Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Der Wald lag wieder im Schnee und verstummte unter dem dichten, weißen Mantel. Nur das Rufen der Krähen ließ sich hören, nur dann und wann das besorgte Schakern einer Elster und das verschüchterte leise Zwitschergespräch der Meisen. Dann wurde der Frost härter, und alles schwieg. Jetzt begann die Luft vor Kälte zu klingen.

Eines Morgens zerriß Hundegebell die tiefe Stille.

Es war ein unaufhörliches eiliges Bellen, das rasch durch den Wald dahinfuhr, gepreßt, hell und in gezogenen überschnappenden Tönen zankend.

In der Grube unter dem gestürzten Buchenstamm hob Bambi das Haupt und sah den Alten an, der neben ihm lag.

»Es ist nichts«, antwortete der Alte auf Bambis Blick, »nichts, was uns betrifft.«

Gleichwohl lauschten beide.

Da lagen sie in ihrer Grube, hatten den alten Buchenstamm als schützendes Dach über sich, der hohe Schnee hielt die eisige Zugluft von ihnen ab, und das wirre Gezweig der Büsche verbarg sie wie ein dichtes Gitter vor jedem Späherauge.

Das Bellen kam näher, zornig, keuchend, erhitzt. Es mußte ein kleiner Hund sein.

Immer näher kam es. Jetzt hörten sie doppeltes Atemholen, hörten durch das zänkische Gebell ein leises, schmerzliches Knurren. Bambi wurde unruhig, aber der Alte sagte wieder: »Nichts, was uns betrifft.«

Sie blieben still in ihrer warmen Kammer und blickten hinaus.

Da knisterte es näher und näher in den Zweigen, Schnee fiel von plötzlich angerannten Ästen, Schnee stäubte vom Boden auf.

Jetzt konnte man auch erkennen, wer hier kam.

Durch Schnee und Stauden, Zweige und Wurzeln sprang, kroch und schlüpfte der alte Fuchs.

Gleich hinter ihm brach der Hund heran. Es war richtig ein kleiner Hund auf kurzen Beinen.

Dem Fuchs war ein Vorderlauf zerschmettert und dicht darüber das Fell aufgerissen. Er hielt das zerschmetterte Bein hoch vor sich hin, das Blut sprang ihm aus den Wunden, sein Atem pfiff, seine Augen starrten weit vor Entsetzen und Anstrengung. Er war außer sich vor Schrecken und Zorn, er war verzweifelt und erschöpft.

Mit einem Male machte er kehrt. Ein drehender Wischer, der den Hund verblüffte, so daß er ein paar Schritte zurückwich.

Der Fuchs setzte sich in die Hinterbeine. Er konnte nicht weiter. Den zerschossenen Vorderlauf kläglich erhoben, den Rachen offen, mit zuckenden Lefzen fauchte er dem Hunde entgegen.

Der aber schwieg keinen Augenblick. Seine hohe, gequetschte Stimme wurde jetzt nur voller und tiefer. »Da!« schrie er. »Da! Da ist er! Da! Da! Da!« Er schalt jetzt nicht auf den Fuchs, sprach in diesem Augenblick gar nicht zu ihm, sondern rief offenbar jemand anderm zu, der noch weit entfernt war.

Bambi ebenso wie der Alte wußten, daß Er es war, den der Hund herbeirief.

Auch der Fuchs wußte es. Das Blut strömte jetzt an ihm herunter, stürzte von seiner Brust in den Schnee und bildete auf der weißen eisigen Decke einen brennroten Fleck, der leise dampfte.

Eine Schwäche wandelte den Fuchs an. Seine zerschmetterte Pfote sank kraftlos herunter, wurde aber bei der Berührung mit dem kalten Schnee von einem glühenden Schmerz durchstochen. Mühsam hob er sie wieder auf und hielt sie zitternd vor sich in die Luft.

»Laß mich . . .« fing der Fuchs zu reden an. »Laß mich . . .« Er sprach leise und flehend. Er war ganz matt und ganz demütig.

»Nein! Nein! Nein!« fuhr der Hund mit bösem Jaulen ihn an.

»Ich bitte dich . . .« sagte der Fuchs, »ich kann nicht mehr weiter . . . es ist aus mit mir . . . laß mich fort . . . laß mich heim . . . laß mich doch wenigstens in Ruhe sterben . . .«

»Nein! Nein! Nein!« heulte der Hund.

