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Die älteste der Rheinstädte, in vorrömischer Zeit gegründet, darf sich rühmen, in ihrem Dom eines der bedeutendsten Baudenkmäler Deutschlands zu besitzen. Sie kann weiter daran erinnern, daß die fränkischen und deutschen Könige oftmals in ihren Mauern Hof hielten. Weil Worms während der großen Völkerwanderung Herrschersitz des mächtigen ostgermanischen Volksstammes der Burgunden wurde, ist es zugleich der Mittelpunkt des Schönsten geworden, was die deutsche Heldensage zu bieten vermag.
Ruhmreich haben die burgundischen Könige, von der Weichsel kommend, an den Ufern des Mittelrheins regiert. Dann hat hunnische Kriegslust römischer Ländergier den starken Arm geliehen und dem aufblühenden Reich ein unverdientes Ende bereitet.
König Gundikar war mit dem größten Teil seines Kriegsvolkes auf blutiger Walstatt gefallen. Der Rest der Besiegten wurde von den Römern im südlichen Gallien angesiedelt, während am Rhein die Franken in die von den Burgunden verlassenen Wohnsitze einrückten. Kaum einundeinhalbes Jahrhundert hatten die burgundischen Könige am Main und Mittelrhein geherrscht; aber so tief war ihr Andenken im Herzen der rheinfränkischen Völker verwurzelt, daß ihr tragischer Ausgang von dort aus als die bedeutendste deutsche Sagendichtung in die Weltliteratur übergegangen ist.
Dazwischen haben weitere Heldensagen, die dem Boden von Worms entsprossen sind, sich dadurch Jahrhunderte lang im Volk lebendig erhalten, daß sie die edelsten Tugenden deutscher Männer und Frauen mit unbestechlicher Treue schildern. Solcher Art ist das tausendjährige Waltharilied: von dem unerschrockenen Herrn Walter von Aquitanien, der mit Hildegunde von König Attilas Hof heimkehrt, unterwegs im Wasgenwald den Überfall des Frankenkönigs Gunthari und seiner Mannen in furchtbarem Kampf abwehrt und dann als siegreicher Held in seine Heimat gelangt.
Wahrhaft volkstümlich wurden vor allem jene Sagen, in welche die Heldengestalt Siegfrieds hineinverwoben ist. Wo liegen ihre Uranfänge? War dieser Siegfried, oder Sigurd, der Lichtheros aller Weltreligionen, der von den Mächten der Finsternis überwunden wird –, oder nur ein blonder, schlank und hochgewachsener Märchenheld oder gar eine geschichtliche Persönlichkeit? Überlassen wir die Frage den Gelehrten. Uns ist und bleibt der sonnenhafte Siegfried die Lieblingsgestalt der deutschen Heldensage.
Wo immer die Helden vom Rhein in ungestümer Kampfbegier mit den streitbaren Mannen des Ostens sich messen, da ist Siegfried an der Spitze seiner Kampfgenossen. Also erklingt sein Lob in der alten Mär von dem ritterlichen Dietleib, der ausging, seinen Vater Biterolf zu suchen. Also rühmt ihn der Sang vom Wormser Rosengarten, obwohl dessen oberdeutschen Verfasser die eifersüchtige Absicht leitet, den rheinischen Recken in ihren zwölf Einzelkämpfen mit den gotisch-hunnischen Helden den Ruf der Überlegenheit abzusprechen.
In mancherlei Überlieferungen und Umbildungen hat die Geschichte von den burgundischen Königen Günther, Gernot und Giselher, die zugleich die letzten Schicksale des Volkshelden Siegfried umschließt, vom Rhein aus durch fahrende Sänger von Burg zu Burg zu den nieder- und oberdeutschen Stämmen bis hinüber ins Donautal den Weg gefunden, wobei ihr ursprünglich heidnischer Geist sich allmählich verflüchtigte.
Dadurch, daß ein ungenannter sagenkundiger Spielmann, den man wohl kaum jemals ausfindig machen wird, um die Wende des zwölften Jahrhunderts die alten Einzelsagen, zu einem großen Heldengedicht vereinigt, in Liedform niederschrieb, ist das Lied von der Nibelungen Not als kostbares Überbleibsel germanischer Volksdichtung bis auf unsere Zeit erhalten worden. Mit Schauern rieselt es uns heute wie ehedem unseren Altvorderen durch das Gemüt, wenn das Nibelungenlied uns erzählt von der großen, ungebändigten Leidenschaft jener Männer und Frauen und der erschütternden Verkettung von Sünde und Sühne in deren Leben.
Ein gewaltiges Lied von Schuld und Strafe, das die Seele mächtig ergreift, emporgesprossen aus der Tiefe des Volkes und einer Welt entsprechend, wie der jugendlich starke Sinn des deutschen Volkes sie wünschte. Als liebliche Idylle beginnend, um als abschreckende Tragödie auszuklingen. Am Hof des Königs Günther von Burgund in Worms erscheint, angelockt durch den Liebreiz Kriemhildens, der Schwester des Königs, ein junger blonder Held, Siegfried mit Namen. Er selber ist eines Königs Sohn. Sein Vater Siegmund regiert in Xanten »nieden by dem Rine«.
König Gunther nimmt den schlanken und sehnigen Recken als Lehnsmann in seine Dienste. In jener schönen Vasallentreue, die alle Helden ziert, erkämpft Siegfried unerkannt dem König die stolze Königin des isländischen Inselreiches, Brünhilde, zur Gattin. Als Lohn empfängt er dafür Kriemhildens Hand. Hochherzig schenkte er Kriemhilden als Brautschatz den Nibelungenhort, den er in jungen Jahren von den Söhnen des Königs der Nibelungen und dem Hüter Alberich erstritten hat.
