriegsdienst, daß ihm der schläfrige Tag gleichgültig wurde. Den Martin Nagler, der sich in der Werkstatt taub klopfte, nichts von der polnischen Wirtschaft zu hören, wie er es nannte, sah er kaum noch. Nur die Reitstunden hielt er ein; und so kam er auf eine verzwickte Art dazu, an dem Grafensohn seine Beschämung abzugelten.

 

Herr oder Knecht

Als Wilhelm Voigt nach der ersten Nachtarbeit am Gelben Stein nicht pünktlich ans Tor der Kaserne gekommen war, stand sein Reitgenosse schon wartend und grüßte in der befehlenden Art, die er sich angewöhnt hatte, obwohl er noch immer die unbekümmerte Miene seiner Knabenfröhlichkeit zeigte. Er aber sah nun den Russen in ihm mit der Genugtuung an, sein heimlicher Kriegsfeind zu sein.

Er hatte es von ihm selber und andern gehört, daß er ein Urenkel jenes Grafen von der Pahlen war, der die Empörung gegen Paul I. anzettelte. Zwar hatte der sich in jener Märznacht, da die Verschwörer in das Schlafzimmer des Zaren eindrangen und ihn erdrosselten, weil er nicht abdanken wollte, klüglich zurück gehalten; er war nur der einäugige Pferdehändler von Lodz in dem bösen Handel gewesen, wie Wilhelm Voigt sich das übersetzte: die Tat hing gleichwohl an seinem Namen. Und wenn der Urenkel von ihm hier in Tilsit seine Reitkünste übte, war es ein Stück Russengeschichte, das er als einer von der Pahlen herum trug.

Als sie an diesem Tag gegen Splitter ritten, nicht nach seinem Willen, war Wilhelm Voigt zuerst erschrocken. Er sah die Spur der vielen Räder in den Sand einbiegen und hatte die nächtlichen Bilder im Sinn, während sie durch den blanken Frühlingstag trabten. Wenn du wüßtest, dachte er trotzig, was ich heute Nacht hier getrieben habe! und hatte eine wilde Lust, es ihm ins Gesicht zu schreien.

In seinem geschundenen Gefühl war alles in Feind und Freund geschieden – der blonde Spitzbart in Königsberg und der Richter Lewald, die ehemaligen Mitschüler in den Klassenmützen standen drüben, wo nun auch dieser russische Grafensohn war, mit dem er die Reitkunst übte. Alles, was ihm von ihnen angetan wurde, war Unrecht; und daß er den Insurgenten half, war Rache, weil denen gleich ihm Unrecht geschah.

Als sich sein Trotz in diese uralte Scheidung der Menschen verbissen hatte, erfuhr Wilhelm Voigt auch die Beglückung, daß er ihn nun im Krieg abgelten konnte. Denn der Krieg kennt keinen, der mehr oder weniger gilt; Herr oder Knecht: jeder kann Sieger sein oder Besiegter. So lange Mann gegen Mann steht, gibt es kein Unrecht. Daß er dem russischen Grafensohn nichts von seiner nächtlichen Waffenhilfe für die Insurgenten sagte, war Kriegslist; und daß er ihm seine Bestrafung verschwieg, schlüpfte von selber mit in diese Kriegslist ein und hatte damit seine Beschämung verloren. Auf diese Weise war die Knabenfreundschaft freilich verspielt, obwohl die Kriegsfeindschaft auch nur eine Fantasterei war; aber sie ritten doch wieder neben einander her. Und eines Tages – nicht lange nach jener Sonntagsfrühe, wo er das Kriegslager des Pferdehändlers sah – als sie bei Regenwetter von Ragnit kamen und pudelnaß waren, forderte der Schuhmachersohn den Grafensohn mit der Frage heraus: Wenn es einmal Krieg gäbe zwischen Deutschland und Rußland, und sie beide wären dabei, ob sie dann Feinde sein müßten?

Es war die Frage der gerüsteten Burg, die in Tilsit am Memel gegen Glavien steht; aber die Antwort kam anders, als Wilhelm Voigt je gedacht hatte: Rußland führt keinen Krieg! sagte der gräfliche Knabe und in seinen Fischaugen war ein scharfer Glanz: weil der Zar kein Fürst oder König ist wie die euern! Es gibt keine Macht, mit welcher der Zar Krieg führen könnte. Er bestraft Rebellen, wie er jetzt drüben in Litauen und Polen tut!

 

Der blecherne Stiefel

Nicht lange nach diesem Gespräch, das schweigend ausging, war die Straße über Tauroggen tatsächlich frei; die Gräfin von der Pahlen konnte mit ihrem Sohn auf die gesicherten Güter zurück kehren. Wilhelm Voigt wußte gewiß, daß es so war, weil der Pferdehändler aus Lodz verschwunden blieb und der letzte Transport nicht abgeholt wurde. Die Rebellen waren besiegt, und der General Murawjew sorgte, daß der blutige Frieden das durch den Aufruhr verscheuchte Unrecht wieder zurück nach Litauen brachte. Und diesmal nahmen die Reitgenossen andern Abschied als damals, da der russische Knabe dem preußischen Septaner die Schülermütze vom Kopf riß. Der nun fort ging, war fast schon ein Graf; und der zurück blieb, wurde wieder ein Schusterlehrling; auch für die Reitgenossen war der ehrliche Krieg aus.

Die Gräfin hatte schon gleich die Schwester Elisabeth in ihre Dienste geholt und sich so an ihr lautloses Wesen gewöhnt, daß die Mutter ihr das Mädchen nach Rußland mitgeben mußte. Als die Reisewagen vom ›Grünen Baum‹ abfuhren, einer für die Gräfin mit ihrem Sohn und der andere für das Gepäck, standen die andern Voigts alle vier da, der Tochter und Schwester den Abschied zu geben. Die Mutter war voller Weinen, und selbst der Schuhmacher hob sein Taschentuch gerührt an die Augen; Luise staunte mit Stolz, daß Elisabeth im Wagen der Gräfin sitzen durfte, und der Schuhmacherlehrling hatte dem Grafensohn die Hand wie seinesgleichen gegeben.

