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11.
Das Gasthaus


Die Zahl der Gasthäuser ist in Wien Legion. Mehr als einmal hat sich uns die Frage aufgedrängt: Ist das Wiener Kneipenleben eine Folge der fabelhaft zahlreichen Wirthshäuser oder sind diese ein Produkt des Kneipsinnes der Bevölkerung? Die Wahrheit dürfte hier, wie überall, in der Mitte liegen. Faktisch ist soviel, daß man des Abends selten ein Gasthaus leer findet. Ist dies aber doch der Fall, dann trägt sicherlich der Wirth allein die Schuld.

Die Rangfolge der Etablissements, in denen man für Geld und häufig auch auf Kredit zu Essen und zu Trinken bekommt, ist folgende: Erstlich das Beisel oder die Schankwirthschaft vor den Linien. Das Wort ist ein etymologisches Räthsel. Um dem Sprachforscher das nöthige Material an die Hand zu geben, bemerken wir, daß der Wiener unter Beisel im Allgemeinen eine niedrige Kneipe versteht. Ein Gastwirth in der Stadt z.B. würde auf Injurie klagen, wenn man sein Wirthshaus ein »Beisel« nennen wollte. Die nächste Stufe ist das Bierhaus. Der Unterschied zwischen Bierhaus und Gasthaus besteht darin, daß in ersterem die Tische ungedeckt sind. Uebrigens bekommt man in den Bierhäusern auch Landwein, den sogenannten »Gulden« und »Thaler«, und da der Wiener die geringeren Weinsorten stets bricht, so servirt der Kellner, wenn man einen »Pfiff Gulden« verlangt, zu dem geringen Quantum Wein unaufgefordert eine Flasche Wasser.

Nach dem Bierhause kommt das Gasthaus. Gewöhnlich zerfallen diese Erfrischungsanstalten in zwei gesonderte Räume, die Schwemme, für den Plebs, und ein Extrazimmer, für die feinere Welt. Doch ist dieser Rangunterschied ein blos konventionneller, denn auch der Proletarier hat das Recht sich in's Extrazimmer zu setzen, wenn er gerade will. Da aber der Wiener jedes Standes vor allen Dingen seine Behaglichkeit verlangt, und der Mann des Volkes sich in Gesellschaft der feinen Leute unbehaglich fühlt, so geht er von selbst in die Schwemme. Das Extrazimmer besuchen auch Damen. Das schöne Geschlecht versteht sich in Wien überhaupt auf's Kneipen und trägt, was auch die steifen Norddeutschen dazu sagen mögen, durch seine Gegenwart im Gasthause nicht wenig dazu bei, den Ton in diesen Etablissements viel geselliger und anständiger zu machen, als er in ähnlichen Localen Norddeutschlands zu sein pflegt.

Nach den Gasthäusern kommen die Hotels. Diese haben den Vorzug, daß man auch Bier bekommt und bieten, was äußere Eleganz, Küche und Keller betrifft, das Vorzüglichste.

Die Gäste zerfallen, ähnlich wie in dem Kaffeehause, in zwei Kategorien: Stammgäste und Laufgäste. Die Unterschiede haben wir schon früher aufgezählt. Ihre Behandlung von Seiten des Dienstpersonals ist dieselbe wie im Kaffeehause, die Parole: Trinkgelder oder Seccaturen.

Das Personal des Gasthauses bildet eine Art Hierarchie, deren Oberhaupt der Herr Gastgeber in eigener Person ist. Ihm zunächst kommt der Zahlkellner, ausgezeichnet durch den schwarzen Frack, einen bis zum Nacken reichenden Scheitel, die Ledertasche unter den Schößen des Leibrockes und das Portefeuille. Jeder Wiener Zahlkellner ist ein Rechengenie. Das Dezimalsystem macht in seiner Hand die wunderbarsten Sprünge, besonders wenn er merkt, daß die Gäste anfangen mit den Geistern der gegohrenen Flüssigkeiten in Differenzen zu gerathen. In solchen Fällen ist es keine Seltenheit, Additionen wie 15 und 8 sind 27 aus seinem Munde zu vernehmen. Gewöhnlich trifft es sich, daß er während des Rechnens gerade einem seiner Untergebenen einen Verweis zu ertheilen hat; wie leicht schleicht sich dann ein Rechenfehlerchen ein. Da überdies die ganze Manipulation mit Windesschnelle von Statten geht, während hier Einer »Zahlen«, dort Einer »Feuer« ruft, so kann natürlich den Franz oder Jean kein Vorwurf der Unredlichkeit treffen, wenn zufällig ein mathematisch gebildeter Gast sich über seine Summirungen skandalisiren sollte.

