Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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IV

Ganz allein für sich in einem engen Wahn von zukünftigem Glück hatte während dieser Zeit Martha, die Frau, gelebt. Sie war so hilflos unter den Schlägen des Unglückes, daß sie mehr als alle anderen, daß sie sich selbst verlor. Das unabwendbar Traurige, Harte und Grausame ihres Schicksals verwandelte ihr Herz. Sie haßte die Kinder, ja selbst das verlorene, bis tief in die Erinnerung an das namenlose Glück, das es ihr bereitet hatte, bis zur Stunde selbst zurück, da sie glaubte, es empfangen zu haben. Die Söhne wollte sie nicht sehen. Ihnen reichte Emma Nahrung und Kleidung, richtete ihr Lager für den Schlaf, bestimmte die Arbeit für ihre jungen Kräfte und schenkte ihnen die Liebkosungen für ihre verwaisten Herzen, aber sie konnte sie nicht schützen vor dem bösen, funkelnden Blick der eigenen Mutter, den diese auf die Söhne warf, wenn sie einmal, alles vergessend, mit Lachen auf den jungen dunklen Gesichtern zu Tische kamen. An den Mann dachte die Frau Tag und Nacht. Sie arbeitete nichts mehr. Seit er fortgefahren war, wartete sie auf ihn. Schon morgens kleidete sie sich in helle, hübsche Kleider, kämmte lange und sorgsam ihr dichtes, dunkles Haar, das mit lichterem Schimmer, wie der silberne Spiegel eines dunklen Wassers ihren Kopf umschmiegte. Ihre Gestalt, die früher in einer weichen Fülle ihre Mütterlichkeit verraten hatte, wurde schlanker. Mit Entzücken nähte sie sich breite Falten in ihre Taillen ein. Ihre Hände wurden weich und weiß, sie rieb sie unaufhörlich mit tiefem Wohlgefühl aneinander, wenn sie stundenlang in Träume versunken an dem Fenster des Schlafzimmers saß. Rief man sie in solchen Augenblicken an, dann schossen aus schwarzen, weitgeöffneten, unbeweglich starrenden Augen jene wilden Blicke, vor denen alle erschraken. Gewöhnlich stand sie dann auf und eilte aus dem Haus, schnell mit stürmenden Schritten am Rande der Felder verschwindend. Erst am Abend kam sie, heimlich, ohne von jemand bemerkt zu werden, zurück, und Emma fand sie dann im Bett, das Gesicht in die Kissen vergraben, in tiefem Schlafe.

An den Sonntagen kam Klara, Christians Schwester, zum Besuch. An diesen Tagen schien die Frau zu neuem Leben zu erwachen. Ihr Gesicht war dann gerötet, ihr Mund wie früher leicht und froh geöffnet. Wären die tiefen Runzeln ihrer Stirn über den glühenden, schwarzen Augen nicht gewesen, wäre sie jung erschienen wie ein Mädchen. An den Tagen, wo sie Klaras Besuch erwartete, ging sie in die Küche, sprach mit Emma und kümmerte sich um das Essen. Hörte sie dann den Wagen in den Hof einfahren, eilte sie hinaus, und kaum hatte Klara den Boden betreten, warf sie sich in ihre Arme, hielt sie lange und fest umschlungen, ihre Brust innig an die Brust der Schwägerin pressend. »Komm!« sagte sie heiser und eilig, »komm mit zu mir!« Und sie zog sie mit sich in das Schlafzimmer, neben sich auf die Truhe, die am Fenster stand. Dort ließ sie Klara sprechen und fragen, antwortete ihr aber nicht. Unablässig ruhte ihr Blick auf dem Antlitz Klaras, das so deutlich die Züge ihres Mannes trug. Sie erkannte seinen schweren Blick in ihren blauen Augen wieder, seinen schmalen ernsten Mund, sein lichtes Haar. Das Gesicht, die Gestalt der Schwägerin erinnerte sie an die Zeit des Glückes, nach der sie, die Trauer und Verzweiflung nicht fassen konnte, sich zurücksehnte. Sie umschmeichelte Klara, ließ sich von ihr trösten und beruhigen. Wie ein Kind schmiegte sie sich an sie. Wenn Klara gehen wollte, barg sie den Kopf an ihre Brust, und da Worte oder Tränen ihr nicht kamen, schlang sie bittend die Arme fest um ihren Hals und küßte sie auf den Mund.

Als die Heimkehr des Mannes sich verzögerte und Martha keine Zeile von ihm erhielt, wollte sie aus dem Haus entfliehen. »Nimm mich mit zu dir, dort will ich auf Christian warten!« bat sie kindlich die Schwägerin.

»Nein,« sagte Klara zwischen Rührung und Strenge kämpfend, »du bist eine schlechte Frau. Um nichts kümmerst du dich. Es sind doch Christians Kinder und sein Haus.«

»Nimm mich mit!« bat Martha noch einmal leise.

»Nein, es geht nicht!« sagte Klara jetzt kurz und verließ sie, um mit Emma, dem Wirtschafter und den Kindern zu sprechen. Als sie nach einer Stunde wieder nach Martha sehen wollte, war diese verschwunden, im Hause nicht zu finden. Am Abend aber, als Klara zurückfuhr und aus dem Forst auf die Landstraße einbog, kauerte auf einem weißen Meilenstein in der kühlen Herbstdämmerung Martha und rief sie leise an. Sie nahm nun die Frau mit sich und ließ sie auf ihre flehenden Bitten in ihrem Haus.

Dort war Martha glücklich. Dieses Haus war für sie erfüllt von den seligsten Erinnerungen. Vor seinem weiten, mächtigen Portal hatte Christian sie mit starken Armen aus dem Schlitten gehoben, sie hoch in der Luft gehalten, als wäre sie eine Feder. Als Fremde, als Waise, als arme dienende Magd hatte er sie sich erwählt zur Frau, und wie gut war alles geworden. Sie wollte wieder hier warten auf den Mann, daß er sie hole, wie damals als Braut, in das neuerrichtete, hochzeitliche Heim. Denn ihr Haus, das sie eben verlassen hatte, erschien ihr aus der Ferne unbekannt, befreit von Unglück und Sorgen, ein Heim kommenden Glückes.