Sie wußten beide, daß die sonderbare Knabenfreundschaft damit zu Ende war, und ihre Augen hatten sich den Beschluß nicht verhehlt. Es ist um die Schwester! trotzte Wilhelm Voigt, als er sein Gesicht tränenbeströmt fand und sich den Grund nicht eingestehen wollte. Denn so verzwickt sein Umgang mit dem gräflichen Reitgenossen geworden war: er hatte an ihm doch den einzigen Knaben seiner Jugend gehabt. Seine Herzlichkeit war auch der Kriegsfeindschaft zum Trotz das Glück dieses Frühjahrs gewesen, das nun ohnedies aus war: er konnte nicht mehr am Nachmittag reiten, sondern mußte in die Werkstatt zurück, wo der Schwabengesell bei seinen Leisten geblieben war, wie er mit einem verdrückten Versuch zum Humor sagte.

Dem Schuhmacher Voigt hatte der nächtliche Handel Geld eingebracht, fürs erste auf seine anderen Geschäfte zu verzichten; auch sprachen die Leute von Krieg, und keiner war noch getrost, Grundstücke auf Spekulation zu kaufen. Er hätte sich wieder dem Handwerk zuwenden müssen, aber er hatte den goldenen Boden verscholten; so fand er in der veränderten Zeit nur einen neuen Vers auf den alten Reim, im Wirtshaus zu sitzen, indessen Wilhelm Voigt dabei war, sein Nachfolger zu werden.

Denn als er neben seinem Vater her, der allerlei gerührte Dinge sagte, gegen die Haustür kam, sah er den blechernen Stiefel zum ersten Mal mit dem Gedanken an, daß einmal sein eigener Name daneben zu stehen käme, weil ihm das Haus und Geschäft und alles darin als Besitzer gehörte. Daß es nur ein Schuhladen und eine Schusterwerkstatt war, schien ihm durchaus nicht zu wenig; er wollte schon sorgen, daß es mehr würde.

Zuviel war Wilhelm Voigt in der ersten Jugend mißraten, als daß er nicht gern in einem ehrbaren Ding tätig und tüchtig gewesen wäre; denn daß seiner Sonntagsreiterei etwas anhaftete, das im Handwerkersinn nicht redlich galt, dies hatte ihm schon der Onkel Patzig mit seinem Satz von der faulen Kaserne gesagt; und daß der Unteroffizier Lizewski vor der Bürgerschaft von Tilsit kein rühmlicher Umgang war, das zu merken war er unterdessen erfahren genug.

Zwar »Widersteht dem Teufel, so flieht er von euch«! wie auf seinem Konfirmationsschein stand, dies schien ihm schon damals mehr eine Verdammung als eine Ermahnung. Und an der ganzen Konfirmation, die er in diesem hitzigen Frühjahr erlebte, war ihm die Gewißheit das beste, daß damit der Unterricht, in dem er als Schuster doch wieder zwischen Schülern saß und Bibelsprüche aufsagen mußte, endlich aufhörte. Daß ihm die Feier sonst keinen Eindruck machte, dafür sorgte schon der schwarze Anzug, der ihn an jenen andern erinnerte, mit dem er auf seiner zweiten Flucht am Charfreitag im Gehölz saß und nachher neben dem Pferd des Gendarmen hertraben mußte.

Im übrigen lief das verzwickte Frühjahr in einen rechtschaffenen Sommer ein. Wie es in Handwerkerhäusern geht, daß sich die Knaben nicht anders als sonst voll Taten und Abenteuer träumen, aber von Anfang an ist die Wirklichkeit da und nötigt sie in ihren täglichen Zwang, bis der Zwang zur Gewohnheit und die Gewohnheit zu einer minderen Art Glück wird: so wurde Wilhelm Voigt nach den Mißläufen seiner Knabenjahre ein richtiger Schusterlehrling. Bis mit dem Winter ein neuer Kriegsschatten auf die gerüstete Burg am Memel fiel, der die Luft unruhiger machte als der Aufstand der Litauer.

 

Schleswig-Holstein meerumschlungen

Schleswig-Holstein meerumschlungen sangen sie auch in Tilsit, als im November die Nachricht kam, die Bundestruppen waren in die Herzogtümer eingerückt, vorerst Hannoveraner und Sachsen, aber die Österreicher und Preußen standen gesammelt dahinter; und diesmal gäbe es einen andern Krieg mit dem dänischen Seehund, als dreizehn Jahre vorher.

Wenn aber Krieg ist, dann werden die Kasernen wach, die im Frieden jahraus jahrein ihren schläfrigen Dienst tun; und anders als sonst eine Bürgerschaft erlebt die in den Garnisonen die Mobilmachung mit.

Vom ersten Tag an, da der Befehl im Namen des Königs aushing, bis zum zweiten Waffenstillstand im Juli war Wilhelm Voigt hinter den Kriegsnachrichten her, als gingen die Kämpfe in Schleswig- Holstein um ihn und die Schusterwerkstatt in Tilsit.

Meine Ruh will ich haben! raunzte der Martin Nagler, dem der Lärm auf den Straßen und Fahnen zuwider war, wenn er ihn nach der Zeitung fragte, die ihm immer noch sein schwäbischer Setzerfreund brachte. Er aber las jedes Wort aus dem nassen Blatt und hatte Nadeln mit schwarzweißen Papierfähnchen auf eine Kriegskarte gesteckt, die er sich selber gekauft hatte, den Stand der Truppen zu verfolgen.

