Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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IX

Im dreizehnten Jahre der Gefangenschaft von Fritz Schütt meldete sich bei der Gefängnisdirektion sein früherer Dienstherr Christian B. Er fragte, ob der Gefangene noch lebe und gesund sei, und wie er sich geführt habe. Man beantwortete erstaunt seine Fragen und fragte ihn zurück, ob er ihn denn besuchen wolle. Christian B., der mit niedergeschlagenen Augen die ganze Unterredung geführt hatte, senkte für eine Weile nachdenklich das weiße Haupt, schüttelte es dann verneinend und bat nur, man möge den Gefangenen bei Entlassung aus dem Gefängnis mit seinen Papieren als Ausweis nach Nieder-Sch. in sein Haus schicken, er wolle ihn da aufnehmen; weiter erlegte er einen Betrag von fünf Talern für die Reise dahin.

Der Gefängnisdirektor, der bei der Unterredung zugegen war, reichte ihm zum Abschied bewegt die Hand, die Christian umständlich, als fände er sie nur schwer, ergriff, und jetzt schlug er auch zum erstenmal seine Augen auf. Er enthüllte einen Blick voll gewaltigen Ausdrucks, der aber nicht zu begreifen war, denn er schien ohne jedes menschliche Zeichen und doch wieder völlig durchtränkt von jeglicher menschlichen Erkenntnis, er schien wahnsinnig und doch klar, seherisch und doch blind. Der Direktor, der voll Neugier diesen Blick erwartet hatte, wich ihm verwirrt und beschämt aus, und als er wieder zurückblickte, waren die Augenlider des anderen schon wieder gesenkt, schwer, in unzählige Falten gerunzelt, verhängten sie die Augen, die in den zurückgesunkenen, durchfalteten Höhlen lagen, geschützt unter dem Dach der vorspringenden, hohen, matt schimmernden, noch immer glatten Stirn. Die Gestalt Christians, der jetzt siebenundfünfzig Jahre zählte, war noch immer hoch, sein Rücken war ungebeugt von Alter und Arbeit. Aber um die schmal zur Brust geneigten Schultern, um den mageren, von weißem Haar tief herab bedeckten Nacken lag das Zeichen der gebrochenen seelischen Kraft, von dem schneeweißen, weich hängenden Haar und Bart wehte die verstummte Trauer.

Der Gefängnisdirektor, klein, dick, jung, mit glattem, rotem Gesicht, sprach: »Es ist schön, es ist christlich von Ihnen gehandelt, wenn Sie sich des verlorenen Menschen annehmen, der Ihnen einmal so Böses tat. Wahrhaftig, Sie sind ein Nachfolger im Geiste Christi, und im Namen der gesamten humanen, fortgeschrittenen Menschheit danke ich Ihnen für Ihren großmütigen Entschluß.« Er schwieg einen Augenblick, doch Christian B. antwortete nicht, sondern hob und senkte nur langsam und sanft die Schultern.

»Denn sehen Sie,« fuhr nun der Direktor wieder fort, »meist ist es so, daß man wünscht, gerade wenn man, wie ich, sich ernsthaft für die Gefangenen interessiert, jeder, der hierher kommt, käme nie mehr heraus, wenn er eben schon einmal hergekommen ist. Er hat im Grunde genommen keinen anderen Platz in der Welt mehr, als diesen. Das Gefängnis bietet unbedingt eine Möglichkeit für den Verbrecher, sich zu bessern, denn er muß hier ja erlernen, seine Triebe zu beherrschen, sich mit Zucht und Gewalt zur Besinnung zu bringen. Und selten ist selbst ein verbrecherischer Mensch so sehr vom Schicksal geschlagen, als daß er nicht auch wenigstens einige gute Keime in sich trüge, und sie zu wecken, aufzurufen und dauernd wach zu halten gegen die bösen, ist vielleicht der tiefere Sinn der Gefängnisstrafen. Ich jedenfalls möchte das Gefangenhalten verbrecherischer Menschen wohl als notwendig, aber hauptsächlich deshalb als notwendig ansehen, daß man sie gefangen hält vor sich selbst, vor ihren furchtbaren Taten. Aber gerade, wenn dieser Weg einer Besserung beschritten wurde und seine guten Anlagen unter Sorgfalt und Strenge sich oft sogar so weit entwickelt haben, daß sie die schlechten überwiegen, dann kommt der Verbrecher wieder hinaus in die Welt, und da wird er nicht mehr geschont und dauernd zu sich selber gebracht und, als Verbrecher und Sträfling wiedererkannt, doch nicht als solcher behandelt, nämlich in dem Sinne als solcher behandelt, indem man, das Böse ruhig vorausgesetzt, nur an das Gute und Menschliche in ihm appelliert, sondern da werden durch Verachtung, Furcht, Vorsicht, Mißtrauen einerseits und neue Verlockungen, Einsamkeit und Not andererseits seine schlechten Instinkte geradezu wieder herausgefordert. Wohl wird mit der Zeit die menschliche Gesellschaft sich mit dieser Frage ernstlich beschäftigen und sie auch lösen müssen, aber bis jetzt können auch wir da gar nichts tun, und darum muß ich Ihr geradezu edles Vorgehen in höchstem Maße anerkennen. Meine Gefangenen sind für mich wie meine Kinder. Über ihre Tat sehe ich hinweg, aber ihre Führung und Entwicklung im Gefängnis verfolge ich ganz genau. Der Sträfling Fritz Schütt ist ein durchaus gutartiger Gefangener, hat laut Akten in der Zeit vor meinem Dienstantritt und während der bereits sechsjährigen Dauer meiner Tätigkeit nie Anlaß zur Klage, sondern nur zu Lob gegeben. Zwar war er zu einem Geständnis nicht zu bringen, doch scheint er sich mit seiner Seele, in der sicher nicht alles so war, wie es sein sollte, selbst ins reine gebracht zu haben, dafür zeugt mir auch der merkwürdige Erkrankungsfall im ersten Jahre der Gefangenschaft, den ich Ihnen nicht weiter erklären muß, der mich aber bestärkt, Ihren schönen Vorsatz als edel und christlich einerseits, aber auch als zumindest ungefährlich andererseits zu erklären.« Er hielt seine Hand nochmals zum Gruße hin, doch Christian B., anscheinend sie nicht bemerkend, nahm sie nicht, neigte nur zweimal, einmal als Zustimmung, einmal als Gruß, sein Haupt und ging.

Er kam am Abend noch nach Hause zurück. Es war nicht mehr die frühere Heimat, Treuen, die Heimat des Glückes und des Niederganges. Es war eine Heimat des Alters, eine Heimat für das Leben im Schatten des vergangenen Lebens, das glühend, prangend, durchwogt von Ereignissen, die unbegreiflich noch in der Erinnerung waren, zurücklag. Dieses Leben teilten die drei Menschen: Christian B., seine Schwester Klara, jetzt siebenundsechzig Jahre alt, und Emma, die Magd, die Mutter des Mörders, die Jüngste unter ihnen, einundfünfzig Jahre alt. Die Heimat war ein kleines Bauerngut, eine Tagereise nur von Treuen entfernt, aber es war eine neue Welt.

