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Bruno Galba wuchs in den Bergen auf.
Einöden nennt man in jener Gegend die Gehöfte, welche der Reisende, abseits von den Dörfern im Tal, über die Hänge und Höhen verstreut oder in kleineren Tal-Falten findet, ohne das Wort Einöde – nebst dem Namen des Gehöfts auf einer Tafel am Hause verzeichnet – seinen Begriffen davon entsprechend zu finden. Denn das Bergland, unterbrochen von Wiesen-Senken und grasigen Kuppen, von Obstbaum-Gärten und seltenen Äckern, verheißt überall freundlichen Ausdrucks die ordnende menschliche Hand, und nirgend ist von Rauchfang zu Rauchfang die Spanne so weit, daß nicht das umhersuchende Auge sie leicht überbrückte, um diese Art Einöde gesellig genug zu finden. Fragt man indes in den Häusern, unter deren breit überragenden Dächern geschnitzte Galerien kleiner Säulen, Altane genannt, die Menge der Topfgeschirre voller Geranien, Nelken und Fuchsien tragen, und in deren winzigen Blumen-Gärtlein die Überfülle des blühenden Phlox oder der Balsaminen, der Stockrosen oder Dahlien die gebrechlichen Zaunwerke unsichtbar läßt: fragt man 96 in ihnen die Menschen, so wird man hören, daß sie über den Bereich ihrer Nachbarschaften niemals weiter hinauskamen als bis unten ins Dorf, das nötige Handwerkszeug zu besorgen. Und hier sind vier oder fünf Gehstunden weit genug, damit durch eine Heirat getrennte Geschwister sich ihr Leben lang kaum jemals wieder erblicken.
Es war ein kleiner und sehr schmaler Bergsattel, der das urväterliche Haus Brunos trug. Es hatte, als er geboren wurde, schon einhundertfünfzig Jahre den aus dem unfernen Italien hergezogenen bäurischen Galbas gedient, mit seinem breiten Dach, den glänzend geweißten Mauern und der Doppelreihe altersgeschwärzter Galerien, welche drei der Wände umliefen – an die hintere vierte schlossen sich der Stall und über ihm Heuboden und Tenne –, zeigte es sich für weitere hundertfünfzig ruhig bereit. Als einziger Schmuck schimmerte unter dem First das sehr verblichene Blau einer lebensgroßen Mutter Gottes, auf der Mondsichel stehend, deren Gestaltung und Haltung deutlich genug eine Figur Riemenschneiders nachahmte. Hinter dem Hause stieg der Tannenwald steil zu Berge. Die Kuppe gegenüber, mit Wiese bedeckt, mit Obstbäumen bestanden, ließ an sich vorüber den Blick in ein hochgelegenes kleines Tal voller Waldbestand, dem die Häuser eines Dorfes entstiegen; und weiter hinüber zu Berg-Flanken, die, sich steiler erhebend, mit Schroffen und Zacken hoch in den südlichen Himmel wuchsen. – Aber alles Dieses ist heute noch so und kann so gesehen werden. 97
Über den Sattel inmitten war ein Roggenfeld wie eine Decke gehängt, eine braune im Frühjahr, eine gelbe im Sommer. Und trat man nun in die vorderste Ackerfurche, zwanzig Schritte vom Hause seitwärts zur linken Hand und nach Osten gekehrt, so konnte man, im raschen Vertauschen des Blicks vom Süden zum Norden, die gegensätzlichsten Fernsichten höchst überraschend vereinen. Denn südwärts schweifte das Auge, über den tiefgelegenen Kessel des Flußtals hinweg, wo ein Stück des Stroms in schöner Biegung erglänzte, und hindurch zwischen den breit immer höher gelagerten Wällen der flankierenden Berge, hinweg endlich über die mächtige Felsen-Wand, die das Tal da zu vermauern schien, in das geheimnisvoll schimmernde Bereich des unvergänglichen Schnees, zu den schön geformten Zelten und Pyramiden der höchsten, weit fernen Gipfel: in ihrer entfernten Kleinheit immer doch majestätisch, waren diese ewig entlegenen sechs oder sieben einer still gelagerten Versammlung von Wesen gleich, die sich zurückgezogen haben vom Regieren und Fordern, um sich allein ihrer königlichen Geselligkeit zu erfreun.
Aber in das von hier nach Norden hinübergewandte Auge trat ein Lächeln der Betroffenheit über diese Vertauschung der Umwelt, bewirkt scheinbar durch Nichts als ein kleines Drehen des Halses. Denn hier lag in großer Tiefe, sichtbar über einen tief gelegenen kleinen Tannenkamm hinweg, die unendliche Ebene ausgebreitet. Aber gelagert, wie sie war, unter dem allezeit dunstigen Himmel des Nordens, und selber von Dünsten bedeckt, welche die 98 Einzelheiten der Landschaft – Wälder und Gefilde, Ortschaften, vielleicht Moore – erraten ließen, doch nicht erkennen: schien sie in ihrer übergangslosen Abgründigkeit nicht eigentlich wirklich zu sein. – So geisterhaft sie schienen, im Glanze der Mittag-Sonne, die jenseitigen Schneegipfel, sie leuchteten aus sich eine Wirklichkeit höchster Art; diese dagegen, in ihren Gegenständen deutlich an trüben Tagen allein, und dann sehr dunkel und kalt und abwehrend: sie war scheinhaft; ein sehr großes Bild, nur vorhanden zum Beschaun, nur eine Vorstellung von dem, was in einer unbekannten wirklichen Welt Ebene sein mochte. – Bruno, dem es von klein auf gewohnt war, gewahrte es mehr, als daß er es sah, in den verschiedensten Epochen seines Lebens; aber Bild war es immer.
Hans Galba, der Vater, der sein Leben lang Sense und Rechen führte, war gleichwohl kein Bauer mehr. Von Aussehen so ganz Italiener, daß er von Fremden, die ihn dafür hielten, mitunter in dieser Sprache angeredet wurde, war er kleiner Gestalt, klein auch von Kopf und Gesicht, dessen festes Fleisch eine braungelbe Haut glatt bespannte, und in dem er alternd einen buschigen schwarzen Bart unter der Nase wachsen ließ. Aber auch trotz der Schwärze des landfremd stechenden Blicks aus geschlitztem Lid, hatte er von jenem Volke in sich so wenig, daß er seine Sprache nur ungelenk erlernte, obgleich er die Halbinsel in seiner Jugend vom Nord bis zum Süden durchwanderte. Denn er hatte ein Maler werden wollen, während er Knecht und späterhin Hofbesitzer sein sollte – was er freilich auch 99 wurde –, und so focht er sich durch Italien, wider Willen seines Vaters, setzte von Palermo nach Spanien über und erreichte auf neuer Wanderschaft Toledo. Diese Stadt mit ihren unverborgnen Juwelen, Werken des Greco, wurde zum inneren Gipfel seines Lebens, den er niemals zu übersteigen vermochte. Ein volles Jahr hauste er dort, sein Dasein durch niedere Arbeit, sein Inneres aber mit unendlicher Inbrunst nährend von den Gebilden Grecos und jener seltsamen Landschaft, die ihm wohl verwandt sein mußte, so daß er sie in allen Lebens-Zeiten seinem Sohn wie eine heilige Gegend und als die höchste, schönste auf Erden pries. Er kehrte heim nach einem jahrelangen Besuch aller Städte, in denen es Grecos gab, beladen mit einem Dutzend Kopien, die seine noch ungelernte Hand unsäglich mühevoll und gehorsam verfertigt hatte, um die ausgespannten Leinwande später in einer besonderen Kammer aufzustellen und an Festtagen zu genießen. Allein das Bild ›Toledo im Gewitter‹ ward in der Wohnstube aufgehängt und durch regelmäßige Reinigung vor dem Verräuchern durch Ofen und Tabakspfeife sorgsam bewahrt.
Der Heimgekehrte fand seinen Vater tot und wurde nun, den Hof zu halten, für zwei Jahre nur Bauer. Dann starb auch die Mutter; Hans Galba nahm einen Knecht an, der mit Hülfe der Magd die sechs Kühe, das Geflügel, Wiesen-Land und die kleinen Ackerstücke ohne Hans pflegte, zumal das Vieh den Sommer lang auf der Hochalm weidete. Maler wurde er nicht, und es ist anzunehmen, 100 daß ihn der Glanz aller Größe in den Galerien und Kirchen Italiens und Spaniens, zuletzt der des Greco, zuinnerst gelähmt habe und jede Möglichkeit eigener Entfaltung unterbunden. Hingegen fing er das Bildschnitzen an und machte nun, ungelehrt wie er auch hierin war, und still anknüpfend dort, wo zu ihrer Zeit Hans Multscher und Grasser, Riemenschneider und Veit Stoß für immer aufgehört hatten, jahraus, jahrein nicht viele Figuren. Seine Madonnen und Märtyrer, Apostel- und Propheten-Gestalten erreichten indes bald eine schlichte, aber eigene Vollkommenheit in dem sehr Zarten, ja Gebrechlichen ihres Ausdrucks von innerer Lebendigkeit, was die Kenner in den Städten dann ›Nervosität‹ nannten. Denn seine dazumal eben mit Marktware überschwemmten Nachbarn und die Geistlichkeit mochten seine Figuren nicht sehn und die Preise nicht hören. Sie wanderten zur nächsten Stadt R. und in den Laden eines befreundeten Buchhändlers, der ihrer zwei und dreie in jedem Jahr verkaufte, was Hans Galba zufrieden war. Ihn ernährte seine Wirtschaft.
Er stand schon im fünfunddreißigsten Lebens-Jahre, als die Tochter eines von Bremen nach R. verschlagenen, ursprünglich wohlhabenden, aber unglücklichen Kaufmanns einwilligte, seine Frau zu werden. Vater und Tochter waren durch Vermittlung jenes Buchhändlers drei Sommer nacheinander als Gäste in Galbas Hof erschienen, aber sie erhörte die schon im ersten vorgebrachte Werbung erst im letzten, worauf der Ehebund noch im Herbst geschlossen 101 wurde; das Mädchen, Antonie, stand damals in ihrem zwanzigsten Jahr. Nach neun Monaten gebar sie den Bruno.
Bruno wuchs mutterlos auf. Er gehörte, zur jüngsten wie zur spätesten Zeit seines Lebens, zu jener Menschen-Art, die nicht fragt. Sein Vater verriet nie Etwas, er tat nie eine Frage, eine Mutter war nicht vorhanden. Brunos Menschen waren: der Vater unwandelbar, der Knecht, mitunter die Gestalt, selten das Wesen wechselnd, und unwandelbar auch die Magd. Diese, die, wo sie ging und stand, den größten Kropf mit sich zu schleppen hatte, besaß die genügenden Fähigkeiten für Küche, Vieh und das Heuwenden; darüber hinaus aber auch gar keine. So war der Vater Himmel und Erde und Alles, was zwischen Himmel und Erde ist.
Hans Galba zog seinen Sohn auf und unterrichtete ihn ganz allein. Wonach er selber einmal Sehnsucht empfunden hatte, die lateinische, die italienische und die griechische Sprache, lernte er im Verein mit dem Schüler; Französisch und Englisch fielen aus, ebenso alle höhere Mathematik, deren Stelle früh Kunst-Geschichte einnahm. Geographie und Völker-Geschichte wurden durch Lektüre der besten Werke aufs beste erkundschaftet. Die Religion saß fast nur in den Augen und hieß: Sieh Alles gut an, was unter dem Himmel ist; liebe Alles und am meisten das Licht. – Bruno fuhr bei dieser lückenhaften, doch gründlichen Bildung nicht schlecht; und wenn er nachmals im Leben 102 mancherlei Mängel an sich wahrzunehmen hatte, so war da keiner durch Schuld seines Vaters verursacht. Ausgenommen freilich den einzigen einen: die fehlende Mutter samt allen Zusammenhängen, die der Inhalt dieser Erzählung sein werden.
Bruno Galba war noch kaum sieben Jahre alt, als er seinem Vater zum Namens-Tage das insgeheim mit den geographischen Buntstiften gemalte Porträt eines Unbekannten bescherte. Es wies Ähnlichkeiten mit allem Menschlichen aus, mit dem Vater, dem Knecht, gar mit der Magd, aber die größte und eigentliche, die übrigen weit überflügelnde war die mit dem Unbekannten, dem Niegesehenen, dem Ideal. Eine schlaflose Nacht verbrachte der nie so Beschenkte nach diesem Tag, in der er überlegte, wie zu handeln wäre. Er dankte Gott – und beschloß in diesem Gedanken, seinen Sohn doch die Bibel lesen zu lassen – immer wieder für dieses Geschenk der höchsten Hoffnung, daß einmal sein Sohn würde, was er nicht geworden war, ein Maler, den der Greco nicht hinderte. Seine Überlegungen aber führten zu dem Entschluß, mit dem er einschlief und den er später auf das peinlichste durchführte: daß Nichts zu tun das Einzige sei, was getan werden dürfe. Das bedeutete aber: wenn der Sohn beharren würde beim Zeichnen und Malen, ihn Nichts lehren zu wollen als das Handwerk. Ihn durch keine Vorbilder verbiegen, geschweige durch eigene Meinung, ihm Nichts anbilden zu wollen; ihn schalten zu lassen aus reinem Herzen, aus unbefleckter Phantasie, ohne Ungeduld, besorgt von 103 Ding zu Ding um jedes Einzelne, so, als hätte er tausend Jahre Zeit.