Er marschierte mit den Preußen gegen Missunde vor und überschritt die Schlei, den Dänen an der Danewerkstellung in den Rücken zu fallen; er zog den Halbkreis um die Düppeler Schanzen bis zu ihrer Erstürmung und rückte mit der preußischen Garde in Jütland ein. Er feierte die Siege mit auf der Straße, wo die Knaben zu ihren Fähnchen sangen; er zitterte, als zwischendurch Waffenstillstand war, und jubelte, als es nach Alsen hinüber ging. Daß die Ladenglocke kaum je noch rief und auch die Werkstatt fast still stand, als ob kein Mensch mehr Stiefel gebrauchte, kümmerte ihn nicht: Für ihn war nur noch Krieg auf der Welt, der ihn so redlich wie einen andern Preußen machte.

Als gleich im Anfang Artillerie durch Tilsit gekommen war, die Stadt Memel zu besetzen gegen einen etwaigen Schiffsangriff der Dänen, hatte er bis in die Dunkelheit mit kalten Füßen dabei gestanden, die neuen Gußstahlgeschütze zu bewundern; und als im Mai die Nachricht kam, der Obermaat Heincke sei im Seegefecht bei Helgoland gefallen, dämpfte das seinen Kriegseifer durchaus nicht. Aus dem Gespinst des Schusterlehrlings war doch wieder die Raupe seiner Soldaterei ausgekrochen; und wenn es der Teufel aus seinem Konfirmationsspruch war, er wehrte ihm nicht.

Umso schwerer war ihm die Rückkehr in den Alltag, als im Sommer die Fahnen der gerüsteten Burg ausgeweht hatten, als der Martin Nagler zum andern Mal bei seinen Leisten geblieben war und ihm den Marsch des Alltags blies, dessen Notdurft am Ende doch das Gewese des kleinen Mannes regiert. Aber nun wußte Wilhelm Voigt besser Bescheid über den Militärdienst, daß ihm keiner weder das Recht noch die Pflicht abnehmen konnte, zur Ziehung zu gehen. Da er gesund war, mußten sie ihn trotz seiner Strafe tauglich schreiben; und einmal im bunten Rock sollte die Schuhmacherschürze für immer abgelegt sein.

 

Die Seeschlacht bei Helgoland

Mitten in die Militärträume hinein kam eines Tages der totgesagte Obermaat Heincke zurück. Er war mit der Post von Königsberg angereist, und Wilhelm Voigt stand gerade noch mit seinem Schustertuch unter einer Haustür, weil ein Platzregen alles von der Straße verscheucht hatte, als der Obermaat aus dem Wagen stieg, auf dem blauen Rock eine Denkmünze und durchaus kein Gespenst, sondern breit und rot. Nur zu gehen, schien ihm schwer; denn er hinkte am Stock, weil gerade ein Sonnenstrahl in die verstäubende Nässe brach, darin die abgewaschenen Häuser blinkten, blieb er eine Weile stehen, die Brust mit gewaltigen Atemzügen voll Luft zu raffen und erst einmal rundum zu blicken, als wollte er zu den Fenstern und Türen sagen: Hier bin ich!

Auf diese Weise kam es, daß er den Schuhmachersohn als Ersten in Tilsit sah und erkannte: Hasenauge! rief er mit seiner Kommandostimme über den Platz, daß er ihm nicht entweichen konnte, gab ihm wie einem Erwachsenen die Hand und schüttelte seine ganze Gestalt mit: Da bin ich wieder! Für euch in Tilsit von den Toten auferstanden, wie ich in Königsberg hörte. Aber ich will verdammt noch lange auf meinen zwei Beinen stehen, wenn auch der Fuß beim Teufel ist!

Der Obermaat war zu geräuschvoll, als daß sich nicht bald Kinder und ein paar Große um sie versammelt hätten, den lärmenden Mann anzustaunen, der jetzt erst mal zu Muttern wollte, womit er seine verwitwete Schwester, die Frau Ring meinte. Wilhelm Voigt, von ihm kommandiert, mußte ihn hinführen, und es war eine Vergeltung mancher Mißachtung, daß er neben dem Angestaunten hergehen durfte als sein Begleiter, während die andern neugierig hinterher drängten. Denn der Obermaat in der blitzblanken Marinetracht war ein Stück des Sieges, den sie besungen hatten, und zwar ein meerumschlungeneres als sonst Einer, und, weil er so lange tot gesagt war, wahrhaftig so gut wie von den Toten auferstanden.

Wie es mit seinen Kriegstaten eigentlich gewesen war, das kam auch nachher nie so recht heraus. In der Zeitung hatte Wilhelm Voigt gelesen, daß bei Helgoland nur zwei preußische Kanonenboote dabei gewesen waren. Es konnte unmöglich so zugegangen sein, wie der wortfeste Obermaat erzählte, daß die Kugeln wie Erbsen aufs Deck geprellt und ins Meer gespritzt waren; auch daß der Pulverdampf vom Feuer rot wie ein Sonnenuntergang geglüht hätte, wußte er mehr für die Tilsiter zu schildern, als es sonst glaubhaft schien. Ganz verwegen aber war dies auszudenken, wie er sozusagen durch eine Kanonenkugel in zwei Stücken aufs Meer hinaus geschleudert worden wäre, nämlich sein abgeschossener Fuß und er: ihn hätten die Helgoländer heraus gefischt und den Fuß die Haifische gefressen, die durch solch eine Seeschlacht angezogen würden wie die Mäuse vom Hafer.

