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7.
Die Traffik


»Ich glaube, die Oesterreicher rauchen auch im Schlafe,« rief eine norddeutsche Dame in Verzweiflung über den Tabaksqualm, der einen verfolgt gleich der »Freundschaft eines Tölpels,« sobald man den ersten schwarzgelben Grenzpfahl hinter sich liegen hat. In der That kann man, mit einer gelinden Hyperbel, den Tabaksqualm als die zweite Atmosphäre des Kaiserstaates ansehen. Der Rauchfanatismus in Oesterreich ist nächst den Trinkgeldern ohne Zweifel der erste Anklang an den Orient. Ein ächtes Wiener Kind raucht seine Cabano oder Milares mit derselben behaglichen Beschaulichkeit wie der Stambultürke seinen Tschibuk. Nichtraucher gehören zu den größten Seltenheiten. Da nun voraussichtlich diese Spezies in nicht allzuferner Zukunft gänzlich aussterben wird, so erlauben wir uns den Vorschlag, man möge doch im Interesse der Wissenschaft die letzten Individuen, von denen es authentisch feststeht, daß sie nicht geraucht haben, nach ihrem Tode wohlkonservirt in Spiritus dem Nationalmuseum einverleiben. Läßt man unsern wohlgemeinten Vorschlag unbeachtet, so werden die Zukunftsösterreicher sich eben so wenig eine Vorstellung von einem nichtrauchenden Menschenkind bilden können, als die jetzt lebende Menschheit von einem Mopse.

Der Wiener raucht überall, selbst im Bette. Ausgenommen sind nur die Kirche und die geschlossenen Bälle; doch ist bei letzteren unfehlbar für ein Nebenzimmer gesorgt, wohin sich die rauchdurstigen Seelen wenigstens zeitweilig zurückziehen können. Macht man mit Jemand Bekanntschaft, so kann man mit Sicherheit darauf zählen, daß nach einer Unterhaltung von fünf Minuten der neue Bekannte die Cigarrentasche hervorzieht und eine Cabano präsentirt. Häufig geschieht es auch, daß beide von demselben Gedanken erfaßt sich gegenseitig Cigarren offeriren. In einem solchen Falle wechselt man die Rauchrequisiten wie zwei außerordentliche Bevollmächtigte ihre Akkreditive. Auch Damen rauchen häufig und mit Recht, denn welch stichhaltiger Grund ließe sich finden, um der einen Hälfte des Menschengeschlechtes einen Genuß vorzuenthalten, den die andere um keinen Preis entbehren möchte? Allerdings befinden sich zur Zeit die rauchenden Wienerinnen noch in der Minorität; die Nichtrauchenden sind aber so tolerant, daß keine das Näschen rümpft, wenn man sich in ihrer Gesellschaft eine Cigarre anbrennt. Uns will es bedünken, als ob sie damit vollkommen in ihrem Interesse handelten. Ganz abgesehen davon, daß heute die Cigarre ein wichtiger Faktor im Gesellschaftsleben ist, steht es medizinisch fest, daß der Tabak konservirt. Wer weiß, ob die Wienerinnen ihre unverwüstliche Schönheit nicht zum großen Theile dem wohlthätigen Einflüsse des Rauches verdanken? –

Der Tabakverkauf ist bekanntlich Monopol in Oesterreich. Die Eigenthümer der Tabaksläden, Traffiken genannt, von dem italienischen traffico, Handel, sind also gewissermaßen Staatsdiener und sprechen nicht ohne Stolz von ihrem »kaiserlichen Geschäft.« Zu den Erfordernissen einer richtigen Traffik gehört vor allem dreierlei: Erstlich der nöthige Tabak, dann ein großer Adler über der Eingangsthüre mit der Aufschrift k. k. Tabakstraffik, und endlich ein gemalter Türke (in seltenen Fällen ist es auch ein Mohr), der behaglich seine Rauchwolken vor sich hinbläst. Von den weiteren Attributen einer Traffik werden wir später sprechen.

