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Der Winter dauerte an. Manchmal wurde es milder, aber dann fiel auch gleich wieder Schnee und lag immer höher, so daß es unmöglich wurde, ihn wegzuscharren. Schlimm war es, wenn einmal Tauwetter kam und der zu Wasser geschmolzene Schnee des Nachts doch wieder gefror. Das gab eine dünne Eisfläche, auf der man leicht ausglitt. Auch zerbrach sie oft, und ihre scharfen Splitter schnitten die zarten Fesselgelenke der Rehe blutig. Jetzt aber war harter Frost eingefallen, schon seit Tagen. Die Luft war rein und dünn wie noch nie und voll Kraft. Sie begann in einem ganz feinen, hohen Ton zu klingen. Sie sang vor Kälte.
Im Walde war es still, aber jeden Tag passierte jetzt etwas Schreckliches. Einmal überfielen die Krähen den jungen Sohn des Hasen, der ohnehin krank darniederlag, und töteten ihn auf grausame Weise. Man hörte ihn lange und erbärmlich klagen. Freund Hase war eben unterwegs, und als er die traurige Nachricht empfing, konnte er sich gar nicht fassen. – Ein anderes Mal lief das Eichhörnchen mit einer großen Wunde an der Kehle herum, die ihm der Marder gebissen hatte. Wie durch ein Wunder war ihm das Eichhörnchen entwischt. Es konnte nicht sprechen vor Schmerz, aber es rannte durch alle Zweige. Jeder konnte es sehen. Es rannte wie toll. Von Zeit zu Zeit hielt es inne, setzte sich, hob verzweifelt die Vorderpfoten, griff sich an den Kopf in seinem Schreck und in seinem Kummer, und dabei stürzte ihm das rote Blut über die weiße Brust. Eine Stunde lief es so umher, dann brach es plötzlich zusammen, schlug plump gegen die Äste und fiel sterbend in den Schnee. Sogleich kamen ein paar Elstern herbei, um ihren Schmaus zu beginnen. – Wieder ein anderes Mal zerriß der Fuchs den schönen starken Fasan, der sich allgemeiner Achtung und Beliebtheit erfreut hatte. Sein Tod erregte weitherum große Teilnahme, und man bedauerte die trostlose Witwe. Der Fuchs hatte den Fasan aus dem Schnee gezogen, worin er sich eingewühlt hatte und gut versteckt glaubte. Niemand fühlte sich mehr sicher, denn dies alles geschah am hellen Tage. Die große Not, die kein Ende nehmen wollte, verbreitete Erbitterung und Roheit. Sie machte alle Erfahrungen zunichte, untergrub das Gewissen, vernichtete jede gute Sitte und zerstörte das Vertrauen. Es gab kein Erbarmen mehr, keine Ruhe, kein Zurückhalten.
»Man kann sich gar nicht denken, daß es einmal besser wird«, seufzte Bambis Mutter.
Auch Tante Ena seufzte. »Und man kann sich gar nicht denken, daß es jemals besser war.«
»Oh, doch«, sagte Marena und schaute vor sich hin, »ich denke beständig daran, wie schön es früher gewesen ist!«
»Hören Sie«, sagte Frau Nettla zu Tante Ena, »Ihr Kleiner zittert ja!« Sie zeigte auf Gobo. »Zittert er immer so?«
»Leider«, antwortete Tante Ena bekümmert, »schon seit mehreren Tagen.«
»Na«, meinte Frau Nettla in ihrer offenen Art, »ich bin nur froh, daß ich keine Kinder mehr habe. Wenn der Kleine da mein wäre, hätte ich Angst, ob er den Winter übersteht.«
Es sah wirklich nicht gut aus mit Gobo. Er war schwach, war schon immer viel zarter gewesen als Bambi oder Faline und war auch kleiner geblieben als die beiden. Jetzt aber ging es ihm von Tag zu Tag schlechter. Er konnte die Nahrung nicht vertragen, die es jetzt gab. Sie verursachte ihm Leibschmerzen. So war er von der Kälte und den Übelkeiten ganz entkräftet. Er zitterte fortwährend und hielt sich kaum aufrecht. Alle schauten ihn teilnehmend an.
Frau Nettla trat zu ihm und stieß ihn freundlich in die Seite. »Nur nicht traurig sein«, sagte sie streng, »das schickt sich nicht für einen kleinen Prinzen, und es ist ungesund.« Sie wandte sich ab, weil niemand merken sollte, wie gerührt sie war.