Als die Nachrichten von dem Prozeß einliefen, aus denen zu entnehmen war, daß das verlorene Kind von den Zigeunern ermordet sei, stand sie still über der fassungslos weinenden Klara. Seit langem zum ersten Male stieg wieder das Bild ihres Kindes vor ihrer Seele auf. Sie sah sein Antlitz, seine Gestalt, sie spürte den Duft des kleinen nackten Körpers, der ihm entströmt war, wenn sie ihn wusch oder ankleidete. In dem tiefen Wohlgefühl dieser Erinnerung erbebte ihr Herz, ein Strom beglückenden Schmerzes durchfuhr ihren erwachenden Leib, um tief, im Innersten ihres Schoßes zu versiegen. Sie lächelte verzückt: »Sei ruhig,« sagte sie, »weine nicht. Wenn Christian kommt, werden wir wieder ein Kind haben.«

Klara erhob ihren tief zum Weinen herabgeneigten Kopf und starrte sie an. Zwei Mütter standen einander gegenüber. Die fruchtbare, deren Leib noch immer gebären konnte, deren Schoß über das todverzweifelte Herz siegen wollte, und die kinderlose, deren Leib verdorrt war schon in der Blüte, und die ihr Herz nun belud mit der Liebe zu dem verlorenen Kind, mit Lasten voll Kummer und Schmerzen um sein Schicksal. Durch den Schleier von Klaras Tränen schimmerte das glühende, lächelnde Gesicht Marthas verklärt und vielgestaltig hindurch. Ja, dachte sie, Martha würde wieder ein Kind haben, diese Mutter, die ihr Kind verlieren ließ, ermorden und vergehen, ohne daß sie selbst verging, sie würde ein neues Kind tragen und neue Freuden empfangen, das Leid aber dem Vater lassen. Denn der Bruder, ihr Bruder, war ein Gatte, war Vater, Leben und Freude spendender Vater, so wie sie selbst eine selige, sorgende, hütende, heißliebende Mutter gewesen wäre. Waren sie nicht beide eines Stammes Zweige? Und doch hatte sie einsam bleiben müssen, verkümmern in der eigenen Fülle und Üppigkeit, und seine Kinder wurden von einer kalten Mutter geboren, waren verwaist schon bei Lebzeiten der Eltern. Sie wandte sich von Martha ab, kümmerte sich von diesem Tage an kaum mehr um sie. Doch Martha empfand nichts. Sie lebte ohne Erinnerung an die Vergangenheit, ohne Gefühl für die Gegenwart, nur im Traum der Zukunft, in der Hoffnung auf neues Glück. Müßig trieb sie sich die Tage im Hause umher, dann wieder plötzlich war sie verschwunden, lief stundenweit die Landstraße entlang und kehrte abends erst zurück. Sie aß fast nichts, und ihre körperlichen Kräfte nahmen ab. Ihre Gestalt wurde hager, das Gesicht sank ein, und doppelt groß und unheimlich glühten die schwarzen, aufgerissenen Augen unter der gefalteten Stirn.

Klara hatte Mühe, neben der Arbeit im eigenen Haus auch noch das Anwesen des Bruders zu überwachen. Da der abwesende Herr nur selten schrieb und oft die dringendste Vorsorge zu vergessen schien, waren alle im unklaren und ohne jeden Rat. Einmal, am Sonntag, mitten in der Ernte, war mit den beiden Söhnen auch der Wirtschafter zu Klara gekommen, hatte lange verlegen geschwiegen und dann gesagt, daß gestern kein Geld zur Löhnung dagewesen sei, da keine Zahlungen gekommen waren und der Herr auch kein Geld hatte schicken lassen. Erschreckt lief Klara zu ihrem Mann, der die Summe, wenn auch nicht ohne Kopfschütteln und mißbilligendes Staunen, gegen eine Unterschrift Marthas herlieh. Der Wirtschafter, bis ins tiefste Herz seinem Herrn ergeben, sah wohl das verächtliche Lächeln auf dem feisten Gesicht des Barons, und als eine Woche später noch immer kein Geld da war, versammelte er die Arbeiter und Knechte nach Feierabend um sich und sagte ihnen, daß die Viehhändler, die große Summen schuldeten, ebenso wie die Getreideaufkäufer und die Müller, das Unglück der Herrschaft wohl ausnützen wollten und nichts mehr gezahlt hätten seit den sechs unglücklichen Wochen, und daß der Herr in den Aufregungen um das Kind wohl vergessen hätte, welches zu schicken, kurz, daß nur Geld da wäre vom Erlös des Wochenmarktes, der aber auch wegen der Ernteverpflegung nicht so hoch sei wie immer, und dieses Geld würde er jetzt verteilen. Sie müßten aber unbedingt reinen Mund halten, und übrigens sei das Geld bei Christian B. so gut wie auf der Sparkasse und sie würden noch Zins daraus ziehen. Die Leute hörten alles ruhig an und sagten weder Ja noch Nein. Sie nahmen ihre Groschen und gingen schweigend zu Tisch. Beim Essen fragte ein junger Knecht: »Erntefest werden wir wohl auch nicht haben?«

»Wem es nicht recht ist, kann gehen«, sagte da der Wirtschafter böse und kurz. Schweigend aßen alle zu Ende.

Die Ernte war gut, die Ähren waren mit Körnern schwer gefüllt. Trotz der Hitze war der Schnitt mit großer Freude begonnen worden. Besonders die jüngeren unter dem Gesinde drängten sich zu der schweren Arbeit auf den Feldern, tauschten sie gern gegen die leichtere in den Ställen und im Hause ein. Man hatte das Mähen schon vor Sonnenaufgang begonnen, da die Hitze am Tage oft allzu drückend war. In der zarten, noch ganz von Schweigen und Schlaf erfüllten Morgendämmerung zogen die Schnitter aus, leise setzte der Takt der Sensenhiebe ein, der zart schwingende, helle Ton der Messer war zu hören bei dem Niedersausen durch die Luft und bei dem Einschneiden in die Halme; dann wagte einer das erste Lied, und im Chore fielen die Hiebe immer schneller und kräftiger ein in die fruchttragenden Halme, die noch im Schutz der kaum vergangenen Nacht zu schlummern schienen. Alle auf dem Felde Arbeitenden waren froh, dem Unglückshause entronnen zu sein, alles lachte und trieb Scherze. Quälte die Sonnenglut sie allzusehr, wanderten die Leute von der Arbeit weg zu dem nahen Forst, legten sich auf Moos, an versteckt rieselnden Bächen nieder.