Indes hielt er es für gut, von diesem Wege mit nur einem einzigen Schritt abzuweichen, und zwar gleich zu Anfang. Er versammelte nämlich, den nahen Sonntag abwartend, der zum Glück sonnig war, die sämtlichen Kopien Theotokopulis in der von vier kleinen Fenstern nur dürftig erhellten Wohnstube im Eck des Hauses und führte mit einem feierlich ruhigen Gebaren den kleinen Sohn zu der mächtigen Versammlung ein. Es war ihm, als er in die großen und dunklen, vom Schrecken zu tiefstem Ernst geweiteten Augen des Kindes blickte, als sei dies Jesus im Tempel, der anfangen würde, die Weisen zu belehren. Bruno freilich sagte die Stunde lang kein Wort, während der er von Bild zu Bild geführt wurde und sie in Worten erklären hörte, die er verstand: die Bestattung des Grafen Orgaz und Christi Taufe, Christus am Ölberge und die Heiligen Petrus, Johannes und Ildefons, das Martyrium des Mauritius und Laokoon, die Vermählung Marias und die Öffnung des fünften Siegels, die kühne, frühe Blinden-Heilung nicht zu vergessen, und von Bildnissen der furchtbare Großinquisitor und das unter dem Namen des Heiligen Ludwig gehende – welche sämtlich zwar den Originalen in manchem nachstanden, doch am meisten durch ihre Kleinheit. Zur stillen Wirkung des Gemalten fügte der Vater wenig hinzu. Daß er diesen Augenblick niemals vergessen dürfe, mahnte er und sagte, dieses hier sei das Höchste, was ein Mensch, der Maler sei, machen 104 könne. Und er hieß ihn niemals vergessen, daß es dies gelte, nur dies, solche Bilder, die unvergänglich seien wie der Schnee auf den höchsten Gipfeln und strahlend in einer unauslöschlichen Sonne.
Mit dieser Lehre hielt Bruno es so, wie sein Vater dachte: er vergaß sie nach kurzer Zeit, aber er erinnerte sich ihrer in jedem in sich gekehrten Augenblick seines Lebens. – Was aber der Vater ihn nun zu lehren begann, war nichts weiter als Sehen. Das will sagen: das Einzelne zu sehen und das Ganze; jedes Einzelne so zu sehen, oder einfacher, so lange anzusehen, bis es von selber durch das Auge in das innere Wesen, in die Hand und den Pinsel überginge und sich gleichsam freiwillig darstelle. Das Ganze aber zu sehen, wie es auferbaut sei aus Teilen, die sich gegenseitig hier ergänzten und da verdrängten – und also in dem Ganzen, das ein Bild geben sollte, diejenigen Einzelkräfte zu sehen, in denen es beruhte, und die gleichgültigen, ja störenden auszuscheiden. Galba verschwieg, was selber gefunden werden sollte, daß die Kunst um so größer sei, je mehr sie zu entbehren vermöchte; je weniger äußere Linien sie bedürfte, um die innere zu ziehen.
Es ist aber nicht an dem, die Lehrjahre des Knaben und Jünglings zu verfolgen, und nur noch dies sei gesagt: daß der Vater, da Bruno allerdings anhielt, seine malerischen Fähigkeiten auszubilden, die tiefe Freude hatte, eine Verwandtschaft im innersten Wesen Brunos mit dem des Greco zu entdecken – wie Galba meinte; in Wahrheit jedoch mit dem Wesen all Derer, die noch Anderes sind als 105 nur Maler. Daß er plante, wirkte und ausführte von innen her, aus Phantasie, aus selbsterzeugten Gesichten, denen die äußere Welt als Gestalt zu dienen hatte, die ihr Wesen jedoch nicht von jener entlehnten. – Er sah die Flamme Geist, die einst an ihm nicht gezündet hatte, glänzend über dem noch kindlichen Scheitel aufgehen.
Galba, der Vater, erkrankte in seinem vierundfünfzigsten Lebensjahre hoffnungslos an einem schmerzhaften Krebs-Geschwür und sah den Augenblick nah, wo er den Sohn aus seiner Lehre und in die noch unbekannte Welt hinauslassen mußte. Bruno zählte damals achtzehn Winter.
An einem Spätabend in diesem Frühjahr gewahrte Bruno, mit seinem Licht und seinen Büchern, wie er es liebte, in einer Fenster-Nische beschäftigt, seinen Vater so fremd und so schmerzhaft deutlich zugleich, als sähe er ihn zum erstenmal. Der seit Wochen fast unablässig von Schmerzen Gefolterte hatte sich hinter den Ofen zurückgezogen, der – ein mächtiger Würfel von hellgrünen Kacheln – frei im Zimmer stehend, ein Viertel davon zu erfüllen schien, zumal über ihm und umher von den Decken-Balken Kleidungs- und Wäschestücke schattenhaft herabhingen. In das Gesicht des zusammengesunkenen Mannes leuchtete aus dem offenen Türloch des Ofens das helle Feuer, überdeutlich auf dem Grunde von Schatten zeigend die glänzend gelbe hohe Stirn über der Verwitterung und dem Zerfall von Schläfen und Wangen. Das Übrige des 106 Gesichts war verborgen vom wuchernden Schwarz des Bartes; und so hätte er, der ein Bauer gewesen war und doch keiner, ein Künstler und doch keiner, und am wenigsten Italiener, nun für einen sterbenden Briganten gelten oder gemalt werden können. Das Jagdgewehr hinter seinem Rücken paßte dazu, und warum nicht der Brief, den unten die verhärtete bäurische Faust dem Feuerloch nahe hielt? Er selber saß mit geschlossenen Augen und sah, als der Sohn zu ihm trat, eine Hand auf seine Schulter zu legen, nur müde aus und ergeben. Eine kleine Truhe stand offen neben ihm auf der Bank und verschnürte Brief-Päckchen lagen umher. Er schlug nun die Lider auf, hieß den Sohn sich zu ihm setzen und machte ihm Mitteilungen über seine Mutter, die mit seinen Worten nicht wiedergegeben werden können, deren Inhalt aber in Kürze der folgende war.
Sie war sehr jung, hellblond, lieblich und leichten Bluts, und wie sie selber als Sommergast in das Haus gekommen war, hatte ein Sommergast sie davongeführt. Ein ganz junger Mensch, wie sie aus dem Norden, wie sie ein Sohn eines Fabrikanten und alten Geschäfts-Freundes ihres Vaters, war wandernd vorübergekommen, vielmehr war geblieben, eine Woche und mehr Wochen. Dann kam ein Abend, wo es Hans Galba einfiel zu bemerken, daß er mit seiner Pfeife und seinen Kupferstichen allein in der Stube saß. Er hatte aber nichts Arges geahnt, als er in das Licht des aufgehenden Halbmondes vors Haus trat, und selbst nichts, als er über das abgeerntete, im Monde wie eine 107 Silberstreu glänzende Feld, über die Wiese, die Kuppe hinausging. Von da oben sah er unfern in der Tiefe, wo ein Weg war, das Paar, das sich umschlungen hielt. Er sah es eine Weile an, ging in das Haus zurück, verschloß und verriegelte die vordere Tür und ebenso die des Stalls und des Heubodens, zu dem, wie überall dortzuland, eine befahrbare Rampe emporführte. Danach stieg er in das Schlafzimmer hinauf und saß da bei der Wiege des Kindes, biß seine Hände blutig und fiel, als der Morgen kam, vom Stuhl herab in den Schlaf.
Es war nicht eigentlich die Untreue, was ihn so traf; in die innere Gerechtigkeit oder die Ordnung seines Lebens war ein Gift-Tropfen gefallen, der sie so völlig zerfraß, daß er danach, so schlecht und recht es nur ging, eine neue von Grund aus herstellen mußte; aber nicht ein Element von der alten ließ sich in die neue herübernehmen. Deshalb traf auch der Ausdruck: Härte, die ihm in einem Brief und von mancher anderen Seite vorgeworfen wurde, nicht; als er sein Haus verschloß, verschloß, versargte, versenkte er Etwas. Danach bildete sich sehr langsam das Neue, doch er selber war zu jener Frist eigentlich Nichts, konnte darum nicht hart sein, am wenigsten gegen eine Stimme aus dem Alten, das er nicht mehr verstand.
Den schon erwähnten Brief seiner Frau, einige Wochen nach jener Nacht geschrieben, der unbeantwortet blieb, gab er Bruno zu lesen. Er war kurz und lautete: »O Hans Galba, mein Mann, was hast Du uns zugefügt! Es war ein Kuß, ja, aber aus Vergeßlichkeit, nicht aus Untreue. 108 Deine Härte verschloß mir das Haus, das ich gewiß niemals verlassen hätte. Ehe es zu spät ist, flehe ich Dich an: Nimm mich zurück! Und tust Du es weder um unsert-, noch unseres Kindes willen, so denke an das Ungeborene in mir, auch Dein Kind, Hans, Dein Kind! Antonie.«
Der Erzähler schloß, indem er unter Hinweis auf die letzte Zeile des Briefes sagte: er wäre seinem Sohn die Mutter schuldig geblieben; nun lasse sein Scheiden ihn eingedenk werden, daß er ihm nicht auch die Schwester vorenthalten dürfe. – Jenes Kind war allerdings geboren worden und am Leben geblieben. Der Verführer Antonies, der sie heiratete, nahm es, weil der rechte Vater sich weigerte, an Kindesstatt an. Galba erfuhr später, daß jener schon nach drei Jahren durch Herzschlag, Antonie im darauffolgenden Jahre an Lungenentzündung aus dem Leben schied. Kinder hatte sie außer den ersten zweien keine; Brunos Schwester, ein Jahr jünger als er, lebte im Hause ihres Vormundes, eines Bruders ihres Adoptiv-Vaters, der in der norddeutschen Stadt Altenrepen eine Fabrik besaß. Daß Bruno Namen und Wohnung von dem in R. noch lebenden Vater seiner Mutter erfahren würde, war an diesem Abend das letzte Wort des Kranken, dem ein Überfall seiner Schmerzen die Lippen schloß.
Bruno erschien in seiner Schlafkammer über vergeblichem Grübeln nach dem eigentlichen Eindruck und dem Wesen des mitgeteilten Unfaßbaren wieder sein Vater, als sähe er ihn vom Fenster aus hinter dem Feuerloch sitzen, aber 109 zugleich seine Züge, die ermüdeten, so nahe, als stünde er neben ihm. Ach, mit ihm, ja in ihm lebend, war er so verständlich gewesen wie Abend und Morgen; aber wie war das zu begreifen, daß ein einziger Augenblick, daß die Vernichtung eines Glückes ihn völlig verkehrte? Und erst dies, daß der zwar Ernste, aber der Ruhige, Gütevolle, immer Gleiche herabgestiegen war in das stille Tal zu Bruno von einem, ihm unendlich fern kaum erkennbaren, furchtbaren Berg, – wo er ein Glück vergrub und eine Güte davontrug. – Nun schloß der Schlaf ihm den inneren und äußeren Blick und prägte ihm unvergeßlich für immer das Bild dieses Abends von dem Vater ein.
Wenige Tage später, von einer Wanderung heimkehrend, fand Bruno den Vater tot im Bett, der allem Anschein nach die Gelegenheit abgewartet hatte, um sich mit dem alten Jagdgewehr selbst zu entleiben. Auf der Platte des Nachtkastens vor dem Leuchter standen die gekritzelten Worte: »Die Schmerzen überwältigen mich. Heut oder morgen ist ja gleich. Leb wohl, Junge! Sei glücklicher als ich, werde mehr als ich, stirb leichter!«
Bruno glaubte erdrückt zu werden von der Last der Verlassenheit und Öde in dieser Nacht und von der einer unendlichen Liebe, die ihm zur Berges-Last werden mußte in dem Augenblick, wo sie sich entzog; aber auch diese löste der Schlaf des Jugendlichen für heute von seiner Brust, und obwohl wiederkehrend, mußte sie von Mal zu Mal leichter werden, bis sie sich auflöste und zerfiel wie unter der Erde der Tote. 110
Oft und oft in den nun folgenden Tagen mußte der Vereinsamte sein bisheriges Leben bedenken, in dem er, so kam es ihm vor, gelebt hatte wie mit dem gütigen Gott selber in einem Garten. Weil nun, so oft sein Inneres in Bewegung geriet, sich sogleich der Sinn seines Auges betätigte, so stellte sich alsbald das aus Abbildungen bekannte römische Kolosseum dar, aber dergestalt, daß er mitten darin stand, Sitze nirgend, auch keine Tür sah, sondern nur den Umkreis der haushohen Mauer und in ihrer vielfachen Durchbrochenheit von Fenstern den Himmel. Das war freilich ein Bild seines Lebens, wenn man Gott und den Garten ins Innere der Mauer denken will: all die Jahre war er niemals über einen Umkreis hinausgekommen, den ein in den Zirkel genommener halber Tages-Marsch schlägt. Ob sein Vater für später Andres im Sinne gehabt hatte, ahnte er so wenig, wie er den Grund herausfand, weshalb es bislang so gewesen; oder war es wirklich nur der, daß sein Vater, sich abschließend in keiner engeren Beschränkung, als dem Bauer der Gegend natürlich war, ihn mit abschloß? An ein ausdrückliches Verbot erinnerte Bruno sich nicht, noch auch an eigene Wünsche; und jetzt, wo er ein klaffendes Tor in die Wandung gestoßen sah, dahinein Welt-Straßen mündeten und unbestimmt eine Erscheinung lieblicher Weiblichkeit winkte, fragte er sich vergebens, warum er in dieser Stunde erst den magischen Gürtel sichtbar gewahrte. War er ein so genügsamer Mensch? O freilich, er war es, dachte er fast 111 lachend, nun wieder in das Innere des Gartens gewandt, ins Grüne, ins Bunte, ins tausendstimmig Tausendgestaltige des Dickichts, in dem jedes Ding, das Hand oder Auge berührte, so wundervoll werden konnte, wie wenn ein Tropfen Tau in sich All und Alles enthielte, was sein klares Rund zu spielen vermag. Und bei ihm war der Lehrer, der gute kundige Spender des unerschöpflichen zaubrischen Mittels, dessen Name ist: Sichbemühn, und das die Fülle der sichtbaren Dinge in eine Überfülle der Seele verwandelte, die zu erschöpfen, hier in dem Kreisraum vom Durchmesser eines Tags, ein langes ganzes Leben sich eher erschöpfen mußte. Überdies so waren auf Geister-Wegen durch die Bögen der Fenster herein noch Herrlichkeiten herabgeflogen: Kenntnisse aller Art, ewige Gestalten aus dem Geister-Land, Kupferstiche und Holzschnitte und Bücher und Mappen voll Bilder, Masken-Züge der Märchen, Koffer voller Gedichte; wo er eingeschlossen war, ohne es zu bemerken, da gingen alle Könige und Propheten, die Apostel aller Schönheiten, Wahrheiten und Größen zwanglos herein und ließen ihm gern, was sie brachten. Und wieder war ›Sichbemühn‹ der gute, schöpferische Geist, dessen Zauber es war, jedes Ding unverwelklich zu machen, weil immer wieder neu und blühend von Staunen des Herzens.