Ronno, der ein wenig abseits im Schnee gesessen hatte, sprang auf. »Ich weiß nicht, was das ist . . .« murmelte er und spähte umher.
Man wurde aufmerksam. »Was denn . . .?« fragten alle.
»Ich weiß es eben nicht«, wiederholte Ronno, »aber ich bin unruhig . . . auf einmal bin ich unruhig . . . als ob etwas los wäre . . .«
Karus hatte die Luft geprüft. »Ich spüre nichts Besonderes«, erklärte er.
Sie standen alle da, lauschten alle und prüften die Luft. »Nichts!« »Nichts zu spüren . . .« meinte eines nach dem anderen.
»Trotzdem!« beharrte Ronno, »ihr mögt sagen, was ihr wollt . . . es ist etwas los . . .«
Marena sagte: »Die Krähen haben gerufen . . .«
»Sie rufen wieder!« fügte Faline rasch hinzu; aber nun hatten es die andern auch schon gehört.
»Da fliegen sie!« machte Karus die übrigen aufmerksam.
Alle blickten empor. Über die Baumwipfel weg strichen Krähen in Scharen. Sie kamen vom letzten Rande des Waldes, von dort her, von wo immer die Gefahr sich näherte, und sie sprachen da oben verdrießlich miteinander. Augenscheinlich hatte es eine besondere Störung gegeben.
»Nun, habe ich nicht recht gehabt?« fragte Ronno. »Man sieht doch, daß etwas im Gange ist!«
»Was soll man tun?« flüsterte Bambis Mutter ängstlich.
»Sofort weg!« drängte Tante Ena aufgeregt.
»Warten!« bestimmte Ronno.
»Warten? Mit den Kindern?« Tante Ena widersprach.
»Wo Gobo doch nicht laufen kann?«
»Also gut«, gab Ronno zu, »entfernen Sie sich mit Ihren Kindern. Ich halte es freilich für zwecklos, aber ich möchte später keine Vorwürfe haben.«
»Komm, Gobo! Faline, komm! Aber leise! Langsam! Und immer hinter mir«, mahnte Tante Ena. Sie schlich mit den Kindern fort.
Eine Zeit verstrich. Sie standen still, lauschten und witterten.
»Das fehlt uns noch«, begann Frau Nettla, »das haben wir noch nötig zu allem, was wir jetzt ausstehen müssen!« Sie war sehr ärgerlich. Bambi sah sie an und fühlte, daß sie an etwas Schreckliches dachte.
Da schäkerten auch schon die Elstern auf derselben Seite des Dickichts, aus dem die Krähen hergeflogen waren, drei, vier auf einmal. »Gebt acht, acht, acht, acht!« riefen sie. Man sah sie noch nicht, aber man hörte sie nacheinander, ineinander rufen und warnen: »Achtachtacht!« Nun kamen sie näher, flatterten weiter, ruhelos und erschrocken.
»Hach!« kreischten die Häher auf. Laut rätschten sie Alarm.
Plötzlich fuhren alle Rehe zusammen, gleichzeitig. Es hatte sie wie ein Schlag durchzuckt. Nun standen sie still und zogen die Luft ein.
Das war Er.
Eine Welle von Witterung flutete daher, erfüllt wie noch nie. Hier gab es nichts mehr zu prüfen. Der Geruch stieg ihnen in die Nase, er benebelte ihre Sinne und ließ ihr Herz erstarren.
Noch schäkerten die Elstern, ratschten die Häher über ihnen, aber nun war es überall lebendig geworden. Die Meisen schwirrten durch die Äste, hunderte kleine gefiederte Bälle, und zirpten: »Fort! Fort!« Amselflug strich schwarz und blitzschnell über die Bäume mit langgezogenem Zwitscherschrei. Durch das dunkle Gitter der kahlen Büsche sahen die Rehe auf dem weißen Schneeboden ein wirres Hin- und Herrennen schmaler kleiner Schattengestalten. Das waren die Fasanen. Dort schimmerte es rot auf. Wahrhaftig, das war der Fuchs. Aber niemand hatte jetzt Angst vor ihm. Denn beständig strömte in breiten Wellen dieser furchtbare Geruch heran, der ihnen Entsetzen ins Gemüt hauchte und sie alle zusammen einigte, in einer einzigen tollen Angst und in einem einzigen Fieberverlangen, sich zu flüchten, sich zu retten.