In fast übermenschlicher Weise war Fritz von frühmorgens bis spät nachts ununterbrochen fleißig. Er öffnete und reinigte die Ställe, versorgte das Vieh, schleppte beim Melken die großen Kübel zum Keller, das Wasser vom Brunnen in die Küche, trug das Essen auf die Felder, band an den Garben mit, begoß den Garten, der ohne seine Fürsorge in der Glut längst verdorrt wäre. Vor allem hielt er Ordnung, räumte jedem nach, und nichts entging seinem Blick. Er war flink, eifrig, gewandt wie nie. Er war da, wenn er gebraucht wurde, und verschwand ebenso schnell, wie er gekommen, wenn er die Arbeit getan hatte. Niemand sah wirklich und nahe sein Gesicht, kein Blick erkannte wirklich sein Auge. Er war ruhig und heiter. Abends, wenn er seine letzte Arbeit noch tat, die schweren Ackerpferde am Brunnen wusch und striegelte, ließ die fieberhafte, rastlose Kraft seiner Arme und Hände nach, seine Bewegungen wurden langsam; sanft strich er mit der Bürste über das Fell der Tiere, und mit müder Zärtlichkeit ließ er seine linke Hand auf den Hals des letzten Pferdes niederklatschen und dort ruhen, wenn er neben ihm zum Stalle schritt. Leise sang er mit seiner hohen, schönen und sanften Stimme. Eine vollkommene Müdigkeit erfüllte ihn, schnell sank er in tiefen Schlaf.

Nun standen die Garben in unabsehbaren Reihen, und es wurde mit dem Einfahren begonnen.

Vier Gespanne, zwei Gespann Pferde, zwei Gespann Ochsen arbeiteten den ganzen Tag. Die Pferde führte Fritz. Er schirrte ein, lenkte die Wagen auf die Felder und ließ sich die Mühe und Arbeit nicht verdrießen, während des Aufladens die Pferde wieder auszuschirren, sie bis zum Rand des Waldes zu führen, aus der brennenden Sonne in den Schatten. Er selbst half dann beim Aufladen, und sein Wagen, am höchsten mit Getreide aufgetürmt, war doch vor allen anderen Wagen fertig. Der Wirtschafter schlug ihm freundlich auf die Schulter und sagte: »Nun komm, Junge, nun wollen wir auch in Gottes Namen als die ersten einfahren!« Und er schwang sich neben Fritz auf den schmalen Kutschbock; mit gekrümmtem Rücken mußten sie sitzen unter dem überneigenden Dach der aufgebauten Garben. Fritz schnalzte leise, aber scharf mit der Zunge. Die ungeheuren Muskeln der Pferde spannten sich, faltig schob sich das Fell an den Schenkeln zusammen, noch ein kurzer Ruck an den Zügeln, und der Wagen zog an, kam langsam, Schritt für Schritt von dem Feld auf die Wegspur, die zwischen den Wiesen entlanglief, nahm dann schwankend den Weg am Brunnen vorbei über das holprige Pflaster des Hofes. Hier hielt er still. Die Pferde schnauften und schlugen mit den schweren Hufen die Steine. Fritz saß ruhig, die Zügel in der Hand, der Wirtschafter war abgestiegen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Hundert Schritt vor ihnen lag die Scheune Nummer vier. Das ungeheure Tor war weit geöffnet, wie schwarze Nacht lag die dunkle Tiefe des Raumes zwischen seinem Rahmen. Fritz maß mit den Blicken die etwas abschüssige Auffahrt, und berechnete den Anlauf, den er mit Pferden und Wagen nehmen müßte.

»Nun los«, sagte der Wirtschafter und wollte helfend in die Speichen der Räder greifen.

Fritz aber erhob seine Peitsche und ließ sie mit einem schweren Hieb über die Rücken der Pferde sausen. Die Tiere stampften auf, mit einem Ruck geriet der Wagen ins Rollen, raste mit seiner ungeheuren Last los, die Auffahrt hinauf, und donnerte über die Schwelle der Scheune. Genau unter dem Tor sprang Fritz vom Kutschbock auf, mit der ganzen Kraft seines Körpers riß er die Zügel zurück, und langsam verrollte der Wagen auf der dicken, weichen Schicht des Bodenstrohes. Die Pferde standen, etwas Schaum vor dem Maul, mit unbeweglichen Köpfen in der plötzlichen Dunkelheit. Das Stampfen ihrer Hufe dröhnte dumpf auf dem strohbedeckten Boden. Jeder lebendige Laut war mit einem Male erstickt, selbst die eigene Stimme erklang grabesfern dem Ohr. Das blendende Licht des Sommertages war erloschen, heiße, tote, von Modergeruch erfüllte Luft herrschte hier und schreckliches Schweigen. Fritz fühlte kalten Schweiß aus allen Poren seines Körpers zugleich ausbrechen. Er stand unbeweglich, nur seine Augen schossen umher.

Der Wirtschafter war dem Wagen nachgekommen und trat nun auch in die Scheune ein. Er blieb betroffen stehen: »Das ist ja eine schreckliche Hölle hier drinnen«, sagte er und versuchte zu lachen.

»Ich will gleich die Pferde abreiben«, erwiderte Fritz und begann mit mühsamen, schweren Bewegungen die Pferde auszuschirren und hinauszuführen. Beim Abladen der Garben half er nicht, doch fuhr er alle Wagen ein, da er, wie er sich rühmte, die Auffahrt so gut zu nehmen verstand. Wagen auf Wagen fuhr er so in die Scheune und sah, wie ihre ungeheuren Fächer mit Getreide sich füllten. Er dachte an nichts zurück und wandte den Kopf auch nie nach jenem Winkel, der nun auch schon verdeckt war durch die aufgehäuften Berge der Garben. Einmal nur, als er bei dem Aufschichten des letzten Getreides, das fast bis zur Decke reichte, helfen mußte, und er hoch oben auf einer der Getreidemauern stehend, die emporgeworfenen Garben auffing und einlagerte, suchte er, in Sorge, daß die Tiere ersticken könnten, das Nest mit den Vögeln. Aber es war, jetzt im August, schon leer.

Die Scheune war gefüllt und wurde geschlossen. Vier Mann waren nötig, um die Riesenflügel des Tores in den verrosteten Angeln zu bewegen. Sie teilten sich in Gruppen zu je zwei, packten die Flügel und liefen von links und rechts mit voller Wucht den weiten Bogen von der Mauer bis zur Mitte der Öffnung gleichzeitig aufeinander los und mußten zweimal ansetzen, ehe endlich die Ränder der Flügel ineinandergriffen. Ein großer, schwerer, eiserner Riegel wurde vorgelegt und durch ein Schloß versiegelt.