Was den österreichischen Tabak betrifft, so kann er sich mit Maria Stuart trösten: er ist im Allgemeinen besser als sein Ruf. Damit wollen wir jedoch nicht gesagt haben, daß alle Cigarren überhaupt gut seien. Vor allem ist der fabelhafte Konsum Ursache, daß die geringeren Sorten gewöhnlich schlecht getrocknet zum Verkaufe kommen. Läßt man sie indeß ruhig ablagern, so werden sie gut, oft besser als Sorten, die man zu gleichen Preisen »im Reiche« kauft. Ein scheußliches Kraut sind jedoch die sogenannten halben Kreuzer und langen Kreuzercigarren, nach dem jetzigen Münzfuße zu einem und zwei Kreuzern österreichischer Währung. Für Unglückliche, die diese Sorte rauchen müssen, kann der Philantrope nur das innigste Mitleid empfinden. Dagegen ist die frühere Zweikreuzercigarre (= 6 Pfennigen) ein ganz anständiger Glimmstengel, und wird von Vielen den Cabano à 1 Groschen vorgezogen. Eine ganz eigenthümliche Cigarre ist die Virginia oder Mailänder, auch Giftwurzel genannt. Diese Cigarre ist für den italienischen Konsum berechnet und findet sich in Wien nur sporadisch. Sie ist reichlich sechs Zoll lang, dünn wie das Röhrchen einer Thonpfeife und hat in der Mitte einen Strohhalm, in welchem sich ein Reishälmchen auf und ab bewegt um die nöthige Ventilation herzustellen. Nur ausgepichte Raucher können sich an diese Gattung Cigarren wagen; einem Sonntagsraucher wird es nach den ersten sechs Zügen unfehlbar übel. Auch eine politische Bedeutung hat diese Cigarre. So oft nämlich die italienische Propaganda mit Plänen gegen die Tedeschi schwanger geht, wird die Virginia in Bann und Acht erklärt. Uns hat dabei stets nur eins gewundert, daß nämlich die Feinde Oesterreichs diesseits und jenseits der Alpen nicht schon längst auf den Gedanken gekommen sind ihren zahlreichen Klagen über die kaiserliche Regierung auch die hinzuzufügen, sie wolle durch die Virginia ihre italienischen Unterthanen langsam vergiften. – Die Cigarren von der Cabano aufwärts sind ächte Havanna und ausschließliches Eigenthum der vom Glücke Bevorzugten.

Die Tabakstraffiken in Wien zeigen denselben organischen Unterschied zwischen Stadt und Vorstadt, der fast in allen Zweigen des öffentlichen Lebens zu Tage tritt. Dort Eleganz, Luxus, Raffinement, hier noch patriarchalische Einfachheit und primitive Kulturzustände. Machen wir einen flüchtigen Besuch in einer Stadttraffik und wenden wir uns dann zur Vorstadt.

Es ist gegen vier Uhr Nachmittags. Ein südlich milder Herbsthimmel wölbt sich über der Kaiserstadt. Das andauernde Regenwetter der letzten Tage hat die Sommervögel in die Stadt gescheucht. Kohlmarkt, Graben, Stock im Eisen und Stefansplatz sind wieder in Besitz ihrer Stammbummler getreten. Die Glasthüre der k. k. Haupttraffik am Graben steht weit offen wie zur Sommerzeit, und der von Meisterhand gemalte Türke blickt behaglich hinaus in das bunte Treiben auf dem Platze. Wir treten ein.

Die Cigarren sind nach dem Rangunterschiede streng von einander abgesondert. Der Plebs nimmt den Raum zunächst der Thüre ein, die Hautevolee liegt dagegen in aristokratischer Reserve auf dem hinteren Theile des Ladentisches. Wohlweislich hat der nur selten sichtbare Eigenthümer der Traffik sein Personal derart vertheilt, daß die ältere, dem synodalen Alter schon näher stehende Schönheit die geringeren Sorten verkauft, während zwei bildhübsche Mädchen, eine Blondine und eine Brünette, denn Abwechselung muß sein, die Milares, Regalias, Plantages etc. etc. unter sich haben. Bei den geringeren Sorten ist ein ewiger Wechsel des Publikums. Die Kupferkreuzer rappeln, die Zehnerzetteln fliegen hin und her, und die ganze Konversation beschränkt sich auf: »Sechs und vier sind zehn; danke schön. – Das Feuer steht hinten! – Milares? – Bitte sich nach hinten zu bemühen. Briefmarken haben wir keine, u. s. w.«

Anders sieht es im Hintergrunde des Ladens aus. Dort ist das Publikum stationär. Auf einem niedlichen Rohrdivan sitzen ein Husarenoffizier und ein eleganter Herr in Civil, jeder eine Regalia Nr. 3. im Munde. Ein blutjunger Kürassierleutnant lehnt graziös am Ladentische. Den vorderen Raum müssen die Mädchen auf strengen Befehl des Traffikanten offen zu halten suchen, damit die Laufkunden heran können. Die Blondine und die Brünette, beide Großmeisterinnen der Coquettirkunst, denn diese ist Hauptbedingung bei einer Cigarrenverkäuferin, haben für jeden, der da kommt, ein süßes Lächeln und einen freundlichen Blick. Mit bewundernswürdiger Geduld hören sie die Fadessen ihrer Verehrer an ohne dabei auch nur einen Moment das Geschäft außer Augen zu lassen. Die Mädchen sind für die Waare verantwortlich; da aber in Wien die Zahl der Ritter vom Griffe keine unbedeutende ist, so heißt es die Augen hübsch offenhalten.