Das Gut lag eine halbe Stunde von dem letzten Haus des Dorfes Nieder-Sch. entfernt, zu dem es gehörte. Die Hälfte seiner langgestreckten Äcker grenzte an die Landstraße. Das Haus, zweistöckig, neu und sauber aus gelben, glatten Backsteinen errichtet, mit einem Ziegeldach bedeckt, mit blanken, weithinspiegelnden Fenstern in weißgestrichenen Rahmen versehen, lag am Fuße eines kleinen, sanft und breit zu mäßiger Höhe ansteigenden Wiesenhügels, der nach allen Seiten hin gleichmäßig abfiel und so die gewaltige Ebene der Felder und Wiesen unterbrach. Auf dem Hügel standen, in regelmäßigen, nach oben sich verengenden Ringen um seine Abhänge gezogen, Obstbäume aller Arten, und oben, auf der kleinen Ebene seines Rückens, erhoben über die große Ebene ringsum, war eine Laube errichtet unter einem mächtigen, von weitem schon sichtbaren Lindenbaum. Hier saßen im Sommer die Frauen und verrichteten die leichteren Arbeiten des Haushaltes, oder ruhten hier am Abend, die Hände in dem Schoß übereinandergelegt, und sahen mit den müden, von vielem Leid erloschenen Blicken auf die weite Ebene, die im Hauche der Dämmerung versank. Am Tage grasten und spielten die Ziegen und die jungen Lämmer auf dem Hügel und sprangen auch übermütig in das Wiesental hinab, in das der Hügel auf der dem Hause abgewandten Seite auslief; sie kehrten jedoch meist bald zurück, denn der Wiesenstreifen war lang, aber nur schmal, bot nicht viel Raum zu Sprüngen, auch grenzte er an einen klar strömenden breiten Bach, dessen Ufer im Bereich des Anwesens von sichernden Holzplanken eingefaßt waren, über die gebeugt die Frauen ihre Wäsche spülten. Die Felder, bestehend zumeist aus Weizen- und Haferfeldern, außer dem großen Kartoffelfeld, umgaben in einem weiten Rechteck die beiden noch freien Seiten des Hügels. Das Haus hatte nach der Landstraße zu seinen kleinen mit grauem Kies überschütteten Hof, in dessen Mitte wieder der Brunnen stand, wie in Treuen einst, mit einem schönen, weitauslaufenden Wassertrog versehen. Rechts seitlich vom Haus, mit der Schmalseite ebenfalls an den Hügel grenzend, stand der in einem weiten Viereck gebaute Stall, der mit einer Dachscheuer versehen war, und tiefer in das Feld gerückt eine zweite große Scheune mit Dreschtenne, aus massivem Mauerwerk erbaut und mit einem Tor verschlossen, dessen Flügel beim Öffnen auf Schienen in die Mauer eingeschoben wurden. Im Stall standen nur zwei Kühe, ein Ochse, zwei braune, halbschwere Pferde. Größer war die Zahl der Kleintiere, die der Ziegen und Lämmer besonders, und die Herde des Geflügels. Der Gewinn der Wirtschaft wurde gezogen aus den natürlichen Produkten, aus dem Verkauf von Getreide, Milch, Butter, Eiern, aus der Wolle der Schafschur, doch wurde kein Handel mit Schlachtvieh mehr wie früher getrieben. Auch auf dem Hofe selbst wurde nach der Angabe des Herrn nicht mehr geschlachtet, außer hier und da einem Huhn, und das zu Fest- oder Erntetagen unbedingt nötige Fleisch wurde an den Markttagen, an denen die eigenen Produkte verkauft wurden, selbst gekauft. In allen anderen Zutaten aber waren die Mahlzeiten reich und kräftig. Das Gesinde bestand aus zwei jungen Knechten und einer Magd, die einäugig, aber ungewöhnlich kräftig und flink war.

Das Wohnhaus, im Viereck erbaut, glich in der Anordnung dem in Treuen. Zu ebener Erde wurde es durch einen vom Eingang zum Ausgang durchlaufenden, breiten und hellen Flur in zwei gleiche Teile geteilt; von der Hofseite aus rechts lag die geräumige Küche, welche wie in Treuen mit Herd, Tischen und Bänken zu den gemeinsamen Mahlzeiten diente, und auf der gegenüberliegenden Seite des Flures war das Zimmer des Herrn.

In diesem Zimmer befanden sich: eine einfache Lagerstatt, Waschgeräte, vor dem Fenster der Schreibsekretär, neben ihm, der Tiefe des Zimmers zu, sein Schrank mit den Büchern der eigenen Schuljahre, neben denen jetzt auch die Schulbücher der Kinder standen und die Heilige Schrift. Kein Tisch war zu sehen, die Kleider hingen an Haken in einer Ecke, unter einer Gardine verborgen. Drei Stühle standen in einer Reihe an der Wand neben der Tür, über ihnen hingen die zwei Flinten und die große Pistole. Es gab kein Bild, keinen Spiegel. Obwohl zarte, weiße, sorgfältig aufgesteckte Gardinen vor den Fenstern waren und eine blankgeputzte, mit einem rosafarbenen Schirm aus dünner Seide umhüllte Lampe auf dem Bücherschrank stand, eine Uhr mit ebenfalls blitzendem, weitausschwingendem Pendel tickte, erschien das Zimmer wie eine unbewohnte Zelle. Sein Bewohner suchte es auch nur abends auf, um einsam und müde auf das schmale Lager zu fallen, und verließ es früh morgens wieder für den ganzen Tag. Nur an den Sonntagen betrat er es auch nachmittags auf einige Stunden, setzte sich vor den aufgeklappten Schreibsekretär, um zu rechnen und zu schreiben.

Klara und Emma ordneten und betreuten dieses Zimmer mit versteckter Fürsorge, rafften die Gardinen in ihre feinen Falten, putzten die Lampe und regulierten die Uhr, legten von Zeit zu Zeit stillschweigend auf das Fensterbrett ein Stück besonderen Gebäcks oder die Erstlinge der Früchte, im Winter aber ständig eine Reihe duftender Äpfel hin, die ebenso stillschweigend angenommen und verzehrt wurden. Außer den ehrfürchtig gedämpften Gesprächen der beiden Frauen bei diesen Beschäftigungen erklang zwischen den Wänden dieses Zimmers kaum ein Wort. Denn aus der geschlagenen Brust Christians stieg kaum noch ein Seufzer. Er war völlig verstummt. Zuweilen, da er schreibend an seinem Pult saß, glitt sein schwerer Blick zur Seite, auf die Stelle, wo das Buch »Die Heilige Schrift« stand. Doch er griff nie nach ihm, auch zur Kirche ging er nie mehr. Denn wozu sollte er Gottes Wort noch hören, durch sein Ohr vernehmen, wenn er Gottes Wille mit so gewaltiger Schrift in seiner vom Unglück rein gebrannten Seele trug? Er glaubte noch. Er fürchtete nicht, hoffte nicht, liebte und haßte nicht, aber er glaubte an Gott, obwohl er ausgestoßen war aus seinem Erbarmen, aus seiner Gnade, ja aus seiner Gerechtigkeit; und er glaubte an den Tod, noch immer, an das dunkle Tor, hinter dem sich ihm der Glanz, die Erleuchtung, das Angesicht Gottes enthüllen sollte.

Er hatte sich losgelöst von jeglicher Erinnerung und hatte jeden Trost von sich gewiesen. Er hatte seine beiden Söhne, die gut und schön herangewachsen waren und wohl die Freude eines Vaters hätten sein können, von sich getan. Als der ältere dreiundzwanzig, der jüngere einundzwanzig Jahre alt war, hatte er sie auf das Schiff gebracht, das sie nach Amerika, zu jenem harten, aber freien Leben auf einer kalifornischen Farm brachte, welches er für sie bestimmt hatte. Es war eine gute, mit Sorgfalt und durch sichere Empfehlungen ausgewählte Stelle, von der die Kinder dann auch regelmäßig zufriedene und freudige Briefe schrieben. In den ersten Jahren sprachen sie noch von Heimweh, besonders in den Zeiten, in die die Feste der Heimat fielen. Dann aber begannen sich mehr und mehr die Worte der fremden Sprache in ihre einfache Redeweise einzuflechten, bis zuletzt die Sprache ihrer Heimat sich ihnen nur noch schwer und fremd zu formen schien. Sie hatten sich in Charakter und Wesen völlig gleich entwickelt und hingen einander sehr an.

Bis zur Verheiratung des jüngeren Sohnes hatte der Vater noch für sie gearbeitet, war auf Gewinn für sie bedacht gewesen. Er hatte jedem bis zu diesem Zeitpunkt ein Vermögen geschaffen und es ihnen zum Teil ausgezahlt. Die Kinder legten es zum Erwerb einer eigenen Farm an, die sie zusammen bebauten. Der Vater verringerte von da ab seinen Viehstand bis auf das nötigste, das jetzt in dem Stalle war, gab auch einige Äcker ab, und seit den letzten zwei Jahren trug das, was blieb, nach seinem Willen Arbeit, Nahrung und den Notpfennig für Krankheit und Alter für ihn, die Söhne und die Seinen, die er um sich geschart hatte.