Alle standen, schwer atmend, noch eine Weile still. Fritz lachte. »Das war die allerschwerste Arbeit.« Der Wirtschafter erzählte von den Nachrichten über den Zigeunerprozeß, daß man die Leiche des Kindes doch nirgend finden könne. Alle hörten schweigend zu, Fritz sagte traurig: »Ach, die werden sie nie finden, die haben sie wohl gut versteckt.« Niemand achtete auf seine Worte, und langsam gingen die Leute in den Hof zurück. Fritz suchte nach seiner Mutter und ging ihr nach bis in den Milchkeller, wo sie Rahm für die Butter abnahm. Er griff zu und nahm ihr den schweren Topf ab, den sie zwischen den Knien hielt. »Was willst du hier?« frug sie.

»Hier ist es kühl«, sagte er leise. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Es hat schon wieder kein Geld gegeben.«

»Du brauchst kein Geld!« sagte die Mutter streng.

»Ich meine nur, für dich«, sagte er.

»Ich brauche auch keins«, sagte sie kurz, aber sie war doch gerührt und legte beim Hinaufgehen ihren Arm um ihn, und er schmiegte sich schnell in ihre Umarmung, und alles war heiter und ruhig in ihm.

Die Arbeit nahm ihren Fortgang, schenkte ihm Freude und Zufriedenheit für die Tage und tiefen traumlosen Schlaf für die Nächte, die Zärtlichkeiten der Mutter erfüllten seine Feierstunden. An den Nachmittagen der Sonntage saßen sie zusammen im Garten in der kleinen Laube, und er mußte ihr Lieder aus dem Gesangbuch vorsingen, oder sie lehrte ihn auch andere Lieder, Liebeslieder, die sie aus der Jugendzeit noch kannte. Sie hörte mit Entzücken seiner schönen sanften Stimme zu.

Gerade als der Schnitt beendet war, erschien die Gerichtskommission und nahm nochmals den Tatbestand auf. Vor der zur Zeit des Unglücks offenen, jetzt aber schon geschlossenen Scheune Nummer vier erklärte der Wirtschafter, daß auch diese seinerzeit durchsucht worden, und es sei überdies, da sie völlig leer und eben war, ein etwaiges Verunglücken des Kindes darin nicht anzunehmen. Auch hätten ja der auf dem Dache arbeitende Dachdecker Güse und der ihm dabei helfende Dienstjunge Fritz Schutt nichts Auffälliges bemerkt. Der Beamte war befriedigt und ging an die Verhöre des Gesindes. Fragen und Antworten fielen schnell und klar, alles lag offen zutage. Fritz, ohne sich zu besinnen, ohne sich zu erinnern, trug die Antworten leicht auf der Zunge. Der Kommissar fragte: »Du hast die Anna B. zuletzt gesehen?«

»Ja, unten beim Teich.«

»Was hast du da gemacht?«

»Ich schnitt Weiden.«

»Was hast du mit Anna B. gesprochen?«

»Nichts. Sie wollte ein Vogelnest sehen, aber ich wußte keines.«

»Aber sie ist mit dir vom Teich weg nach dem Hof gegangen?«

»Ich weiß nicht, ich habe schwer getragen.«

»Wo bist du hingegangen?«

»Ich bin in die Scheune gegangen und habe die Weiden abgeladen.«

»Da hast du niemanden gesehen?«

»Ich habe niemanden gesehen.«

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich bin zur Vesper gegangen, ich war sehr durstig vom Weidentragen.«

»Aber du hast doch früher angegeben, daß du einen Bettler gesehen und vom Hofe gejagt hast, und eben sagst du, du hättest niemanden gesehen!«

»Ja, ich habe den Bettler gesehen und vom Hofe gejagt. Ich habe gedacht, Sie meinten, ob ich die Anna B. gesehen habe. Die habe ich nicht gesehen. Ich wollte nicht lügen.«

Der Beamte lächelte und ließ ihn gehen.

Die Ernte war nun nach und nach gänzlich beendet worden, die Kornfrüchte waren sehr reichlich, auch das Obst gut, nur Kartoffeln und Gemüse infolge der andauernden Hitze und Trockenheit schlecht. Auch Vieh war eingegangen, vier Würfe junger Ferkel und ein Zug Hammel, der auf der Weide durch dumpfiges Wasser erkrankt war. Der Wirtschafter, so lange ohne Weisung des Herrn, fuhr in die Stadt, um auf eigene Faust Geld einzutreiben. Er erfuhr aber, daß die meisten und größten Zahlungen jetzt beim Notar geleistet worden waren, und dann von dem Notar selbst, daß das Geld an den jeweiligen Aufenthalt des Herrn abgegangen war. Im Einverständnis mit Emma versuchte er nun, den wöchentlichen Markterlös zu steigern, und brachte, da Gemüse und Kartoffeln nur wenig vorhanden waren und auch die Milcherzeugnisse sich verringert hatten, große Mengen Obst, die sonst eingewintert wurden, und viel Geflügel zum Verkauf. Er bestritt hiervon die Löhne und die notwendigen Reparaturen und Ergänzungen an Geräten und Wagen. Ende September kamen schwere Gewitter und brachten Regen. Nachdem die völlig ausgetrocknete und staubende Erde durchfeuchtet war, wurde der Mist gefahren, umgegraben und die Wintersaat beendet, auf Schlag sieben in Scheune neun mit Ausdreschen von vorjährigem Weizen begonnen. Nach der Kartoffelernte und vor dem Beginn des Holzfällens für den Winter, zu Ende Oktober und Beginn November, verteilte der Wirtschafter jede Woche einmal die drei Gewehre des Herrn, und im ersten Frost zog er mit den Knechten und Handwerkern auf Jagd. Er selbst, der Fischer Andres und ein älterer Knecht konnten schießen, die anderen scheuchten zu, liefen den angeschossenen Tieren nach, suchten wie Hunde ihre Spuren und töteten sie mit Knüppeln. Diese Jagden ersetzten ihnen die entgangenen Freuden des Erntefestes, und viele, die während der Ernte sich im geheimen vorgenommen hatten, zu gehen und diesen Unglückshof zu verlassen, waren dadurch wieder gewonnen. Bei dem Verzehren der Beute, die aus wilden Hühnern, Hasen und sogar einem Reh bestand, herrschte große Lustigkeit und fröhlicher Lärm. Dann kam schnell Kälte, Schnee und die Heimkehr des Herrn.