Doch war nun das Tor, nein, die Mauer gefallen. Nein, Gott war gegangen; nein, der Garten war selber nicht mehr. Er war verschwunden auf eine Weise, daß es nicht schmerzte – zu viel Anderes war ja zu schwer noch! – und die Ferne mit der Welt war nah gekommen auf eine Art, 112 die nicht schreckte. Daß er zu gehen hatte, schien klar, aber war nicht fest; vielmehr war er mehrere Tage lang entschlossen, zu bleiben, die unbekannte, so lange Frist schmerzlos entbehrte Schwester eine Vorstellung sein zu lassen, wie die unbekannte Ebene ein unverlockendes Bildnis gewesen; statt dessen den Garten schöner neu, in Gebilden seiner Geistes-Kraft wirklicher neu und auch Gott aus seiner getreuen Brust auferstehen zu lassen. – Zehn Jahre älter, wäre Bruno vielleicht geblieben; heute noch konnte seine Jugendlichkeit auf die Wandlung nur mit einer anderen Wandlung erwidern.
Bruno kam auch dazu, daß er sich im Spiegel betrachtete zu jener Frist; will sagen, daß er sich ins Auge faßte, wenn er frühmorgens beim Waschen sich in der Spiegel-Scherbe begegnete. Er konnte aber nicht herausfinden, wie er aussah, will sagen, welchen Eindruck Jemand von seinen Zügen haben würde, der nicht er selbst war. Sein Gesicht war groß, lang, die Umrisse von rötlichem Bartflaum verwischt und durchaus braunhäutig; die Stirn unter hereinfallendem Haar schien nicht hoch, damals; das Haar selber war dicht, wellig und schön kastanienbraun. Die kleinen Augen von schwacher bläulicher Farbe empfingen ihren Charakter von der Nase: die war lang und traurig und hing nicht ganz gerade herab. Bruno sagte, wieder einmal sich über der Betrachtung ertappend, unwirsch zu diesem Gesicht: Du siehst aus, als wolltest du gleich sehr unglücklich werden. – Er dachte an seinen Vater und verbesserte sich erschrocken: Ich bins ja! – 113
Bruno hielt seine malerischen Kenntnisse und Fähigkeiten für absolut groß, weil ihm alle Vergleichungen fehlten. Er wußte, wie sich ein Bild komponierte, wußte sein Inneres als ein Zeughaus gebrauchsfertiger Tausenddinge seiner Umgebung, die er von allen Seiten, in jedem Licht abgezeichnet und gemalt hatte; er hatte den Kopf voll Pläne, und so fehlte ihm eigentlich Nichts als die Bekanntschaft des weiblichen Körpers, von dem er nur anatomisch und theoretisch Einiges wußte; doch über ihn hatte sein Vater, der ihm nebst dem Knecht ohne Scham als Aktmodell gedient hatte, sich einmal geäußert: er könne entbehrt werden.
Bruno war lang von Leib, etwas schlottrig in Knochen und unerschrockenen Herzens.
Er nahm eines Tages, nachdem der Knecht sich bereit erklärt hatte, das Besitztum einige Zeit mit der Magd allein zu verwalten, ein Lineal, um es wie jener Russen-Zar, der eine Eisenbahn wollte, über eine Karte im Atlas zu legen und von dem vermutbaren Ort, wo er sich befand, eine Gerade zu ziehen bis zu der Stadt Altenrepen. Mit Hülfe kleinerer Nebenkarten suchte er sich so viel Orte wie möglich, die von seiner Geraden berührt wurden, packte mit Umsicht einen Rucksack und dachte zu Fuß zu gehen, Viel zu sehen und Alles zu zeichnen. Nerven kannte Bruno damals so wenig wie späterhin jemals, so manches Ungemach er erfahren sollte, und deshalb auch keine Ungeduld. Und da ihm gelehrt worden war und er gelernt hatte, nüchtern zu empfinden noch in der Glut, noch in 114 Berauschung, so ließ er sich nicht hindern, die Vorfreude auf die Schwester zu teilen mit der Freude am langen Weg.
Und so verließ er denn sein unwohnlich gewordenes Haus, schwerer tragend an seinem Herzen als am Rucksack, frühmorgens, als der Nacht-Himmel noch voll war von Sternen. Unter ihren vielfältig strahlenden und wankenden Lichtern lag kaum erkennbar die Ebene, der er sich zuwandte. Noch stand er über ihr in der hohen Kühle, ein Unberührter, fest in seinen Waffen, die er für fest hielt, und er glaubte, sie leise klirren zu hören, als das Geheimnis der schon näheren Tiefe an sein Herz rührte. Bald darauf, da er hurtig bergab stieg, verschwand über der nötigen Achtsamkeit auf den schmalen Fußsteig im Dunkel aus seinen Sinnen Alles bis auf das leise Rauschen seines Blutes im Gehör und das laute Geräusch seiner Nagelschuhe in der noch immer nächtigen Stille.
Wir können nun, wenn es uns gefällt, den jungen Galba von hoch oben wie die kleinste Mikrobe über die deutschen Erdflächen hinkriechen sehen, von Ebene zu Ebene über die Grenzberge wie über die Ränder von Tellern hinwegkletternd. Als ein in sich selber Vertauschter wanderte er dahin; wie der antikische Sänger im Gedicht schlang er den Weg in großen Bissen, ohne zu kauen. War er denn nicht herabgestiegen vom Gebirge ins Tiefland, sondern hatte sich erhoben, als seien die Ebenen über Wolken gelegen? Das hatte er nicht gedacht, und als philosophisch nicht Ungeschulter würde er es bestritten haben, bevor ers 115 erlebte: daß ein Wechsel der Umgebung den Menschen in einen Anderen verwandeln könne. Doch war es Etwas der Art. Von dem beherrschenden Sinn seines Daseins, dem Auge, ging diese Veränderung aus. All die bekannten, den Dingen der Heimat verwandten und ähnlichen Dinge, Häuser und Gehöfte, die einzelnen Bäume und die Wälder, selber die Gefilde der Wiesen oder Äcker waren, wie in einer anderen Welt gelegen, andere als zuhaus. So war es in den Bergen, daß jedes Ding zusammengedrängt stand von unzähliger Nachbarschaft, groß und umrissen, jedes auf einem nahen, unweigerlich beschränkenden Hintergrunde von Wald, von Fels oder Berg. Hier dagegen lag jedes mit sich allein, preisgegeben an die achtlose Freiheit des Raumes, der das Alles großartig Beherrschende war. Jedes hatte um sich und hinter sich Nichts oder die Unendlichkeit. Geselligkeit, Zugetansein, das war das Wesen des Dort; hier war Einsamkeit, Unverbundenheit, Leere. Und wie erst war sein Himmel ein andrer geworden! Den er kannte und liebte, der war eine kleine, vertraulich gerundete Flachkuppel, in Festigkeit rundum auf die Mauern der Berge gesetzt, daß sie ihn trügen, und Sterne in Ruhe und Wolken in Bewegung waren sein leicht und still zu betrachtender Schmuck. Der hier aber, den überwogte vom Zenit herunter eine ewige Unrast des Stürzens, der die weitferne dünne Linie des Horizonts nirgend halt gebot, und ersichtlich war, daß er über sie hinweg und hinunter sich im Stürzen befand, Abgründen zu, deren Bodenlosigkeit zu empfinden war, fast zu sehn. Es war aber ein 116 Geheimnis dieses feinen Bandes von Erd-Rand, daß es magnetisch war für den Blick, den es ergriffen hatte im ersten Nu und nicht wieder ließ, und also hatte Ferne sich eingewechselt für Nähe, und Leere für Fülle, und Reiz und Verlockung für Ruhigkeit und nüchternes Sichdarbieten. Der Raum war Alles, was galt, die Unendlichkeit, sein Geist warens, die geboten, und dem an die beiden verlorenen Herzen blieb nichts als ein Wahnsinn, eine Zwangs-Einbildung, eine stille Raserei, das vorgespiegelte Ende des Unermeßlichen zu erreichen, Wandrer zu sein in einer von zehntausend Richtungen auf den Himmels-Rand, um hinunterzublicken in den Abgrund der Welt; um da wieder, ohne zwar Höhen erklommen zu haben, oben zu stehen, unter sich Tiefe.
Völker, die von den Hochlanden Asiens einst zu den Ebenen abgestiegen waren, sie hatten es nicht gesehn; aber Geschlechtern nach Geschlechtern der aus ihnen entstandenen Völker war endlich der Geist der Unendlichkeit zum Schicksal geworden, den Brunos erbkundiges Auge sah.
Und Bruno, der niemals den ewigen Rand erreichte, erstieg Hügel vor Morgen-Grauen, damit er die nur mitten im hohen Himmel gekannte Sonne heraufklimmen sehe aus dem geöffneten Schlund, so die Unterwelten verbürgend, wo sie ihre unablässige Wiedergeburt vollzog. Und er saß Nacht-Stunden lang auf dem Hügel, im Blick die Gestirne, die untergingen, bis sie verschwunden waren im Geheimnis der Nacht und des Raumes; oder die aufgehenden drüben, die in immer stärkerem Golde zu lächeln schienen 117 über eine Befreiung und fröhlich über ihren Aufstieg in die schöne sichtliche Nähe. – Fort war die Nähe bei Tag, und fort mit ihr war Sichbemühn, jener gute Geist, wie abgefallen die Hände. Was die Augen ergriffen, das glitt in die Füße hinunter und bewirkte die eintönige eine, die Tätigkeit und Bewegung des rastlosen Ausschreitens. Zu den Händen gelangte Nichts, die Kanäle waren verstopft, die Schleusen verschlossen, und kam es selbst ein und das andere Mal vor, daß ein Tropfen durchquoll – aus einer Baum-Gruppe, einem Gesicht, aus dem Blau einer Schürze am Zaun in dem Morgen-Nebel –, so verflog er, aufgesogen wie Tau, unter der glühenden Bedrängnis des Raumes. Die Dinge waren nicht mehr, was sie waren. Bruno legte den Maler schlafen unter den nächsten Baum und reichte dem lächelnden Dämon der Freude die Hand. Sein Leben war Lernen gewesen; er dachte, es könnte nicht schaden, wenn es eine Zeitlang Genießen wäre, und wenn die Wanderung auch geraden Weges Nichts lehrte, so würde sie lehrreich sein. Wir wissen allein durch Vergleichung; also hatte er sein früheres Leben nicht gekannt, dem die Vergleichungs-Mittel fehlten; sah nun, daß es schwer gewesen, an der erquicklichen, schönen, hoffnungsvollen Erleichterung.
Es geschah nun Bruno, daß er in der Lust, in der glücklichen Gier seines Wanderns einen ganzen Tages-Marsch weit an Altenrepen vorüberlief. Sein Weg hatte die Geradheit des Lineal-Striches niemals gehabt, deshalb nämlich, weil er die Städte vermied, die er, nach Durchquerung der 118 ersten: für diesmal zu viel des Guten nannte. So ließ er sich auf geschlängelter Bahn von seinem kleinen Kompaß nach Norden führen, nur wenn es not war, sich zurechtfragend. Er hatte, was hier bemerkt sei, ein vollkommenes Hochdeutsch sprechen gelernt, das der Hauch seiner Gebirgs-Mundart dem Hörenden nur angenehm machen konnte. Und gleichviel wie er, dem Ziel fast nah, in die Irre ging und – zu seiner Freude – in die Haide geriet, die sich im Norden der Stadt ausdehnte. Endlich, da es schon Abend wurde, fand er sich wieder im anmutigen Bruchland, inmitten von Wasserläufen und Hügeln, Birkenschlägen und Bauernhäusern, und er machte halt in einem sauberen Dorf in der Nähe der kleinen Stadt F., wo denn die Reise zur Schwester eine kleine Verzögerung erlitt. In dem Dorfe übrigens kam er insofern zurecht, als vor einiger Zeit ein Trupp junger Maler von Altenrepen aus allda eine Kolonie gegründet hatte zur weiteren Eroberung des Bruchs und der Haide.
Bruno suchte jetzt Nachtquartier. Da sah er über einen Hecken-Zaun und sah etwas Schönes. Auf einem Gras-Platze im Schatten, unter Obstbäumen, deren saftgrüne Kuppeln schön im Golde des Abends brannten, lag ein weiblicher Mensch in einem lichtgelben Gewand; der las, den Kopf aufgestützt, in einem Buch, das im Grase lag, und war zugleich mit der anderen Hand beschäftigt, eine kleine graue Katze wechselweis in den Schwanz zu kneifen und die Entspringende an den Leib zu drücken. Das Haar war schwarz, 119 das gesenkte blasse Gesicht schien schmal, die schwarzen Wimpern sehr lang, und die jetzt groß aufgeschlagenen Augen waren geschlitzt, die Sterne grau, unter fast steil aufsteigenden Brauen-Bögen. Sie lächelte nirgendhin und las weiter.
Bruno indes, im Fortgehen, bemerkte in einem Fenster des Bauernhauses, das wie alle in jener Landschaft das Strohdach mit seinem Erdgeschoß trug, die Aufforderung, hier ein Zimmer zu mieten, und er dachte: wenn irgendwo, warum nicht dahier?