Diese geheimnisvolle, überwältigende Witterung durchdrang den Wald mit solcher Kraft, daß sie erkannten, Er sei diesmal nicht allein, sondern wohl mit all den Seinigen herbeigekommen, und es gehe nun um das Äußerste.
Sie regten sich nicht, sahen die Meisen an, die in geschleudertem Flattern davonhuschten, die Amseln, die Eichhörnchen, die in rasenden Sprüngen von Gipfel zu Gipfel sausten; sie dachten, daß alle diese Kleinen im Grunde nichts zu fürchten brauchten. Trotzdem begriffen sie ihre Flucht, wenn Er zu spüren war, denn kein Geschöpf des Waldes ertrug Seine Nähe.
Jetzt hoppelte Freund Hase zögernd daher, saß still, hoppelte weiter.
»Was gibt's?« rief ihm Karus ungeduldig entgegen.
Aber Freund Hase sah nur mit irren Augen um sich und konnte nicht gleich sprechen. Er war ganz verstört.
»Wozu noch fragen . . .« meinte Ronno düster.
Freund Hase schnappte nach Atem. »Wir sind umstellt«, sagte er tonlos. »Auf keiner Seite kann man hinaus. Überall ist Er!«
In diesem Augenblick vernahmen sie Seine Stimme. Zwanzigfach, dreißigfach schrie Er auf. Hoho! Haha! Es dröhnte erschütternder als Sturm und Gewitter. An die Baumstämme schlug Er, daß es trommelte. Es war grauenerregend und niederschmetternd. Fernes Rauschen und Knacken von geteiltem Buschwerk drang herüber. Kreischen und Krachen von zerbrochenen Zweigen.
Er kam! – Er kam hier herein ins Dickicht.
Dort hinten tönte jetzt pfeifendes, kurzes Trillern, breites Knattern von entfalteten Schwingen. Dort stand schon ein Fasan auf unter Seinen Tritten. Sie hörten das Flügelbrausen des Fasans leiser werden, hoch in der Luft. Ein heller Donnerschlag. Stille. Dann ein dumpfes Aufschlagen am Boden. »Der Fasan ist gefallen«, sagte Bambis Mutter bebend. »Der Erste . . .« fügte Ronno hinzu. Marena, das junge Mädchen, sprach: »In dieser Stunde werden manche von uns sterben. Vielleicht werde ich darunter sein.« Niemand hörte ihr zu. Nun war der große Schrecken da.
Bambi versuchte zu denken. Aber der tobende Lärm, den Er nun höher und höher anschwellen ließ, zerriß jeden Gedanken. Bambi hörte nichts anderes als diesen Lärm, von dem man betäubt wurde, und mitten drin in all dem Heulen, Grölen und Krachen hörte er sein eigenes Herz pochen. Er fühlte nur Neugierde und wußte gar nicht, daß er an allen Gliedern zitterte. Von Zeit zu Zeit sagte ihm seine Mutter ins Ohr: »Bleib nur bei mir.« Sie schrie, doch im Getöse war es Bambi, als ob sie flüstern würde. Dies »Bleib nur bei mir« bot ihm eine Stütze. Es hielt ihn fest wie an einer Kette, sonst wäre er ohne Besinnen drauflosgerannt, und er hörte es immer gerade in dem Augenblick, wenn er die Fassung verlieren und fortlaufen wollte. Er blickte um sich. Es wimmelte von allerlei Volk, das blind durcheinander irrte. Ein paar Wiesel rannten vorbei, dünne, schlängelnde Streifen, denen man kaum mit den Augen folgen konnte. Ein Iltis horchte wie gebannt auf jede Auskunft, die der verzweifelte Hase stockend gab. Dort stand der Fuchs in einem ganzen Getümmel trippelnder Fasanen. Sie kümmerten sich nicht um ihn, liefen ihm dicht vor die Nase, und er kümmerte sich nicht um sie. Ohne sich zu regen, den Hals gerade vorgestreckt, mit hochgespitzten Ohren und arbeitender Nase lauschte er dem anrückenden Getöse entgegen. Nur seine Rute bewegte sich, leise schlagend. Das war wie ein angestrengtes Überlegen. Ein Fasan kam voll Eile. Er kam von da hinten, aus der ärgsten Gefahr, und war außer sich. »Man soll nicht aufsteigen!« rief er den Seinigen zu. »Nicht aufsteigen . . . nur laufen! Man soll sich nicht hinreißen lassen! Niemand soll aufsteigen! Nur laufen, laufen, laufen!« Er wiederholte immer dasselbe, als ob er sich selbst ermahnen wollte. Aber er wußte nicht mehr, was er sprach. Hoho! Haha! zeterte es scheinbar ganz nahe. »Man soll sich nicht hinreißen lassen!« rief der Fasan. Zugleich schnappte ihm die Stimme in pfeifendes Schluchzen, mit lautem Knattern breitete er die Schwingen und flog auf. Bambi sah ihm nach, wie er gerade und steil zwischen den Bäumen emporflog, flügelrauschend, prunkvoll schimmernd mit dem metallisch dunkelblauen, goldbraunen Glanz seines Leibes, herrlich wie ein Geschmeide. Die Schleppe seiner langen Stoßfedern fegte stolz hinter ihm drein. Scharf gellte der kurze Donnerschlag auf. Der Fasan dort oben schnappte zusammen, drehte sich um sich selbst, als wolle er mit dem Schnabel nach seinen Beinen haschen, und stürzte wuchtig herunter. Er fiel mitten unter die anderen und rührte sich nicht mehr.