Der Wirtschafter schickte die Nachricht zu Klara hin. Als Martha sie vernahm, schien sie vor Schreck zu erstarren. Mit einem Schlag war sie erwacht aus ihrem Traum, ihr Widerstand war gebrochen. Wie eine schwere Hagelwolke, die fern am Himmel sich gesammelt hat, durch Sturm getragen, den Tag verfinsternd, plötzlich niederschlägt und vernichtet, so stürmte jetzt das Unabänderliche, das Hoffnungslose mit Macht in ihr verzaubertes und verträumtes Gemüt. Der Gedanke an den Mann, den sie mit zärtlicher und heißer Sehnsucht erwartet hatte Tag für Tag, flößte ihr nun Entsetzen ein. Sie sah sein weißhaariges, versteinertes Gesicht mit den verhangenen Augen vor sich, sie fühlte seine eisige, restlose Verzweiflung, sein abgewandtes ganz in das Unfaßbare gegebenes Herz, sie fühlte seine Hand, die sie von sich gestoßen hatte. Das Haus sah sie nun, wie es wirklich war, von Glück verlassen, das Bett des Kindes leer, sie selbst Abend für Abend einsam auf dem Lager, die sehnende Brust gegen die Kissen gedrückt, das Gesicht vergraben, den Leib erstickt, und alle Tage und alle Stunden vom Unglück umgeistert. Sie sank zu Boden, und zum erstenmal in dieser ganzen Zeit weinte sie, schrie, wälzte sich in Tränen am Boden hin und her. Sie wehrte sich aus allen Kräften, mit Klara nach Treuen zu kommen, um den Mann zu sehen.

Klara blickte sie stumm an, »sie ist eine Fremde,« dachte sie, »sie war sein Unglück«. Sie ließ anspannen und fuhr allein. Als sie abends um neun Uhr in Treuen ankam, fand sie alles schon dunkel. Emma kam auf ihr Klopfen herbei und sagte ihr, daß der Herr wohl angekommen sei, sich aber sofort in dem Wohnzimmer eingeschlossen habe. Klara klopfte an die Tür und rief seinen Namen, doch er antwortete nicht. Sie ging hinauf in das Schlafzimmer und wollte sich in Marthas Bett schlafen legen. Als sie im Schein der Kerze die drei verwaisten Betten, das des Bruders, das der Frau und zu Füßen dieser beiden das des Kindes erblickte, erschien ihr das Unglück so groß, daß sie es nicht mehr fassen konnte. Die weiche Traurigkeit ihres Herzens erstarrte, ihre Klage verstummte, und die Tränen, die aufstiegen, lösten sich nicht mehr von ihren Augen. Sie hielt die Hände gefaltet, doch beten konnte auch sie nicht mehr. »Wofür soll ich beten?« dachte sie. »Das Kind ist vielleicht nicht tot, aber es ist alles viel schlimmer.« Sie wagte sich nicht in das Bett zu legen, sondern durchwachte die Nacht, auf der Truhe am Fenster sitzend.

Am Morgen begegneten sich dann alle beim Frühstück in der Küche. Der Herr trat schnell ein. Bruder und Schwester reichten sich die Hände.

Er war furchtbar verändert. Sein festes und bisher so streng verschlossenes Gesicht war aufgedunsen, die Züge verschwommen, aufgelöst in weiche, schlaffe Falten, die Farbe war fahl, an den Wangen nur von einem gelblichen Rot, das sich in kleinen Flecken dort gesammelt hatte. Sein Bart hing lang und wirr um den Mund, der, jetzt viel geöffnet, zu lächeln schien und oft lautlos sich bewegte. Den Nacken hielt er gesenkt, seine Brust schien schmäler geworden zu sein, bedrückt von den herabsinkenden Schultern. Seine Hände zitterten leicht, sobald sie ruhten, sein Schritt war langsam und doch von einer seltsamen Leichtigkeit. Die Augen waren meist gesenkt. Schlug er die schweren Lider zurück, ruhte der Blick trübe und verschleiert in die Ferne gerichtet. Doch licht und klar war seine hohe, breite Stirn unter dem verblichenen, lang und wirr verwachsenen Haar.

Er sprach nichts, und sein Schweigen war so gebietend, daß niemand zu fragen wagte. Eine vollkommene Ruhe ging von ihm aus.

Die Söhne kamen herein. Beide waren gewachsen in der Zeit, und der Jüngere war dem Älteren nun völlig gleich an Größe. Ihre Gestalten ähnelten schon sehr der des Vaters, nur die feinen, kleinen Köpfe mit dunklem Haar und dunklen Augen erinnerten an die Mutter. Sie kamen mit verlegenen Schritten näher und wagten nicht, den Vater anzusehen. Er packte jeden von ihnen an den Schultern und preßte ihn einen Augenblick lang gegen seine Brust. Dann drückte er Emma die Hand, die aufschluchzte bei dieser Berührung, und nickte den anderen grüßend zu. Man begann das Mahl. Am Platze Marthas saß Klara. Er fragte nichts. Nach dem schnell beendeten Essen, als die Küche wieder leer war, begann Klara leise: »Martha ist bei uns. Ich glaube, sie ist krank. Sie ist sonderbar, Christian, sie will nicht hierher.«

»Laß sie nur,« sagte er langsam und auch leise, »das ist gut.«

»Und die Wirtschaft, die Kinder?«

»Die Kinder sollen auch fort.«

»Nein, Christian, die nicht.«

»Doch; wenn sie wollen, kommen sie schon wieder.«

Beide schwiegen jetzt. Dann fragte Klara: »Und Anna?«

Der Bruder hob nur die Hand, hielt sie in der Luft, wo sie leise zitterte, und ließ sie dann schwer wieder auf den Tisch fallen.

Klara sah ihn an, sein verändertes, aufgelöstes Gesicht gebot ihr, zu schweigen.

»Du hast kein Geld im Hause«, begann sie nach einer langen Weile wieder.

»Geld gibt es genug, ich kann ja verkaufen.«

»Ist es schon so weit?«

»Vielleicht«, sagte Christian. Dann, den schweren Blick auf der Schwester helles Haar richtend, fragte er plötzlich: »Wie waren eigentlich unsere Eltern?«

Erstaunt sagte Klara: »Das weißt du doch. Der Vater hat immer gearbeitet und war gesund.«

»Und die Mutter?«

»Ja, die Mutter hat manchmal geweint und hat viel gebetet in der Zeit, als du noch gar nicht geboren warst.«

Er sah die Schwester an und sagte fast zärtlich: »Als Kinder waren wir doch glücklich, was?«

Klara nickte.