Es war starker Nebel nötig, alles zu glauben, was der Obermaat immer ausgeschmückter erzählte. Im Übrigen stellte er eine Sehenswürdigkeit von Tilsit vor, wenn er an seinem Stock durch die Straßen ging oder mit seiner Denkmünze an der breiten Brust auf einer Bank in den Anlagen saß. Für den fehlenden Fuß hatte er durchaus kein Holzbein wie ein Orgeldreher, sondern einen mit schwarzem Leder überzogenen Ersatz. Es klapperte, wenn er damit ging; aber wenn er saß und die Beine nicht mehr wie früher breit ausstreckte, sondern beide Füße nebeneinander unter den Stuhl stellte, merkte es keiner. Und wenn einer merkte, was alle sowieso wußten: er hatte seine Pension, konnte den Handwerkern in den Laden spucken, wie er sagte, und war den Dragonern zum Trotz, die wieder wie vordem unter Hörnerschall durch die Straßen ritten, wenn sie bestaubt und hitzig von der Übung kamen, durch seine lange Verschollenheit und die romanhafte Wiederkehr eine besondere Gestalt in der gerüsteten Burg.

 

Der Nachfolger

Daß er ihn noch immer seinen Nachfolger nannte, war Wilhelm Voigt auf die Dauer nicht mehr so recht wie am Anfang, weil er die spöttischen Mienen merkte, mit denen die Tilsiter den lauten Redensarten zuhörten. Er hatte allmählich die selben Dinge von ihm auf ein Dutzend verschiedene Arten gehört und wußte genau, daß er auch nur das wenigste von seinen Erlebnissen glaubte; aber er wollte sie dennoch wahrhaben und konnte sie im Geheimen selber noch bunter ausmalen.

Denn schließlich hatte der Obermaat mehr fremde Länder und Menschen gesehen als sonst einer, den Wilhelm Voigt kannte. Er war über den Äquator gefahren und am Goldenen Horn vor Anker gegangen, er kannte die Südsee und hatte die feuerspeienden Berge mitten im Meer angestaunt. Soweit es sich nicht um seine Taten handelte, war es ein buntes und reiches Bild der Erde, das er mit seinen Worten ausmalte.

Du kannst mit einem Pferd ebenso rasch reiten, pflegte er gern zu sagen, wenn sie spazieren gingen und er stehen bleiben mußte, den einen Fuß auszuruhen: ebenso rasch, wie du mit einem Schiff fährst; aber du reitest nur ein paar Stunden! Das Schiff geht übers Wasser Tag und Nacht, wie die Wolken; und wenn du dir auf dem Globus nach einer Woche die Strecke ansiehst, bist du ein gutes Stück um die Erdkugel gefahren. Der Seemann ist auf Dauer gestellt; ihr Landratten rennt immer auf heute!

Er tippte dabei mit seinem Stock, den er zuerst herum geschwenkt hatte, in kurzen Stößen auf den Boden, das Getrippel der Füße nach zu ahmen, und wollte sich über deren vergebliche Emsigkeit tot lachen. Dem Schuhmachersohn aber wurde die Welt in den Seereisen des Obermaat so lockend, daß sogar seine Militarpläne davor liegen blieben. Er dachte nun nicht mehr daran, seine Dienstpflicht in Tilsit abzuwarten; wenn seine Lehrlingszeit aus war, wollte er auf die Wanderschaft gehen und sehen, vom Land auf das Wasser zu kommen. Sein Handwerk, den Füßen der Leute Stiefel zu machen, das ihm nun die kümmerlichste unter allen Handwerkeleien schien, sollte das geringste Hindernis sein.

 

Krak, der Seefahrer

In dieser Stimmung geschah es Wilhelm Voigt eines Nachmittags, daß er in einem Glasfenster mit den bunten Heften, wie sie bei der Papierhandlung aushingen, einen Umschlag mit einem schwarzen Schiff vor dem brennenden Abendrot sah. Krak, der Seefahrer, stand darunter; und weil er gerade von einem Runden einige Groschen Trinkgeld in die Hand bekommen hatte, lockte es ihn hinein, das Heft zu kaufen. Es war das erste Buch, das er seit seiner mißglückten Schülerzeit am selben Abend noch in seiner Kammer las; aber als lernte er darin erst lesen, so ging ihn alles an.

In der Zeltung waren Berichte gewesen von Krieg, Nachrichten von Dingen, die in der Welt ohne sein Zutun geschehen; hier aber wurde er selber Krak, der Seefahrer, der mutterseelenallein mit seinem Kutter von Bremen nach Pernambuco fuhr, um dort nach wilden Gefahren zuletzt noch sein Glück zu machen. Drei Abende lang las Wilhelm Voigt das Buch leer, immer wieder von vorn, bis er es auswendig wußte.

Dann ging er zum dritten Mal in den Papierladen und war danach eifrig hinter den Trinkgeldern her, sich Lesefutter zu kaufen, wie der Martin Nagler das mißfällig nannte. Das zweite Heft war eine Indianergeschichte und das dritte auch; und ob er zu alt dafür war, er las sich die Augen wund daran, weil in dieser Welt der Abenteuer mutig und listig zu handeln, wild zu sein und auf der Lauer zu liegen, mehr galt, als in den Alltagsdingen steißig und redlich zu heißen.

 

Die drei Egbert

Unterdessen hatte die Schwester Elisabeth aus Rußland schwermütige Briefe geschrieben, über denen die Mutter weinte; als aber der Schuhmacher schon großspurige Reden führte, ob er seine Tochter der russischen Anmaßung entreißen sollte, lautete ein Brief anders: Sie habe sich mit einem Neffen des Verwalters, der auf dem Gut Landwirtschaft lerne, verlobt. Und eines Tages wurde in Tilsit Hochzeit gefeiert.

