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Vor vielen Jahren wohnte ich in Paris, im Quartier-Latin, nahe beim Luxemburggarten. Ich nahm meine täglichen Mahlzeiten in einem kleinen Restaurant des Boulevard St. Michel, und an demselben Tisch, oft an meiner Seite, aß fast täglich ein einfach gekleidetes Mädchen, von hübschem und frischem Aussehen, das ich eines Tages anredete. Denn ich war nach Paris gekommen, um französisch zu sprechen. Das Fräulein war auch keine Trappistin, und in kaum einer Viertelstunde hätte ich bereits ihr curiculum vitae schreiben können. Sie hieß Marie Richard, stammte aus Bayeux in Calvados, hatte eine Schwester in Grenelle verheiratet und war Verkäuferin in einem Modebazar am Boulevard St. Germain, wo sie von halb neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends so viel verdiente, daß sie sich einmal am Tage halb satt essen konnte.
Wir wurden bald gute Bekannte. Marie erlaubte mir, sie nach Tisch in den Luxemburg oder auf die großen Boulevards zu führen. Und sie wurde eine Art ›Mignon‹ für mich. Sie sang mir ein ewiges: »Kennst du das Land, wo – der Cidre goldig im Glase blinkt?« Sie erweckte in mir das erste Verlangen, die Normandie kennen zu lernen, das Land mit seinem vollsaftigen fetten Grün und seinen noch fetteren Käsen, das Land mit seinen ragenden Kathedralen und seinen halb versunkenen Abteien und Königschlössern der Urzeit, das Land mit seiner heldenhaft gewaltigen Geschichte und seinen Sagen und wunderbaren Legenden.
Diese erzählte mir die kleine Marie. Sie wußte viele. Denn sie war aus Bayeux im Lande der Cinglaisen, aus der Stadt der Druyden mit ihrem heilig geheimnißvollen Wesen, von denen man so wenig Sicheres weiß, deren Erinnerung aber, durch Jahrtausende hindurch, und über alle Umwälzungen und Verheerungen hinweg, im Volksbewußtsein geblieben ist und fortlebt in Ammenmärchengestalt. Sie gab mir Kunde vom heiligen Eisenkraut und von unverletzlichen alten Brunnen und ihren Geheimnissen. Sie diktirte mir seltsame Worte der heimatlichen Sprache, keltische Ueberbleibsel, und sang mir Kinderreime und Tanzlieder, schalkhafte und rührend fromme.
Und sie erzählte mir besonders von dem großen Wunder der Stadt Bayeux, von dem hundert Schritte langen Teppich, der nun bald tausend Jahre alt und noch so gut erhalten ist, und frisch und hell in den Farben, und woraus unzählige bunte Gestalten zu sehen sind, eine ganze Weltgeschichte in Bildern.
Wenn sie von diesem Weltwunder sprach, da wurde sie Feuer und Flamme. Sie meinte aber den Teppich der frommen Königin Mathilde, der Gemahlin Wilhelms des Eroberers. Dieser außerordentliche Held, dieser Odysseus und Achill in einer Person, hatte seinen Homer in seiner eigenen Frau gefunden, die seine Iliade schrieb, nicht mit der Feder, sondern mit der Nadel. Mit ihrer frommen weißen Frauenhand, Stich für Stich, in fünfzig Bildern statt in fünfzig Gesängen, steppte sie die Eroberung Englands in die Leinwand, durch lange Jahre mit unermüdlichem Fleiß, voll Liebe und Treue zu ihrem Helden, alles fleißig nachbildend, Waffen und Gewandung und Schiffsgerät, wie sie es kannte. Keine ruhmreiche Sache vergaß sie. Nur die bösen Dinge, die vielen schauerlichen Grausamkeiten des furchtbaren Mannes brachte sie nicht auf die Leinwand, daß der Ruhm ihres Herrn und Helden rein sei in der Nachwelt.
Wahrhaftig, dieser Eroberer hatte Glück mit seiner Frau.
Sein ebenbürtiger Nachfolger gegen das Ende des Jahrtausends war in diesem Punkt weniger begünstigt; er kam darum auf den frevelhaften Gedanken, dem Andern, über acht Jahrhunderte hinweg, die Liebe seiner Gemahlin zu veruntreuen und das Werk dieser Liebe zu eigenem Vorteil zu benützen.