»Aber Fräulein Adolphine« sagt der Husar zur Blondine, »wie können's den so hartherzig sein und dem Baron gar keinen Blick schenken? Er ist ja ganz abgehärmt und sitzt da wie Ritter Toggenburg.«

»Ach, der Herr Baron macht sich viel aus Blicken« versetzt die Blondine schnippisch; »er ist ja seit drei Tagen nicht einen Schritt zu uns gekommen.«

Der Baron ist ein junger, nichts weniger als geistreich aussehender Herr mit abgelebten Zügen und matten, wasserblauen Augen.

»Sie sind sehr boshaft, Fräulein« versetzt er, seine Regalia von dem einem Mundwinkel in den andern schiebend. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich unterdessen am Land war?«

Fräulein Adolphine schlägt ein helles Gelächter auf.

»Ja, wenn man Sie nicht gestern beim Strauß im Volksgarten gesehen hätte, wo Sie eifrig hinter einer jungen schwarzen Dame her waren.«

Der Baron macht ein dummes Gesicht und versucht etwas von Irrthum, Verwechselung u. s. w. zu stottern.

»Gefangen, gefangen!« rufen die beiden Soldaten. »Das Lügen hilft nichts. Also beichten! Wer war die schwarze Dame?«

»Pst! Pst!« sagt die Brünette sich rasch vorbeugend. »Der Schmachtlappen!« Die Konversation verstummt Ein etwa neunzehn Jahr altes Bürschen, im höchsten Grade geckenhaft aufgeputzt, einen Zwicker im Auge und mit funkelneuen taubengrauen Handschuhen bekleidet, schiebt sich durch die Käufer und tritt etwas schüchtern heran. Er lüftet seinen Hut und bittet um Regalia Nr. 3.

Die Brünette schiebt ihm ein niedliches Cigarrenkästchen hin. Während die Herren sich Mühe geben ernsthaft zu bleiben, hält Fräulein Adolphine das Taschentuch vor den Mund und unterdrückt ein Kichern.

Die Hände des jungen Mannes betasten mechanisch ein halbes Dutzend Cigarren, während seine Blicke unverwandt auf den Reizen der braunen Ernestine ruhen. Das allgemeine Schweigen, die Gegenwart der Offiziere und Adolphinen's Taschentuch-Manöver bringen aber nach und nach den blöden Schäfer außer Fassung. Er fühlt, daß er um jeden Preis etwas sagen muß. Indem er eine Cigarre herausnimmt, ihr den Kopf abbeißt und nach dem Spirituszünder langt, lispelt er mit wehmüthigem Blick auf die Dame seiner Gedanken:

»Die Cigarren sind doch frisch, mein Fräulein?«

Das war zuviel. Ein schallendes Gelächter bricht los, in das die boshafte Blondine einstimmt. Nur Ernestine empfindet eine Regung des Mitleids und begnügt sich zu lächeln.

Der junge Mann wird blutroth. Er zieht sein Portmonnaie um zu bezahlen, kann aber vor Verlegenheit den Bügel nicht öffnen. Da erhält er plötzlich Succurs.

Ein Herr entre deux ages und mit zweifelhafter Toilette ist an den Ladentisch getreten und verlangt Cabanos. Als er den unglücklichen Seladon erblickt, zieht er ehrerbietig seinen Hut.

»Ach! Herr von B. –,« ruft er, »sehr erfreut Sie zu sehen! Befinden sich immer? Schon zurück von Dornbach?« –

Der Name B. – hat eine magische Wirkung ausübt. Es ist die Firma eines der ersten Bankhäuser der Residenz. Das Lachen verstummt; selbst die schnippische Blondine betrachtet den »Schmachtlappen« mit größerer Aufmerksamkeit. Der junge Mann zahlt, wirft noch einen Blick auf Ernestine und verläßt dann in Begleitung des Nothhelfers den Laden.

Vierzehn Tage später sieht man Ernestine in reizender Toilette an seiner Seite in einer Parterreloge des Karltheaters. Was doch ein Name nicht alles zu Wege bringt! ...

– Doch nun in die Vorstadt.