Der Bräutigam war aus Ragnit zu Hause und auch ein Schuhmachersohn. Er hatte höher hinaus und Pfarrer werden gewollt, war aber auf der ersten Fahrt zur Universität Königsberg, weil er schlief, vom Wagen gefallen, so unglücklich auf den Kopf, daß er schräg von der Stirn herunter eine große Narbe behielt und eine Schwäche in seinem Gedächtnis, die ihn unfähig zu seinem geistlichen Handwerk machte. Nach allerlei Versuchen, eine Weide der Bildung zu finden, war er zuletzt von seinem Onkel Brecht aufgenommen worden, wo er zwar Knechtsarbeit tat, aber im Hause wohnte und da manchmal seine halbe Base Elisabeth Voigt traf.

Von der Theologie hatte er die Schüchternheit behalten, die an den schwermütigen Briefen seiner späteren Braut schuld war, und von dem Sturz die Gewohnheit, seinen Kopf zwischen die Hände zu nehmen, als ob ihn der immer noch schmerze. Sonst war er ein langer Kerl mit Sommersprossen, in dem keiner die lateinischen Brocken vermutete, mit denen er seinen Tag schmückte. Er betriebe die Landwirtschaft, wie einer, sagte der hinterhältige Onkel Brecht, der von ihren Vorzügen Gedichte mache.

Als Wilhelm Voigt die ungeschlachte Gestalt mit der Schwester ankommen sah, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, wußte er davon noch nichts. Er sah nur die rote Narbe in dem Sommersprossengesicht; und weil er gerade die Geschichte von Egbert, dem standhaften Trapper gelesen hatte, der von einem Wurfmesser ebenso an der Stirn gezeichnet war, nahm er die Wirklichkeit dieses Schwagers und halben Vetters in den bunten Schatz seiner gelesenen Erlebnisse hin, zumal dieser Brecht aus Ragnit nach dem tollen Grafen von Serb, dessen Bursche sein Vater gewesen war, ebenfalls Egbert hieß, und die Tilsiter wußten warum, wie Wilhelm Voigt später erfuhr.

So paßte es für seine Unerfahrenheit merkwürdig, daß der Graf selber als der dritte Egbert für eine Stunde seinem Patenkind zu Ehren bei der Hochzeit erschien. Er war ebenso ungeschlacht und dazu offenbar angetrunken, sagte Mein Sohn zu dem Bräutigam und tanzte mit seiner Mutter, der verwitweten Frau Brecht aus Ragnit, die wie die Geiß im Märchen über den Wolf erschrocken war.

Die alten und neuen Verwandten in ihren schwarzen Röcken sahen dem Tanz ehrfürchtig zu; und der Schuhmacher Voigt als Brautvater winkte den Musikanten, von neuem zu spielen, so lange der tolle Graf es verlangte. Als Wilhelm Voigt aber mit einer Kanne Bier für den Martin Nagler in die Werkstatt geschickt wurde – denn die Hochzeit war nicht im Haus, sondern im »Litauer Krug« – trat ihm über den halbhellen Flur die Tochter des Grafen entgegen. Er kannte sie gut, weil sie viel in der Landschaft ritt. Jetzt sah sie hochmütig wie sonst über ihn her; und nur, weil er ihr gerade in den Weg kam, warf sie ihm Mantel und Hut des Grafen über den Arm mit dem Befehl, beides sogleich hinein zu bringen.

Sie war kaum so alt wie er, nur groß wie ein Pferd und stampfte auch so, als er zögerte; ob ihm der Auftrag sonderbar und bedenklich schien, gab es nichts anderes, als die Bierkanne auf die Fensterbank zu stellen und den Botengang zu wagen. Er fand den Grafen gerade dabei, in seinen blanken Reitstiefeln eine Mazurka zu tanzen; die Wirkung indessen, als er ungewiß gegen ihn ankam, ihm Hut und Mantel zu reichen, war anders, als er dachte. Erst lachte der gestörte Tänzer los, daß der Saal schütterte; dann warf er ihm die Sachen durchaus nicht ins Gesicht, sondern machte vor seiner Tänzerin, der verdatterten Frau Brecht, eine Verbeugung mit lächerlich zurück geworfenen Armen, zog kurzerhand den Mantel an, setzte den Hut mitten im Saal auf und verließ den Schauplatz zur Erlösung der schwarzen Röcke.

Als Wilhelm Voigt mit seiner Kanne hinaus kam, hörte er noch das Getrappel zweier Pferde. Er brachte dem mürrischen Schwaben, der hemdärmelig in der Werkstatt saß, mit sich selber Karten zu spielen, das verschalte Bier und hockte zu ihm, sich das Erlebnis mit der Grafentochter in der Art seiner Hefte auszumalen. Auch, als er nachher wieder im ›Litauer Krug‹ dem feierlichen Tanz der schwarzen Röcke zusah und selber ein paar mal dazwischen zu hopsen versuchte, kam er nicht von dem Anblick fort, wie er dem großen Mädchen in den Weg lief und wie ihm der tolle Graf nicht weniger folgsam war, als er selber. Ja, in der Erinnerung blieb ihm die Hochzeit, als wäre sie nur der Zwischenfall mit dem Grafen und seiner zornigen Tochter gewesen.

Immer gewisser sah der Schuhmachersohn, daß es zweierlei Leben gab: eines, darin die kleinen Leute ihren Alltag mit Sorgen hinbrachten, ein anderes, das mit bösen und lustigen Schrecken in den Alltag einbrechen konnte. Auch dieses andere Leben mußte irgendwo wohnen, wie der tolle Graf und seine Tochter draußen am Weg nach Splitter hinter den geschnittenen Buchhecken wohnten; denn es war der Gutsherr, dem er einmal die Reitstiefel ersäuft hatte. Und die Lockung der bunten Hefte war garnicht die Ferne, sondern das andere Leben. Ob Soldat oder Seemann, Trapper oder Fallensteller: das waren alles nur Kleider der selben Freiheit, in die er aus der grauen Trübsal seiner Lehrlingsjahre hinaus wollte, die bunte Lust seiner Hefte zu finden. Was auch geschah, er wollte kein Schuhmacher bleiben.