»Und jetzt sind wir bald am Ende. Ich hoffe es.«

»Denk doch an die Kinder.«

»Es wird immer an uns gedacht, im Guten oder im Bösen.« Christian stand langsam auf.

»Soll ich hierbleiben, bei dir?« fragte die Schwester schnell.

»Nein, fahre heim, dort ist es besser als hier«, sagte er noch, dann ließ er die Schwester stehen und ging wieder ins Wohnzimmer.

Schwer gehorchte Klara. Das Haus des geliebten Bruders war ihr in seiner Zerstörung, seinem Unglück näher und heimatlicher als ihr eigenes Heim, das Heim des Gatten, das so einsam geblieben war, von Glück und Unglück gleicherweise gemieden.

Sie fand bei ihrer Rückkehr Martha in der Küche neben dem Herd sitzend, die Hände unter der Schürze verborgen.

»Frierst du?« fragte sie.

»Ich fürchte mich.«

»Komm mit ins Wohnzimmer. Du mußt nicht hier bei den Mägden sein.«

»Ich war auch eine Magd«, sagte Martha.

»Nein, du bist eine Frau und hast Mann und Kinder. Willst du nicht zurück zu deinen Jungen?«

»Ich habe auch keinen Vater gehabt,« antwortete Martha, »warum kommt Christian nicht zu mir? Ich bin noch jung genug. Sechsunddreißig Jahre ist kein Alter. Wie alt bist du?«

»Ich? Achtundvierzig.«

»Du Arme!«

»Willst du nicht etwas arbeiten?«

»Nein. Wie sieht Christian aus? Immer noch so alt?«

»Er sieht schlecht aus. Du solltest hin und ihn pflegen.«

»Er ist nicht krank. Ich bin krank, und wenn ich in das Haus gehe, muß ich sterben, ich fühle es genau. Ich bin aber noch zu jung. Ich will nicht sterben. Wir müßten in ein neues Haus ziehen, Klara. Du mußt wieder dabei helfen. Wir können dann von neuem leben, das will ich ihm sagen, wenn er kommt. Kommt er bald?«

»Du weißt ja, er hat viel Sorgen«, erwiderte Klara, und Martha sagte nichts darauf, stand auf und folgte ihr in das Wohnzimmer. Seit diesem Tage begann Martha wieder zu arbeiten, und zwar konnte Klara sie nicht davon abhalten, die niedrigsten Arbeiten zu tun, auf die sie sich stürzte. »Ich will ruhig wieder eine Magd werden, auch in der Stadt habe ich gedient, und Christian hat mich geholt. Wenn ich nur nicht sterben muß«, sagte sie und fragte jeden zweiten Tag: »Kommt Christian?«

»Ich habe keine Nachricht«, sagte Klara.

Oft, in der frühen Dämmerung des November, lief sie fort, im bloßen Kleid, die Hände unter die Schürze gesteckt, kam erst am Abend wieder, erstarrt vor Kälte, und verkroch sich ins Bett. Mit Klara nach Treuen zu fahren, auch nur auf einige Stunden, dazu war sie nicht zu bewegen. »Dort darf man nicht mehr leben«, sagte sie. »Christian soll auch fortgehen, er soll zu mir kommen.«

Doch er fragte die Schwester nie nach ihr. Wenn Klara von ihr sprach, sagte er: »Sie hat es besser bei dir.« Und so hatte Klara nach und nach die Kleider, Wäsche und Schuhe Marthas zu sich geschafft. In der Truhe, die alle die Schätze der Frau geborgen hatte, blieb nichts zurück als das schwarze schwere Seidenkleid, und auf ihm liegend, fein zusammengefaltet, der Brautschleier. In dem Schlafzimmer wohnte nun niemand mehr. Der Mann hauste im Wohnzimmer, das er nur zu den Mahlzeiten verließ. Er sprach fast nichts mehr. Die Berichte des Wirtschafters hörte er stumm an und erwiderte nur das Nötigste. Er schrieb viel. Da der große Verbrauch an Bargeld in den letzten Monaten seine Wirtschaft sehr erschüttert hatte, rechnete und verhandelte er mit den Händlern. Er verkaufte Vieh bis weit über die Zahl hinaus, die er als Zuchtherde sonst hielt, trotzdem die Zeit ungünstig war, da infolge der guten Kornernte die Fleischpreise sanken.

Da er ständig an seinen Tod dachte und auf ihn wartete, wollte er das Erbteil der Söhne an Bargeld unbedingt erhalten. Im Frühjahr wollte er sie fortschicken, auf eine Schule in der Stadt oder in die Lehre auf ein anderes Gut, weit fort, im Süden des Landes. Er trank nie mehr, doch die ausgeweiteten, schlaffen Züge seines Gesichts füllten sich nicht mit neuer Kraft.

Der Winter begann in derselben Pracht, in der der Sommer geendet hatte. Leuchtend waren Tag und Nacht die weißen Felder im Schnee, die Teiche im Kristall des Eises. Drei Tage und Nächte hatte im November der Sturm geweht, die Bäume kahl gefegt, den Himmel mit Wolken überzogen. Nun war schon lange alles still, die Luft klar in der Kälte, und im rötlichen Schein der Wintersonne schwebte sie über den Feldern wie Schleier aus zartem Gold, umschmiegt von dem weichen, dunklen Blau des Horizontes. In den Nächten des Neumondes überzogen Wolken den Himmel, und es schneite von neuem. Die vollkommene Ruhe über der Natur war Trauer und Fest, Leben und Tod zugleich. Es schwieg der Lärm des Lebens, des Wachsens, der Geburt, und es sprach die Stille des Todes, seine erlösende Verheißung in der Nacht.