Bruno mietete also durch Vermittlung einer freundlichen Alten ein ebenso freundliches Zimmerchen und hatte keine Viertelstunde später das seltene Erlebnis, mit einem weiblichen Wesen, der Schönen vom Obstgarten, zu Abend zu essen. Sie war, was die Alte verriet, die Besitzerin des Hauses, Frau eines Malers, doch vor Jahres-Frist Witwe geworden, eigentlich Schauspielerin; und sie vermietete, wie sie ihm selber erklärte, das Zimmer nur, um Gesellschaft zu haben. Er habe ihr gefallen und es deshalb bekommen. Seine vernünftige Art zu reden ergötze sie sehr, sagte sie auch, – während ihre kameradschaftliche Ruhe und Offenheit ihn mehr erleichterte, als er wußte; an der ihm freilich auch unbekannt blieb, daß die flüchtige Erscheinung seines Gesichts über dem Hecken-Zaun genügt hatte, sie hervorzuzaubern.
Bruno schrieb infolge der Entdeckung, daß dieser Übergang zu seiner Schwester überhaupt unerläßlich sei, einen etwas schwerfälligen Brief an den Vormund, in dem er die nötigen Erklärungen machte und um Erlaubnis bat, 120 die fremde Schwester kennen zu lernen. Das fast geschäftliche Schreiben schloß er mit der etwas wärmeren Wendung, daß er sich herzlich freue, alsbald das Antlitz einer ganz neuen Schwester zu sehen, deren Name sogar, durch Zufall, ihm unbekannt geblieben sei.
Darauf verbrachte er die Tage des Wartens heiter in der Gesellschaft seiner Schönen, deren etwas neblichtes Wesen bald zu durchschauen seinem durchaus klaren nicht schwer fiel. Spielen läßt sich ja jede Rolle, aber einen ganzen Tag lang ist schon viel, und sie wechselte häufiger. Offen sie selbst war sie nur in den Erklärungen ihrer Liebe an ihn; aber hier sah er wieder falsch, der sie für Spiel oder Laune oder Scherz hielt. Das Einzige, was ihm Ernsthaftigkeit an ihr zu sein schien, war ihre Leidenschaft fürs Theaterspielen, das sie im Winter wieder aufzunehmen gedachte; hier sparte sie selbst die Schminke der Emphase und ließ eine kalte, bronzene, echte Haut sehn.
Am vierten dieser vergnüglichen Tage hatte Bruno die Antwort auf sein Schreiben, folgendermaßen:
»Ihr Brief höchst überraschenden und gewiß erfreulichen Inhalts trifft mich in solcher Überbürdung mit Geschäften, daß ich nur kurz meine größte Freude äußern kann, Sie in Bälde zu begrüßen. Es darf Sie nicht abhalten, daß meine Nichte, Ihre Schwester, sich zur Zeit noch in ihrer Londoner Pension befindet, da ich sie mit jedem Schiff erwarte. (Sie zieht die Seereise vor.) Kommen Sie getrost jederzeit, und hoffen wir, daß meine Nichte spätestens mit Ihnen selber hier eintreffen wird.« 121
Der Brief war Maschinen-Schrift; ein handgeschriebenes Postskript enthielt noch die Zeilen: »Es ist nicht unmöglich, daß eine Geschäfts-Reise mich selbst nächster Tage für kurze Zeit entfernt. Meine liebe kleine jetzige ›Haushälterin‹ Helke, Schwester meiner verstorbenen Frau, soll Sie bestens betreuen.«
Den Bruno ärgerte an diesem Brief Nichts so sehr wie der Name Helke, und er äußerte seinen Unmut gegen die Schauspielerin – sie nannte sich Jetta –, daß die Menschen Namen für Kinder suchten bei Hunninnen und Attila-Kebsen, und fand sich, abgeschreckt von der Erscheinung eines lederbraunen Gespenstes, um so weniger zur Abreise gedrängt, als die liebliche Nähe ihn hielt und die Schwester ferner als je schien.
Und doch war er drei Tage später unterwegs. – Sie waren im Kahn gefahren, auf dem kleinen, in Windungen das heitere Bruch still durchziehenden Fluß in einem der langen Kähne, die vom Heck mit einer Stange dahingestoßen, gestakt werden. Sie hatten hinter Buschwerk am Ufer die Kleidung mit Schwimm-Anzügen vertauscht, hatten gebadet, wieder den Nachen bestiegen. Endlich war die Jetta, die an einer sonnigen, von Weiden-Gebüsch umschlossenen Uferstelle zu landen wünschte, aus dem Kahn an Land gewatet, wo sie sich unter Buschwerk, die Arme ausbreitend. hinwarf. Aber Bruno, der schon im Folgen war, blieb mitten im Wasser stehn. Denn er sah plötzlich Alles; sah das Weibliche und die ganze, die wie enthülste Schlankheit der fremden Glieder, die gleich einer Kernhaut der 122 nasse, grüne, anliegende Stoff auch da nicht verhüllte, wo er sie bedeckte, und das war sehr wenig. Wenig ja, und deshalb wars viel zu viel und zu früh für den Bruno. Er fühlte sein leibliches Brennen in der Kälte des Wassers, gewahrte indem, daß der Kahn, den hinter ihm seine Hand hielt, sich loszog, und er sammelte sich, schob ihn ans Ufer, machte ihn fest, nahm sein ewig leeres Skizzenbuch daraus hervor, erstieg die Ufer-Böschung, hockte sich hin, fing an zu zeichnen. Sie hatte die Hände hinter dem Kopf und die Augen geschlossen. Er zeichnete ihren Umriß, bis sie wirklich entschlafen war, planlos; dann gab er sich Mühe.
Unteilbar war er; konnte nur immer ganz sein, was er sein sollte, und hier war nur ein kleiner Teil seiner Ganzheit ergriffen. Sein Herz war noch zu geschlossen, und es sollte andere Gewalten brauchen, um es zu sprengen. Er packte bei Nacht seinen Rucksack und war vor Morgenrot unterwegs.
Am Kopf des Briefes hatte gestanden: Gut Thalmann und Stöcken bei Altenrepen. Daß dieses Dorf im Norden der Stadt gelegen sei, hatte Bruno von Jetta erfahren, und er befand sich, durch Umfragen geführt, bei Sonnen-Untergang auf einer Landstraße, die vor einem breit hingezogenen hohen und grünen Gitter ein Ende nahm. Darüber unfern erhoben sich die Obergeschosse, Dächer und Türme eines burgartigen, aber anscheinend nicht alten Gebäudes. Bruno ging bis ans Gitter und sah hindurch. 123
Da war geschorener Rasen; war in der Mitte das steinerne Becken einer Fontäne, auf dessen Rand eine Weißgekleidete saß, umringt von vielerlei und unsäglich buntem Geflügel, nämlich zwei Pfauen, mehreren goldroten Fasanen, Tauben und einer Menge schwarzweißer Elstern, jener schönen, prinzlichen Vögel, von denen Bruno sich eine Anzahl daheim befreundet hatte, also daß er sich innig freute, die dort Verlassenen hier in der besten Gesellschaft wiederzufinden. Die sitzende Nymphe streute lachend und plaudernd Futterkörner aus einer blauen Schüssel nach allen Seiten. Aber plötzlich zu einer überraschenden Höhe ihres Wuchses sich aufrichtend, wobei zwei lange Haarflechten schwarz vorn herunterfielen, die Arme von sich streckend, ließ sie die Schüssel ins Gras fliegen und stand so, rosigen Gesichts, blitzender Augen, wie eine Triumphierende im Tumult der bunten erschreckten Vögel, radwerfender Pfauen und hochflatternder Elstern, die auf ihre Arme herabfielen. Sie hatte den Bruno noch kaum gewahrt, als der, in allen Sinnen und Geistern verwirrt, am Gitter hin fort und weiter staubige Feldwege ging, zwischen Saaten, unter Lerchen, unter rosigen Abend-Wolken, eine Viertelstunde Unendlichkeit, ohne Etwas zu sehen, ohne anzuhalten.
Oder er nahm doch Alles wahr, das Genannte und mehr; nur sah er es anders, als er jemals Etwas gesehen; sah es vielleicht wie die Noten einer großen Musik, die auf ihm gespielt wurde, und deren Akkorde wieder, da sie sich aus ihm lösten, zu Mohn-Rosen und Saaten-Grün, zu 124 Lerchen-Stimmen und Licht-Wolken wurden. Helke, dachte er; die wars, Helke. Keine Hunnin, ach nein, kein Gespenst; der Brunnen des Lebens! – Und der widerwärtige Name war ihm in einem Nu hold geworden, ja unwahrscheinlich schön und kostbarer als Eleonore oder Beatrice.
Nun wandte er sich, erkannte ferne die Burg, ging wieder zurück und sah bald durch den Abend-Schein die große weiße Gestalt sich entgegenkommen. Sein Herz schlug schwer an und ging langsam und ruhig. Als sie vorüberkam, am Arm einen Schutenhut, lächelte sie abgewandt vor sich hin. Oh, wollte er sagen, was lächelst du denn! – Aber was er stehenbleibend hervorbrachte, war die Frage, ob dies Haus Thalmann sei, die sie erwiderte: Gewiß, und gewiß sei er Herr Galba.
Sie ging neben ihm zurück und war fast so groß wie er selbst, also ungewöhnlich groß für ein Mädchen. Er verglich ihr Gesicht einem Pfirsich, obwohl es so rund nicht war, aber so rosig, so frisch, so saftreich. Die Augen waren blaugrau, jedoch strahlenvoll, ja feurig, und sie hatten zuweilen einen Aufschlag, schräg nach oben, der kinderhaft scheu war.
Sie plauderten bald; er vernahm von einer kurzen Abwesenheit des Onkels, und sie fragte nach seinen Bergen, die sie flüchtig kannte, und meinte gutwillig, es müsse schön sein, da zu Hause zu sein. Indes erwiderte er nach einem Augenblick ruhig, seiner Wanderung eingedenk: »Wie kann man wissen, wo man zu Haus ist, wenn man nur immer zu Hause war! Mein Vater war dort Bauer, 125 italienischer Herkunft, und schwor, er sei so gut in Toledo daheim wie Theotokopuli, der ein Kandiot war.«
Die Entgegnung aus diese schwer verständliche Rede war eine Frage nach dem merkwürdigen Namen, der eine Handhabe bot zur Erzählung von einem sehr merkwürdigen kalekutischen Hahn, der so groß war wie schön und nur nicht mehr jung; der infolge davon beim Erscheinen eines neuen, so kleinen wie unschönen, aber jugendlichen Hahns von der Schar aller Hennen verachtet und ausgeschlossen wurde, darüber in Schwermut verfiel und geschlachtet wurde. »In der Natur«, sagte Helke, »ist Alles so einfach.«
Bruno schien es nicht einfach, daß er sich in diesem Augenblick, ohne zu wissen wie, zwischen Wirtschafts-Gebäude und Geflügel versetzt fand; doch gewann er sich im Anblick des Heimatlichen und sah das Mädchen an. Plötzlich trat es mit einer fast heftigen Gebärde dicht vor ihn hin und sagte – der erste Mensch, dem er aufrecht stehend ins Auge sah: »Oh, Sie müssen mein Freund sein! Wollen Sie? Ach bitte!« Sie seufzte, und ihr Auge hatte das scheue Aufwärtsschweifen: »Es ist so gut, daß wer da ist!«
Sie hatte seine Hand ergriffen, blickte flehend und setzte hinzu, bevor er erwidern konnte: »Ich erkläre es Ihnen, wenn wir Freunde geworden sind.«
Dann führte sie ihn an der Hand in das Haus. Blumen, Raden und Mohn, die sie aus dem jungen Korn hervorgeholt hatte, sah er sie noch in seinem Zimmer in eine Vase ordnen; sah sie entschwinden mit einem Lächeln und einem 126 Knicks, ging ihr nach bis zur Tür, ließ sich dagegen fallen und schluchzte aus seiner letzten Tiefe herauf: »Oh, wie liebe ich dich, Helke! Oh, wie liebe ich dich!«
Ein Tag war vergangen und Abend geworden: Bruno lag in dem kleinen waldigen Teil des Parks, halb unter Buschwerk verborgen in einer alten Gewohnheit, nahe über sich Blätter zu haben, deren reine Gestaltung fest blieb, dieweil er träumte, und so dachte er Helkes.
Untertags waren sie auf dem Gange von irgendwoher nach irgendwohin unter dem höchsten Turm vorübergekommen, wo zwischen kräftigen Ulmen eine besonders starke und dichte Eibe stand. Da sah er das Mädchen blaß werden; sie griff nach seiner Schulter und wandte, sich an ihm haltend, langsam das feuchte Auge zur Turmhöhe hinauf. Endlich und leise sagte sie: »Vor einigen Tagen bin ich da heruntergefallen. Der gute Baum fing mich auf.« Sie schwieg und seufzte, sah ihn an und fuhr fort: »Nein, glauben Sie mir, ich bin gesprungen und nicht gefallen.«
Sie zog ihn weiter, und was sie ihn nun wissen ließ, war das Folgende. Ihr Onkel, ein Mann in den vierziger Jahren, hatte zu ihr eine zwar nur sinnliche, aber deswegen um so hitzigere Neigung gefaßt. Er verfolgte sie, dringlicher seit kurzem, weil ein junger Mensch, ein Gutsbesitzer der Nachbarschaft, sich um sie bemühte. Jetzt im Anschluß an seine Bewerbung, die der Onkel ihr überbrachte, und die sie ohne weiteres ausschlug, warb er selber um sie, 127 drängte sie, wollte sie in die Arme ziehn und liebkosen. Sie mußte fliehen, konnte ihr Zimmer nur auf Umwegen erreichen, fand ihn vor der Tür, floh besinnungslos aufwärts statt abwärts, floh im Turm hinauf, erreichte die Plattform, schwang sich auf die Brüstung – und als er erschien, drohte sie, leidenschaftlich und unerschrocken, wenn er nur einen Schritt tue, so sei sie unten. – Ja, sagte der verblendete Mensch aus seiner Flamme, in meinen Armen! – und sie ließ sich fallen.