Christian B. hatte vor den vielen Jahren in Treuen endlich sein totes Kind aus den Händen der Gerichtsbehörden empfangen und in einem kleinen Sarg, den der Tischler Andres mit der gleichen Liebe und Kunstfertigkeit gebaut hatte wie einst die Truhen für die ausreisenden Söhne, in dem bereitgehaltenen, kleinen Grab neben dem Hügel der Mutter versenkt. Es war still und heimlich geschehen, obgleich die ganze Umgebung auf dieses Begräbnis gewartet hatte. Der Vater trug selbst den kleinen Sarg, kniete am offenen Grabe nieder, beugte sich tief hinab und stellte ihn selbst auf die Erde auf, wobei von den Wänden der kleinen Grube feuchte Krumen Erde auf sein gebleichtes Haupt bröckelten. Er war allein mit dem Pfarrer, der, selbst zu Tränen erschüttert, für sie beide nur die Worte sprach: »Ich segne deine armen irdischen Reste, die zu Staub wurden, wie der Herr es gebot, du aber, sündenlose Seele, umschwebe uns und gib Trost und Frieden im Namen des mächtigen Gottes denen, die in tiefer Trauer um dich weinen.« Der kleine Hügel wurde schnell aufgeschüttet, und Christian bestimmte als Schmuck ein gleiches einfaches Holzkreuz, wie er es einst auf jenem Kindergrab im fernen Lande dem Ebenbilde seines Kindes errichtet hatte. Einsam und still war er heimgekehrt.

Er hatte dann nur noch gearbeitet, schwer gekämpft. Er hatte damals durch Mißernte und Viehschäden seine Einnahmen verloren und war Bardarlehen und Pacht schuldig. Er mußte Pferde und Wagen verkaufen, mußte die schöne, gepflegte Herde als Schlachtvieh verschleudern, um Zinsen und Pacht zu begleichen. Aus dem Holz, das er gefällt hatte, soweit es ihm zustand, hatte er Möbel und Gegenstände zum Verkauf zimmern lassen. Dann kam eine gute Heuernte, die er verkaufen konnte, da er selbst keine Herde mehr hatte, und drei aufeinanderfolgende gute Durchschnittsernten ermöglichten es ihm, seine Schulden zu decken und eine Ersparnis von tausend Talern wieder zu erübrigen.

Am Ende dieser drei Jahre war seine Pacht abgelaufen, und er erneuerte sie nicht wieder. Er schied von Treuen, wie er gekommen war, nicht reicher, nicht ärmer, einsam, ohne Weib und Kind, obwohl er gearbeitet und geerntet, geliebt und gezeugt hatte.

Auch das Schicksal seiner Schwester Klara hatte sich indessen erfüllt. In einer Herbstnacht des letzten Jahres in Treuen kam eine Botschaft von G., die Christian an das Sterbebett des Barons rief. Er fand den Schwager besinnungslos, Gesicht und Hände blau verdunkelt, in einem Todeskampf liegen, der neun Stunden währte, und in dem der riesige Körper seine starken und trägen Kräfte bis aufs äußerste zu einem vergeblichen Ringen anspannte. Ohne Wort und Tränen saß Klara bei dem Sterbenden, ihre einzige Bewegung war ein schnelles Zufahren ihrer rechten Hand auf die Augenlider des Gatten, als es einmal so schien, daß sie sich wieder öffnen wollten. Denn sie war Witwe schon seit vielen Jahren, und der sterbende Gatte war längst begraben in ihrem Herzen. Sie hatte sich geweigert, die Verwandten des Mannes kommen zu lassen, erst als alles still war, keine gierig erpreßten Atemzüge die Brust des Toten mehr bewegten, stand sie auf, winkte ihrem Bruder, ihr zu folgen, und unternahm mit ihm die Vorbereitungen für das Begräbnis und die Benachrichtigung der Verwandten. Trauerkleider trug sie schon seit dem Tode Marthas. Lange schon, noch vor dem Auffinden der kleinen Leiche in Treuen, wußte sie, daß Böses auch in ihr war, und sie hatte danach gehandelt. Ihren Mann hatte sie in sich getötet, als er noch lebte, sie hatte seine Krankheit berechnet, sein Sterben erwartet. Sie liebte den Bruder, sie trauerte um das unglückliche Kind. Der Baron hatte nie auf sie geachtet, sie hatten nie miteinander gesprochen, aber er hatte sie verstanden, ihre geheime, aber tödliche Verachtung gegen ihn, den Gatten, aus dessen Umarmungen sie immer wieder zurückgekehrt war, enttäuscht, beschämt, vernichtet, ohne das fanatisch ersehnte mütterliche Glück. Und wie er unter dieser Verachtung gelitten hatte, bezeugte die erschütternde Bosheit seines Testamentes, abgefaßt ein Jahr vor seinem Tode, worin er sein gesamtes Hab und Gut seinen etwa noch zu erhoffenden Kindern vermachte und dann noch hinzufügte, sollten jedoch Gott und seine Ehefrau Klara geb. B. ihm diese versagen, bestimme er als Erben die Kinder seines jüngeren Vetters, unter der Bedingung, daß die eingebrachte Mitgift der Frau, rückwirkend mit Zinsen zu zehn Prozent, sowie das gesamte Mobiliar des Wohnhauses ihr zukomme, wofür er sie bitte, alle Abbildungen seiner selbst sowie seinen Hochzeitsrock zu verbrennen. Die sonderbare Abfassung des Testamentes erschreckte die Erben, die die Anspielungen nicht verstanden. Das Gericht stellte der Witwe anheim, das Testament anzufechten. Doch Klara erklärte sich damit vollkommen einverstanden, wies auch das Angebot eines Altenteiles von Seiten der Erben sowie die ungebührlich hohe Zinsvergütung ihrer kleinen Mitgift zurück und verließ nur mit dem ihr persönlich gehörenden, notwendigsten Hausrat das Gut, um nach Treuen zu ihrem Bruder zu ziehen. Auch sie verließ diese Heimat, wie sie gekommen war, nicht ärmer und nicht reicher und einsam; Arbeit, Kraft und Hoffnung ihrer Jugend hatte sie fruchtlos dort verschwendet.

Mit der Summe, die sich zu gleichen Teilen aus der Ersparnis des Bruders und der Mitgift der Schwester ergab, erwarben sich beide dann jenes kleine Bauerngut, das ihre dritte Heimat auf Erden wurde. Mit sich nahmen sie Emma, die gute, treue Magd, die auf ihrem Muttergesicht die vielen Zeichen des Grauens und der Schande für ihren Sohn trug, dessen Gesicht einst so schön und engelhaft erschienen war. Die Röte ihrer Narben war mit den Jahren geschwunden, und inmitten der langsam in Kummer und Alter welkenden Haut zogen sie sich nun blaß, zart gerunzelt, wie Gräben, über Stirn und Wangen, von den Schläfen bis dicht an die Augen, über Nase und Mund. Auch der früher so sanfte Blick ihrer Augen war zerstört durch Verzweiflung. Doch nicht erloschen war ihr Herz; es liebte, was ihm geblieben war, die Söhne in der Ferne, den Herrn in der Nähe, der sie abgehalten hatte von ihrem verzweiflungsvollen Sturz aus dem Fenster, und der sie täglich von neuem wieder am Leben hielt durch die Güte, mit der er ihr bewies, daß er sie brauche. Sie liebte Klara, ihre erste und letzte Herrin. In der neuen Heimat lebte sie auf, wagte auch wieder, zum Grab der toten Frau und des Kindes zu gehen, wozu sie in Treuen den Mut nicht mehr gefunden hatte.