Wir wenden uns auf's Gerathewohl nach einer der Seitenstraßen der Alservorstadt. Ein k. k. Adler über, ein grobgemalter Türke neben der Thüre belehren uns, daß hier eine Traffik ist. Zur Seite der Thüre hängt ein Briefkasten, auf einem Brete nebenan prangen fünf große mit Kreide geschriebene Nummern, darunter hängt ein langer mit Zahlen bedeckter Papierstreifen, in den eine Menge vertikaler Einschnitte gemacht sind. Jeder dieser Coupons, wenn wir die fingerbreiten und fingerlangen Streifchen so nennen dürfen, trägt drei beliebige Nummern. Eine Schaar alter Weiber, den untersten Schichten angehörig, ist eifrig mit dem Studium dieser Zettelchen beschäftigt. Hie und da reißt eine davon eines ab und tritt damit in den Laden. Hinter der unteren Scheibe der Thüre hängt ein Papierblatt mit der Aufschrift:

»Heute Abend sechs Uhr Schluß des zehn Kreuzer Spieles für Linz.«

Die Traffik ist also auch Lottokollektur und, wie der Briefkasten an der Thüre besagt, Post- und Stempelmarken-Verschleiß.

Der Laden ist ziemlich leer. Wir kaufen uns eine Cuba und beziehen mit Erlaubniß der Traffikantin, der Wittwe eines Subalternoffizier's, unsern Beobachterposten.

Ein böhmisches Dienstmädchen tritt ein. Sie hält einen merkwürdig gefalteten Brief in der Hand, auf dessen Siegel wir den Abdruck eines Neukreuzers zu sehen glauben. Von einer Adresse ist dagegen nichts wahrzunehmen.

»Ach, bitt' ich gar schön, Frau von Büchsel, wollma schreiben auf Brief Namen von Schatz meiniges?« lautet die Anrede. »Kann ich schreiben nur bissel böhmisch, aber Adreß muß sein deutsch für Post.« –

»Ei, ei, Marianka« erwidert die Wittwe gutmüthig, »schon wieder einen Brief. Nun, die Korrespondenz geht ja flott. Na, so geben's her. Wie heißt denn der Herzallerliebste?«

Bei diesen Worten taucht die Traffikantin die Feder ein und schickt sich zum Schreiben an.

Pistaliczek, Frau von Büchsel, haßta, Rahor Pistaliczek, Kurassir in drittes Schawidron bei Wratislawkurassir, liegt na Leitomischel in Böhmen.

»Herr Gott!« ruft die Traffikantin, »ist das ein Name!«

»O bitt' schön, verzeihens, Frau von Büchsel, hatma halt kein anderes Namen; muß schon damit zufrieden sein.«

»Na, ich glaub's« sagt die Wittwe, »aber wie schreibt man denn den Teufelsnamen? – Ich bitt' die kurzen Kreuzer stehen hier.«

Letzte Worte gehen einen Arbeiter an, der Cigarren verlangt hat.

»Rahor Pistaliczek« fährt die Schöne fort, Ra, a, ha; hör, or, hör; Rahor, Pis ...

»Langsam, Marianka« ruft die Traffikantin, »so kann ich's nicht herausbringen. Sagen's mir den Namen ganz langsam vor.«

Mit vieler Mühe wird endlich der Name zu Papier gebracht; der Brief erhält seine Marke, Marianka bezahlt und trollt sich seelenvergnügt. Unterdessen ist ein ältlicher Mann, dem Anscheine nach ein Kleinbürger, an den Ladentisch getreten.

»Ich möcht gern ein Paar Nummero setzen,« sagt der Bürgersmann. »Haben's vielleicht ein Traumbüchel bei der Hand?«

»Ah, Sie haben Nummero 'träumt,« erwidert die Traffikantin. »Ich bitt', erzählen's mir nur Ihna Traum, ich weiß das ganze Traumbüchel auswendig.«

»Na schauen's«, fährt der vorstädtische Pharao fort, »ich hab halt träumt, ich sähet mein' verstorbenen Bruder aber ganz splitternackt zur Thür hereinkommen.«

»Nackt?« unterbricht ihn Frau von Büchsel, »das ist No. 19.« Und sofort schreibt sie die Zahl mit Kreide auf den Ladentisch.