Auch Privatfinanzoperationen macht der Franz. Häufig trifft es sich, daß der eine oder der andere Stammgast nothwendig 10, 20 oder auch mehr Gulden braucht. Franz kennt seine Leute. Er weiß, wem er trauen kann und wem nicht. Ist der Gast gut, dann streckt der Zählkellner ohne Umstände das Geld vor. Natürlich bekommt er unverlangt hohe Prozente. So ist es durchaus nichts Seltenes, daß ihm 20 fl. in 14 Tagen 5 fl. Interessen tragen. Wäre jedoch ein Gast so schmutzig ihm einfach die geliehene Summe zurückzugeben, oder fiele die Remuneration zu gering aus, dann ist Franz Weltmann genug, kein Wort zu sagen. Mit dem verbindlichsten Lächeln verleibt er das Geld wieder dem Portefeuille ein; aber dieses Portefeuille wird zum Buche mit sieben Siegeln für den niedrig denkenden Rückzahler, falls er wieder einmal die Gefälligkeit des Zählkellners in Anspruch nehmen will.

Manchmal geschieht es, daß der Stammgast das Vertrauen mißbraucht und Franz weder Zinsen noch Kapital erhält. Diese Fälle sind jedoch sehr selten und decken sich vollauf durch die Steuern der honetten Schuldner. Uns wenigstens ist kein Fall bekannt, wo ein Zahlkellner durch die Unredlichkeit seiner Debitoren Bankerott gemacht hätte.

Das Dienstpersonal, vom Franz en chef abwärts, führt verschiedene Benennungen. Zunächst kommt der Speisenträger mit der Anwartschaft auf eine Zahlkellnervakanz, dann der Bier- und Weinträger und zuletzt der Paria des Gasthauses, der sogenannte Gabelwichser, ein noch ungeleckter Landbär, dessen Functionen im Reinigen der Eßbestecke, dem Auskehren des Lokals und in Bedienung des gesammten Dienstpersonals bestehen. Die Kopfnüsse und »Schopfbeutler«, welche der Gabelwichser während seiner langen Prüfungszeit einsammelt, entziehen sich jeder Berechnung. Im normalen Zustande hat er rothgeweinte Augen und eine zerzauste Frisur. Seine einzige Unterhaltung bildet das Austrinken der stehengebliebenen Bier- und Weinreste und ein zeitweiliges Einschlafen beim Waschtroge. Das untergeordnete Personal steht im Solde des Wirthes, erhält von ihm die Kost und logirt in einer Art von Schubladekästen, welche während des Tages und des Abends den Gästen als Sitze dienen und eher mit jedem anderen Dinge Aehnlichkeit haben, als mit einem Bette.

Eine Calamität für den Ausländer sind die Wiener Speisezettel und zwar in doppelter Beziehung, erstens wegen der Namen der Gerichte und dann wegen der Ortographie. Auf den ersten Anblick hat die Speisekarte eine frappante Aehnlichkeit mit einer Litanei. Sechs bis acht Suppen, Rindfleisch in dutzendfacher Gestalt, eine lange Reihe von »Eingemachten« (worunter man aber bei Leibe kein Kompot zu verstehen hat), zehnerlei Braten, dann Mehlspeisen mit den wunderlichsten Namen und zuletzt Kompots bilden den Inhalt des interessanten Dokuments. Unter den Suppen figuriren braune mit Nockerln, Fleckerln, Ulmergerstel, Spazeln ect., lauter Benennungen, die dem unglücklichen Ausländer reines Chinesisch sind. Die Rubrik »Eingemachtes« weist Esterhazy-Rostbratl, junges Gansl, Reindlbeefsteak, Lugenbraten mit Obers, Stoffath u. s. w. auf. Bei den Braten stehen die bekannten Back- und Brathendeln obenan, welche in norddeutschen Berichten über das Wiener Wirthshausleben stets, Gott weiß warum, »Backhähnel« heißen. Einzelne Mehlspeisen führen Namen, zum Theil wahre etymologische Zahnbrecher, wie Strudel, Boffeesen (wol von dem italienischen pavese, eine Art runder Schilder), Frittatten (das italienische frittata), Fleckerln, Scheiterhaufen u. s. w. Von dem Namen auf die Speise zu schließen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es bleibt daher dem Ethnographen keine andere Wahl, als sich buchstäblich durch die Speisekarte durchzuessen. Dafür ist aber das Mittel radikal und kann Jedermann empfohlen werden.