Als Napoleon im Jahre 1805 England für sich erobern wollte, da ließ er das gestickte Heldengedicht der Königin Mathilde an zwei Orten ausstellen, zu Rouen und zu Paris, um sein Volk durch die sichtbare Vorführung des Vergangenen für ein Zukünftiges zu ermutigen und zu begeistern. Aber der Gott der Liebe und der ehelichen Treue bewahrte die fromme Königin vor dem ärgerlichen Schicksal, ihr Liebeswerk zuletzt für einen Andern vollendet zu haben, der damit den Ruhm des großen Eroberers zu verringern und die achthundertjährige Einzigkeit seiner That aufzuheben gedachte. Der Gott erstickte den Plan des Corsen im Keime und bestärkte die Welt von neuem in dem Glauben, daß eben nur ein Wilhelm das Reich der Angeln und Sachsen zu erobern vermochte.
Von solchen märchenhaften Dingen erzählte das Mädchen aus Bayeux im Lande Bessin in Calvados, und noch von vielen andern Wundern, wie von dem Ritter Duguesclin, dem berühmten Connétable, – an dem, in unsern Tagen, der noch berühmtere Ritter Déroulède einen leider mißlungenen Wiederbelebungsversuch mit Einblasen seines eigenen unsterblichen Heldenodems angestellt hat. Meine hübsche Cinglaisin verstand sich fast besser auf die Belebung alter Gespenster, insonderheit des Ritters Duguesclin, der eigentlich nie ein Franzose war, sondern immer ein Cinglaise wie sie, auf dessen Schloßruinen zu Thuite sie als Kind Veilchen gepflückt hatte und von dem sie ein altes Lied wußte. Denn wenn sie nicht erzählte, so sang sie. Das hat schon jener poetische Sakristan zu Cluny, ich weiß nicht aus welchem Jahrhundert, gewußt, als er reimte:
Usage est en Normandie
Que qui herbergiez est qu'il die
Fable ou chanson die à l'hoste ...
Damals aber kam ich nicht in die Normandie, trotz allem Singen und Sagen und trotz aller guten Vorsätze, womit bekanntlich ein anderer Weg gepflastert ist. Erst im letzten Sommer unternahm ich die Fahrt.
Und eines rühme ich mich, ich bin auf echte Normannenweise in die Normandie gekommen, nämlich nicht anders als zu Kiel, von der Schwelle meines Hauses ab. Das kann mir nicht jeder nachmachen.
Das möchte mir nicht jeder nachmachen. Man hat sich genug über mich gewundert. Die ewige Rede war, der Landweg sei ja viel kürzer und viel billiger. Und » time is money« war der stille Hintergedanke. Da hatten sie für sich vollkommen recht. Doch daß es auch Menschen gibt, für die Zeit durchaus kein Geld ist, das können diese braven Menschen, meine Landsleute, nicht begreifen.
An einem Julimorgen, beim ersten Tagesgrauen, bestieg ich den »Hohenzollern«, den stattlichen, schwanenweißen Salondampfer.
Diese weißen Majestäten gehen gewöhnlich über das »goldene« Mainz nicht hinauf; nur für den Sonntag versteigt sich einer von ihnen etwas höher. Und eine solche Gelegenheit benutzte ich.
Der Rhein stand hoch, fast auf Uferhöhe. Die Altwasser des rechten Ufers, mit ihren grünen Wieseninseln und Pappelpflanzungen, mit ihren brüchigen Weidenufern und Schilfgeländen, waren weithin übersehbar und erschienen als unbetretene und unbetretbare Wasserwildnisse der Urzeit, wo die einsam stillsitzende Rohrdommel mit eingezogenem Hals philosophisch vor sich hin brütet, wo die Schaaren des weißgestirnten Wasserhuhns, wo der goldgesprenkelte Regenpfeifer und die bunte weithin leuchtende Wildente, und der zierlich geschopfte bläuliche Reiher ihr geheimnißvolles Wesen treiben. Die Sonne stieg über den Odenwald empor, die taufeuchten Pappeln leuchteten wie grüne Flammen in der kühlen Morgenluft, die Ebene rollte sich auf in der Fülle ihrer Fruchtbarkeit, dampfend und rauchend, weithin, dunkel umrahmt von blauen Gebirgszügen, hinter denen, immer ferner, höhere Kuppeln aufragen, den Blick nicht einengend wie in Hochgebirgsthälern, sondern ihn weiterziehend, immer weiter ...