Der Fuchs wurde noch inständiger in seinem Bitten. »Wir sind doch Verwandte . . .« klagte er, »beinahe Brüder sind wir . . . laß mich heim . . . laß mich bei den Meinigen sterben . . . wir . . . beinahe Brüder sind wir . . . du und ich . . .«

»Nein! Nein! Nein!« tobte der Hund.

Da richtete der Fuchs sich auf, daß er ganz steil dasaß. Seine schöne spitze Schnauze senkte sich zur blutenden Brust, seine Augen hoben sich, und er blickte dem Hunde gerade ins Gesicht. Mit völlig veränderter Stimme, gefaßt, traurig und erbittert knurrte er: »Schämst du dich nicht . . .? Du Verräter!«

»Nein! Nein! Nein!« schrie der Hund.

Der Fuchs aber fuhr fort: »Du Überläufer . . .du Abtrünniger!« Sein zerrissener Leib straffte sich in Haß und Verachtung. »Du Scherge!« zischte er. »Du Elender . . . du spürst uns auf, wo Er uns nicht findet . . . du verfolgst uns, wo Er uns nicht einholen kann . . .du lieferst uns aus . . . uns, die wir alle deine Verwandten sind . . . mich, der ich beinahe dein Bruder bin . . . und du stehst da und schämst dich nicht?«

Auf einmal wurden viele andere Stimmen laut ringsumher.

»Verräter!« riefen die Elstern von den Bäumen.

»Scherge!« kreischte der Häher.

»Elender!« pfiff das Wiesel.

»Abtrünniger!« fauchte der Iltis.

Von allen Bäumen und aus allen Sträuchern zischte und piepte und schrillte es, und aus der Luft kreischten die Krähen: »Scherge!« Alle waren sie herbeigeeilt, hatten aus den Bäumen oben und aus sicheren Verstecken am Boden den Streit belauert. Die Empörung, die aus dem Fuchs hervorbrach, löste die alte erbitterte Empörung in ihnen allen, und das Blut, das hingeschüttet im Schnee vor ihren Blicken rauchte, machte sie rasend und ließ sie jegliche Scheu vergessen.

Der Hund sah sich im Kreise um. »Ihr!« rief er. »Was wollt ihr? Was wißt ihr? Was redet ihr? Alle gehört ihr Ihm, wie ich Ihm gehöre! Aber ich . . . ich liebe Ihn, ich bete Ihn an! Ich diene Ihm! Ihr wollt euch auflehnen . . . Ihr Armseligen, gegen Ihn? Er ist allmächtig! Er ist über uns! Alles, was ihr habt, ist von Ihm! Alles, was da wächst und lebt, von Ihm!« Der Hund bebte vor Begeisterung.

»Verräter!« schrillte das Eichhörnchen.

»Ja!« zischte der Fuchs. »Verräter! Niemand als du . . . du allein . . .!«

Der Hund tanzte vor heiliger Erregung. »Ich allein . . .? Du Lügner! Sind nicht viele, viele andere bei Ihm . . .? Das Pferd . . . das Rind . . . das Lamm . . . die Hühner . . . von euch allen, aus allen euren Sippen sind viele bei Ihm und beten Ihn an . . . und dienen Ihm!«

»Gesindel!« fauchte der Fuchs voll unermeßlicher Verachtung.

Da hielt sich der Hund nicht länger und fuhr ihm an die Kehle. Knurrend, spuckend, keuchend rollten sie im Schnee, ein zappelndes, wild um sich schnappendes Bündel, von dem die Haare flogen, der Schnee aufstäubte und das Blut in feinen Tropfen sprühte. Aber der Fuchs konnte nicht lange kämpfen. Ein paar Sekunden nur, und er lag auf dem Rücken, zeigte seinen hellen Bauch, zuckte, streckte sich und starb.

Der Hund schüttelte ihn noch ein paar Male, ließ ihn dann in den zerwühlten Schnee fallen, stand breitbeinig da und rief wieder mit voller, tiefer Stimme: »Da! Da! Da ist er!«

Die andern waren entsetzt nach allen Seiten geflohen.

»Furchtbar . . .« sagte Bambi in seiner Grube leise zum Alten.

»Das Furchtbarste«, entgegnete der Alte. »Sie glauben an das, was der Hund da verkündigt hat. Sie glauben daran, sie verbringen ihr Leben voll Angst, sie hassen Ihn und sich selbst . . . und sie töten sich um Seinetwillen.«

 


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