Nun behielt niemand seine Fassung. Alles stob auseinander. Fünf, sechs Fasanen erhoben sich zugleich mit lautem Knattern. »Nicht aufsteigen«, riefen die übrigen und rannten. Der Donner knallte, fünfmal, sechsmal, und von den Aufgeflogenen kamen einige in leblosem Sturze wieder zu Boden.
»Komm jetzt!« sagte die Mutter. Bambi schaute auf. Ronno und Karus waren schon weg. Dort verschwand Frau Nettla. Nur Marena war noch bei ihnen. Bambi ging mit seiner Mutter. Marena folgte ihnen bescheiden. Es tobte, krachte, brüllte und donnerte um sie her. Die Mutter war ruhig. Sie zitterte nur leise, aber sie hielt ihre Gedanken beisammen. »Bambi, mein Kind«, sagte sie, »bleibe immer hinter mir. Wir müssen hier hinaus, und über die Blöße. Aber hier innen gehen wir langsam.«
Das Brüllen wurde zum Rasen. Zehn-, zwölfmal krachte der Donner, den Er aus seinen Händen schleuderte.
»Laß nur«, sagte die Mutter. »Nicht laufen! Erst wenn wir über die Blöße müssen, dann lauf, was du kannst. Und vergiß nicht, Bambi, mein Kind, achte nicht mehr auf mich, wenn wir einmal draußen sind. Auch wenn ich falle, achte nicht darauf . . . nur weiter, weiter! Verstehst du, Bambi?«
Die Mutter ging im dröhnenden Lärm planvoll Schritt vor Schritt. Kreuz und quer liefen die Fasanen, drückten sich in den Schnee, sprangen wieder heraus, begannen wieder zu laufen. Die ganze Familie des Hasen hoppelte hin und her, setzte sich, hoppelte wieder. Niemand sprach ein Wort. Sie waren alle erschöpft vor Angst, gelähmt vom Brüllen und von den Donnerschlägen.
Vor Bambi und seiner Mutter wurde es lichter. Durch das Gitter der Büsche schimmerte die Blöße. Hinter ihnen, näher und immer näher, prasselte das aufscheuchende Trommeln an die Baumstämme, kreischte das Brechen der Zweige, brüllte das Haha und Hoho!
Dicht an ihnen vorbei stob jetzt Freund Hase mit zwei Vettern hinaus über die Lichtung. Bumm! Peng, bamm! knallte der Donner. Bambi sah, wie Freund Hase mitten im Laufen einen weichen Purzelbaum schlug, den hellen Bauch nach oben kehrte und liegen blieb. Er zappelte ein wenig, dann war er still. Bambi stand versteinert.
Aber hinten ihnen rief es: »Sie sind da! Alles muß jetzt hinaus!«
Breites Rauschen von hastig entfalteten Schwingen, Pfeifen, Schluchzen, Sausen von Gefieder, Flattern. Die Fasanen stiegen auf, erhoben sich fast gleichzeitig in ganzen Garben. Die Luft zerbarst von vielfältigem Donner, und man hörte das dumpfe Plumpen der Gefallenen, hörte das feine pfeifende Abstreichen der Geretteten.