Und dann plötzlich, gerade hinaus über dem breiten Strom, hinter einem dunkeln Walde, hoch in der Luft stehend, finster und massig, vieltürmig in glücklich perspektivischer Verkürzung, der Dom von Worms, der Dom des Nibelungenliedes ...
Da empfand ich aufs neue die große Schönheit dieser ungekannten und ungeschätzten heimatlichen Landschaft.
An diese Landschaft und Gegend denkt jedoch kein Mensch, wenn man den Rhein nennt. Der Rhein schlechthin, das ist der Strom von Mainz bis Bonn, oder noch eigentlicher von Bingen bis Coblenz. Das sind die engen violettgrauen Felskulissen, die sich folgen und gleichen wie ein Ei dem andern, das sind die Schlösser und Ruinen und alten Kulturnester mit ihren halbverfallenen Mauertürmen und ihren romantischen Domen: lauter reizende Winkel, hochinteressant, und bedeutend durch hunderterlei historische Bezüge, aber für das wirklich sehende, für das schönheitsdurstige Auge fast alles entbehrend, große Linie, plastische Tiefe, weite Luft, alles, was eine wirklich große Landschaft ausmacht.
Aber die Masse unserer sogenannten Gebildeten hat keine Augen zum Sehen. Sie denkt wenig, aber sie sieht noch weniger, vor dem Kunstwerk, wie vor der Natur. Weder hier noch dort sieht sie die vorgestellte Schönheit. Nicht für diese, wovor der ästhetische Mensch seine Seele ausweitet und erfrischt, interessirt sich der Halbgebildete, sondern für allerlei Zufälligkeiten, an denen er seinen Witz oder seine Gelehrsamkeit zu Tage fördern kann. Hunderte von Menschen, die nie eine Blume am Wegrand sehen, die in der einsam sonnigen Heide niemals einen Zauber in der Seele gespürt, die nie am Erlenbach im stillen Wiesengrund träumerisch gewandelt sind, sie gehen alljährlich unter vielem Geschrei in die Alpen. Mit der stillen Schönheit der heimischen Natur wissen sie nichts anzufangen, aber mit den Berggipfeln und Gletschern, – daran können sie ihre Körperkraft auslassen.
Für den Touristen hört der Rhein bei Bonn auf, höchstens geht er bis Köln. Von da an wird er höchst langweilig.
In Wahrheit aber ist die niederrheinische Landschaft von großer Schönheit, und sie wird um so bedeutender, je weiter man in Holland vorrückt. Hier liegt der Spiegel des mächtig breiten Stromes, den nur die Dämme zusammenhalten, oft höher als das Land, das man dann weithin überblickt, mit seinen unabsehbaren Wiesen, mit seinen schwarz- und weißgescheckten Rinderheerden, mit seinen hellleuchtenden Landhäusern im Schatten üppigsten Baumwuchses, mit seinen stumpfen Dorfkirchtürmen und phantastischen Windmühlen. Ich sah das Bild bei Gewitterhimmel, mit grau verhängter Luft und wechselnden hellen Streiflichtern. Es war ein überwältigender Anblick.
»Heute möcht' ich fast eine Prophezeihung thun,« sagte ich zum Kapitän, bei dem ich auf der Brücke stand; – denn ich war der einzige Reisende der ersten Klasse.
»Man los,« brummte mein Mann.
»So prophezeihe ich denn,« rief ich mit ausgestreckter Hand, »daß in hundert Jahren die Menschen, um die Schönheit des Rheins zu genießen, nach Rotterdam fahren werden, wie sie heute nach Coblenz oder nach Bonn fahren.«
Der Kapitän wandte mir sein weiß-bestoppeltes kupferbraunes Gesicht zu und sah mich erst ganz verständnißlos an.
»Mein Herr,« erwiderte er endlich, »da müßten sich bis dahin die trinkbaren Dinge in Holland gewaltig verändern.«
Daran hatte ich nicht gedacht. Das ist auch ein Grund, warum die Deutschen an den Rhein gehen.