Helke schloß, indem sie meinte, sie habe doch wohl gewußt, daß der Baum unten bereit sei. – Und nun, sagte sie anscheinend unbedacht noch, nun gehe sie mit Jedem, der sie fortnehme.
Hieran dachte Bruno. Mit Jedem, flüsterte er, o nicht mit Jedem! – Er war auf der Plattform gewesen und hatte die Höhe, die gering schien von unten, von oben schwindelnd genug gefunden für einen lockeren Sinn. Aber der ihre war fest, nein heroisch, und schwang sie kühn über die natürliche Seelen-Grenze hinaus in ein höheres Leben, – und wen sie liebte, den – oh, wen sie liebte . . .
Da hörte er auf, an Helke zu denken, sondern er dachte sie, dachte sie nur mit solcher Inbrunst, daß sie bald darauf vor ihm stand.
Er regte sich nicht, und sie tat, als ob er nicht da wäre, indem sie sich niedersetzte vor seinen Füßen, doch ihm den Rücken wandte. Sie hatte einen kleinen Strauß Himbeeren gesammelt und begann ihn über die Schulter mit Beeren zu werfen, im Wechsel mit anderen, die sie in den Mund 128 schob. Dann sagte er aus einer Not-Gelassenheit zu der Abgewandten: es wäre doch gut, daß sie seine Schwester nicht sei. – Da sie unverstehend: Warum? fragte, so verbesserte er sich: er habe sagen wollen, daß seine Schwester nicht da sei und dafür sie. Aber nun schien sie noch weniger zu verstehen und schwieg.
Er hatte sich aufgerichtet, ihr Antlitz kam langsam über die Schulter zu ihm, und sie blickten sich in die Augen, bis ihre Lider sich senkten und er zitterte. Nun stand sie auf in ihrer Art, die er schon einmal gesehen hatte, ohne die Hand zu stützen, nur mit der federnden Kraft ihrer Fußgelenke langsam zu ihrer Größe sich aufrichtend. Sie ging in den Wald hinein, aber die sein Herz spannende, herrlich elastische Bewegung zog ihn auch von der Erde empor, und er hatte sie bald eingeholt. Im Augenblick, wo er ihre Hand ergriff, geschah ein allmächtiger Schlag, und in einem Nu waren sie beide verdoppelten Leibes, jeder hinübergefahren in den des Andern, nicht mehr wissend, wo er endete, Nichts mehr wissend, besinnungslos, in Feuer, in Süße, in einem Ausbruch aller Sinne und Seelen, der sie ins Jenseits versetzte. Dann sah Bruno zwar eine in flirrendem Grün entschwindende weiße Gestalt, aber an seinem feurigen Munde hing noch fest der andre von übermenschlicher herzraubender Süße, unlöslich, und sein Leib kam ihm unbegrenzt vor wie der eines Riesen.
Er lief ihr nach. Aus dem Wäldchen gelangt, am großen Gitter entlang eilend, sie vor sich, die er einholen wollte um jeden Preis, sah er ein Automobil vor dem Tore halten, 129 dem eine kurze Männer-Figur entstieg. An der vorüber, ohne sie anzusehen, lief Helke ins Innre des Gitters, und er gewahrte noch ihre Flucht hinter den Stäben, während ein kleiner bartloser Herr auf ihn zukam und ihn sehr herzlich begrüßte. Er hielt sich steif in der feinen Kleidung, und sein glattes Gesicht ohne viel Ausdruck als den von Geschäfts-Sinn und Kälte hätte Bruno nicht gefallen, auch wenn er Nichts gewußt hätte. Er selber, barhaupt, in seinen Wadenstrümpfen und der Joppe, glaubte verwildert auszusehen und hörte verworren die mit Betonung gesprochenen Worte: »Nun, mein lieber Herr Galba, Sie scheinen sich in meinem Hause ja vortrefflich zurechtgefunden zu haben.«
Zu Abend speisten die Beiden allein, wobei der Fabrikant von aller Art Malern und Malerei verständlich zu plaudern wußte; jedenfalls sich bewandert erwies in allen Galerien Europas. Nach Beendigung der Mahlzeit aber erschien, die sich hatte entschuldigen lassen, Helke wie eine Märchen-Gestalt, dunkel erglühten Gesichts und hoch schweifenden Auges in einem weitärmeligen und langen Falten-Kleide von gelber Seide, das mit schwarzweißen Elster-Flügeln bestickt war. Ohne die Anrede des Onkels zu achten, ging sie ins Musik-Zimmer hinüber, wo ein Flügel stand und ein Cello lehnte, entzündete Kerzen und setzte sich mit dem Cello.
Ein zitterndes Frieren überfiel Bruno, als beim Stimmen die rollenden und knarrenden Wald-Stimmen der tiefen Saiten erschollen. Felsen schienen zu tönen, und dies war 130 der Augenblick, wo er ins Himmelreich eintrat. Die große Heilige saß über den Sangschrein gebeugt und streng gewordenen Gesichts im Scheine der Lichter, und der mächtige Bogen-Arm und die zierlich kletternden Finger entfesselten den Stolz und die Ewigkeit einer engelskühnen Musik, in deren Gewoge sein Herz verging und zu Glanz wurde wie Licht in Gewässer. Dann wieder griff Schrecken auf Schrecken aus der Allmacht von Tönen in seine Seele, so daß er erwachte und, in geheimnisvolle Dämmerung einer entlegenen Himmels-Kammer entrückt, die Engelin sah, die Siedlerin am Gottes-Berg; und ein Blitz des Erkennens, daß all Dieses, Wunder der Gestalt und der Kraft und der Seele, für ihn lebten, sein gehören wollten, hüllte ihn in Flammen der Demut ein.
Das Cello war verstummt, Helke verschwunden, Bruno fand sich allein und blieb, wo er saß, im Schatten der langsam tiefer brennenden Kerzen. Wie groß, dachte er schwer, muß ich werden, um würdig zu sein? –
Dann: um zu seinem Zimmer zu gelangen, mußte Bruno an Helkes vorübergehen. Ihre Tür öffnete sich, als er den heißen Boden des Flurs betrat; sie hatte das gelbe Kleid noch an, lächelte angstvoll und glühend, und sie erschöpften sich zwischen Tür und Angel in Umschlingung und Küssen noch einmal, bis ein Laut im Treppenhaus Helke ins Zimmer scheuchte, und er entlief nach dem seinen.
O diese Nacht, kaum begonnen, war endlos lang; Bruno, ins Bett gewühlt in seinen Kleidern, wartete, als eine Uhr elf schlug, noch Minuten und schlich zur Türe, der Schuhe 131 schon ledig. Etwas, das er in seinem Leben zuvor kaum jemals bedacht hatte, und so riesengroß es auch schien, war das Einzige, was jetzt möglich war. Hätte er nachdenken können, so mußte er eingestehn, daß er das Mädchen Türme hinaufgejagt hätte und ihr nachgesprungen wäre. Er gelangte lautlos bis vor ihre Türe, aber hier fehlte der Mut. Diese Tür war nicht zu besiegen, die Hand fiel in Staub auf der Klinke, er lag an der Wand daneben mit Kopf und Armen, aus sich emporgewunden, – denn jetzt hatte die Qual nicht, wie am Tage die Lust, einen andern Leib, in ihn überzuströmen. Doch war sie Augenblicke danach wie verzischt, und Bruno kniete hin und drückte still einen Kuß der Liebe auf die unbetretene Schwelle.
Ein anderer Morgen kam und veränderte Alles. Am Frühstücks-Tisch, als die Drei sich zusammengefunden hatten, erklärte der Onkel, einen kleinen Scherz, eine Überraschung, die er sich erlaubt habe, gestehen zu müssen, und offenbarte Bruno und Helke als Bruder und Schwester. – Ob er schon vorhatte, nach dieser Mitteilung den Raum zu verlassen, oder ob er sich nur jetzt genötigt sah, wer wollte das sagen?
Die Geschwister Gewordenen saßen und sahen sich an, bis die Blicke wie verglühte Drähte zerfielen. Nun tanzte um Bruno der Raum; ihm ward von einer übermäßigen Kraftanspannung sterbensübel; er sah kaum durch lauter Tanzendes das Gesicht Helkes, das in die Hände vornüberfiel. Dann war er an einem anderen Ort . . . Noch 132 später erwachte er in seinem Zimmer auf dem Bett aus dem Schlaf.
Er hatte geträumt, Helke sei eingetreten, und nun saß sie wirklich bei seinen Füßen, und die Luft war dämmrig. Sie sah ihn nicht an und fragte: »Kann es nicht anders werden mit uns?«
Er empfand etwas Feindliches und sagte: »Nein.«
Sie hielt das Gesicht in Händen. Er fragte: »Was hat er damit gewollt?« Sie schwieg lange, sagte endlich fast leicht: »Bosheit wohl. Er hats versucht. Ach, und meinst du denn –« Sie verstummte und ließ nur, als er drängte, die Worte hervor: »– wenn es nicht so gewesen wäre . . .«
Dies begriff er zwar, aber den ganzen Gedanken, ob diese Leidenschaft, wenn sie gewußt hätten, sich nicht eingestellt hätte, den konnte er in dieser Stunde nicht ausdenken; viel später kam er zu dem Schluß, daß – wie es war, so war es. Es konnte nur dies geschehn; und wie einmal das Leben war, so geschah es auf diese Weise. Denn es hatte noch Keiner sein Dasein für sich allein, immer gehörten Andre dazu, Böswillige, Gutwillige, der Onkel hier und drüben sein Vater. Ja, lag nicht bei dem der Anfang zu Allem – und warum nicht dann bei viel früheren Vätern und Müttern – und mußte nicht, was mit einem Fehler begann, sich fortsetzen in Fehlern?
Jetzt wußte er das noch nicht, und was frommte es auch, zu wissen. Er lag und sie saß, und als nach langer Zeit beider Augen einen Blick ineinander versuchten, brachen 133 ihre Seelen ganz zusammen, nur Schreie stoben heraus, und Bruno war allein.
War allein und vor Morgen-Grauen unterwegs nach irgendwohin.
In der Stadt München, in einer Zeichenklasse der Akademie finden wir einen anderen Bruno wieder. Er war zerschmettert. Er war Ikarus, nur daß er lebte. Scheinbar von den Bergen hinab in die Ebene gestiegen, hatte er in Wirklichkeit Schwingen ins Morgen-Rot erhoben; hatte immer höheren, leichteren Flugs Gottes Gestirn überflogen, hatte die Kammer im Azur offen gefunden und vor der Jungfräulichen gekniet, der ewigen Schwester, dem höchsten Idol, der Unerreichbaren. Vielleicht war dieses der einfache Sinn; den Menschen trennt, wer er auch sei, Unmöglichkeit von der reinen Idee; und es war nur diese Art der Trennung von so leibhaftiger, so grausamer Gestalt, wie das Idol selber sich leibhaft gezeigt hatte. Es schien aber das Schicksal der Galbas zu sein, daß sie, jeder auf seine Weise, ein Höchstes sehn und geblendet werden sollten. Hier saß das Wunder in der weiblichen Seide der Elster-Flügel und zauberte die Seele der Welt aus einem braunen tönenden Schrein hervor; und dort hatte es die gespenstischen Augen des traurigen Griechen. Bruno war geblendet; die Sehkraft seiner Seele war erloschen bis auf einen Dämmer-Hauch, und nur seine Hände hatten einigen Kunstverstand und ihre ganze Geschicklichkeit behalten, so daß sie jede vorgelegte Aufgabe aufs gehorsamste getreu 134 erledigten. Bei Lehrern und Kameraden galt Keiner für so ungenial wie Bruno.
Er ging so von dahin zu dorthin wie Einer, der geführt wird, und war er allein, so war Leere. Untertag war es so; der Nacht-Raum indes zitterte von Ausgeburten der Grausamkeit. Sie stand vor dem Brunnen-Becken im Rasen, sie, die Seele, die Nymphe der Wasser, von paradiesischen Flügel-Tieren umwogt; und sie saß vor den Lichtern unsterblich. Die Folter-Schraube der Entbehrung zog an, und er schrie vor Schmerz.
Und wenn im Jahr der menschlichen Seele das Höchste wie das Tiefste, die Süße und die unerträgliche Bitternis ihre Fristen haben; und wenn der Schmerz wolkig wurde und neblig und sich gar völlig verzog, so quollen nun aus dem zerrütteten Mark in das geschwächte Gebein Gifte und Krankheit von gleichsam natürlicher Art: es begann das Grausen, die Raserei des Geschlechts. Nun wucherte die Nacht, nun strotzte der Leib, gebläht von Wahnsinn seiner Lüste. Bruno stürzte ihn die Treppe der Dirnen hinunter und im Triumph seiner Verzweiflung dem Abgrund der Seuchen zu. Aber am Rand riß ihn der Ekel zurück, er wandte sich und ergab sich der Fata Morgana: sich selber. Graue Tage und einsame Orgien der Nächte. Es war bald ein geheimes Abkommen zwischen ihm und sich selber geschlossen, dergestalt, daß er in jeden Schlaf nur durch das Tor des Entschlusses einging: Morgen fahre ich zu ihr; denn eine Möglichkeit des gemeinsamen Lebens muß sich schaffen lassen. – Und dieses Abkommen erteilte 135 ihm die Erlaubnis zu dem vorhergehenden Raub an sich selbst, zum Hineinreißen der fatamorganischen Geliebten in seinen schmelzenden Leib. Er ermordete sie, und er schwang sich wieder mit ihr wolkenhoch und zu einem Hochmut der Götter, daß er schrie: Haben nicht Sigmund und Siglinde gelebt, und haben sie nicht Sigurd gezeugt? Und lebten sie nicht leibhaftig, so sind sie um so tiefer wirklich gewesen, geistige Geschöpfe eines ganzen Volkes, das eine höchste Liebe in der Umschlingung der Wälsungen begriff und verherrlichte. – Griechenland stieg auf, wo ein Unerlaubtes in gepriesenen Gliedern lieblich und edel schien, und über Asien und Ägypten zeigten sich riesige Königs-Geschwister, viel zu hoch, viel zu kostbar, als daß ihr Blut sich anders vermischen durfte als mit dem eigenen. Sie Beide aber, er Bruno und sie Helke, waren sie minder vereinsamt in der Menge und minder königlich im Geist, eine selige Cäcilie sie, ein Bruder, wenn er nur wollte, Tintorettos und Theotokopulis er, wofür als geheimes Zeichen sie Beide das Volk um Hauptes-Länge überragten? Oh, warum waren nur seine mächtigen Lebens-Geister so gebunden von uralten abergläubischen Gebots-Fesseln! Und oh, warum duldete er diesen Irrsinn der Welt, die nur jene Sünden verfolgte, die ein Mensch dem anderen zufügte, nicht aber die der Mensch selber sich antat aus Not! Oh, alle Raube und Morde, alle Gewalttaten und Schändungen der Menschheit, die kein Gesetz-Auge sah, die der Einzelne einsam an sich beging! 136
Der Morgen kam und zeigte in der aschgrauen Hand die großen Goldfiguren der Nacht, bleigegossene, kleine, verächtliche Männlein.