 

Die Zwillinge Knirr

Wilhelm Voigt drückte sich unterdessen schon in sein siebzehntes Jahr; und der letzte Winter, den er in Tilsit abwarten mußte, war der erste, darin er kein Knabe mehr war. Auf die Dauer waren ihm die bunten Hefte zu sehr über einen Leisten geschlagen, als daß ihm ihre Abenteuer genügten; was sonst seinen Groschen und Begriffen erreichbar war und in Fortsetzungen geliefert wurde, behagte ihm nicht, weil darin immer nur mit hochtrabenden Worten von der Liebe gesprochen wurde. So ging es ihm wie anderen Jünglingen auch, die keine Knaben mehr und noch keine Männer sind; er fing an, Kameraden zu haben, die im gleichen Zwischenbezirk des Lebens mit dummen Streichen an seinen Türen herum suchen.

Denn jene Scheidung, aus der er ein Schusterlehrling geworden war, indessen die andern den Hochmut ihrer Schülermützen weiter trugen, hielt auf die Dauer nicht für alle vor. Zu jeder Osterversetzung sah er einige den gleichen Abgang machen, der zugleich ihr Untergang aus den gebildeten Ständen war; und allmählich merkte er den Vorsprung, den er vor ihnen hatte, die grün und verzagt in den Berufszwang kamen, darin er seine Erfahrungen schon hinter sich wußte.

Nur den Zwillingen Knirr, die als Söhne einer Wäscherin Nachbarn von ihm waren, gelang es durch Fürsprache des Pfarrers, bei dem ihre Mutter wusch, daß sie bei der Brille bleiben durften, die sie beide schon als Knaben trugen. Karl, der Erstgeborene, wurde Schreibergehilfe im Landratsamt, und Emil, der um eine Stunde jüngere, das gleiche auf dem Rathaus; aber das war keine Stellung, auf den zukünftigen Inhaber der Schuhmacherei Voigt allzu hochmütig hinab zu sehen. Die Drei wurden Genossen, als sie an einem Sonntag-Nachmittag im November dem verfrühten Eisgang auf dem Memel mit Stangen nachhalfen, und blieben es über den Winter mit allerlei sonntäglichen Absprachen, welche meist auf eine großspurige Verzehrung der Groschen hinaus kamen, die sie im Lauf der Woche eingeheimst hatten; und darin war der Schusterlehrling ihnen von vornherein überlegen.

 

Der Korbwagen der Grafentochter

Die Brüder Knirr hatten zwar auch Indianergeschichten gelesen, aber sie waren allein zu zaghaft gewesen, der Tochter des tollen Grafen den Streich zu spielen; auch hätten sie ohne Wilhelm Voigt kaum etwas von den Gewohnheiten des Fräuleins gewußt, jeden Freitag Nachmittag zu einem ältlichen Fräulein von Perkuhn zu kommen, das eine verarmte Verwandte von ihr mit poetischen Neigungen war.

Wie es hieß, hielt das Fräulein von Perkuhn eine Nähschule; in Wirklichkeit las sie den Tilsiter Bürgermädchen während der Handarbeit aus Büchern vor, die den Müttern gewiß so merkwürdig vorgekommen wären wie die Gedichte, die sie unter dem Namen Bertha von P. manchmal im Sonntagsblatt der Tilsiter Zeitung abdrucken ließ. Es ging dem Fräulein um die Menschenbildung, und die Tochter des tollen Grafen half ihr dabei.

Wilhelm Voigt wußte von diesem Freitag Nachmittag fürs erste freilich nur dies, daß das gräfliche Fräulein in einem Korbwagen kam, den sie selber kutschierte, und daß sie den Gaul unten im Stall des Wirtes zum »Litauer Krug« einstellte, bei dem die Tante im Gartenhaus wohnte. Aus einem unklaren Grund im Stil seiner Hefte hatte Wilhelm Voigt die Partei des Grafen ergriffen und wollte dessen Demütigung an der Tochter rächen: Als sie einmal im Dunkeln ihren Braunen aus dem Stall geholt und eingeschirrt hatte, was sie stets ohne Hilfe tat, hatten die drei vorher ein starkes Holz so durch die Räder gesteckt, daß es mit einem Knall gegen den Wagenboden schlug, als das Pferd anzog, und so aus dem Korbwagen einen Schlitten machte, der auf dem trocken gefrorenen Boden natürlich nur knirschte und stecken blieb, indessen die drei Übeltäter mit indianischem Siegergeheul davon liefen. Der Spaß war zu kindisch für ihr Alter; aber Karl, dem erstgeborenen Knirr, der überhaupt eine hämische Neigung hatte, gefiel er so, daß er sich für den nächsten Freitag eine tückische Fortsetzung ausdachte. Als das Fräulein diesmal mit einer Laterne alles abgeleuchtet hatte und abfahren wollte, waren die Stränge bis auf eine Kordel durchgeschnitten, sodaß der Wagen auch diesmal nicht von der Stelle kam; und um ein Haar hätte das stolpernde Pferd das Fräulein vornüber gerissen.

 

Das Fräulein von Perkuhn

Nach dem zweiten Streich waren die Drei fürs erste vorsichtig genug, das Fräulein in Ruhe zu lassen; aber nach drei oder vier Wochen, als dicker Schnee lag und statt dem Wagen ein Schlitten im Hof stand, wollten sie vor dessen Kufen Pflastersteine unter der weißen Decke verbauen, daß auch der Schlitten nicht anziehen konnte. Doch diesmal hatte der alte Knecht des Wirtes noch auf die Schälke gewartet. Wilhelm Voigt kniete gerade im Schnee, die Steine hart an die Rufen zu klemmen, als ihn eine Faust zuerst mit der Nase gegen das Holz stieß und dann den Schnee von ihm abschüttelte.