In Rotterdam vertauschte ich mein Rheinboot gegen ein stolzes Meerschiff. Es trug einen Namen, der mich sehr anheimelte, den Namen eines Malers, eines Lyrikers in der Malerei, dessen wir Deutschen in demselben Sinne gedenken, wie des Dichters Alphonse Karr, die beide der französischen Kunst und Dichtung ihre deutsche Seele eingehaucht haben, daß die Franzosen einen Augenblick mit seltsamer Verwunderung zu ihnen hinhorchten. Vielleicht aber hatte der kleine schwarze Steamer »Ary Scheffer« auch einen ganz andern Namenspatron als den gedachten poetisirenden Maler.
Bei der Abfahrt fiel aus einem tiefhängenden schmutziggrauen Wolkenhimmel ein dichter feiner Regen nieder. Das sah aus wie die ewige Trostlosigkeit, das konnte den heitersten Menschen trübselig stimmen. Der Kapitän fragte mich, ob mir bange sei.
Nur das Wetter gefalle mir nicht.
Das sei freilich nicht lieblich und verspreche nicht viel Gutes.
Der Steuermann trat heran. »Heut sind nur diese Aussichten ...« und er machte die Gesten der Seekrankheit.
Ich verwahrte mich, ich wolle nicht krank werden.
Der Kapitän sah mich an. »Gewiß, wenn Sie den festen Willen haben – und ihn behalten ...«
Ich habe ihn behalten.
Wir waren noch eine Stunde von Hoeck entfernt, da riß ganz plötzlich die Wolkenschicht auseinander, und in dem Spalt, gerade vor uns über dem Wasser, stand die Sonne, und sah uns an wie das Feuerauge Gottes, und warf ihre Strahlenbündel durch die wogenden Dünste des Luftreichs und warf gelb-grüne Streiflichter über die dampfende Erde. Wir fuhren ihr entgegen. Sie aber senkte sich, erst langsam, dann rascher, und wurde rot und immer röter, wie eine glühende Kohle. Und wie eine glühende Kohle, die ins Wasser sinkt und erlischt, so versank sie, sichtbar, in der Flut. Da war es dunkel und ich fuhr zugleich in die Nacht und in den Ocean hinein.
Als ich am andern Morgen in großer Frühe erwachte und auf das Deck stieg, lag linker Hand die Stadt Calais, so deutlich, daß man die Fenster blinken sah, und rechts drüben schimmerten die Kreidefelsen von Dover.
Das wurde ein langer Tag. Und ein harter Tag. Denn die Wellen, höher als haushoch, schlugen uns mit ungeheurer Gewalt gerade entgegen, und unser Steamer geberdete sich wie ein närrisch gewordenes Hippopotamus und stellte sich jetzt auf den Kopf und dann auf die Hinterbeine und so ewig fort. Und die Segler, die uns entgegen kamen, tanzten und gaukelten um uns herum wie Riesenschmetterlinge und schienen jeden Augenblick sich platt auf die Seite zu legen, um nie wieder aufzustehen. Das war drollig anzusehn.
Ich hatte den höchsten Platz des Schiffes für mich ausgesucht, die verlassene Brücke des Lootsenkapitäns. Hier wurde ich zwar in der weitesten Linie, im höchsten Bogen, auf und niedergeschwungen, aber in ruhiger Stetigkeit, ohne geschüttelt und erschüttert zu werden. Wer schwindelfrei ist, wird hier nicht krank. Von dieser schaukelnden Höhe sah ich das Spiel der Wogen, die wie verschlingende schwarze Ungeheuer gegen uns heranstiegen, erst sanft und glattrückig, schlangenartig, in allen Farben schillernd, vom hellsten Grün bis zum dunkelsten Purpur und schwärzesten Blau, durch glitzernde Schaumflocken gescheckt und getüpfelt, gleißend schön, und sich immer näher wälzend, und plötzlich sich verwandelnd in einen einzigen aufgesperrten Rachen, in hundert ausgreifende flimmernde Tatzen, – dann zusammenbrechend und in nichts auseinanderfließend.
Den ganzen Tag stand ich so, und tief in die Nacht hinein. Wir sollten längst am Ziel sein.
Aber erst am andern Morgen lagen wir vor Havre.
* * *
Wir lagen dicht davor. Aber hineinkommen sollten wir noch lange nicht. Und wir waren nicht allein. Andere Schiffe, Dampfer und Segler, eine stattliche Anzahl, aus allen Weltteilen kommend, standen um uns her in der Sucht; es sah aus wie eine Blokade.