Für ihren Sohn betete sie Abend für Abend. Sie schlief in dem neuen Haus in einer hübschen Stube, die über der Küche lag, allein. Dahin flüchtete sie, wenn Verzweiflung und Erinnerung sie überwältigten, dort stieß sie wieder und wieder ihren glühenden Wunsch aus, richtete sie ihre inbrünstige Bitte an Gott um den Tod ihres Kindes. Sie hatte sich ein eigenes Gebet gebildet, sie rang die Hände, unzählbar oft flüsterte sie: »Lieber Gott, nimm ihn weg, nimm sein böses Leben von der Erde!« Oder sie mischte dieses furchtbare Flehen in die Bitten des Vaterunsers, sie betete: »Und nimm Fritz von dieser Erde und bewahre ihn vor allem Übel, denn dein ist das Reich und die Herrlichkeit.« So hoffte sie, daß der Mörder im Gefängnis erkranken und sterben möge. Sie wartete Jahr für Jahr auf diese Nachricht. Sie wollte ihn dann wieder lieben, so wie sie ihn in der Erinnerung lieben konnte, da er noch ein Kind war, sanft, fleißig und bescheiden, als aus seinem schönen Kinderantlitz ihr Freude und Reinheit entgegengestrahlt und alle Schmach verlöscht hatte, mit der sie ihn empfangen hatte. Das Kopftuch tief um ihr entstelltes Gesicht gebunden, begleitete sie abwechselnd mit der einäugigen Magd Klara zur Kirche.

Klara war die einzige unter ihnen, die zurückdachte, die in die Erinnerung sich verlieren konnte mit noch menschlichem Schmerz. In ihrer Stube, die über der des Bruders lag, und die traulich mit den schönsten Stücken ihres Hausrates ausgestattet war, stand auf dem Nähtisch vor dem Fenster das Bild der kleinen Anna, im festlichen Kleidchen, das Köpfchen von den zarten Locken umschwebt, mit ernsten großen Augen und lächelndem Mund, das rechte Händchen mit dem weisend ausgestreckten Zeigefingerchen bis zur Schulter erhoben. Klara betrachtete es täglich, bekränzte seinen Rahmen mit Blumen oder Tannenzweigen, die sie, da es keinen Wald in der Nähe gab, oft von dem Kirchhof mitbrachte, auf dem sein kleines Grab lag. Obwohl sie von allen dreien die Älteste war, schien sie doch die Jüngste zu sein. Ihr weizengelbes, volles Haar war nur an den Schläfen leicht ergraut, ihre strengen Züge waren milder geworden, die vielen Tränen hatten ihren hart blickenden Augen einen traurigen, weichen Glanz verliehen, ihr bitter gefalteter Mund war gelöst. Spät noch hatte sie sich in das Glück gerettet, des geliebten Bruders Leben und Unglück zu teilen und endlich die ungenützten Kräfte ihres Herzens verschwenderisch zu vergeben.

Alle mußten trotz des zunehmenden Alters schwer arbeiten. Christian schaffte gleich einem Knecht mit auf den Feldern, Klara sorgte für die Mahlzeiten, Emma für die Ordnung im Haus und in den Ställen. Die junge Magd ging in allem zur Hand und brachte zweimal in der Woche in einem großen Rückenkorb die Produkte zum Verkauf in den nahegelegenen Marktflecken. Sie arbeiteten alle einander in die Hand, sie lebten einer dem anderen zum Gefallen, sie sprachen zueinander ohne Worte. Nie redeten sie von dem Vergangenen, nicht, wenn sie abends beisammensaßen auf dem sanften Hügel und ruhten, nie am Tisch, bei dem Essen, wo die jungen Knechte scherzten und stritten, wo alle nur vom Wetter sprachen oder von ihrer Arbeit.

Dann erhielt Christian die Nachricht aus Amerika, daß ein Enkel ihm geboren war, ein Mädchen, das auf den Namen Anna getauft sei. Er saß in seiner kahlen Stube vor dem geöffneten Schreibsekretär, in dessen Schubfach er den Brief, als er ihn gelesen hatte, verschloß. Er empfand keine Freude. Er wußte plötzlich, warum in seiner Jugend ihn Finsternis erschreckt hatte, wenn die Freuden der Wollust, das Glück des Zeugens in ihm sich regen wollte. Es hatte ihn warnen, halten wollen. Jetzt begriff er die Bedeutung jedes einzelnen menschlichen Daseins, das einmal erweckt, im Guten ebenso wie im Bösen verwurzelt sein konnte. Er dachte plötzlich klar und ohne innere Erregung, daß dreizehn Jahre vergangen waren, seit man sein Kind tot gefunden hatte. Er dachte an den Mörder im Gefängnis, an Fritz, der ein Kind gewesen war, wie die seinen, aufgewachsen unter dem Schutze seines Hauses zu solchem furchtbaren Ende. Hätte er nicht auch der Vater des Mörders sein können, statt der Erzeuger des armen, unschuldigen Opfers? Nicht bei ihm hatte diese Entscheidung gelegen und furchtbar war beides. Und es erwachte in ihm gerade in jener Stunde die ungeheure Regung, die ihn trieb, nach der Stadt zu fahren, wo sich das Gefängnis befand, und dort jene Erklärung abzugeben, daß man den Sträfling bei seiner Entlassung zu ihm schicken möge. Den Seinen hatte er von diesem Entschluß nichts mitgeteilt, und ein Jahr war nach dieser Reise verflossen, still und schnell, wie die Jahre alle für diese Menschen vergingen. Da kam, kurz vor dem Weihnachtsfest, ein zweiter, wichtiger Brief an den Herrn, großen Umfanges und mit mächtigen Siegeln und Stempeln versehen. Es war ein Schreiben der Gefängnisdirektion, die mitteilte, daß dem Fritz Schütt auf dem Gnadenwege in Anbetracht seiner musterhaften Führung das letzte halbe Jahr seiner Strafe erlassen würde. In Fürsorge für die entlassenen Sträflinge fragte der Direktor an, ob es trotz des veränderten Termines bei dem hochherzigen Angebot von Christian B. bliebe, den Sträfling bei sich aufzunehmen.

Wegen der Kälte, die in seinem nie geheizten Zimmer im Winter herrschte, schrieb Christian am Abend in der Küche, mitten unter den anderen seine Antwort, daß er bitte, den Fritz Schütt, wie verabredet, zu ihm zu schicken und einige Zeit vorher den genauen Tag der Entlassung mitzuteilen. Während er schrieb, schnell und gewandt, saßen alle in achtungsvollem Schweigen um ihn herum. Als er fertig war und dies bemerkte, sah er sie nacheinander an, und plötzlich geschah es, daß er lächelte, und ohne Worte lächelten die Frauen zurück, erstaunt alle über diese grundlose Heiterkeit, die wie ein Zauber aus ihren zerrütteten Herzen in ihre alten, leidvollen Gesichter stieg. Christian stand auf, stieg in seine hohen Lederstiefel und trug den Brief selbst noch ins Dorf zu dem Boten, der ihn am nächsten Tag zur Poststation bringen sollte. Es schneite in sanften, knisternden Flocken, die Erde in weiter Ebene leuchtete kristallhell, beschattet von dem erddunklen Himmel ohne Licht. Christian schritt durch die Nacht, die einmal voll tiefster Bedeutung für sein Leben gewesen war. Jetzt war auch dies erstorben in ihm.

Dann kam das Weihnachtsfest, das wie immer gefeiert wurde um der jungen Knechte und der Magd willen. Denn Christian sorgte, daß jeder das Seine erhielt, die noch jung Lebenden ihre Arbeit, ihre Nahrung, ihren Lohn und ihre Freuden. So hatte Klara einen Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt, Geschenke besorgt, die Kerzen entzündet, das Evangelium vorgelesen und das Weihnachtslied angestimmt, sie war selbst ergriffen und gerührt. Sie schmückte auch das Bild ihres Lieblings, der kleinen Anna, entzündete ihm eine Kerze aus zart rosafarbenem Wachs, die mit goldenen Papiersternen beklebt war, und in deren sanftem Schein sie um das tote Kind weinte. Doch von ihm sprechen durfte sie nicht, auch an diesem Abend nicht. Steinern stand der Bruder im schwebenden Licht der Weihnachtskerzen, während Emma in der Ecke am Herd saß, die gefalteten Hände vor das Gesicht gepreßt. Nur vor dem nächtlichen Kirchgang, den die Frauen, der Sitte gemäß jede ein brennendes Licht in einer gläsernen Laterne tragend, antraten, zog er die Schwester sanft an den Schultern zu sich heran und legte in einer innigen Bewegung seine Wange an die ihre, nahm dann die Hand Emmas zwischen die seinen und drückte sie.