Eitel Freude herrscht am Königshof in Worms. Doch nicht bei allen. Außer Kriemhilde ist noch eine andere dem Helden Siegfried heimlich gewogen: Brünhilde. Das bräutliche Glück Kriemhildens läßt den Neid in ihrer Seele wachsen, und sie findet kein freundliches Wort mehr für jene. So meiden die beiden Frauen einander entfremdet. Eines Tages versteigt die Mißgunst Brünhildens sich zu harter Rede. Da weiß Kriemhilde ihre Zunge nicht zu zügeln. In hitzigem Wortgefecht hält sie der Schwägerin vor, nicht Gunther, sondern Siegfried sei es gewesen, der sie dazumal im Brautbett gebändigt habe. Zum Beweis dessen hält sie ihr Ring und Gürtel vor, den Siegfried in jener Nacht der starken Brünhilde genommen und der Kriemhilde geschenkt hat. Hochfahrend kränkt sie Brünhilde mit einem häßlichen Namen und weigert ihr den Vortritt ins Münster.
Weinend berichtet Brünhilde dem König Gunther von dem ihr angetanen Schimpf. Der beleidigte König grollt, und sein Dienstmann Hagen sinnt darauf, Siegfried zu verderben. Äußerlich, um seine Herrin zu rächen, insgeheim wohl um des Nibelungenschatzes willen.
Bei einer Jagd im Odenwald wurde Siegfried, als er gebückt aus einer Quelle trank, von Hagen heimtückisch erstochen. Man ward Rates, es solle verbreitet werden: Als Siegfried allein jagen ging, da erschlugen ihn die Räuber. So fuhren die Könige und ihr Gefolge am andern Tag über den Rhein nach Worms zurück.
Vor Kriemhildens Kemenate ließ Hagen in der Nacht den Toten niederlegen. Frühmorgens, als Kriemhilde mit ihren Frauen sich anschickte, zur Messe in den Dom zu gehen, gewahrte sie die teure Leiche. Da erscholl vielstimmiges Jammern. Weinend warf sich Kriemhilde auf den ermordeten Gemahl. »Wehe mir,« rief sie, »dein Schild ist mit Schwertern nicht zerhauen. Du fielst durch Meuchelmord. Wüßte ich, wer es getan, ich schüfe ihm den Tod.«
Prunkvoll ließ sie den königlichen Helden aufbahren und bestimmte, daß ein Gottesgericht an der Leiche gehalten werde. Denn es ist ein großes Wunder, und noch immer geschieht's: wenn der Mörder seinem Opfer naht, dann bluten dessen Wunden aufs neue. So zogen denn alle die Fürsten und Edlen von Burgund an Siegfrieds Leichnam vorbei, den das Bildnis des gekreuzigten Welterlösers beschattete, und siehe, als der finstere Hagen vorüberschritt, da begannen die Wunden des Toten neuerlich zu fließen. Angesichts der bestürzten Männer und der entsetzten Frauen bezichtigte Kriemhilde Hagen des Meuchelmordes an ihrem Gemahl.
Trüglich und kümmerlich war die Sühne um diese große Schuld: der Nibelungenhort, der vorwiegend Anlaß zu der schmählichen Untat gewesen war, solle im Rhein versenkt werden, um künftig Habsucht und Hader aus den Herzen der rauhen Recken zu bannen. Aber Kriemhildens unendlicher Jammer war damit nicht gestillt, nicht minder ihr heißer Drang nach Rache.
Vergeblich bat König Siegmund nach der Bestattung des Helden, Kriemhilde möge nach der Königsburg von Xanten ziehen. Sie blieb zu Worms in ständiger Nähe des heißgeliebten Toten und lebte dreizehn Jahre an dessen Grabstätte. Dann siedelte die Jammerreiche nach der Abtei Lorch über, die ihre Mutter, die Herzogin Ute, gegründet hatte. Dorthin nahm sie auch die Leiche Siegfrieds mit.
Als dann Etzel, der Herrscher der Hunnen, um sie warb, reichte Kriemhilde, das verlassene Weib, dem Heiden die Hand. Nicht von Liebe, wohl aber von ihren Racheplänen geleitet. Sie zog mit jenem ins Ungarland. Dort hat sie dem Mörder Siegfrieds, nachdem sie diesen mit zahlreichen Dienstmannen arglistig zu sich geladen, in aufschäumender Rache ein Verderben bereitet, das uns mit wahrem Grausen erfüllt. Auch die mitschuldigen Burgundenkönige, seit der Hort zu ihnen gekommen, die Nibelungen geheißen, haben in der Etzelburg unter den Streichen der Hunnen ihre Treulosigkeit an Siegfried mit dem Tode gebüßt.
Erbarmungslos ließ Etzels Gattin ihre ganze Verwandtschaft niedermetzeln. Dem grimmen Hagen schlug sie selber mit Siegfrieds Schwert das Haupt ab. Darauf wurde die Rasende von dem erzürnten Kampfgenossen Hildebrand getötet.
Hier hat die Mär ein Ende. Das Lied von der Nibelungen Not ist die berühmteste Heldensage deutscher Zunge geworden. Von den alten Nationalsagen anderer Völker kann ihr nur das trojanische Heldengedicht Homers an die Seite gestellt werden.
Der geschichtliche Untergang der letzten burgundischen Könige von Worms ward durch diese Volksdichtung für alle Zeiten dichterisch verklärt.