Der Hafen von Rotterdam liegt achtzehn Kilometer vom Meer entfernt und ist doch jederzeit zugänglich. Havre dagegen, das weit vor der Küste auf einem spitzen Dreieck geradezu ins Meer hineingebaut ist, daß es, aus der Höhe betrachtet, im Meer zu schwimmen scheint, ist während der Ebbe unnahbar; sein Hafen kann nur bei hoher Flut betreten werden.
Einstweilen studirte ich Havre und seine Umgebung von der Fischperspektive aus. Der Maschinenmeister, ein intelligenter junger Mann, hatte sich zu mir gesellt. Er zeigte mir rechts drüben im Westen das moderne weltberühmte Trouville, daneben das bescheidene Villerville und etwas weiter zurück, an der meerbreiten Seine, unter einer waldigen Berghöhe, das historische Honfleur mit der Kapelle Notre-Dame-de-Grâce auf der Höhe, die lange vor allen Leuchttürmen den Schiffern ein Zeichen war. Denn sie wurde von keinem Geringeren gegründet, als von jenem ersten Robert, den sie den Schrecklichen oder gar den Teufel hießen, » mais lequel fut après l'homme de Dieu,« nämlich nach seiner Bekehrung, der aber dennoch ein für allemal als Teufel fortlebt, in den Darstellungen der großen Oper zu Paris, wie in den Märchen und Legenden der Bauernhütten: denn wer den Menschen nur Gutes thut, den vergessen sie schnell, wer aber Schrecken und Entsetzen um sich her verbreitet, der gräbt seinen Namen unauslöschbar und für alle Zeiten in die Gedächtnisse, der befruchtet die immer zeugende dichterische Phantasie auf Jahrhunderte hinaus.
Die östliche Küste von Havre hat einen von der westlichen durchaus verschiedenen Charakter. Im Westen erscheint das Laub wie ein fetter grüner Garten, voll üppiger Fruchtbarkeit, über sanfte Hügel weithin ausgebreitet. Im Osten aber sieht das Auge, soweit es blickt, nichts als nackten Fels, senkrecht aus dem Meer aufsteigende, rötliche oder weißliche Wände, und darüber den blauen Himmel. Es ist ein seltsamer Anblick. Die höchsten Alpenberge wirken nicht so schwindelerregend wie hier, himmelhoch über dem schwankenden Meer, dieser abstürzende, für das Auge hintergrundlose Rand der menschenbewohnten Erde. Das muß ein wunderbares Wandern sein dort droben, ohne Adlerschwingen ein stolzes Verweilen in der Mitte zwischen Himmel und Meer.
Und nichts ist leichter zu erreichen. Schon zwei Stunden später stand ich bereits auf dem steilsten Felsenvorstoß, dem Cap de la Hève, hart an dem bewunderten Rand, und sah das Meer, das unendliche Meer, tief unter meinen Füßen. Und wie unbegreiflich! Was uns durch Tage und Nächte, in unglaublichem Selbstaufruhr, jetzt gegen den Himmel schleuderte, dann im tiefsten Abgrund zu verschlingen drohte, das lag nun vor dem Auge ausgebreitet wie die ewige Ruhe selbst, in tiefer Regungslosigkeit, wie ein fester Krystall. Und ebenso standen, weit draußen, die weißen Segel der Fischerkähne, fest, wie unverrückbar, wie am Himmel die goldenen Sterne.
Wenn man von Havre zu dem Cap hinaufsteigt, kommt man an dem Dörfchen St. Adresse vorüber. Das sieht heut bereits ziemlich vorstädtisch aus, aber früher, in der romantischen Zeit, war es einmal durch Alphonse Karr sehr berühmt. Denn ehe Alphonse Karr in die Provence ging und Blumenzüchter im Großen und Parfumfabrikant wurde, trieb er lange Jahre in der Normandie sein Wesen, wo er allerlei Sport pflegte, bald als »armer« Fischer, bald als Villen-Besitzer und Gartenkünstler, immer aber als Dichter und eifriger Journalist. Als solcher hat er zum erstenmal die Aufmerksamkeit der Pariser auf diese Gegenden gelenkt, die durch ihn eine ganz besondere Berühmtheit erlangten. Er machte Mode, und man sagt vielleicht nicht zu viel, wenn man behauptet, daß das heutige Trouville diesem Alphonse Karr, diesem Münchener Kindl, den ersten Anstoß zu seinem Weltruhm verdankt.