Bruno, wie schon gesagt, lernte richtig zeichnen, die verschiedenen Arten der Farbmalerei, porträtieren, Jedes, soweit die Geschwächtheit seiner Augen gestattete, die ihn stets nur ein Einzelnes sehen ließ, niemals ein Ganzes; will sagen eigentlich Teile nur, weil es kein echtes Ganzes giebt, das nicht erbaut wäre aus Teilen, – und so verlebte er längere Zeit bis zu dem Tage, wo er auf einem Anschlagzettel des Theaters den Namen Jetta Sandlers las und sein Dasein sich änderte.
Die Frau hatte ihn wirklich geliebt, und nun, wo sie den unbestimmbar Traurigen wiedersah, mit einer Stille bekleidet, die größer war, als er selber zu wissen vermochte, und die sehr verlockend abstach gegen den Masken-Lärm ihres Lebens, verfiel sie in eine Leidenschaft, deren schöne Wirklichkeit sie entzückte. Nun hatten die damals eben beliebt gewordenen Frauen-Gestalten der Ibsenschen Stücke sie befähigt, ihre Kunst so zu entfalten, wie sie brennend sehnte, und um die Zeit des Wiedersehens hatte sie begonnen, als Hedda, als Nora gastweise von Bühne zu Bühne zu ziehen. Sehr gelegen kam da ihrer Ruhmbegierde die Begegnung mit Bruno: ein berühmter Maler, der er schon werden sollte, konnte ihren Glanz und sie wieder den seinen fördern.
Brennender, lebendiger, stolzer, ja härter; geistiger und durch alles Dieses auch schöner geworden, besiegte sie Bruno 137 rasch, unwissend, wie sehr er willenlos war, nicht viel mehr als ein Holz, dessen Natur es ist, im Feuer zu brennen. An eine Sommer-Reise glücklicher Flitterwochen – denn Bruno fühlte sich so erleichtert, als habe die Verantwortung für sein Leben ein Anderer übernommen – schlossen sich nun die Reisen durch die deutschen, auch ausländischen Städte, und Bruno fand sich, er wußte nicht wie, zum Porträt-Maler geworden. Er malte nicht schlecht; ja, sogar, wenn ein Charakter von Ernst und Gewicht ihn in sich zog, so leistete er in der impressionistischen Art, die sich von selber in seine Finger gefunden hatte, Bedeutendes. Entsetzt nach vergeblichem Warten war lange der Genius entflohn und die entkräftete Seele gefolgt; nicht mehr wissend, was es ist, sich nach innen zu wenden, das vorsichtige Netz in den Weiher der Geheimnisse hinabzulassen, oder nur zu lauschen, wie es vom Grunde heraus dunkel murrte, bis der Schein eines Geister-Antlitzes freudebedrohlich erschien: war er hohl und befand sich leicht im beständigen Wechsel der von außen ergossenen Fülle. Er hatte die Menschen nun gern, er fand nichts auszusetzen an ihrem Treiben, weil er an sich selber Nichts aussetzen durfte; er hatte sie zu malen, und das Handwerk machte ihm Freude.
Dann freilich kam der Tag mit der unausbleiblichen Stunde, wo es ihm einfallen mußte, eine alte, noch aus väterlichen Zeiten stammende Mappe voller Proben und 138 Entwürfe zu öffnen. Nachmittag wars, er allein in der Werkstatt; und er grauste sich.
Den Inhalt der Mappe brauchte er nicht erst zu vergleichen mit den halb oder ganz fertigen Maler-Arbeiten um sich her. Er saß von ihnen abgewandt vor der Glaswand, unter sich abendsonnige Dächer, in einem beständigen Schluchzen. In welcher Stadt bin ich? fragte er. In welchem Leben bin ich? Wozu hier? Wie alt? Wem gehöre ich zu? Er wußte Nichts außer dem Zermalmenden: daß er an der Unsterblichkeit vorüberging. Aber ein Chor verschütteter Stimmen schrie: Umkehr!
Er brauchte keinen Entschluß zu fassen; er war ganz fertig, als er vor der Türe den Schritt seiner Frau vernahm, dem er anhörte, daß die Liebe zu ihr schon lange so flüchtig geworden war wie Erinnerung. Da sie eintrat, stand er auf und sagte zu ihr:
»Liebe Jetta, ich habe eine alte Mappe geöffnet und gesehen, daß es eben der letzte Augenblick ist, wo ich umkehren kann. Wir wollen uns trennen und dankbar sein für die Zeit. Wir liebten uns, aber ich glaube, wenn du dich recht besinnst, wirst du erkennen, daß wir es nicht mehr tun. Es ist ein Schein wie die Bilder hier.«
»Ich glaube,« sagte sie, »du hast recht.«
Dann kam sie zu ihm, faßte seine Hände, blickte ihn gut an und sagte: »Ich muß freilich bleiben, wo ich bin. Aber, Bruno, wir kennen die Zukunft nicht, und wir können ja denken, daß nur eine Pause nötig ist und daß wir uns wiedersehen.« 139
Sie begann zu weinen. Das war ihre Natur so, die durch das ständige Theaterspiel bestärkt worden war in der Nachgiebigkeit gegen Erschütterungen. »Hoffentlich«, sagte sie, »geräts dir zum Segen.«
»Und dir auch«, schloß er dankbar und hoffnungsvoll.
Dies war in München. Am folgenden Morgen, einem Juni-Tag, um die Stunde, wo die Häuser der Bauern leer sind von Menschen, die sich dann hier und da in den Wiesen sehen lassen, die Sense schwingend oder den Rechen, trat Bruno in den alten Geruch des kühlen Hausflurs und gleich links in die Wohnstube. Die war unverändert, und er wandte sich, und siehe da, zwischen Fenster und Türe im vollen Licht hing Toledo im Gewitter.
Später einmal, wenn Bruno an diese Stunde zurückdachte, so war ihr Wesen kaum faßlich vor Unscheinbarkeit. Das Bild hatte ihn nicht erschreckt; er war sogar nahe getreten, hatte es auf Schäden geprüft, und dann erst, als er vor ihm saß auf der Bank unterm Fenster, hatte er erkannt, daß es ihn festhielt. Es hatte, dunkel wie es war, Strahlen in ihn gesenkt, die im Spektrum nicht sichtbar sind, ultra genannte Strahlen jenseits unserer sinnlichen Grenze. Da war sie wirklich geworden, diese hochgelegene Stadt, die in Feen-Schlössern aus dem Weltuntergang hochflog, unter Wolken, über Wolken, zwischen schwefligen Scheinen, eine geisterhafte Tänzerin aus Licht, eine Erscheinung von überirdischer Sicherheit, von zerrissenen Tälern und Schlünden, von zerrissenem Gewölk und Himmel, von lauter Zerrissenheit umringt. Bruno war hergekommen, um von 140 vorn anfangend der Maler zu werden, zu dem er bestimmt war, und nun saß er schon lange im Versagen. Unmerklich hatte ein Blitz seinen Quell aufgesaugt, er war versiegt. Und als er es wußte, sah er im Bild der Gewitter-Stadt das Bild seines Lebens gemalt, worin es den einen Aufflug gegeben hatte, für Blitzes-Dauer, hinter dem die Nacht in Zerrissenheiten versank.
Das wars, was er sah, und es war genug, und es brauchte nicht aus dem Gespenster-Licht seines Bildes das traurige Antlitz zu treten, das mit dem spitzen Bart und der spitzen Stirn, mit den abstehenden Ohren, das Gesicht des schaurigen Griechen, das aus runden Augen unter den Kreisbögen der Brauen ins Nichts blickend zum zweiten Male zu Galba sagte: Du kannst nicht. –
Eine Kinder-Stimme, laut aufweinend durch eine plötzlich geöffnete Türe, weckte ihn aus der Erloschenheit. Nun fiel ihm ein, wessen er noch vor der Haustüre mit Vorfreude und etwas Beklommenheit eingedenk gewesen: daß er hier eine kleine Tochter hatte, im ersten Ehejahre von Jetta geboren, ein Sommer-Kind, weil nur in den sommerlichen Wochen der Erholung hier sichtbar, aufwachsend in der guten Luft bei seiner Pflegerin und Erzieherin, ein stilles Geschöpf, ihm wenig bekannt. Jetzt erinnerte er sich auch, daß nur die Wohnstube im Haus unverändert war; der Stall und der Heuboden waren ausgebaut, ein neuer Stall und Boden daran, denn die Landwirtschaft hatte er nicht aufgegeben und in den Sommern gern zu Sense und Rechen gegriffen. 141
Bruno erhob sich und ging dem leiser gewordenen Weinen nach in den Oberstock, wo eben eine Tür zufiel und das Weinen verstummte; öffnete behutsam die Türe und sah in den kleinen und niedrigen Saal. Das Kind saß in seinem Schulpult am Fenster, die Lehrerin hielt es am Ohrzipfel und skandierte: »Eine diebische Elster.« Trotz der Sommer-Wärme waren die Fenster geschlossen und die Luft übelmachend mit einem Gemisch von Medikamenten und Parfüm. Unvernunft und Bosheit, die walteten hier im Verein.
Da er sich nun bemerkbar machte, so wandte sich das Gesicht her, das zart war und lieblich trotz einer kräftig gebogenen Nase und tiefliegender Augen, und gleich lag der kleine Leib und der Kopf, groß von herumgewundenen lichten Flechten, an seiner Brust. – Und Bruno begann die dritte Veränderung seines Lebens mit einer Berichtigung der menschlichen Irrlehre, welche der Elster, einem schönen und sinnvollen Vogel, weil er das selbe tut und denkt wie der Mensch, daß ihm nämlich wohlgefällt, was glänzt, und er sichs verschafft, wenn er es sieht, einen Schandnamen machte aus seiner, des Vogels, Unkenntnis der Gesetze. Danach wurde er, was sein Vater gewesen, ohne freilich nur in einem Traum zu bedenken, daß es so war: Bauer und Lehrer seines Kindes. Nur fing er, völlig verzichtend, das Bildschnitzen nicht an.
Das Kind Dorothee schien schmächtig und zart, aber die Blumen-Gestalt war frisch und markig und zähe. Zwiespältigkeit schien einmal das Wesen der Galbas sein zu 142 sollen, und so hauste im feinen vornehmen Äußeren dahier eine ländliche, wiesenliebende Seele. Die Natur selber schien in das zärtliche Zeltlein der Menschenhaftigkeit eingezogen und reichte sich selber von drinnen nach draußen die lebendige Hand. Der mählich Heranwachsenden galt es ganz gleich, schwitzend am heißen Bauch der Kühe zu zapfen, das Heu zu wenden, Ziegen ans Licht der Welt zu verhelfen oder Blumen in Töpfe zu ordnen, im Mondschein zu Traum zu werden und Märchen zu hören, lange hinlauschend, aus der eintönigen Gesprächigkeit des Brunnen-Rohres. Sie liebte das Ganze, liebte es mit dem Wesen, kaum mit ihrem Bewußtsein, und Worte machte sie nie daraus, ausgenommen die Kosenamen für ihre Hühner und Gänse und die erworbenen Freundschaften der Elstern, mit denen sie endlose Kinds-Geschwätze vollführte. Bäume und Büsche und selber die strengen Felsen waren ihr freundlich gesinnt, öffneten sich der liebevollen Vernunft, redeten verständliche Sprache.
Schwerer wahrhaftig waren die, welche der Vater lehrte, denn es wurde nun Alles wieder wie einst: Homer kehrte zurück und Herodot, Cornelius Nepos und Ovid, und die uralten Verse rollten in Perlen-Frische über die willigen Lippen verjüngt. Nichts wurde es dagegen mit der Malkunst. Sehr sonderbar allerdings war es für Bruno, zu sehen, daß die zeichnerische Begabung des Kindes die seines Vaters und Großvaters nicht nur vereinte, sondern übertraf; daß es aber der allzeit verschwenderischen Natur beliebt hatte, an dem sonst vollkommenen Organismus diese 143 Blüte zu überzüchten, so daß sie unfruchtbar blieb, unbefruchtbar vom Geist des Lebens, eine erstaunliche Fingerfertigkeit, unabhängig von allen doch vorhandenen Seele-Kräften, für das Kind selber ein Müßigspiel, Tand und Vergnügen. In späteren Jahren zwar schien es, als sollte Kunstgewerbe daraus werden; Phantasie griff doch zu, schuf geheimnisvolle Zusammenfassungen und -stellungen kristallinischer, pflanzlicher, tierischer Formteile, in denen der Verstand des Vaters, oder ihr eigener, Muster für Buchpapiere erkannte, oder für Töpfer-Waren, oder für Stickereien. Allein sie blieb bei den Nadelarbeiten, die auch am besten paßten zu ihrem früh fraulich werdenden und dem häuslichen, ländlichen Wesen. Daß es bald fraulich wurde, war gut eingerichtet von der Natur, die sich gern fördern ließ von der kindlich erratenen Einsamkeit des gattenlosen Mannes. – Es war Alles wohl eingerichtet im Haus; die Mutter konnte dabei sein, wenn sie wollte, sie störte Keinen. Freilich, da hier Keiner Neigungen hatte, die sie, außer einen Sommertag lang, teilen konnte; da, je schöner der Sommer war, in der ständig vergrößerten Wirtschaft Keiner Zeit hatte für sie: so kehrte sie immer seltener und zu kürzerem Aufenthalt ein. Brunos vergangene Liebe stellte sich nicht wieder her, und die letzte Wärme der ihren erlosch aus Mangel an Nahrung. Sie lernte, soweit sie noch dessen bedürftig war, das ihre in den Städten zu finden. Den Rest nannten sie Freundschaft.
