Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Die Zeit verstreicht, und Bambi macht viele Erfahrungen, hat hundert Erlebnisse. Manchmal wird ihm ganz wirbelig, weil er so unglaublich viel zu lernen hat.

Er kann jetzt schon lauschen. Nicht bloß hören, was so nahe geschieht, daß es einem von selbst in die Ohren knallt. Nein, dabei ist wahrhaftig keine Kunst. Sondern er kann richtig, mit Vernunft lauschen auf alles, was sich noch so leise regt, auf jedes feine Knistern, das der Wind herbeiträgt. Er weiß zum Beispiel, daß dort ein Fasan durchs Gebüsch läuft; er kennt das zarte Trippeln, das immer wieder innehält, ganz genau. Auch die Waldmäuse erkennt er nach dem Gehör, wenn sie hin und her rennen, an den kurzen Wegen, die sie machen. Dann die Maulwürfe, wenn sie gut gelaunt sind und sich unter einem Holunderstrauch im Kreise jagen, daß es nur so raschelt. Er kennt den kühnen, hellen Ruf der Falken, und er hört an ihrem zornig veränderten Ton, wenn ein Habicht oder ein Adler daherkommt, daß sie nun zürnen, weil sie fürchten, ihr Gebiet soll ihnen genommen werden. Er kennt das Flügelklatschen der Waldtauben, das schöne, ferne Schwingenbrausen der Enten und noch vieles andere.

Er versteht es jetzt auch allmählich, zu wittern. Bald wird er es so gut verstehen wie seine Mutter. Er kann die Luft einziehen und sie gleichsam mit dem Verstande zerlegen. Oh, das ist Klee und Rispe, denkt er, wenn der Wind von der Wiese her weht; ja, und dort ist jetzt auch Freund Hase draußen; ich merke es wohl. Dann wieder erkennt er mitten in den Gerüchen von Laub, Erde, Lauch und Waldmeister, daß irgendwo der Iltis vorübergeht, erkennt, wenn er die Nase zu Boden senkt und gründlich prüft, daß da der Fuchs unterwegs gewesen ist, oder er merkt: hier irgendwo sind die Verwandten in der Nähe, Tante Ena mit den Kindern.

Er ist nun völlig vertraut mit der Nacht, und er hat jetzt nicht mehr so großes Verlangen danach, am hellichten Tage umherzurennen. Ganz gerne liegt er jetzt untertags in der kleinen, dämmerigen Laubkammer bei seiner Mutter. Er hört die Luft kochen vor Hitze, und er schläft. Von Zeit zu Zeit wacht er auf, lauscht und wittert, wie es sich gehört. Alles ist in Ordnung. Nur die kleinen Meisen schwatzen ein wenig miteinander, die Grasmücken, die beinahe niemals schweigen können, unterhalten sich, und die Holztauben hören nicht auf, ihre enthusiastischen Zärtlichkeiten zu deklamieren. Was geht ihn das an? Er schläft wieder ein.

Die Nacht gefällt ihm jetzt sehr. Alles ist munter, alles in Bewegung. Natürlich muß man auch des Nachts achtgeben, aber man ist doch argloser und geht überallhin, wo man will. Und man trifft überall Bekannte, die gleichfalls alle sorgloser sind als sonst. In der Nacht ist der Wald feierlich und still. Es gibt nur ein paar Stimmen, die laut werden in dieser Stille, aber sie klingen anders als die Stimmen des Tages, und sie machen mehr Eindruck. Bambi mag die Eule gern leiden. Sie hat einen so vornehmen Flug, ganz lautlos, ganz leicht. Ein Schmetterling macht ebensowenig Geräusch wie sie, und dabei ist sie so mächtig groß. Sie hat auch ein so bedeutendes Gesicht, so bestimmt, so überaus gedankenvoll, und sie hat herrliche Augen. Bambi bewundert ihren festen, ruhig tapferen Blick. Er hört gerne zu, wenn sie einmal mit der Mutter oder mit sonst jemandem spricht. Er steht ein wenig abseits, fürchtet sich ein wenig vor dem gebieterischen Blick, den er so sehr bewundert, begreift auch nicht viel von den klugen Dingen, die sie sagt, aber er weiß, daß es kluge Dinge sind, und das entzückt ihn, erfüllt ihn mit Verehrung für die Eule. Dann beginnt die Eule ihren Gesang. Haa-ah – – hahaha – – haa-ah! singt sie. Es klingt anders als das Lied der Drossel oder des Pirols, anders als der freundliche Wahlspruch des Kuckucks, aber Bambi liebt den Gesang der Eule, denn er fühlt einen geheimnisvollen Ernst darin, eine unsagbare Klugheit und eine rätselhafte Wehmut. Dann ist noch der Waldkauz da, ein reizender kleiner Bursche. Pfiffig, fidel und über die Maßen neugierig. Er ist darauf versessen, Aufsehen zu erregen. Uj–iik! Uj–iik! ruft er mit einer ganz zerpreßten, fürchterlich gellenden Stimme. Es hört sich an, als sei er in Todesnot. Aber er ist in glänzender Laune und freut sich rasend, wenn jemand erschrickt. Uj–iik! schreit er so fürchterlich laut, daß man es im Walde eine halbe Stunde weit hört. Hinterdrein aber lacht er ein leises Gurren in sich hinein, und das hört man nur, wenn man dicht in seiner Nähe steht. Bambi ist dahintergekommen, daß der Waldkauz sich freut, wenn man erschrickt, oder wenn man glaubt, es sei ihm etwas Schlimmes passiert. Seither versäumt Bambi niemals, wenn er gerade in der Nähe ist, herbeizustürzen und zu fragen: »Ist Ihnen etwas zugestoßen?«, oder er sagt mit einem Seufzer: »Ach, wie bin ich jetzt erschrocken!« Dann wird der Waldkauz vergnügt. »Ja, ja«, sagt er lachend, »es klingt ganz jammervoll.« Er plustert die Federn auf, sieht aus wie eine graue, weiche Kugel und ist bezaubernd hübsch.