Wir Deutschen dürfen Alphonse Karr schon mit Dankbarkeit nennen. Er kam bereits im zarten Kindesalter nach Paris und hat sich auch in vielen Dingen französisirt. Als Dichter aber ist er durch und durch ein Deutscher geblieben. Sein » Sous les Tilleuls« liest sich wie die Uebersetzung eines deutschen Buches. Der ungeheure Erfolg dieses Romans erfüllt uns mit einer eigenen Genugthuung. In diesem Buch, und andern von Alphonse Karr, liebten und verehrten die Töchter Frankreichs unbewußt die Seele des deutschen Volkes.
Als ich auf dem Cap de la Hève stand, in der Nähe der Leuchttürme und der Semaphoren, und hinausschaute gen Osten, wo kaum eine Menschenansiedelung sichtbar ist, wo nur, sehr fern, wieder einmal ein weißer Leuchtturm verlassen aufragt, da fühlte ich mich unwiderstehlich versucht, an diesem einsamen Rand der Welt, zwischen Himmel und Meer fortzuwandern, immer fort, von einem Leuchtturm zum andern.
Und diese Wanderung führte ich an einem der nächsten Tage aus.
In zwei gemächlichen Tagewanderungen machte ich den Weg über das Cap d'Antifer und Étretat nach Fécamp, ohne Straße, nur auf schmalem Fußpfad, zwischen blühendem Ginster und Heidekraut – zu meiner Linken, tief unter mir, das unbegrenzte Meer, und rechts hinaus, ebenso unabsehbar, ein flaches Hügelland, wo die Dörfer nicht aussahen wie Dörfer, sondern wie größere und kleinere Wälder.
Denn hier in der Normandie wird es einem klar, warum ein Bauern- und Pachthof eine Ferme heißt. Jedes Gehöft ob es einzeln liege oder zu einer Dorfschaft gehöre, ist hoch eingehegt, unten von einem mächtigen Erdwall, darüber von einer lebendigen Mauer, von eng aneinander geschlossenen hohen Bäumen, meist Ulmen und Pappeln. Daher dieser befremdliche Anblick der Dörfer. Sie haben in der Entfernung etwas Märchenhaftes. Die Täuschung ist vollkommen. Der fremde Wanderer sieht auf seiner Karte eine Reihe von großen Dörfern und Flecken angegeben. Aber wo haben sie sich nur versteckt? Das Auge entdeckt nur gelbe Weizenfelder und dazwischen dunkle Gehölze tagelang ...
Und daher noch eine andere Seltsamkeit. Auch wer sich nicht an der felsigen Küste hielte wie ich, auch wer drüben im sorgfältig gebauten Land die große Straße zöge, die, wie mein Weg, von Havre nach Fécamp führt, er könnte ebenfalls viele Meilen weit wandern, ohne einen einzigen Apfelbaum vor das Auge zu bekommen und müßte sich verwundert fragen, wo nur die Aepfel alle wachsen, die den berühmten Cidre geben? Sie wachsen alle hinter den hohen lebendigen Mauern. Sie können nur dort wachsen. Der heftige Meerwind, der zu Zeiten über das Land fegt, läßt sie im Freien nicht fortkommen. Nur die geschütztesten Orte machen eine Ausnahme. Und das sind fast immer die Stätten alter Klöster. Fécamp heißt auf deutsch bekanntlich Feigenfeld, es ist entstanden aus Fici campus, und von der berühmten Abtei Bec ging im Mittelalter der Spruch:
De quelque côté le vent vente,
L'abbey du Bec a rente.
Doch ist der Wind nicht allein Schuld, daß keine Obstbäume im freien Felde stehen. Die Sitte hat vielleicht noch mehr dazu gethan. Wer in Schwaben und Franken gewandert ist, der erinnert sich mit Vergnügen, wie hier die Landstraßen und alle Wege meilenweit von Apfelbäumen eingefaßt sind, die in der Blütezeit das ganze Land in einen einzigen märchenhaften Rosengarten verwandeln. So etwas gibt es in Frankreich nirgends. Wo man hier Obstbäume sieht, stehen sie hinter Mauern und Zäunen. An den Landstraßen trifft man nur Ulmen und Pappeln. Das gibt ein unheimliches anfremdendes Gefühl, da kann man nicht mit Uhland singen:
Bei einem Wirte wundermild
Da war ich jüngst zu Gaste.