Allabendlich ging Christian B. in die Dunkelheit der Winternächte hinein, in denen der Himmel finster war, die Erde aber, das Grab, weiß leuchtete. In die Dunkelheit des Himmels waren ihm entschwebt die Liebe seines Herzens, die Arbeit seiner Hände, Glück und Leben, kalt umleuchtete ihn von unten her die Gewißheit des Todes. Zwischen beiden stand das Unglück, Gottes verhülltes Angesicht. In ihm war der Friede der vollkommenen Verzweiflung. Er hoffte, am Ende zu sein, nur noch die Kraft seines Körpers langsam ausrinnen zu fühlen in den Lauf seiner müden Tage, und dann, wenn endlich der letzte Augenblick gekommen, wenn der letzte Herzschlag verhallt war, vor sein Ohr das große Schweigen trat, vor sein Auge die tiefste Dunkelheit, dann noch Gott zu erkennen, sein Wort, seinen Willen, seine Klarheit und seine unendliche Güte. Sein Kind aber erschien ihm jetzt als Engel. Nicht tot, nicht lebend, weilte es zwischen Himmel und Erde und führte ihn den schweren Weg.

Aber das Ende war ferner denn je. Es war zu Beginn der zweiten Dezemberwoche, als Christian gegen neun Uhr abends, aus den Feldern auf den Wald zuschreitend, seiner Frau begegnete. Mit eilenden und in der Eile schwankenden Schritten kam ihm ihre dunkle Gestalt auf der weißen Erde entgegen. In der mondlosen Nacht konnten sie sich mit dem Auge nicht erkennen, aber sie fühlten einander, strebten einander entgegen. Wortlos zusammenbrechend, fiel Martha in seine Arme. Er trug sie nach Hause.

Sie war erkrankt Im Fieberrausch, halb nur bekleidet, war sie aus dem Bett geflohen, hatte es sie den lange gefürchteten Weg zurückgetrieben. Christian trug sie über die Treppe in die kalte, verwaiste Schlafstube und legte sie nieder, in ihr Bett. Er weckte Emma, die Feuer machte, der Frau die Kleider von dem furchtbar abgezehrten Leib abzog, heimlich und schnell die Hände der Herrin unter Freudentränen küssend. Sie machte Wasser warm und wusch ihr die Füße, die schmutzig unter dem Hemd hervorsahen. Sie hüllte die von Frost und Fieber geschüttelte Frau in wollene Tücher, flößte ihr heiße Milch mit Honig ein. Die Frau lächelte. Im Schein der Kerze sah ihr fieberglühendes Gesicht wie das Antlitz eines Kindes aus. Der Mann saß neben ihr am Bett, und sie hielt seine Hand fest umklammert. Im Fieber träumte sie, sie läge in Schmerzen vor der Geburt eines Kindes. »Du darfst noch bleiben,« flüsterte sie und drückte seine Hand, »die Schmerzen sind noch in der Brust, noch nicht im Leib. Bis zum Abend darfst du noch bleiben, ich fühle es ganz genau. Du hast lange gewartet, aber ich habe dich in die Arme genommen. Ich habe dich immer in die Arme genommen, und wir haben Söhne gehabt Doch jetzt bekommst du eine Tochter, und wir werden glücklich sein wie noch nie. Du bekommst eine helle Tochter von deiner schwarzen Frau. Sie heißt Anna. Durch mich geht das Kind hindurch, und dann geht es fort Aber wir brauchen nicht unglücklich zu sein, denn jetzt kommt unsere Tochter, und dann werden wir nie mehr ein Kind haben, wir haben dann alles Glück. Wenn du zu mir kommst, haben wir immer Glück, du darfst nicht fortgehen, jetzt kommen die Schmerzen, aber das Kind, unsere Tochter –« und sie stöhnte, schrie leise, bäumte sich auf, wie unter furchtbaren Wehen, dazwischen rief sie mit zärtlichen Namen den Mann und das neugeborene Kind.

Still saß Christian neben ihr und hielt ihre Hand. Gegen sechs Uhr morgens erlosch die Kerze, weißer Schein schwebte vor den Fenstern, neuer Schnee fiel. Die Tiere riefen aus den Ställen, in der Küche erhob sich der Lärm des Tages. Langsam dämmerte es. Plötzlich erklang Pferdegetrappel im Hof, und nach einer Weile trat Emma behutsam ein und brachte ein Telegramm. Die Frau schlief endlich tief und erschöpft. Zart machte sich Christian frei von ihrer Hand und las die Depesche: »Unzweifelhaft Anna B. lebend gefunden, ist in Obhut bei deutschem Lehrer Röder in Kr. im russischen Polen.«

Schwer wandte er den Blick von diesen Worten weg auf das Gesicht der schlafenden Frau. Es war gerötet, jugendlich, überbreitet von einem zarten Lächeln. Die Schultern und der Beginn ihrer Brust waren entblößt. Christian sah die sanften Hügel an, die sich im Atem hoben und senkten. Er fühlte plötzlich Entsetzen über sich selbst, über sein vereistes, allzu stilles Herz. Im Glück, in der guten Zeit, hatte er gern mit den anderen gelebt, die Freuden mit allen geteilt. Im Unglück hatte er sie allzu schnell verlassen, hatte allzusehr nur dem eigenen Schmerz gelebt. Nie mehr würde er ein Kind zeugen, aber um der Frau willen, die träumte, daß sie gebäre, wollte er noch einmal ausziehen, gegen die eigene Verzweiflung kämpfen und noch einmal suchen nach dem verlorenen Kind. Er nahm die Decke und hüllte die Frau sorgsam ein. Sie erwachte nicht.

Er verließ das Zimmer, ließ sofort anspannen und fuhr in die kleine Stadt. In einer Regung seines neuerwachten väterlichen Gewissens beschloß er während der Fahrt, seinen ältesten Sohn mit auf die Reise zu nehmen. Er schickte den Wagen mit einem Arzt für die Frau zurück und begann sofort mit den Vorbereitungen. Da seine Person und der Zweck seiner Reise allgemein bekannt waren, kamen ihm alle Behörden äußerst entgegen. Die Pässe wurden ihm für den nächsten Tag schon bereitgehalten, und mit Hilfe des Postmeisters wurde sein Reiseweg an Hand großer Karten und Pläne festgestellt. In zwei Tagen konnte Christian bis zur letzten Eisenbahnstation gelangen, von wo es dann noch eine Tagereise bis zum eigentlichen Grenzübertritt sein würde. Von da sollte eine große Poststraße, wegen eines vorgelagerten Gebirges allerdings in weitem Bogen, zu der kleinen, russischen Stadt führen, die das Ziel war. Es mußten also vier bis fünf Reisetage im günstigsten Falle angenommen werden, und die Kosten beliefen sich nach der Meinung des Postmeisters auf sechzig Taler. Christian beschloß, am übernächsten Morgen zu reisen, und die Polizeibehörde signalisierte seine Ankunft an die in Frage kommenden ausländischen Behörden, so daß er überall auf Rat und Hilfe rechnen durfte.