Einen erheiternden Genuß bietet, wie schon gesagt, die Orthographie der Speisekarte, gewöhnlich das literarische Produkt Jean's, des Zahlkellners, oder Franzl's, seines ersten Ministers. Da liest man: Suppala rehn == soupe à la reine, Bifdeck allan gleh == Beefsteak à l'anglaise, Supp zandeh == soupe de santé, Pirreh == purée, Schotto == chau d'eau u. A. m.

Eine table d'hôte findet man in Wien nur an zwei oder drei Orten. In allen übrigen Hotels oder Gasthäusern speist man à la carte, eine Einrichtung, die ihr Gutes, aber auch ihre Schattenseiten hat. Zu letzteren rechnen wir den Mangel an Geselligkeit bei Tische, eine sonderbare Anomalie in dem sonst so geselligen Wiener Leben. Zwar giebt es in manchen Lokalen einen sogenannten Stammtisch, dessen Plätze, wie der Kellner sich ausdrückt, »vergessen« sind; die fünf oder sechs Stammgäste schließen sich aber von den übrigen hermetisch ab, und während man am Stammtische lacht und plaudert, nehmen die Einzelesser ihr Mahl in Schweigen zu sich. Man hört nichts als das Klappern der Bestecke und hie und da einen Ruf nach dem Kellner. Nur in besonderen Fällen, zu Kriegs- und Cholerazeiten, oder wenn irgend ein alle Welt interessirendes Ereigniß stattgefunden hat oder erst stattfinden soll, tauschen auch unbekannte Personen über Tisch ihre Meinungen aus. Sollte die Ursache dieses Sichabschließens vielleicht darin zu suchen sein, daß der Wiener das Essen als eine die Aufmerksamkeit ausschließlich beanspruchende Verrichtung ansieht? Fast scheint es so, denn beim Glase plaudert einer mit dem andern, ja der Wiener von ächtem Schrot und Korn hält es in Gesellschaft eines schweigenden Nachbars auf die Dauer nicht aus, sondern wechselt entweder seinen Platz, oder läßt den Murrkopf in der Ecke sitzen und knüpft, wenn es sein muß, mit einem Herrn vom nächsten Tische ein Gespräch an.

Eine andere Sonderbarkeit der Gasthausbesucher müssen wir noch verzeichnen, die auf den ersten Anblick dem Fremden auch keine hohe Meinung von der gerühmten Geselligkeit der Residenz beibringt. Tritt nämlich der Wiener in ein noch schwach besuchtes Lokal, so bestrebt er sich, falls er keinen Bekannten dasitzen sieht, einen Tisch für sich zu gewinnen. Der nächstfolgende Gast thut dasselbe und so trifft es sich dann zuweilen, daß man in einem Extrazimmer an zehn Tischen genau zehn Personen, jeden an seinem eigenen Tische erblickt. Die Späterkommenden müssen natürlich aus Tischmangel sich zu den anderen setzen. Nach einer halben Stunde plaudert indeß schon alles gemüthlich untereinander, die Speisenden, wie schon bemerkt, ausgenommen, es sei denn, daß einer der Nebensitzenden eine Bemerkung über das Aussehen oder den Geruch des Beefsteaks, machte, woraus sich möglicher Weise eine Konversation über kulinarische Interessen entwickeln kann, die aber kaum den Namen eines Dialogs verdient, weil der Nichtessende allein die Kosten des Gesprächs zu bestreiten hat, während der Kauende sich blos durch Nicken, zeitweiliges »Hm! Freilich! Glaub's schon!« und ähnlichen Lakonismen daran betheiligt.