Am nächsten Morgen, einem sanften, stillen Wintertag, an dem nur die Knechte und die junge Magd zur Kirche gegangen waren, saßen die beiden Frauen allein in ihrer Einträchtigkeit in der Küche und bereiteten gemessen und ruhig, da es noch früh war, das Mittagessen vor. Sie sprachen ab und zu ein leises Wort miteinander, als sie plötzlich erstaunt verstummten, denn sie sahen Christian über den Hof kommen und zu dieser ungewohnten Zeit zu ihnen in die Küche eintreten. Er setzte sich an den Tisch und sah ihnen still eine Weile bei ihren Beschäftigungen zu. Er lächelte, wie er an jenem Abend gelächelt hatte, als er den Brief geschrieben hatte. Aber nur Klara sah es und lächelte zurück, Emma kniete vor dem Herd, dessen Feuer sie anfachte. »Ja,« sagte Christian, »ihr seid fleißig. Das Beste für uns ist es doch nur noch, für andere zu sorgen. Komm, Emma, setze dich mit hierher und höre zu.« Er zog die Magd neben sich auf die Bank vor dem Tisch und ergriff ihre Hand. Ihnen gegenüber saß Klara.

»Hast du schon daran gedacht,« sagte der Herr zu Emma, »daß die Strafzeit von Fritz um ist und er bald freikommt?«

Die Frauen starrten ihn an, Klara bleich vor Entsetzen, während die weißen Narben in Emmas Gesicht blutrot aufsprangen. Sie wollte aufstehen, entfliehen, doch sie konnte sich nicht losreißen, der Herr hielt sie fest mit seiner Hand, die die ihre umklammerte. Der Herr erhob seine Stimme und sagte langsam und nachdrücklich: »Und wenn er freikommt, muß man für ihn sorgen, und er gehört zu uns, wie das Unglück, das uns alle betroffen hat, und es ist mein Wille, daß er hierher kommt und hier arbeitet wie früher.«

»Um Gottes willen!« sagte die Schwester leise, im Innersten entsetzt.

Emma aber schrie auf, sie jammerte gellend: »Nein, nein, Herr, nein, nein! Nur das nicht, nur das nicht! Warum ist er nicht gestorben, lieber Gott, warum ist er nicht gestorben!« Und sie wand wimmernd ihren Oberkörper hin und her, festgehalten noch immer von der Hand des Herrn. »Ich kann ihn nicht sehen, ich kann ihn nie wiedersehen. Wäre er tot!«

»Das ist zu furchtbar, was du willst«, sagte Klara leise und hing gebannt an des Bruders steinernem, blickverhangenem Gesicht.

»Furchtbares ist geschehen, das ist nicht mehr furchtbar«, sagte Christian ruhig. »Er ist dein Kind, Emma, und ich habe ihn mit erzogen und habe ihn aufwachsen sehen. Wir sind hier einsame alte Leute, hier kann er mitleben, er soll gut leben unter meinen Augen.«

»Wäre er tot, wäre er tot!« jammerte die Mutter.

»Er ist doch ein Mörder!« sagte die Schwester.

»Das ist Gottes Sache.«

»Christian,« sagte die Schwester beschwörend, »Christian, dein Kind!«

»Ich habe es tief betrauert«, sagte der Bruder.

Alle drei schwiegen. Dann sagte die Schwester: »Ich bin bald siebzig Jahre alt, das dachte ich nicht mehr zu erleben. Tue, wie es dir gut scheint, Christian.«

Emma war verstummt, kein Wort, keine Träne mehr. Tief in sich zusammengesunken saß sie da, sie fühlte kaum, daß die Hand des Herrn die ihre freigab. Sie erhob sich und ging wieder an die Arbeit Die Schwester richtete den weichen, getrübten Blick durch das Fenster auf den stillen, verschneiten Hof, dann zurück auf den Bruder, der mit gesenkten Lidern, die rechte Hand leicht auf den Tisch aufgelegt, ruhig dasaß. Sie beugte sich über seine Hand und küßte sie. Der Wonne, das Gefühl ihres Herzens in ungewöhnliche Höhen zu tragen, wie die Kraft ihrer Jugend es einst ersehnt hatte, gab sich die Alternde nun hin.

Schwer litt unter diesem Gedanken nur Emma, die Mutter, und sie vermochte ihn nicht zu bewältigen. In ihrer Not klammerte sie sich an die Hoffnung, daß ihr Gebet doch noch erfüllt werden möge, daß ihr Kind tot sei oder sterben würde, im letzten Augenblick noch, am letzten Tage noch im Gefängnis, oder daß sie selbst tot umsinken würde, wenn er wirklich hier in das Haus träte, wenn sie ihn, den furchtbaren Mann, nicht mehr ihr Kind, wieder erblicken müßte. So lobte sie in Angst, in täglicher Erwartung des Entsetzlichen. Mit Ehrfurcht und Schrecken zugleich betrachtete sie oft das unbewegliche, verhangene Angesicht ihres Herrn, der ihr unbegreiflich war. Als aber Monat auf Monat verrann und nichts geschah, versank sie nach und nach in eine erschöpfte Beruhigung.

Ostern ging der jüngere Knecht fort, da seine Zeit abgelaufen war. Es kam niemand an seine Statt, da, wie Christian sagte, keine guten Leute frei seien. Die übrigen teilten sich in seine Arbeit, aber es war schwer. »Für die Ernte muß ich wieder jemand nehmen,« sagte Christian an einem Feierabend, als alle müde um den Tisch saßen, »vielleicht auch schon früher, richtet jedenfalls das Knechtbett frisch her.«

Man sah ihn in der darauffolgenden Zeit viel auf dem großen, geräumigen Heuboden, der über dem Stall lag, sich bewegen und beschäftigen. Er brachte Bretter aus dem Dorf herbeigeschleppt, und man hörte ihn hämmern. Doch da er selbst nichts sagte, fragte niemand. Einmal aber kam Emma, einem verlaufenen Küken nachgehend, auf den Boden über dem Stall. Sie fand ihn zur Hälfte ausgeräumt, das Heu hoch aufeinander zurückgeschichtet und durch gespannte Seile festgehalten, und auf der freien Hälfte, unter einem Dachfenster, war sauber durch weiß gehobelte Bretter ein kleines Gelaß errichtet, in dem das Knechtsbett stand und Stuhl und Tisch. Das Fenster war zurückgeschoben, und die Maisonne flutete herein. Frieden und Heiterkeit schwebten um dieses rührend einfache, verborgene Heim. Lange stand Emma vor diesem Anblick, lange grübelte sie über seinen Zweck und seine Entstehung nach, bis sie es begriff. Der Herr hatte es errichtet, mit eigenen Händen gezimmert, heimlich selbst das Bett und die Möbel herbeigeschafft für den, der kommen sollte. Weich fühlte sie sich angerührt von dem Frieden des kleinen Raumes, von der stillen Sorgfalt, mit der er, so schlicht er war, erschaffen worden war von dem Herrn für den Knecht. Stille Tränen rannen, in den Gräben der Wunden ihr Gesicht durchziehend, nieder auf ihre Brust. Sie faltete die Hände und sagte vor sich hin: »Wie er will, wie er will.« Und so kam der Tag, an dem Fritz plötzlich wieder unter ihnen weilte.