Die Zwillinge im Schatten des Torwegs ließen ihre Steine fallen und rannten davon; der ertappte Übeltäter wurde über die dunkle Treppe im Gartenhaus hinauf und durch die erschrocken aufgehende Tür in ein helles Zimmer gestoßen, wo die Tilsiter Mädchen sich schreiend um die Damen drängten, die selber vor den Eindringlingen zurück wichen. Denn weil Wilhelm Voigt die Nase blutete von dem Stoß gegen die Kufe und weil er auch sonst übel mitgenommen war von seiner zappelnden Wehr gegen die unbarmherzigen Fäuste, mochte er auf den ersten Blick kaum wie ein harmloser Schusterlehrling aussehen. Zu seiner Erstaunung geschah garnichts von dem, was er erwartete. Das gräfliche Fräulein sah zwar wieder hochmütig über ihn hin, aber in ihrem großäugigen Blick war etwas, das ihn erkannte und nickte, als ob es sagen wollte: Also, du bist es doch! Die Tante indessen ließ ihr keine Zeit vor dem Jammerbild: mit ihrer kleinen Hand, deren Weichheit ihn mehr lähmte als die Faust des Knechtes, führte sie den Übeltäter in die Küche nebenan und begann, ihm über dem Spülstein mit einem nassen Handtuch das Blut abzuwischen.

Unter der Faust des Knechtes hatte er zu kratzen und beißen versucht; jetzt ließ er seinen Kopf willenlos über dem Schüttstein hängen, und wie es nur bei seiner Mutter in der Kinderzeit gewesen war, wenn sie ihn streichelte, so wohlig überrieselte es ihn, daß diese leibhaftige Dame sich nicht zu gut für den Liebesdienst hielt und ihm, als die Blutung gestillt war, schweigend das Handtuch reichte, den Rock von den Spuren zu säubern, während sie nebenan ins Schlafzimmer ging, ihre Hände zu waschen.

Wilhelm Voigt fiel da eine Schilderung aus Krak, dem Seefahrer ein, wo die Häuptlingstochter ebenso freundlich zu dem Gefangenen war, der seinen sicheren Tod erwartete. Aber als er sanft ins Zimmer zurück geschoben wurde, waren da keine Wilden, sondern Tilsiter Mädchen, die über ihrer Handarbeit nach ihm äugten; das gräfliche Fräulein hatte sie wieder an ihre Plätze geschickt, und sie selber saß mit ihrem aufgeschlagenen Buch wartend da.

Ob er zehnmal lieber durch die Tür entwischt wäre, wurde er mit in die Kinderschule genommen; er mußte sich auf die Ofenbank setzen, die ihm die Tante bestimmt und freundlich anwies, und der ›Legende vom Hufeisen‹ zuhören. Daß es Reime von Goethe waren, wußte er so wenig, wie er den Sinn verstand; er hörte nur, wie die dunkle Stimme klingende Wortketten an seinen Ohren vorüber zog. So fand er weder zur Freude noch zur Rührung eine Fähigkeit in sich; selbst für den Trotz war er zu leer geworden. Und nicht einmal, als er vor den Mädchen, die fröhlich tuschelnd ihre Sachen zusammen legten, ganz unvermahnt die Treppe hinab gehen durfte, auf deren Podest die Tante einen Kerzenleuchter gestellt hatte, fiel der Zwang von ihm ab. Er wäre am liebsten mit einem Hohngebrüll hinaus gelaufen; aber in der Helligkeit hinter ihm, die seinen Schatten mit jedem Tritt hinab kürzer werden ließ, war etwas, das ihn klein machte.

An der nächsten Ecke krochen die Zwillinge Knirr aus dem Dunkel heraus, zitternd, daß er sie verraten haben könnte: sie würden gewiß ihre Schreiberstellen verlieren! Da endlich kam seine Schusterlehrlingsnatur wieder zu sich: mit stummen Fäusten fiel er über sie her und jagte sie durch den Schnee, bis sie den Schlupf ihrer Wohnung erreicht hatten. Als er aber gegen die Haustür donnern wollte, fuhr hinter seinem Rücken der Schlitten des Fräuleins von Serb klingelnd vorüber. Aus seiner Natur und Gewohnheit tat er noch einen Fluch in sich hinein, ehe er beide Hände in seine Tasche vergrabend, kopfschüttelnd und grinsend über seine Folgsamkeit die Straße hinab gegen das Haus tappte, wo an dem blechernen Stiefel ein Glanzlicht des Mondes aufging.

Nach dieser unerklärlichen Art, seine Bosheit zu bestrafen, ließ Wilhelm Voigt zwar das Fräulein in Ruhe, ja er ging nicht mehr ohne Bedenklichkeit am ›Litauer Krug‹ vorüber, wo die Tante im Gartenhaus wohnte; aber der Vorfall bestärkte seine Meinung, mit der Schuhmacherei auf der falschen Seite des Lebens zu sein. Es gab ein Drüben, wo nicht der Martin Nagler mit seiner dicken Schwabenstirn über dem Knieriemen hockte, dies fühlte er seit dem Abend gewisser. Schon vom Onkel Patzig hatte er das Wort Freiheit gehört, in das er seine Sucht hinein packte, ohne zu wissen, was sonst alles in der Welt da hinein gepackt würde.

 

Königgrätz

Seine Lehrjahre waren mit Ostern aus; und er hatte schon als Gesellenstück ein Paar Reitstiefel gemacht wie jene, die er im Memel ersäufte. Wer einmal darin Mazurka tanzen würde, wußte er nicht, und die Schaftstiefel, in denen er seine eigene Wanderung antreten wollte, sahen derber aus; aber er konnte die blanken Schäfte nicht ansehen, ohne daß sie seine Ungeduld an dem endlosen Winter reizten, dessen Nebeldunst über dem Memel jeden Tag dichter wurde, und dem in seine stumme Kälte kein Zeichen des Frühlings kommen wollte, als der Kalender ihn schon längst anzeigte.