Eine Landplage der Wiener Gasthäuser sind die Hausirer und Bettler. Da wird alles Mögliche feilgeboten, von Zahnbürsten und Briefcouverts an bis zu Lotterieloosen und ganzen Stücken Leinwand »auf Hemden« und Taschentücher. Alle Augenblicke wird man unterbrochen durch ein: »Bitte schaffen's a' Seifen, a' Wachspomad', Nagelfeilen« ect. ect., oder durch ein sanft gelispeltes »Bitt' Ew. Gnaden, i komm grad' aus'n Spital!« – Eine besondere Art Hausirer sind die mit Orangen, Feigen und kleinem Konfekt herumlaufenden »Gottschewer«. Diese Industriellen sind stets bereit ihre Gegenstände auszuspielen und organisiren im Handumdrehen eine Lotterie, wo man für sechs Kreuzer eine Büchse Sardinen gewinnen kann aber selten mehr davon trägt als eine Düte ( Skanitzel sagen die Wiener) schlechter Bonbons oder einige Orangen, die man beim Früchtenhändler um den halben Preis bekommt.

Der Wiener bleibt lange im Gasthause sitzen und begiebt sich dann womöglich noch auf einen kleinen Schwarzen in's Kaffeehaus, so daß es gewöhnlich Mitternacht wird, ehe ein Garçon nach Hause wandert. Auch viele Ehemänner haben zum Verdruß ihrer Gattinnen diese süße Gewohnheit aus dem Garçonleben mit in den Ehestand herübergenommen. Die Frauen sind indeß meistens so klug, der Krankheit auf homöopatischen Wege zu begegnen und gehen deshalb selbst mit ins Gasthaus, wodurch sie den doppelten Zweck erreichen, den Gemahl unter Aufsicht zu behalten und sich selbst dabei zu amüsiren.

Von der Konversation in den Gasthäusern können wir nur wenig berichten, denn diese entzieht sich dem Auge des Beobachters. Indessen gibt es einzelne Lokale, wo sogar das Gespräch seinen scharfausgeprägten Charakter hat. So ist z.B. irgendwo in der Leopoldstadt ein Gasthaus, in dessen Extrazimmer sich allabendlich die Taubenfreunde aus allen Ecken und Enden der Kaiserstadt versammeln. Hier wird von nichts gesprochen als von Tauben. Kein politisches Blatt dringt in den geheiligten Raum. – Oesterreich schloß das Concordat ab, – und die Stammgäste sprachen von 7 bis 11 Uhr Abends von einer neuen Gattung »Purzeler«; die Schlacht von Solferino ging verloren, und man debattirte über die bevorstehende Wickenernte. In einem anderen Stadtgasthause tauscht man jeden Abend seine Bemerkungen über das Anrauchen von Cigarrenspitzen aus. Meerschaum und Bernstein werden mit der Gründlichkeit deutscher Kathederweisheit abgehandelt; neue Anrauchmethoden werden diskutirt, approbirt oder verworfen; Prachtexemplare von Spitzen wandern im Futterale von Hand zu Hand, werden mit ehrfurchtsvoller Scheu hingereicht und in Empfang genommen, wobei der glückliche Besitzer ein Gesicht macht, wie eine junge Mutter, die ihren Neugeborenen zum ersten Male auf dem Arme eines Springinsfeld von Schwägerin erblickt. Beim rothen Hahn auf der Landstraße unterhielt sich Jahre lang eine ständige Gesellschaft damit, jeden Abend einem halbkindischen Obersten in Pension allerlei Schnurren vorzumachen. Als der Knasterbart starb, ging auch der Stammtisch aus dem Leime und die muntere Gesellschaft verlief sich. –

Eigentlich müßten wir nun noch ein Wort über die Wein- und Delikatessenhandlungen sagen, in welchen Kraft des Zunftzopfes nur kalte Speisen verabreicht werden durften (mit Ausnahme der sogenannten Frankfurter Würstl, die im Auslande den Namen Wiener Würstchen führen). Da aber diese Gattung von Erquickungsanstalten sich im Großen und Ganzen nur wenig von denen der übrigen civilisirten Welt unterscheiden, so schließen wir hiermit unsere vielleicht etwas allzulange Abhandlung über das Wiener Wirthshausleben indem wir dem Leser den guten Rath mit auf den Weg geben, er möge sich durch eigene Anschauung von der Wahrheit des Gesagten zu überzeugen suchen.


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