Es war Anfang Juli, kurz vor dem Schnitt. Der Herr war am Sonnabend-Feierabend, trotz eines heranziehenden Gewitters, die Landstraße entlang dem Dorf zugegangen und erst bei Dunkelheit, in strömendem Regen, der kühl und erfrischend fiel, zurückgekommen. Alle schliefen schon. Am Sonntag morgen waren die beiden Frauen, Klara und Emma, zur Kirche gegangen und kurz vor dem Mittagmahl zurückgekehrt.

Klara trat erst in ihre Stube ein, legte das Schultertuch und Gesangbuch fort und schritt dann langsam den kleinen Hügel hinan, dessen Wiesen, vom Regen erfrischt, in der Sonne golden und grün erschimmerten. Sie ging auf ihren Bruder zu, den sie in der kleinen Laube auf dem Rücken des Hügels sitzen sah.

Christian sah ihr lächelnd entgegen. Ihr Gang war weich geworden, voller ihre hagere Gestalt, und ihr Gesicht, das dem seinen so glich, trug jetzt im Alter einen sanften, etwas traurigen Schein von Jugend. Sie setzte sich zu ihm und erzählte langsam in wenigen Worten, daß im Dorf Zwillinge getauft worden, und eine neue Steuer bekanntgemacht sei. Nun kam Emma, die indessen das Mahl fertig bereitet und den Tisch gedeckt hatte, ebenfalls den kleinen Hügel hinan, um zwischen den feinen Gräsern noch etwas Salbei für den Salat zu pflücken und um die beiden zum Essen zu rufen. Gerade, als sie an den Eingang der Laube gelangt war, ertönte in die sonnendurchglühte Stille des Mittags das ängstliche Blöken eines Lammes und das Plätschern von Wasser. Sie wandten alle drei ihre Blicke nach der Richtung, aus der die Laute kamen, und sahen am Ufer des silberströmenden Baches die kniende Gestalt eines Mannes, der auf seinen Armen ein junges Schaf hielt, das anscheinend bei seinen Sprüngen über die kleine Planke des Ufers gesetzt und in das Wasser geglitten war, und dessen nasses Fell der Mann, der das Tier wohl aus dem Bach gezogen hatte, mit seinen Händen rieb und klopfte. Der Mann trug ein weißes Hemd und eine Hose, keine Schuhe, auf dem Kopfe aber eine Mütze. Um ihn herum lagen auf dem Rasen ausgebreitet ein Rock und zwei hohe Stiefel. Er drehte den dreien in der Laube seinen Rücken zu, der ungewöhnlich breit und massig war. Klara legte, um besser sehen zu können, die Hand über ihre Augen und fragte: »Wer ist denn das?«

»Es ist Martin, der neue Knecht für die Ernte«, sagte Christian ruhig. »Er ist gestern im Gewitter gekommen und hat sich nun seine Kleider und Stiefel gereinigt. Er hat nur einen Rock. Er kann deswegen auch heute ruhig hier draußen essen und auf die Weide aufpassen. Schickt ihm seinen Teil heraus.« Sie gingen alle drei ins Haus, und Emma schickte die einäugige Magd mit einer Schüssel Essen hinaus auf die Weide zu dem neuen Knecht. Die Magd kam zurück und sagte lachend: »Warum hat denn der Martin so einen kahlen Kopf? Er ist doch noch so jung.« Da wußte Klara, wer es war. Emma ahnte nichts. Am Abend richtete nun Klara mit der Magd das Essen, und Emma konnte auf dem Hügel sitzen. Sie hielt in ihren unermüdlichen Händen ihre Strickarbeit, die immer die gleiche war, die weichen, gebleichten Wollenstrümpfe für den Herrn. Sie ließ unter dem Kopftuch, das ihr zerschnittenes Gesicht immer beschattete, ihre sanften Augen in die weite Dämmerung der Ebene schweifen, über die dem Licht langsam entsinkende Erde. Der Tag war heiß gewesen und die Arbeit der letzten Zeit für die Alternden sehr hart. Im Frieden der Dämmerung, die schmeichelnd erfüllt war von dem sanften Murmeln des Baches und von dem prächtig strömenden Duft der Linde, deren Blüten über ihrem Haupte, unsichtbar fast, zwischen den Blättern hingen, in dem silbernen Seidenschimmer des nächtlich sich rüstenden Himmels schlief sie ein. Sie hörte nicht, daß man ihren Namen rief, und auf einen Wink des Herrn weckte sie auch niemand auf. Doch nicht viel später erwachte sie von selbst und eilte erschrocken den Hügel hinab. Die Dämmerung war ein wenig noch gesunken. Mit ihren schlafbeschatteten Augen sah sie, vom Hause kommend, den neuen Knecht. Seine starke, volle Gestalt, sein fleischiges Gesicht, dessen untere Hälfte von einem dichten, lockigen Bart bedeckt war, war ihr nur seitlich zugewandt. Sie sah ihn mit scheuen, eiligen Schritten nach dem Stall gehen und dort in jene Tür eintreten, hinter der sich die Treppe befand, die zu dem kleinen Gelaß führte, das sie heimlich entdeckt hatte.

»Das war der Martin,« dachte sie, »der soll also dort oben schlafen.«

Sie trat in die Küche ein, wo der Tisch vom Essen schon abgeräumt war und nur für sie noch Milch, Speck, Brot und ein Stück Kuchen bereit stand. Klara lächelte ihr entgegen: »Seit wann schläfst du schon am Tage? Du bist doch die Jüngste von uns!«

Aber Emma fragte ernst: »Warum schläft denn der neue Martin oben im Stall?«

»Es ist mir lieber so,« sagte der Herr, »er kann auf das Vieh achten, im Winter hat es viel Marder gegeben.«

Emma erwiderte nichts, eine Regung von Enttäuschung durchzog so leise und heimlich ihre Seele, daß sie es selbst nicht spürte. Am nächsten Morgen, in erster Frühe, als sie noch allein in der Küche stand, deren Türen und Fenster weit geöffnet waren, und die von dem zarten, wie Duft schwebenden Licht des aufgehenden Morgens ganz erfüllt war, trat über die Schwelle, umflutet von der jungen Sonne, der neue Knecht, groß und breit, mit fleischigen Gliedern, mit einem runden, vollen Gesicht, das zarte, weiße und rosige Farben hatte und bedeckt war von einem blonden, ungeschnittenen Bart, der in Locken sich kräuselte. Auf dem Kopfe trug er eine Mütze, die bis tief in seinen Nacken reichte. Er blieb unter der Tür stehen und sah sie mit großen, blauen, kindlich leuchtenden Augen an. Auch Emma blickte ihn an. »Der neue Martin«, sagte sie. Sie merkte, wie seine Blicke ihr Gesicht durchkreuzten, wie sie die Wege ihrer vielen Narben gingen.

»Mutter!« sagte er plötzlich mit sanfter Stimme. »Mutter, Guten Tag!«

Sie wich entsetzt zurück. »Nein«, stammelte sie und erhob ihre rechte Hand, als wolle sie ihn fortscheuchen. »Nein, nein, Ihr heißt doch Martin, was sagt Ihr da –«

»Ich bin Fritz. Ich bin freigekommen. Der Herr will mich aber Martin nennen. Es soll niemand wissen, wo ich herkomme.« Er schwieg, und sie antwortete nicht. Sie hatte seine sanfte, schön tönende Stimme wiedererkannt, aber ratlos wanderten ihre Augen um seine massige, fremde Gestalt, ratlos kämpfte ihr Herz zwischen Entsetzen und einem abgrundtief in ihrer Seele sich regenden Gefühl von Freude.

»Es ist mir gut gegangen dort,« begann er wieder, »ich habe mich gut gehalten. Alle waren zufrieden. Es ist vieles anders geworden mit mir«, und er lächelte ihr zu mit Mund und strahlenden Augen.

Emma hörte die Schritte der Magd die Treppe herunterkommen.

»Komm herein«, sagte sie tonlos. Sie wandte ihm den Rücken und ging zum Herd. »Setzt Euch nur, Martin, die Suppe ist gleich gut«, sagte sie dann laut, während die Magd eintrat.