Auch Gewitter hat es ein paarmal gegeben. Bei Tage und bei Nacht. Das erstemal war es bei Tage, und Bambi fühlte, wie ihm ängstlich zumute wurde, als es in seiner Laubkammer tiefer und tiefer dämmerte. Ihm war, als sei die Nacht mitten am Tage vom Himmel heruntergefallen. Als dann der Sturm brüllend den Wald durchwühlte, daß die stummen Bäume laut zu ächzen begannen, zitterte Bambi vor Angst. Und als die Blitze aufleuchteten, als der Donner krachte, war Bambi besinnungslos vor Entsetzen und glaubte, nun werde die Welt in Stücke gerissen. Er lief hinter seiner Mutter drein, die ein wenig verwirrt aufgesprungen war und im Dickicht hin und her ging. Er konnte nicht denken, konnte sich nicht fassen. Dann stürzte der Regen in wütenden Güssen nieder. Alles hatte sich verkrochen, der Wald war wie leer, und es gab kein Entrinnen. Selbst im dichtesten Buschwerk wurde man vom herabsausenden Wasser gepeitscht. Aber die Blitze hörten auf, ihr feuriger Strahl flammte nicht mehr durch die Baumwipfel; der Donner entfernte sich, man hörte ihn nur noch von weitem murren, und bald schwieg er gänzlich. Nun wurde der Regen sanfter. Sein breites Rauschen tönte gleichmäßig und kräftig noch eine Stunde, der Wald stand tiefatmend in der Windstille und ließ sich übergießen, und niemand mehr hatte Angst auszustehen. Dieses Gefühl war vorbei, der Regen wusch es hinweg.

Noch nie war die Mutter mit Bambi so zeitig auf die Wiese gegangen wie an diesem Abend. Eigentlich war es noch gar nicht Abend. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, die Luft war kraftvoll frisch, sie duftete stärker als sonst, und der Wald sang mit tausend Stimmen, denn alle waren aus ihren Verstecken hervorgekommen und eilten umher und ereiferten sich, um einander zu erzählen, was sie erlebt hatten.

Ehe sie auf die Wiese traten, kamen sie an der großen Eiche vorbei, die knapp am Waldrand stand, dicht an ihrer Straße. Sie mußten immer an diesem schönen, großen Baum vorüber, wenn sie auf die Wiese gingen. Jetzt saß das Eichhörnchen auf einem Ast und begrüßte sie. Bambi lebte mit dem Eichhörnchen in heiterer Freundschaft. Er hatte es wegen seines roten Röckchens bei der ersten Begegnung für ein ganz kleines Reh gehalten und es verblüfft angestarrt. Aber Bambi war damals wirklich noch zu kindisch und verstand sich einfach auf gar nichts. Gleich von Anfang hatte ihm das Eichhörnchen ausnehmend gefallen. Es war so überaus manierlich, so angenehm gesprächig, und Bambi ergötzte sich daran, wie wunderbar es zu turnen, zu klettern, zu springen und zu balancieren verstand. Da lief es mitten im Gespräch den glatten Baumstamm auf und nieder, als ob das gar nichts wäre. Da saß es aufrecht auf einem schwankenden Ast, lehnte sich bequem an seine buschige Fahne, die hinter ihm anmutig in die Höhe ragte, zeigte seine weiße Brust, agierte zierlich mit den kleinen Vorderpfoten, drehte das Köpfchen hin und her, lachte mit den fröhlichen Augen und sagte im Nu eine Menge scherzhafte oder interessante Dinge. Jetzt eben kam es wieder herab, so schnell und in solchen Sprüngen, daß man denken mußte, es werde einem auf den Kopf purzeln. Heftig schwenkte es seine lange rote Fahne und grüßte schon von hoch oben: »Guten Tag! Guten Tag! Das ist aber nett, daß Sie vorüberkommen!«