»Ja, und auf dem Arm hat er eine große schwarze Katz getragen mit feurigen Augen.«

»Eine schwarze Katz bedeutet Nr. 17, eine weiße 35. Wissen's aber auch gewiß, daß die Katz schwarz gewesen ist?«

»Ja wol,« betheuert der Träumer, »pechrabenschwarz.«

»Also 17. Weiter ...«

»Na schauen's, ich wollt ihn fragen, warum er in dem Aufzug kommt und was er mit der Katz wollt', als das Vieh auf mein Azorl, wissen's, mein Hunderl, losspringt und mit dem zu raufen anfängt. Ich greif nach'm Staberl um das Beest wegzuprügeln; wie ich mich aber umschau, weg war's und mein Bruder auch, und da drauf bin ich aufgewacht.«

»Und was ist der Azorl für ein Hundert? Ein Pudel oder Pintsch oder Dachserl?«

»Ein Dachserl, Frau von Büchsel, ein klein's Dachserl. Soll ich ihn vielleicht herbringen?«

»Ist nicht nothwendig. Ein Dachserl oder Pintscher bedeutet Nr. 88. Also 19, 17, 88. Hier haben's die Nummero.«

Die ganze Scene ist mit dem Ernste eines Orakels vor sich gegangen. Der Mann nimmt seine Anwartschaft auf ein Terno, bezahlt, zündet sich eine Cigarre an und geht, um einer anderen Glücksaspirantin Platz zu machen.

Diesmal liegt keine Gelegenheit zum Traumdeuten vor. Die Glücksaspirantin ist ein triefäugiges, altes Weib. Sie stützt ihren Henkelkorb auf den Ladentisch und spricht die geflügelten Worte:

»Bitt' gar schön, Fran von Büchsel, wollten's nit amal das Glücksradel hergeben? I möcht ein Paar Nummero besetzen.«

Es erscheint ein hölzernes, thurmartiges, inwendig mit Schlangenwindungen versehenes Gefäß, das in einer ziemlich großen, flachen Holzschüssel steht, etwa wie ein umgestürztes Trinkglas auf einem Teller. Unten hat das Thürmchen ein Loch; die Schüssel selbst zeigt die Nummern von 1 bis 90 in kleinen Vertiefungen und um den Rand zieht sich das geheimnißvolle Wort Cabbala.

»Wollen's selbst das Kugerl laufen lassen?« fragt die Traffikantin.

»Freilich, freilich,« ruft die Alte, indem sie die Kugel oben hineinwirft. Die beiden Frauen folgen gespannt dem Laufe des Kügelchens über die Fläche. Es rollt auf die Zahl 36.

»Sehr ein gutes Nummero,« sagt Frau von Büchsel, wobei sie die Zahl wieder mit Kreide notirt. »Bitte, hier ist das Kugerl.«

Die zweite Zahl ist Nr. 66. Zum dritten Male rollt die Kugel und zwar nochmals auf 66. Dies merkwürdige Ereigniß berechtigt nach Frau von Büchsel zu den glänzendsten Hoffnungen, um so mehr, als der »Sechsundsechziger,« wie sie meint, »schon lange ausgeblieben ist.« Die Lotterieschwester beschließt darauf hin, diesmal zwei Terno zu spielen, davon einen Terno secco Beim Terno secco erhöht sich der Gewinn um das sechsfache gegen den einfachen Terno, wenn wir nicht irren. Doch ist dabei nöthig, daß die Nummern in derselben Reihenfolge erscheinen. Ist dies nicht der Fall, oder kommen nur zwei davon heraus, so erhält der Spieler nichts, wogegen im Gewinnfalle für einen Einsatz von 10 Neukr. bis zu 600 fl. ausgezahlt werden. Uebrigens müssen wir gestehen, daß wir die Normen des Lottospieles nur vom Hörensagen kennen.. Die Zahlen werden kombinirt, auf das Riscontro, d. h. das Looszettelchen, geschrieben, und die Triefäugige entfernt sich in der rosenfarbigsten Hoffnung.

Unterdessen ist natürlich der Tabak- und Cigarrenverkauf ruhig fortgegangen, denn dieser ist Hauptsache, wogegen das Lotto und die Briefmarken nur als ein Nebenverdienst angesehen werden.

Einige Vorstadttraffiken beschäftigen sich auch mit dem Detailverkauf von Zeitungen; ja bei manchen übernimmt der Verkäufer oder die Verkäuferin selbst das Amt der Zeitung, d. h. die Traffik ist der Fokus des Klatsches auf dem ganzen »Grund«. Nestroy, der Wiener Aristophanes, hat in einem Lokalstück, dessen Namen uns entfallen ist, die Gestalt eines solchen Traffikanten unter dem klassischen, aber nur dem Vollblutwiener verständlichen Namen »Tratschmierdl« auf die Bühne gebracht.


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