Das Frühstück wurde gerichtet, alle kamen zusammen und aßen, und der Fremdling saß von nun an wie heute immer mitten unter ihnen, schwer, dick, mit vollem, lockigem Bart, großen, kindlich blickenden Augen, nicht scheu und nicht keck, still, bescheiden und mit einer sanft von ihm ausstrahlenden Heiterkeit. Bei der nun einsetzenden schweren Erntezeit zeigte er sich überaus fleißig, unermüdlich, geschickt, stark und schnell. Er sprach wenig, er lebte ganz für sich, war aber bald umgeben mit Tieren. Er schien für Tiere eine tiefe Zärtlichkeit zu empfinden, die er aber zu verbergen sich bestrebte. Er pflegte die Pferde mit äußerster Sorgfalt und hielt die Ställe für alles Vieh sehr sauber.

In seinem kleinen Gelaß hatte er bald allerlei kleines Getier um sich versammelt; er hatte eine Maus gefangen und sie gezähmt. Zwei junge Stare, die er kaum flügge, durch Raubtierfänge verwundet vor ihrem Nest gefunden, hatte er mit großer Mühe aufgezogen, und zwar hatte er ihnen in der Ecke seines Dachfensters ein künstliches Nest gebaut, in das er sie den Tag über setzte, so daß in der ersten Zeit, angelockt durch ihr Rufen, die Alten noch herbeikamen und die Jungen fütterten. Nachts bettete er sie zwischen seine Matratze in der linken Ecke der Bettstatt. Er bedeckte ihre Wunden mit sammetweichen, kühlen Gräsern, die er am Bachufer mühsam zusammensuchte. So führten die Tiere, flügellahm und hinkend zwar, dennoch ein fröhliches Leben in seiner sonnigen Zelle; er richtete sie in seinen freien Stunden mit großer Geduld ab, so daß sie kunstvoll die Hälfte eines Chorals pfeifen konnten. Er übernahm es auch, die schöne große, aber wilde Hauskatze an den Umgang mit seiner Maus und den Vögeln so zu gewöhnen, daß er sie einmal mit all ihren neugeborenen Jungen, tief und selig schnurrend, auf seinem Bett fand, während die kleine Maus über sie hin und her huschte und die Stare, auf der Stuhllehne des einzigen Stuhles sitzend, pfiffen. Im Winter freilich hatte sich eines Tages die kleine Maus in das hochgetürmte wärmende Heu verkrochen, aus dem er manchmal, wenn er die Treppe emporgestiegen kam, ihr leises, weiches Piepsen zu hören glaubte, als ob sie ihn riefe. Für die beiden Stare aber hatte er schon längst ein geräumiges, luftiges Gehäuse aus ganz dünnen Holzstäbchen geschnitzt und zusammengebaut, und als die Kälte kam und die Tiere auch am Tage ihre Köpfchen mit den klugen Augen unter den Flügeln versteckt hielten, setzte er sie behutsam hinein und trug sie hinüber in das Wohnhaus.

Das war das dritte Mal, daß er ein Wort an seine Mutter richtete. Das zweite Mal war es geschehen, als er ihr seinen ersten Lohn, wie einst als Kind, brachte. Er war wieder früh, als sie noch allein war, über die Schwelle der Küche getreten, hatte ihr das Geld auf der Hand hingehalten und gesagt: »Da hast du, Mutter!« Doch Emma war wieder zurückgewichen, hatte abwehrend die Hand erhoben: »Nein, nein! Was wollt Ihr? Das Frühstück ist noch nicht fertig!« und hatte sich schnell abgewandt von ihm. Sie wußte nun wohl, daß es ihr Sohn war, aber sie konnte nichts fühlen, nichts begreifen.

Wenn sie in furchtbarer Erschütterung an dem Knecht Martin, wie sie ihn auch vor sich selber nannte, jene tief vertrauten Zeichen wiedererkannte, seinen steten Fleiß, der der ihres Sohnes gewesen war, seine großen, kindlichen Blicke, die die ihres Kindes gewesen waren, und dann seine Stimme, seinen sanften, tönenden Gesang, der einst andächtig und voll Kraft in der Kirche über den Häuptern der betenden Menschen erklungen war, dann war es ihr Fleisch, ihr Blut, ihr Herz, – aber vergangen, versunken in einen fremden, großen, dicken Mann, der Martin hieß. Und wenn er sie bei dem Namen Mutter rief, war es ihr, als riefe ein Toter aus ihm, wie aus einem Grab hervor. Nie antwortete sie mit dem Namen Sohn.

Ein Fremder war er allen, bei denen er nun lebte. Mit seiner schweren, massigen Gestalt, seinem dicht gelockten Bart, ohne Worte lebend, abseits schlafend, mit sich allein seine Feierstunden haltend, erinnerte er nicht an das Vergangene, nicht an das Böse, nicht an das Gute, nicht an sich selbst. Der Herr, Klara, die Mutter, sie alle erkannten ihn in ihm selbst nicht mehr. Doch er erkannte sie. Sie waren noch die gleichen Menschen, nur von Kummer und Alter gezeichnet. Das Antlitz der Mutter, von Narben durchschnitten, es war seine Mutter. Die edle Gestalt des Herrn, sein kluges, blickverhangenes Gesicht, es war sein Herr. Doch ihn rief man mit fremdem Namen, und selten nur rief man ihn.

Es drängte ihn oft, zu sprechen, aber er wagte nicht, auch nur mit der Magd oder dem Knecht zu reden, denn er durfte nichts von sich erzählen. Er verfiel von Zeit zu Zeit in tiefe Traurigkeit, oft sang und weinte er zugleich. Er weinte auch nachts, im Traum, der stets ohne Gesicht und Zeichen war, und beim Erwachen war dann sein Bart durchnäßt von Tränen. Er sprach mit seinen Tieren in unverständlicher Sprache, murmelnd bewegte er dann seine Lippen. Für die Tiere sorgte er. Mit dem Käfig, in dem die Stare saßen, in der Hand, trat er an dem ersten Wintermorgen zu seiner Mutter und sprach sie ein drittes Mal an. »Kann ich die Vögel wohl in der Küche lassen, Mutter? Bei mir drüben ist's kalt.«

»Sagt nicht Mutter!« antwortete Emma. »Es ist eine Sünde, wenn ich so etwas sage, aber sage nicht Mutter zu mir. Ich habe immer gewünscht und gebetet, du wärest tot, nun habe ich den Fluch davon, ich kann nicht mehr fühlen für mein Kind. Es lebt noch, und ich müßte es lieben, ich könnte es noch lieben, aber Gott hat es sterben lassen für mich. Sagt nicht Mutter zu mir, Martin.« Sie weinte nicht, aber ihr grenzenloser Jammer zitterte in ihrer Stimme, als sie die Worte sagte.

»Es ist aber besser geworden mit mir«, sagte der Sohn, sehr sanft, als wolle er sie trösten.

Sie zwang sich, ihn anzusehen, sie durchforschte sein volles, rosiges, bartbedecktes Gesicht; es glich nicht mehr dem eines Engels, es glich nicht dem eines Teufels, es war ihr Kind nicht und nicht ihr männlich entwachsener Sohn, und es war doch ihr Kind.

»Du Armer,« sagte sie, »du Armer!«

Sie nahm die Vögel aus seiner Hand und setzte sie auf einen niedrigen Schrank, der in der Ecke in der Nähe des Fensters stand. Seit dem Tage begann sie sich um ihn zu sorgen. Sie nähte an den Winterabenden Wäsche für ihn und strickte ihm Strümpfe. In ihr wuchs ein Gefühl auf für ihn, sie begann ihn zu lieben, doch so, als liebe sie nun ein fremdes, einsames Kind an Stelle des verlorenen eigenen.