Die Mutter und Bambi blieben stehen.

Das Eichhörnchen lief den glatten Stamm herunter. »Nun«, plauderte es, ». . . haben Sie die Sache gut überstanden? Natürlich, ich sehe ja, daß alles in schönster Ordnung ist. Das bleibt schließlich die Hauptsache.« Es rannte blitzschnell wieder am Stamm empor und sagte dabei: »Nein, da unten ist es mir doch zu naß. Warten Sie, ich suche mir einen Platz, wo es besser ist. Das stört Sie doch hoffentlich nicht? Vielen Dank! Ich dachte, daß es Sie nicht stört. Und man kann ja auch von hier aus miteinander sprechen.«

Es lief auf einem geraden Zweig hin und her. »Eine Wirtschaft war das«, fuhr es fort, »ein Lärm und ein Skandal ist das gewesen! Na, Sie können sich denken, wie ich erschrocken bin. Man drückt sich ganz still in eine Ecke und wagt kaum, sich zu rühren. Das ist das allerschlimmste, so dasitzen und sich nicht rühren. Man hofft ja, daß nichts passieren wird, na, und mein Baum ist ja für solche Fälle vortrefflich, nein, da gibt es nichts, mein Baum ist vortrefflich . . . das muß ich sagen. Ich bin zufrieden. Wie weit ich auch herumkomme, ich wünsche mir keinen anderen. Aber wenn es so losgeht wie heute, regt man sich doch immer wieder ganz entsetzlich auf.«

Das Eichhörnchen saß da, an seine schöne aufragende Fahne gelehnt, zeigte die weiße Brust und drückte beide Vorderpfötchen gefühlvoll ans Herz. Man glaubte ihm ohne weiteres, daß es sich aufgeregt habe.

»Wir wollen jetzt auf die Wiese«, sagte die Mutter, »um uns in der Sonne zu trocknen.«

»Oh, das ist ein guter Einfall«, rief das Eichhörnchen. »Sie sind so klug, wirklich, ich sage immer, daß Sie so klug sind!« Mit einem Satz war es auf einen höheren Zweig gesprungen. »Sie können gar nichts Besseres tun, als jetzt auf die Wiese gehen«, rief es von dort herab. Dann sauste es in leichten Sprüngen kreuz und quer durch die Baumkrone empor. »Ich will auch hinauf, wo ich Sonne habe«, plauderte es vergnügt, »man ist ja völlig durchnäßt! Ganz hinauf will ich!« Es kümmerte sich nicht darum, ob man ihm noch zuhörte.

Die Wiese war schon recht belebt. Freund Hase saß da und hatte seine Familie bei sich. Tante Ena stand dort mit ihren Kindern und einigen anderen Bekannten. Heute sah Bambi auch die Väter wieder. Sie kamen langsam aus dem Walde, der eine von dort, der andere von da, sogar ein dritter erschien. Langsam gingen sie nahe am Waldessaum in der Wiese hin und her, jeder an seiner Stelle. Sie beachteten niemanden, ja sie sprachen gar nicht einmal miteinander. Bambi schaute oft zu ihnen hinüber, ehrerbietig und voll Neugier.

Dann unterhielt er sich mit Faline, mit Gobo und mit ein paar anderen Kindern. Er meinte, man könne wohl ein wenig spielen. Alle erklärten sich einverstanden, und das Kreisen begann. Faline zeigte sich als die Fröhlichste von allen. Sie war so frisch und behend und sprudelte von plötzlichen Einfällen. Aber Gobo fühlte sich bald ermüdet. Er hatte sich vor dem Gewitter furchtbar geängstigt, hatte Herzklopfen davon bekommen, und das dauerte jetzt immer noch an. Gobo war wohl überhaupt etwas schwächlich, aber Bambi liebte ihn, weil er so gut und so bereitwillig und immer ein wenig traurig war, ohne es merken zu lassen.

 


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