Ich weiß nicht, ob Bruno in jenen Jahren auf die Frage: bist du unglücklich, Freund, oder glücklich? eine Antwort 144 zur Hand gehabt hätte. Vielleicht hätte eine Frage ihn erinnert, ihn geweckt wie den Wandler im Mond und gestürzt. Es fragte aber nie Jemand, zum wenigsten er selber. Der gegen sich selbst gerichtete Wille des Menschen ist eisenstark, und er ist es mit einem geheimen Triumph, wenn es gilt, einen Teil des Ichs zu verkerkern. Hier war dazu nur nötig gewesen, Toledo im Gewitter zu entfernen, und – wer sich nie im Spiegel erblickt, muß wohl seine Züge vergessen. –
Dorothee stand nun in ihrem siebzehnten Jahre, in festen Schuhen, zierlicher Gestalt, blond wie das Korn, tiefäugig wie der Wald, eine ausgedachte Freude der Natur. In diesem Sommer blieb ihre Mutter länger im Hause, als den eigentlich Hineingehörenden erträglich war, zumal die Äußerung erschreckte, sie wolle ganz dableiben. Das führte insgeheim zu leidenschaftlichen Beteuerungen der Tochter an den Vater: was die Mutter nur wolle; er habe ja sie, die ewig bei ihm bleibe, ewig – so ewig, daß es ihn stutzig machte, daß er sie ins Auge faßte, sie reif geworden fand und, für sich selber erschreckend, inne wurde, daß er mit ihr nicht verfahren durfte wie sein Vater mit ihm.
Jetta, die Mutter, war ihres Treibens müde geworden und nahe daran, bitter zu werden. Sie hatte im vielfältigen Wechsel ihres Theater-Lebens die immer gleichen Schnüre zu fassen bekommen, an denen sichs drehte, sie hatte die Höhe ihres Könnens erreicht, glaubte zwar, sich noch sicher auf dem Kamme zu halten, aber wo kein Aufstieg mehr war, da auch keine Freude. Von Niedergeschlagenheit 145 erfüllt, bildete sie sich ein, nicht nur die Bühne – mit so viel Ekel beschmutzt –, sondern die ganze bewegte Buntheit der Zusammenhänge entbehren zu können; und jedenfalls ließ sie mit Wohlbehagen die tausend unsichtbaren, kleinen, doch scharfen Beißzangen der Gebirgs-Luft ihr Gesicht benagen, Puder und Farbe aus den Falten säubern, die sie gleichzeitig mit den ländlichen inneren Mitteln zu glätten bemüht war. Die kaum Vierzigjährige begann in der Tat zu blühen, und sie sagte: Wo ich blühe, da bleib ich.
Aber es kam der Herbst, die Fanfaren der Theater bliesen zum Angriff in aller Welt. Jetta wollte nicht spielen, sie wollte nun spielen sehen, und Bruno willigte aus verständlichen Gründen ein, sie nebst Dorothee für kurze Zeit nach München zu begleiten. Dorothee war untröstlich und flehte tausendmal, sie zurückzulassen. Allein Bruno blieb fest, nach München zu fahren, – um dort, endlich, seine Schwester wiederzusehn.
Das hatte er nicht geahnt, das bedachte er am wenigsten in dem wunschlosen Augenblick, wo er, der späten Oktober-Sonne froh, an der Bank im Englischen Garten, auf der Helke saß, seine Tochter vorüberführte. Helke sprach, auf ihren Sonnenschirm gestützt, zu einem fremden Kind, über das sie sich beugte; sie blickte auf und traf seine Augen, aber sie erhob sich augenblicks, als ob sie die Beiden erwartet hätte, und sagte: »O Bruno, deine Tochter!« Und weiter: »Bruno, wie gleicht sie unserer Mutter!« 146
Sie war sehr lebhaft, übernahm selber die nötigen Aufklärungen an das Kind – auch hier Jedes richtig erratend –, und Bruno hatte Zeit, sich zu sammeln und zu erkennen, daß es überflüssig gewesen war, zu erschrecken. Dies war nicht Helke; es war eine wundervolle mütterliche Frau, blühend oder reif, wie man will, in jener Frist der Alterslosigkeit, schön, als ob sie von Feuerbach gemalt und lebendig geworden wäre, und sie konnte ja recht wohl seine Schwester sein. Dorothee, von drei Münchener Tagen in sich gescheucht, entfaltete sich beglückt wie ein Zitronenfalter an der großen und herzlichen Blume; am Ende kam Bruno sich vorübergehend vor wie die ausgehülste Puppe dazu.
Sie berichteten sich Einiges aus dem inzwischen vergangenen Leben, und wenn Helke auch nur die Stücke sehen ließ, die dem Auge des Mädchens zuträglich waren, so kann doch das Ganze hier mitgeteilt werden.
Am Morgen nach jenem Tag wartete Helke eine neuerliche Bedrängnis durch den Onkel nicht ab; sie warf sich auf ihr Pony und jagte es die halbe Gehstunde zum Gute des jungen Gerhart zur Pahlen. Als er das Zimmer, in dem sie zu warten hatte, betrat, war sie an der hinter sich geschlossenen Tür stehen geblieben und stieß hervor: »Ich schenke mich Ihnen! Da haben Sie mich!« die Worte fast zornig wiederholend, weil er sie augenscheinlich nicht gleich verstand; worauf sie auf einem Stuhl in Tränen ausbrach. – Sie hatte aber viel Glück, ja, sie gründete ein langes wachsendes Glück mit dem heftigen blinden Schritt. 147 Gerhart blieb vom ersten Tag bis zum letzten der Ritterliche, Dankbare, Beflissene. Leidenschaft kannte er nicht; er liebte sie, solange der Zustand Liebe genannt werden konnte, und ging danach über zu der achtsamen Freundlichkeit, die ein guter Halt der Mehrzahl von Ehen ist, die glücklich genannt werden, und nicht nur von den Zuschauenden. Die innerlich nie verwandt Gewesenen mußten sich allerdings mit der Zeit entfremden. Er war Landwirt, aus Freude und mit Verstand; da er alle geistigen Reiche gutherzig ›Südamerika‹ nannte, ein Land, das er nie zu besuchen gedachte, so war folglich sein aristokratisches Leben in zwei ungleiche Hälften geteilt: Arbeit und Erholung, wie er sagte: Mistfahren und Stadtfahren, nämlich in den Kreis seines Regiments und dessen Vergnügen an Pferden, Tänzerinnen, Wein und Spielkarten, deren verschiedene Arten er sämtlich, weil ohne Leidenschaft, zu Niemandes Schaden betrieb. Sie dagegen, Helke, hatte ihr Cello und ihren Sohn.
Der hieß Hans Wilke, war aber ein Galba und sah daher nicht so aus. Seine an Bruno erinnernde Länge konnte sehr wohl vom Vater und den Pahlenschen Vorvätern herrühren, doch saß auf dem landadeligen Rumpf ein kleiner Kopf, schwarzhaarig und mit einem Gesicht, das in der Wiege quittengelb gewesen war, später sich ins Olivene färbte, – und Bruno erkannte mühelos, trotz bläulicher Augen, die Züge seines Vaters wieder. Dem glich er auch darin, daß er Bauer war, nur freilich mit einer mehr bewußten Leidenschaft als jener. Zu diesem 148 hatte er, ohne geistig in irgendeinem Betracht fruchtbar zu sein, einen scharfen Verstand, Neigung zur spekulativen Philosophie – in den Mußestunden versteht sich und auch dann nur, soweit es die andere, für seine Mutter freilich beste Begabung zuließ, die für Musik. Wohl ging ihm die vollkommene Musikalität seiner Mutter ab; aber das Klavier behandelte er musterhaft, allein, als Begleiter des Cellos, im Trio und Quartett. Nun war er neunzehnjährig, hatte eben die landwirtschaftliche Hochschule hinter sich und war jetzt mit den Eltern in München, um sich auszuwechseln, Musik zu hören und die Berge zu sehen.
O ja, das war Helkes Leben gewesen. Im Garten wandelnd trafen die Drei noch Hans Wilke, und Helke sagte, mit Bruno hinter den Jüngeren zurückbleibend –, ohne viel von ihm erfahren zu haben, Alles ablesend von seinem Gesicht; sie sagte: »O Bruno, ich glaube: ich bin immer glücklich gewesen!«
»Frauen«, erwiderte er, sich angegriffen fühlend, »können wohl gar nicht unglücklich werden.«
»Wenn sie Mütter sind«, sagte Helke.
Er beschloß: »Ich bin ja zufrieden.«
Ihr Mann, den Bruno dann kennen lernte, enttäuschte, weil sie ihn sehr gerühmt hatte, indes gestand sie Bruno hernach, sie sehe ihn auf einmal anders in seiner Gegenwart und habe ihn wohl lange schon in der Blüte seiner jüngeren und der ersten Ehejahre gleichsam gefroren gesehn, überdies im Alles verklärenden Licht ihrer Leidenschaft zu dem 149 Knaben, dessen Vater er war. – Mit Aussehen, Gehaben und Kleidung in blonder Länge eine vollkommene und etwas altmodische Vornehmheit darstellend, beunruhigte er Bruno durch die unveränderliche Starre der im überschmalen Gesicht flach angebrachten Augen, welche Den nicht zu erblicken schienen, den sie ansahn. Wenn er den Humor, den er hatte, allein zu Offenbarungen seiner äußersten Langeweile benutzte, so langweilte die Hörer trotz der geselligen Form die Öde des immer gleichen Gegenstandes. Er war schlaflos vor Langweile, äußerte über die Münchener Prachtstraßen, daß die Ausdehnungen ihres Gähnens immerhin etwas Löwenhaftes an sich hätten, und prophezeite, sie würden ihn eines Tages mit unerwarteter Schnelle in die Flucht schlagen, – bis ihn der liebenswürdige Stachel der Jetta bewegte und er sich zu ihr gesellte.
Während nun Diese die Theater besuchten, in den anschließenden Nachtstunden die anschließenden Orte der Erheiterung, und infolgedessen die Morgen verschliefen, führte Bruno die anderen Drei durch Museen und Galerien, zu schönen Fassaden und Kirchen, ins Isartal und nach Starnberg, wobei ungezwungen die Paare wechselten, sie am liebsten jedoch viersam blieben. Hans Wilke nämlich und seine Mutter hatten das größte Behagen daran, ihre Stimmen zu erheben, miteinander zu streiten, sich zu überschreien. Die Dorothee fügte sich sauber dahinein, doch Bruno erklärte sich für die Pauke, die meisthin pausierte, dann aber erschreckte. 150
Bruno war tiefinnen mit sich selber beschäftigt. Ein Bild, der Entwurf zu einem Gemälde, hatte sich auf dem Punkt wieder gezeigt, da er Helke erblickte, als hätte ihr ausgeschlagenes Auge es ihm zugeworfen. Der Entwurf stammte aus seiner ersten Münchener Zeit, aber er hatte von der schwierigen Komposition nichts zustande gebracht als eine hingeknirschte Karikatur, die, weil das Bild der Sturz des Ikarus sein sollte, den Sturz eines Papierdrachens darstellte. Das Bild, ein Hochrechteck, war so beschaffen, daß in die unteren Bildecken sich je eine große, noch unbestimmte Gestalt voll Entsetzen hineinkrümmte, dem Mittelgrund zugewandt, wo die Gestalt des Stürzenden, die Arme in Kreuzform gebreitet und Kopf nach unten, anscheinend dicht über dem Erdboden schwebte, das Gewand an ihr wie ein Dreiecksegel, oben um die Füße gewickelt, verflatternd. Doch war zu sehen, daß diese nach dem Maß der natürlichen Perspektive viel zu große Figur über einer Tiefe hing, die vorn von einer Anhöhe verdeckt wurde. Von dem, was sie erfüllte, war dem Maler nichts deutlich als eine Meerbucht, von rechts her ins Bild gerundet; doch war dieser Busen, weich, aber in vergeblicher Tiefe, von einer – wie verdorbener Wein – braunen und so schrecklichen Farbe, daß er sich entsetzte, sobald er ihrer recht inne wurde. Die Farbe der Anhöhe sollte ein schreiend wollüstiges, ein nie gesehenes, aber tausendmal leiblich empfundenes, ein zischendes Grün sein, und die Gewandfarbe des Stürzenden ein düstres, nach oben ins Blaue 151 verjagtes Rot. Die Körper vorne waren wohl nackt, rosig und irgendwie violett angeschattet. Es war Bruno klar, daß der Schatten des Greco über diesen Furchtbarkeiten lag, aber das Bild brauchte nur erst das Meisterstück zu sein, die Meisterwerke verhießen sich hinter ihm. Die Arbeit daran und das Schwere waren nicht die Farben, die nur ein Blitz darin anzünden konnte, sondern der Aufbau nach oben, all die Linien und Flächen, die sich aneinander vorüber schoben und drängten, so verdrückt von dem hineingekeilten Sturz aus dem Raum.