Schnell wie Tage vergingen die Jahre dieser kleinen Gemeinschaft von Menschen. Ohne Ereignisse glitten sie ineinander, für die Alternden, vom Leben nur noch zum Tode Ausruhenden, und für den jungen Einsamen, dessen Kraft und Blüte in der tiefsten Wurzel verdorren mußte. An Stelle des früheren zweiten Knechtes war auch ein älterer gekommen, und die einäugige Magd war der einzige wirklich junge Mensch unter ihnen allen. Sie war sehr lebensfroh, trotz ihres Gebrechens. An den Sommerabenden eilte sie ins Dorf, wo sie singend und scherzend in den langen Reihen der anderen Mädchen mitschritt, auch zum Tanzen ging sie und war an einem Winterabend sogar einmal betrunken nach Hause gekommen, so daß sie Emma in tiefem Schlafe des Morgens vor der Küche liegend fand.

Im vierten Jahre der Zeit, da der neue Knecht Martin eingezogen war, kam die Nachricht aus Amerika, daß die Söhne zum Besuch in die Heimat abgereist seien. Still und ohne inneres Zeichen empfing der Vater die Nachricht. Doch die beiden Frauen, Emma und Klara, gerieten in eine große, freudige Erregung. Sie sprachen von nichts anderem mehr, und lange vor der zu erwartenden Ankunft rüsteten sie das Haus, öffneten die verschlossene Stube, in der die schönen, rosenkranzgeschmückten Betten standen, jene Betten, in denen die heimkehrenden Kinder in den Zeiten des Glücks empfangen und geboren worden waren; wo der Schrank stand, noch immer gefüllt mit der Wäsche, dem Schatz der jungen Frau, wo die Truhe stand, in der Brautkleid und Schleier geruht hatten, und die nun schon so lange leer war. Die beiden Frauen lüfteten, klopften, breiteten die Betten in die Frühlingssonne aus, entfalteten frisches, weißes Leinen, von schweren Spitzen durchzogen, vor den Fenstern rafften sie zarte Gardinen in schwebende Falten. Sie wuschen das ganze Haus, buken Brot und Kuchen, alles viel zu früh, so daß es wieder verzehrt werden mußte, damit es nicht vertrockne. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß eine Reise so lange dauern sollte, bald glaubten sie, daß sie die Kinder überhaupt nicht angetreten hätten, bald fürchteten sie, das Schiff sei gesunken. Endlich, es war schon im Juni, kam die Depesche, daß das Schiff in den Hafen eingelaufen sei und die Reisenden in zwei Tagen auf der der Heimat nächstgelegenen Poststation eintreffen würden. Bis dahin wollte ihnen der Vater entgegenfahren, und endlich war der ersehnte Augenblick gekommen für die Frauen, wo der Wagen aus dem Schuppen gerollt, gewaschen und geputzt und mit den beiden Braunen bespannt wurde. Martin hielt die Zügel dem Herrn hin, der allein kutschierte.

Gegen Mittag war er fortgefahren, und am Abend, in der ersten Dämmerung, kam er zurück. Der Wagen bog von der Landstraße den Feldweg ein, und die beiden Frauen sahen herzklopfend schon von weitem die Gestalten, die er trug: zwei Männer, groß und schlank, in dunklen Kleidern und mit städtischen Hüten auf dem Kopf, und zwischen ihnen sitzend eine Frau, ein Kind auf dem Schoß. Der Wagen kam auf den Hof, hielt beim Brunnen, und die Reisenden stiegen ab. Sie begannen sofort alle durcheinander laut und lachend zu sprechen, während sie dem still auftauchenden Martin das Gepäck auf seinen breiten Rücken luden. Sie riefen bei jedem zweiten Satz durchdringend und hell »Hallo«, so daß die Magd, die neugierig hinter den Frauen an der Haustür stand, kicherte.

Der Vater hatte die Zügel um das Brunnenrohr geschlungen und den Wagen abgebremst, indem er einen Stein unter das rechte Vorderrad schob. Er achtete nicht auf das Rufen und Schwatzen der Söhne, beugte sich hinab, ergriff das Händchen des Kindes, das, im Alter von vier Jahren, müde und erstaunt auf dem Hofe stand, und führte es, während die Mutter des Kindes sein anderes Händchen hielt, den beiden Frauen zu, die erregt und scheu an der Haustür standen. Hinter ihnen kamen die beiden Söhne. Aus ihren hageren, tiefgebräunten und gestrafften Gesichtern strahlten die dunklen Augen in einer übermütigen Heiterkeit, als ihre Blicke über den Hof und das Haus schweiften.

Christian hob das Kind empor und reichte es seiner Schwester, die es an sich preßte und mit Küssen bedeckte. Das Kind hielt still und weinte nicht. »Wie heißt du?« fragte endlich Klara, als ihre Bewegung sie wieder sprechen ließ. »How?« fragte das Kind mit einer dunklen kräftigen Stimme zurück und fuhr lachend mit seinem Fingerchen den Mund Klaras entlang, der sich bewegt und gesprochen hatte, ohne daß es ihn verstehen konnte.

»Hallo!« rief plötzlich der eine der Söhne, »Hallo! Das ist ja unsere Tante Klara! Meine liebe Tante, ich hoffe, du bist gesund. Oh, was sind wir alle groß geworden!« Und nun lachten beide aus voller Kehle und drückten der verlegen dastehenden Klara die Hand. Die Söhne glichen einander so sehr, daß man sie nur der Größe nach unterscheiden konnte. Beide trugen den dunklen Bart kurz verschnitten um die Oberlippe, während das Kinn frei rasiert war, beide hatten die weißen, blitzenden Zähne in regelmäßigen Reihen, die dunklen Augen, das volle schwarze Haar. Nur überragte der Jüngere um eine Handbreit den älteren Bruder. Der Jüngere war es auch, der am meisten sprach und mit etwas hellerer Stimme als der Ältere.

Der Vater wandte sich an den Ältesten und sprach: »Da ist Emma, die dich genährt hat.«

»Hallo!« rief sofort der Jüngere und trat auf Emma zu, die den Kopf mit dem ins Gesicht gebundenen Tuch bis zur Brust gesenkt hatte, ergriff ihre Hand und drückte sie: »Guten Tag, Emma, du bist auch so groß geworden, ich habe dich nicht mehr erkannt, ich hoffe, du bist gesund, komm, ich will dich küssen, wie einmal als Baby«, und er lachte, packte ihren Kopf und hob ihn zu sich empor. Da erblickte er ihre Narben, die in der Röte der Freude und Erregung feurig leuchteten. »Oh,« sagte er leise, »hast du Unglück gehabt, old Emma?« Er küßte sie vorsichtig auf die Wange, griff dann nach seinem Kind und reichte es ihr: »Das ist mein Baby, gefällt es dir?« Emma streckte die Arme nach dem Kind aus. Doch das Kind, bis jetzt vollkommen zutraulich, wich schreiend vor dem narbendurchglühten Gesicht zurück, wehrte sich mit aller Macht und streckte die Arme nach seiner Mutter aus, die es zu sich nahm und mit Liebkosungen beruhigte. Emma legte die Hände auf ihr Gesicht und wollte in das Haus eilen, doch der Vater des Kindes hielt sie fest und sagte seiner jungen Gattin auf englisch einige Worte, worauf diese an Emma herantrat, sie zart auf die Wange küßte, ihr auch die eigene zum Kuß hinhielt, was aber Emma nicht verstand.

Das Kind hatte sich inzwischen schon beruhigt, und unter Lachen drängte sich nun auch der ältere Bruder hervor zu Kuß und Umarmung, und besonders Emma hielt er fest umschlungen und klopfte ihr zärtlich auf den Rücken. Dann traten alle in das Haus. Die junge Frau brachte sofort das halb schon schlafende Kind zu Bett. Von den Söhnen wurde noch sehr viel darüber gelacht, daß die beiden Frauen bei dem Herrichten des Gastzimmers wirklich vergessen hatten, daß die Kinder nicht allein, zu zweien, so wie sie einst fortgezogen waren, zurückkamen, sondern als Männer, von denen der eine Weib und Kind mitbrachte. Nun wohnte der jüngere mit der Frau in dem elterlichen Schlafzimmer, das Kind schlief in dem blumengeschmückten Bett zwischen ihnen, und der Älteste mußte die leerstehende Knechtskammer beziehen, da er sich weigerte, von Emma anzunehmen, daß sie ihm ihre Stube einräumte.


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