Christian übernachtete in der Stadt. Da seine Barmittel schon sehr erschöpft waren, mußte er sich am folgenden Tage noch bemühen, auf die diesjährige Ernte Geld aufzunehmen. Spät am Abend klopfte er noch an verschiedenen Läden an, und etwas von der alten, freudig fürsorgenden Art lag darin, wie er für den Sohn ein Paar hohe Stiefel, eine Joppe und einen Reisesack mit besticktem Einsatz auswählte und kaufte.

Nachts kam er heim. Er weckte Emma, fragte nach der Frau. Sie schlief, und der Arzt hatte nur Ruhe und Stärkung verordnet. Er übergab der Magd die Sachen für den Sohn, den sie früh am Morgen wecken und auf die Reise vorbereiten solle. Auch etwas Proviant für sie beide möchte sie richten und seinen Reisesack wie immer bereitmachen. Emma machte sofort Feuer unter dem Herd, knetete einen besonders festen Teig für einen Kuchen, der lange frisch und feucht bleiben konnte, holte Sauerteig aus der Vorratskammer für zwei Brote, und während der Backofen sich erwärmte, ging sie mit der Laterne in den Hühnerstall, ergriff zwei Tiere, schlachtete sie an Ort und Stelle ab, damit niemand geweckt werde, und briet sie während des Backens mit. Dann salzte sie Butter ein und umhüllte einen von dem schweren Knochen losgelösten Schinken mit frischer Leinwand. Nach vier Uhr morgens war sie mit allem fertig. Als sie Licht in des Herrn Zimmer sah, klopfte sie an und verlangte den Reisesack zum Einpacken. Der Herr reichte ihn ihr hin. Er sah ihr sanftes, gutes Gesicht, gerötet von Arbeit. »Gott lohne dir's,« sagte er, »ich habe euch alle vergessen und nicht gut gesorgt.«

»Ach, wäre es doch schon im Himmel!« sagte Emma. Sie meinte das Kind, sie war ganz verwirrt, daß der Herr zu ihr sprach und solche Worte.

»Sorge dich gut um die Frau, sage ihr, es sei gute Botschaft gekommen, und der Frau wegen sei ich gereist. Wecke Blank in einer Stunde, er soll sofort zu mir kommen. Bleibe gesund, und habe Dank«, und er ergriff ihre Hand und drückte sie. Sie wandte sich vor Rührung, Freude und Schluchzen. Worte fand sie nicht. Aber heiß und vollkommen wahr stieg der Wunsch, ihr Leben hinzugeben für das Glück des Herrn, in ihrem einfachen Herzen auf.

Nach und nach erwachte das ganze Haus. Fritz war schon in den Ställen, der Schlitten wurde herausgeschoben, der Wirtschafter kam mit dem Herrn aus dem Wohnzimmer, alle trieben sich in der Küche umher, teils aus Neugierde, teils weil die Küche vom Backen in der Nacht noch so gut durchwärmt und duftend war. Eine leichte Fröhlichkeit war zu spüren. Mit leuchtenden Augen, das sonst so scheue und bedrückte Gesicht vor Freude und Staunen glühend, stand der junge Sohn zwischen ihnen. Alle bewunderten seine schönen neuen Sachen, die warme Joppe mit den Knöpfen aus Hirschgeweih, die hohen, bei jedem Schritt noch knarrenden Stiefel und den bestickten Reisesack. Der Herr trat ein, bereits fertig für die Reise gerüstet. Auch er schien lebhafter als sonst, sein Gesicht war gespannt, seine Gestalt gestrafft. Er sah den Sohn an, der erwartungsvoll zu ihm aufblickte, aber nicht näher zu kommen wagte.

»Nun, hast du Angst?« fragte er.

Der Knabe schüttelte nur den Kopf, er konnte vor Aufregung nicht sprechen. Alle lachten. Sie tranken mit Behagen die heiße Morgensuppe, denn draußen war schöne, klare Dezemberkälte. Mancher der jungen Burschen hätte Lust gehabt, diese Reise mitzumachen. Der Tag dämmerte. Der Herr stand auf und schritt noch einmal über den Hof. Die Pferde wurden eingeschirrt, das Gepäck aufgeladen. Blank, der Wirtschafter, fuhr mit zur Stadt, er sollte in die Geldregelung eingeweiht werden und Vollmachten erhalten. Nach und nach geriet alles immer mehr in Aufregung, der Lärm wuchs. Fritz knallte mit seiner Peitsche, und der Sohn bestieg als erster den Schlitten. Der Vater zögerte. Er dachte daran, daß sie von der Frau nicht Abschied genommen hatten. Er sah nach ihrem Fenster, nichts regte sich. Er sprang schnell auf den Schlitten und setzte sich neben den Sohn. Emma kam herbeigestürzt, und auf die Kufen des Schlittens sich stellend, riß sie das Haupt des Knaben zu sich nieder, so daß seine Mütze in weitem Bogen in den Schnee fiel, und überschwemmte sein Gesicht mit Küssen und Tränen. Alle kamen noch heran und drückten Vater und Sohn die Hand.

Der Knabe war sehr stolz. Nun kam auch Blank, stieg ein, und schnell fuhr der Schlitten zum Hof hinaus.

In diesem Augenblick ertönte im Hause vom Schlafzimmer her ein furchtbarer Schrei der Frau. Entsetzt fand Emma sie am Boden liegend und schreiend mit den Händen auf die Dielen schlagend. Sie war von dem Lärm im Hof erwacht und hatte durch das Fenster in der Dämmerung den fortfahrenden Schlitten mit dem Mann und Sohn erkannt. Man mußte sie mit Gewalt ins Bett bringen, Tag und Nacht blieb Emma bei ihr, erzählte ihr wieder und wieder den Bescheid, den der Herr ihr für die Frau gegeben hatte, doch sie erhielt nie ein Zeichen, daß die Frau verstanden hätte. Sie war in der folgenden Zeit eine böse Kranke, quälte Emma sehr, goß heimlich die mit größter Sorgfalt bereiteten Speisen fort, so daß Emma sich mit ihr einschloß, sie überwachte und mit sanfter Gewalt und unermüdlicher Geduld so lange zu Essen, Schlaf und Genesung zwang, bis die Kranke nach einigen Wochen sich doch wieder erheben konnte.


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