Auch seinen Paß hatte er schon. Der ältere Knirr hatte ihm den auf dem Landratsamt besorgt; denn die Prügelei damals im Schnee war bald vergessen gewesen, als den Zwillingen nichts nachkam. Es stand zwar ein böser Vermerk darin, daß er vorbestraft wäre; doch der ganze Paß gehörte auch zu den Dingen, die er in der Freiheit nicht mehr zu brauchen gedachte.

So war das Loch aus dem Raupengespinst seiner Jugend längst durchgefressen; er kam aber nicht fort bis in den Sommer, weil es im Frühjahr hieß, Bismarck wolle Krieg mit den Österreichern anfangen. Diesmal geht es ihm schlecht! orakelte der Obermaat Heincke, der den Fall von der Marine aus betrachtete. Die Österreicher haben eine Flotte unter Dampf, und wir rutschen mit ein paar Kanonenbooten an der Küste herum! Und als ihm Wilhelm Voigt mit einer vorlauten Frage das Bein stellen wollte: Ob der alte Fritz etwa eine Flotte nötig gehabt hätte? hieß er ihn einen Schulknaben. Man muß mit der Zeit gehen! verfügte er und hieb mit dem Stock ein paar schüchterne Knospen ab: Heutzutage ist ein Landkrieg nur eine Katzbalgerei! Zwischen den böhmischen Bergen ist gar kein Platz mehr, mit modernen Gußstahlgeschützen zu schießen; die müssen Seeweite haben!

Und weil der Obermaat Heincke der Schuhmacherfrau Angst gemacht hatte: bis ihr Jüngling nach Berlin käme, wären die Österreicher längst dort! Überdies würden im Krieg die Schlagbäume geschlossen, schon in Königsberg käme er garnicht hinein! so mußte Wilhelm Voigt den Krieg abwarten, bis auf einmal das Jubelgeschrei über Königgrätz auch nach Tilsit kam.

 

Bleibe gesund und brav!

Es sei nicht aller Tage Abend! trumpfte der Obermaat, obwohl er sich über den Sieg betrank. Wilhelm Voigt aber versorgte die neu gekaufte Kriegskarte mit den Stecknadeln und Fähnchen dazu in einer Schublade und packte seinen Ranzen; weder der stumme Vorwurf der Mutter noch die Fehlreden des Vaters konnten ihn länger zurück halten.

Der Schuhmacher Voigt wußte genau, daß der Schwabengesell für das Geschäft nicht ausreichte, wenn er sich nicht selber auf den Schemel zurück bequemen wollte; er hätte längst einen Lehrling einstellen müssen, die nötige Hilfe zu haben. Aber ob er mit weichen Worten klagte oder mit härteren drohte, seine Vaterschaft war nicht derart, den Sohn zu bestimmen, der ihm mit seiner dünnen Gestalt über den Kopf gewachsen war. Am letzten Morgen gab es noch einen bösen Auftritt, und die vorletzten Tränen sah Wilhelm Voigt die Mutter weinen, ehe sie mit der kleinen Luise hinter ihm her die Haustür zumachte, ihn noch ein Stück zu begleiten.

Der Einzige, der seinem Groll einen Gruß nachrief, war der blecherne Stiefel; ihm nickte Wilhelm Voigt zu, ehe er um die Ecke ging. Sonst hatte er wenig Abschied genommen: der Obermaat war unwirsch, weil er nicht auf seine Warnung hörte – er kränkelte seit einiger Zeit und galt als Knurrbeutel – und die Brüder Knirr waren erleichtert, daß er ging, weil sie ihm nach und nach drei Taler schuldig geworden waren, die sie zu schicken versprachen, wenn er erst in Berlin wäre.

Komm bald wieder! klagten die Augen der verhärmten Mutter, als sie sich draußen trennten, wo die Straße ihre Absicht mit einer Wendung nach Westen warf und hinter ihnen die gerüstete Burg fast schon verhüllt gegen das Morgenlicht stand; sonst klagte sie nicht. Er war zuletzt Hand in Hand mit ihr und der Schwester gegangen, als wären sie drei Kinder, die zum Sonntag Nachmittag aufs Dorf hinaus wollten. Es tat ihm jetzt leid, daß er das nicht wirklich getan hatte, statt zuletzt nur noch mit den Brüdern Knirr herum zu streichen. Wenn ich wieder komme, gehen wir einmal so miteinander bis Ragnit hinaus! sagte er aus seinem schlechten Gewissen und wußte genau, daß er garnicht wieder kommen wollte, so heiß es ihm in dieser Minute ums Herz war.

Bleibe gesund und brav! entgegnete die Mutter, seinen Trost überhörend, und gab ihm die magere Hand. Auch Luise, die Schwester, tat so, und dann standen sie alle drei laut weinend da, bis ein nahendes Fuhrwerk sie auseinander trieb, als hätten sie Böses getan. Noch zwei oder dreimal kehrte sich Wilhelm Voigt um, ihnen zu winken, die immer noch an der Wendung der Straße standen. Dann sah er, wie der Fuhrmann – ein lustiger Greis, der auch ihm vorbei fahrend zugewinkt hatte – die beiden auf den Wagen nahm, als hätten sie nur deshalb gewartet, um mit ihm zurück nach Tilsit zu fahren.

Vor ihm lag die Straße wie ein Lineal; und als ob er Eile zu einem Zug oder Schiff hätte, fing Wilhelm Voigt an auszuschreiten, wütend, daß ihm die Tränen noch immer rannen, als hätten die beiden ihn verraten, die da in die Sonne hinein fuhren. Vor seinen Füßen zeigte der schmächtige Schatten seiner Gestalt in die unendliche Blickrinne der Straße.


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