Und während nun Bruno nach außen hin ununterbrochen beschäftigt war mit Erklärung von Bildwerken oder Architektur, Musik hörend oder auf die Wortgefechte seiner Gesellschaft, war in seinem Innern die Stille und lag darin ein Wesen, das seelische Untier, saugend mit allen Gewalten jenen Schmerz der Farben und die unmenschlichen Verschobenheiten aus der dämonischen Leere der Unendlichkeit. –
Diese schnellflügeligen Münchener Wochen fanden einen merkwürdigen, einen beinahe lächerlichen Abschluß. Bruno und Helke wurde ein an Beide gemeinsam gerichteter Brief ihrer Ehehälften überreicht, in dem sie in wenigen herzlichen Wendungen ihr geselliges Verschwinden anzeigten. Daß jeder der Bleibenden einen leiblichen Trost zur Seite habe, hatten sie, sich zum Trost, auch hineingeschrieben.
Helke war doch erschreckt und sagte: »Sie werden den Irrtum bald einsehen«, worauf Bruno erwiderte, vorderhand müßten er und sie sich wohl anders einrichten. Da 152 erkannten sie zuzweit, was hier vor sich gegangen war. Jene Beiden – oder das Schicksal – hatte sie zusammengefügt. Kam es ihnen für einen Nu so vor, als ob sie zwei Menschen wären, die, von verkehrten Ehen befreit, nun heiraten könnten? Und griffen sie deshalb sich zusammen, lächelten sich an, erfaßten sich bei den Händen, um sich zu beteuern, daß sie nun zuviert ein köstliches Leben anfangen würden? Es kam hierdurch, daß er die Schwester brüderlich an sich zog, und obwohl er nicht erwartete, daß die Küssegewohnte ihm die Lippen reichte, die ohnehin durch ihre körperliche Größen-Gleichheit dicht vor den seinen waren, so gelang dieser Kuß auch vollkommen.
»Brüderlein!« sagte sie leise. »Schwesterlein«, gab er das Echo. Dann sprachen sie schnell von anderen Dingen, ihr Ohr vor Etwas zu schließen, das sehr fern, aber schaurig geklungen hatte.
Allerdings waren sie nun doch sehr überrascht, und sie kamen lebhaft sprechend überein, die Jetta für die Anstifterin zu halten, für die Treibende jedenfalls zu dem tatsächlichen Schritt. Wie Helke ihren Mann kannte, so urteilte sie, daß es sich für ihn nur um ein bewegtes Erlebnis handle. Der allzeit Unleidenschaftliche, nie sich Nachgebende mußte wohl, wie ein Jeder, einmal im Leben die Handlung begehen, die ihm vorgeschrieben wurde von einer Macht über ihm; und weil es nicht eher geschehen war, so war dieser Zeitpunkt der Lebens-Wende der natürliche. Überdies, wie seine Frau ihm bekannt war, durfte 153 er sicher sein, jederzeit wieder aufgenommen zu werden, wenn auch nur als Vater seines Sohnes. Bei Jetta hingegen befeuerte sich der Schwung des Erlebens gewiß durch die Aussicht auf aristokratischen Glanz und großen Gesellschafts-Verkehr über benachbarte Güter und Ausland-Reisen.
Fast ruhiger nahmen die Kinder die Sache auf. Dorothee versicherte sich nach dem ersten Schreck der Gefaßtheit ihres Vaters und trug ihre Gleichgültigkeit offen. Ähnlich verfuhr Hans Wilke, der etwas väterlichen Humor übernahm und zunächst meinte, dies lasse sich ja fast wie Südamerika an. Worauf die Angelegenheit abgetan ward mit seiner letzten Äußerung: Ergeh es ihm nicht wie Onkel Guido.
Das war Helkes Vormund, welcher sich bald nach ihrer Heirat mit einer Sängerin versorgt hatte. Was er den Geschwistern zufügte, hatte er selber als einen kleinen Streich bezeichnet, und die rächende Nemesis verfuhr sehr gerecht, da sie ihn nur gelinde betrügen ließ.
Bei dem inneren Malen beharrte Bruno, auch nachdem er mit Helke und den Kindern in sein Haus eingekehrt war. Die Jahreszeit war Oktober, und da die umfängliche Wirtschaft so von ihm eingerichtet war, daß ihm selber die Hauptarbeit oblag, so hatte er den Tag über keine Hand frei. Die Kartoffeln waren zu ernten und einzumieten, das Obst zu brechen, alle Gemüse hereinzuschaffen, und zur Hauptsache kehrte das Vieh von der Alm – zweiundzwanzig Rinder und der Bulle –, war zu verpflegen, 154 und wie jedes Jahr stellte sich heraus, daß noch Streu zu schlagen war, nämlich Schilf unten in der Au des Stroms, das von Rindern mühselig und langsam heraufgeführt wurde. Hans Wilke griff munter zu, vornehmlich mit dem Munde, die längsten Reden haltend, weil es nah und fern keine Stelle gab, an der nicht eine Verbesserung anzubringen höchst nötig war. An den Obstbäumen ärgerte er sich insbesondere; sie gehörten nicht zur Wirtschaft, so reichlich sie standen, sondern waren die einzige nahezu mühelose Frucht für den Bauern der Gegend; nach Hansens Meinung schändlich verwahrlost, weil ganz ohne Hände-Pflege, die allein den raupen- und larvenlesenden Singvögeln überlassen wurde, und zahlreich waren die nicht.
Dorothee zwitscherte von Tätigkeit, aber für Helke war die Landwirtschaft eine zwar erfreuliche und gesunde, aber für sie selber exotische Sache, deren Einzelverrichtungen sie gerne zusah, äußernd, daß sich auch von Anderer Arbeit gut schläfrig werden lasse. Also wechselte sie von dem mangelhaften Klavier, das im Haus war, zum Zuschauen Brunos, wenn er, fast verschwunden im mannshohen Schilf, mit der zischenden Sense darin herumrauschte; oder sie hieß ihn in die Obstbäume steigen und entleerte, neben dem Korbe im Grase sitzend, den Pflücker. Wenn er die Leiter herunterkam, gaben sie sich einen Kuß.
Jener erste Kuß – warum hatte sie nichts gewarnt? – war ein erster gewesen. Die Möglichkeit der Küsse war eingerichtet, viele, unzählbare folgten, gekeimt aus dem ersten, und es ist fast ein Wunder zu nennen, daß sie volle 155 sieben Tage, daß sie eine Gottes-Woche von Montag zum Sonntag verbrachten, ohne eine Veränderung zu bemerken, nicht die immer heißere, längere Glut der Küsse, das Hinzukommen der Umschlingung, und daß bald jeder nur mehr eine Verlockung war für den nächsten.
Bruno schlief wie ein Toter des Nachts; sie versicherte ihm des Morgens das gleiche von sich. »Nicht einmal«, fragte sie, »von deinem Bilde träumst du?« Er hatte ihr etwas davon verraten; auf solche Fragen erwiderte er einmal mißmutig, es käme niemals zustande; ein andermal ergänzend: er warte nur auf den Blitz, der das längst fertige erlöste.
Und so kam der letzte Tag und die Flammen-Minute, wo sie aneinanderhingen, mit feurigen Mündern die Seele sich heraussaugend aus dem Leibe, zusammengeballt und erdefern hineingeschwungen in die Unendlichkeit, vorüberrollend am Paradies. Dann standen sie als Zermalmte da; denn jetzt, was war es jetzt? Jetzt hatten sie Bruder und Schwester sein wollen; sie warens gewesen; und wie sie es nun ansahen und nicht ansahen: jeder las von der Stirn des Andern das Zeichen. Bruno aber schrie – er schrie wohl zum ersten Male im Leben –: »Das Schicksal will es, das Schicksal will es! Die Menschen haben uns zusammengeworfen, jetzt wollen wir die Natur fragen! Wenn wir Kinder kriegen, können wir sie und uns noch immer ums Leben bringen, und haben wir keine, so spricht die Natur, und – o Gott! – sie kann wohl einmal die Ausnahme dulden!« 156
In dieser Nacht schlief Bruno nicht ein, sondern wartete nur elf Uhr ab, da er in Feuer lag wie eine Zündschnur von Anfang bis Ende. Im Innern des alten Hauses hatte er laut ächzende Dielen zu fürchten. Die Außenwand seines Zimmers war, wie sein Vater sie hatte machen lassen, aus Glas; er stieg durch die Fenster-Öffnung auf die Altane und in die schon eisige Nachtluft hinaus, die er nicht spürte, und ging um das ganze Haus bis zu Helkes Fenster. Ihm wurde bewußt, daß es wie alle in dem bäuerischen Gebäude mit einem Eisenkreuz vergittert war, doch auch, daß ihm, kaum daß er davor stand, wie Schwanen-Hälse zwei nackte Arme zuflogen. Nun, was sie Jeder von Kleidung am Leib hatten, das riß er herunter; lautlos, weil sie sonst geheult hätten, stürzten sie ineinander durch das Gitter. Das waren nicht Küsse, das waren Blitze, die einschlugen und lange zischten, und sie rissen sich blutig an den Stäben, sie mischten ihr Blut, tranken ihr Blut, sie liebkosten sich getrennt bis zur letzten Lohe, und sie stürzten als Ermattete auseinander, wie wenn ein gespaltenes Ganzes zerklaffte, und Jeder rücklings in seinen Abgrund hinab.
Der Morgen war wie die vorigen kalt, klar und rein. Durch sein Erwachen erfuhr Bruno, daß er im Schlaf gelegen hatte; nun fühlte er sich eher leicht als erschlafft, ja, in der Tat wie durchlüftet im ganzen Leib, und nur erst, als er aufstand, begann sein Schädel leise murrend zu 157 schmerzen. Er sah auf der Uhr, daß es später war als gewöhnlich, und hörte es an der Stille im Hause.
Als er die Wohnstube betrat, saß Helke abgewandt auf der Bank unterm nächsten der kleinen Fenster; den Kopf in die Hand gestützt, blickte sie, da sie groß genug war, hinaus. Sie wandte sich nicht und schwieg so wie er. Sein Frühstück stand auf der Ofenbank; ihn hungerte, und er saß hin, aß und trank. Dabei sah er sie nun am Fenster sitzen und bemerkte, daß ihre Haltung ähnlich der Iphigenie Feuerbachs war; ähnlich auch die schwarze Verschlingung lockerer Flechten in ihrem Nacken, und ein weinroter, flordünner Schulter-Schal ähnelte mit seinen bogigen Falten dem Gewande der Griechin. Nun war die Zeile da: ›Das Land der Griechen mit der Seele suchend‹, und vor seinem erbitterten Auge stieg es auf, Griechenland, wo sich Jünglinge in Ringschulen und Jungfrauen auf Inseln umschlangen. – Oh, gäbe es ein Griechenland! Wo wirkliche Freiheit wäre, wo die Lüfte Alles, was Liebe ist, segneten und verklärten und nur das nicht gälte, was finster und knechtisch ist!
Überdem löste Helke ihre Haltung, legte die Unterarme auf den Schoß, und wie sie den Kopf neigte, sah Bruno zum erstenmal wieder den scheuen Aufblick der Augen. Sie sagte, die Kinder, die sie von der Abreise habe verständigen wollen, seien nicht zu finden gewesen. – »Wir wollen uns umsehen«, sagte er und stand auf. Dann neigten sie Einer nach dem Andern den Kopf unter der niedrigen Türe. 158
Im Freien wehte es scharf durch die Sonne. Sie gingen am Hause hin, abwärts, dann den Weg hin, der von ihm fortführte, unterhalb der Kuppe, und hielten bei dem alternden Birnbaum an. Helke sagte: »Mag es nicht hier gewesen sein, wo unsere Mutter vom Vater gesehn wurde?«
Er nickte und setzte hinzu: »Mag es hier angefangen haben und mag es hier enden.«
Er faßte nach ihrem Gesicht; dabei wendete sie sich um, sah an ihm vorüber und rief leise: »Die Kinder!« Auch er wandte sich.
Hans Wilke und Dorothee kamen neben dem weißen Hause hervor und gingen an der Vorderseite hin, der Mann das Mädchen verdeckend, so daß beim langsamen Schwingen seiner Füße ihre kleineren Schritte dazwischen sichtbar wurden; und wie sie sprechend die Köpfe hielten, war zu sehn, daß sie einig waren.
»Vater und Mutter«, sagte Helke.
Die oberen Beiden machten halt vor der Haustüre, das Mädchen setzte sich auf die Bank, Hans lehnte am Türpfosten, und wie er redend sich beugte, und wie sie zuhörend nicht aufschaute, war zu sehn, daß sie schon lange einig waren.
»Wo hatten wir unsere Augen all die Zeit?« murmelte Bruno. – Helke erwiderte: »Sie sehn uns ja auch nicht.«
Aber in demselben Nu, wo oben das Mädchen ihre Arme hob und hinter dem sich Bückenden verschwand bis auf ihre über seinen Schultern liegenden Hände, ging in den 159 unteren Beiden etwas Unbeschreibliches vor sich. Etwas, das beschrieben werden kann in seiner Gestalt, doch unmöglich in seinem Wesen.
Die Gegend oben entrückte sich; das weiße Haus begann ein Gold aus sich zu strahlen, das nicht irdisch war, und so groß und deutlich es blieb, war es nun in wolkiger Höhe gelegen. Die Umschlungenen vor ihm verwandelten sich; ihre Kleider fielen nicht ab, und doch schimmerten sie wie klare Nackte, schimmerten sie wie beglückte Befreite, reine Geschöpfe der Natur, und als wäre der Dämon Geist ein Fluch und eine Wolke gewesen und von ihnen genommen.
Die Beiden unten jedoch, die dieses Gesicht erzeugten, spürten im Gefühl einer beseligenden Entkräftung ihr Blut von sich gehen und in diese so sehr Geliebten hineinschwinden. Das Gitter war gefallen. Sie, befreit und geklärt, er befreit und zu allen Aufgaben gekräftet, vollendete Geschwister: sie sahen, sie hörten über sich auf dem festen Berg ihr lange getrenntes Blut zu einem großen und dauernden Brausen zusammenfließen.