Bambi vernahm Schritte und blickte zurück. Da war Er. Zwischen dem Gebüsch brach Er hervor, dort und da und wieder dort. Überall tauchte Er auf, schlug um sich, zerhieb die Stauden, trommelte an die Stämme und schrie mit furchtbarer Stimme.
»Jetzt!« sagte die Mutter. »Geradeaus! Und nicht zu nahe hinter mir!« Mit einem Satz war sie draußen, daß der Schnee nur so staubte. Bambi raste hinter ihr drein. Donner schlug von allen Seiten über ihnen zusammen. Es war, als wäre die Erde mitten entzwei gerissen. Bambi sah nichts. Er rannte. Die angesammelte Begierde, wegzukommen aus dem Getöse, weg aus dem Dunstbereich dieser aufpeitschenden Witterung, der angesammelte Drang zur Flucht, die Sehnsucht, sich zu retten, waren endlich in ihm entfesselt. Er rannte. Ihm schien, als habe er die Mutter stürzen sehen, aber er wußte nicht, ob sie wirklich gestürzt war. Er fühlte einen Schleier um die Augen. Den hatte ihm die endlich ausbrechende Angst vor dem Donner, der ihn umdröhnte, darüber geworfen. Er konnte nichts überlegen, nichts beachten, er rannte.
Die Blöße war überquert. Ein neues Dickicht nahm ihn auf. Hinter ihm klang noch einmal das Geschrei, donnerte noch einmal das scharfe Knallen, und in den Zweigen über ihm prasselte es ganz kurz wie erstes Sprühen von Hagel. Dann wurde es stiller. Bambi rannte. Ein sterbender Fasan lag mit verdrehtem Halse auf dem Schnee und schlug nur noch matt mit den Schwingen. Als er Bambi kommen hörte, hielt er mit seinen krampfhaften Bewegungen inne und flüsterte: »Es ist aus . . .« Bambi achtete nicht auf ihn und rannte weiter. Wirres Gestrüpp, in das er geriet, zwang ihn, seinen Lauf zu mäßigen und einen Pfad zu suchen. Ungeduldig schlug er mit den Beinen um sich. »Hier herum«, rief jemand mit gebrochener Stimme. Bambi folgte unwillkürlich und kam sogleich an eine gangbare Stelle. Aber vor ihm richtete sich jemand mühsam auf. Es war die Frau des Hasen. Sie hatte gerufen. »Könnten Sie mir nicht ein wenig behilflich sein?« sagte sie. Bambi sah sie an und war erschüttert. Ihre Hinterbeine schleiften leblos im Schnee, der, vom heiß hervortropfenden Blut rot gefärbt, zerschmolz. Noch einmal sagte sie: »Könnten Sie mir nicht ein wenig behilflich sein?« Sie sprach, als ob sie gesund wäre, gelassen und fast heiter. »Ich weiß nicht, was mir passiert ist«, fuhr sie fort, »es ist gewiß nicht von Bedeutung . . . nur gerade jetzt . . . ich kann jetzt nicht gehen . . .« Mitten im Sprechen sank sie zur Seite und war tot. Bambi wurde aufs neue von Entsetzen ergriffen und rannte.
»Bambi!«
Mit einem Ruck stand er still. Das war jemand von den Seinen.
Nochmals klang es: »Bambi . . . Bist du's?«
Dort steckte Gobo hilflos im Schnee. Er war ganz kraftlos, konnte nicht einmal auf den Beinen stehen, lag wie vergraben und hob nur matt seinen Kopf. Bambi trat erhitzt zu ihm.
»Wo ist deine Mutter, Gobo?« fragte er mit keuchendem Atem, »und wo ist Faline?« Bambi sprach schnell, aufgeregt und ungeduldig. Die Angst pochte noch unvermindert in seinem Herzen.
»Die Mutter und Faline mußten fort«, antwortete Gobo ergeben. Er redete leise, aber so ernst und klug wie ein Erwachsener. »Sie mußten mich hier liegen lassen. Ich bin gefallen. Auch du mußt fort, Bambi.«
»Auf!« schrie Bambi. »Auf, Gobo! Du hast dich genug ausgeruht. Es ist keine Zeit mehr dazu! Auf! Komm mit mir!«
»Nein, laß nur«, erwiderte Gobo still, »ich kann nicht aufstehen. Es ist unmöglich. Ich möchte ja gerne, Bambi, das kannst du dir wohl denken, aber ich bin zu schwach.«
»Was soll denn mit dir werden?« drängte Bambi.
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich werde ich sterben«, sagte Gobo einfach.
Das Geschrei erhob sich wieder und scholl herüber. Dazwischen neue Donnerschläge. Bambi fuhr zusammen. Im Gezweige knackte es rasch, es klopfte eilig durch den Schnee, und im Saus galoppierte der junge Karus einher. »Laufen!« rief er, da er Bambi erblickte. »Nicht stehen bleiben, wer noch laufen kann!« Im Nu war er vorüber, und seine ungestüme Flucht riß Bambi mit sich fort. Bambi wußte gar nicht recht, daß er wieder zu rennen begonnen hatte, und erst nach einer Weile sagte er: »Leb wohl, Gobo.« Aber da war er schon zu weit weg. Gobo konnte ihn nicht mehr hören.
Er rannte im Walde, der vom Lärm und Donner durchwühlt war, umher bis zum Abend. Als die Dunkelheit niederschwebte, wurde es ruhig. Ein leichter Wind blies bald auch die abscheuliche Witterung fort, die überall verbreitet war. Doch die Erregung blieb. Der erste Bekannte, den Bambi wiedersah, war Ronno. Er hinkte mehr als je. »Drüben im Eichengrund«, erzählte Ronno, »liegt der Fuchs im Wundfieber. Ich bin eben an ihm vorbeigekommen. Es ist schrecklich, wie er leidet. Er beißt in den Schnee und in die Erde.«
»Haben Sie meine Mutter nicht gesehen?« fragte Bambi. »Nein«, antwortete Ronno scheu und ging schnell weg.
Später, in der Nacht, traf Bambi Frau Nettla mit Faline. Sie freuten sich sehr, alle drei.
»Hast du meine Mutter nicht gesehen?« fragte Bambi.
»Nein«, gab Faline zurück, »ich weiß noch nicht einmal, wo meine Mutter ist.«
»Na«, sagte Frau Nettla munter, »das ist mir eine schöne Bescherung. Ich war froh, daß ich mich nicht mehr mit Kindern abzuplagen brauche, und jetzt habe ich gleich zwei auf einmal, für die ich sorgen muß. Ich danke!«
Bambi und Faline lachten.
Sie sprachen von Gobo. Bambi erzählte, wie er ihn gefunden, und sie wurden so traurig, daß sie zu weinen begannen. Aber Frau Nettla erlaubte nicht, daß sie weinten. »Vor allem müßt ihr jetzt sehen, daß ihr etwas zu essen findet. Das ist ja unerhört! Den ganzen Tag hat man keinen Bissen zu sich genommen.« Sie führte die beiden an Plätze, wo es noch etwas Laub gab, das niedrig hing und noch nicht ganz verdorrt war. Frau Nettla wußte vortrefflich Bescheid. Sie selbst rührte nichts an, sondern trieb Bambi und Faline, tüchtig zu essen. Sie schlug ihnen an grasigen Stellen den Schnee fort und befahl: »Hier . . . das ist gut«, oder sie sagte: »Nein, wartet . . . wir finden gleich etwas Besseres.« Dazwischen aber schalt sie: »Zu dumm! Was man mit Kindern für Scherereien hat!«
Plötzlich sahen sie Tante Ena kommen und stürzten ihr entgegen. »Tante Ena!« rief Bambi. Er hatte sie zuerst erblickt. Faline war außer sich vor Freude und sprang an ihr empor. »Mutter!« Aber Ena weinte und war zu Tode erschöpft. »Gobo ist fort«, klagte sie. »Ich habe ihn gesucht . . . ich bin an seinem Bettchen gewesen, dort im Schnee, wo er mir zusammenbrach . . . es war leer . . . er ist fort . . . mein armer kleiner Gobo . . .«
Frau Nettla murrte: »Hätten Sie lieber nach seiner Fährte geschaut, das wäre gescheiter gewesen als weinen.«
»Es gibt keine Fährte von ihm«, sagte Tante Ena.
»Aber . . . Er! . . . Er hat viele Fährten dort zurückgelassen . . . Er ist an Gobos Bett gewesen . . .«
Sie schwiegen. Dann fragte Bambi mutlos: »Tante Ena . . . hast du meine Mutter nicht gesehen?«
»Nein«, antwortete Tante Ena leise.
Bambi sah seine Mutter niemals wieder.