Im gewöhnlichen Sinn des Wortes fehlt es in Frankreich nirgend an freundlichen Wirten und Wirtinnen. Ich bekam auf meiner einsamen Küstenwanderung in der salzigen Seeluft öfters Durst. Dann brauchte ich nur einen Abstecher über die nächsten Felder zu machen, nach den Orten zu, die aus der Ferne als undurchdringlicher Wald erschienen. Und immer wurde ich freundlich aufgenommen. Und Brod und Käse und Cidre waren fast immer ausgezeichnet. Auf die Bereitung des Apfelweins ist die Normandie nicht mit Unrecht so stolz. Und die weltberühmtesten Käse: der Rochefort, der Camembert, der Neuchâtel, sie kommen alle aus der Normandie. Man macht diese Käse aber nicht nur an den drei genannten Orten, man macht sie überall, und überall sind sie gleich mild und gleich fett, gleich rahmig und geben den besten Begriff von dem Charakter ihrer Erzeuger.
Eine andere Art von Besuch machte ich gelegentlich meinem Nachbar zur Linken. So unmöglich es aussieht, an einzelnen Stellen kann man ohne allzugroße Gefahr die Falaise hinunter klettern und zum Meer gelangen. Mühselig und langwierig ist es. Aber herrlich ist auch der Lohn. Sich hier in das Meer zu tauchen, in die wilde Brandung, das gewährt mehr als körperliche Erfrischung. Dieses unheimliche innige Alleinsein mit dem gewaltigen Meer gibt ein unbeschreibliches Gefühl. Hier empfindet sich der Mensch wie sonst nie. Körperlich kommt er sich vor wie ein ohnmächtiger Wurm; aber er besinnt sich, daß die ungeheure, die fürchterliche Größe, der er sich gegenüber weiß, in ihm selber ist, in seiner eigenen lebendigen Empfindung, und schaudernd steht er vor dem ewigen, unbegreiflichen Rätsel seiner selbst.
Gewaltig steil, und weißschimmernd im Gestein, ragt die Falaise auf, die man das Cap d'Antifer nennt.
In dieser Vorgebirgseinsamkeit, kurz vor dem abstürzenden Rand der Welt, der festen Welt, stieß ich auf eine angebundene Ziege. Sonst war nichts Lebendiges weit und breit. Die Geis sah schäbig und heruntergekommen aus. Und in dieser großen Landschaft, aus dieser Höhe zwischen Himmel und Meer, war das ein doppelt unerwarteter und unangenehmer Anblick. Aber die Frau Heddel begrüßte mich mit einem so herzlichen Meckern, daß ich sie anredete.
– Mir scheint, du findest hier nicht viel zu beißen? sagte ich teilnehmend.
– Fast nichts, erwiderte sie, aber dafür ist die Luft sehr wohlschmeckend, und von Zeit zu Zeit lecke ich mir die Lippen ab, das kitzelt mir angenehm die Zunge.
– Und viel zu kurz hat man dich an den Pflock gebunden.
– Oh, mein Herr, sprach sie lebhaft, ich habe Ziegen gekannt, die viel kürzer angebunden waren und in einer weniger schönen Gegend.
– Am schönsten wär' es freilich, ganz frei zu sein.
– Warum?
– An dem Felsen wachsen so würzige Kräuter.
– Ich habe ja das Klettern verlernt, ich würde den Hals brechen.
– Da müßtest du dich nach der Seite der Felder hinhalten.
– Daß ich dem Garde-champêtre in die Hände fiele, der mich auf den Schragen lieferte! Nein, da ist es besser so. Das sagt auch schon das alte Sprichwort: » Où la chèvre est attachée, il faut qu'elle broute.«
Diese Ziege sprach gewiß vernünftig. Sie machte aus der Not eine Tugend. Und so sind wohl die meisten Ziegen, die man von Kindheit auf angebunden hat. Jene andere, jene provençalische Ziege, in den Contes de mon Moulin, die Ziege des Herrn Seguin, war wohl eine Ausnahme. Die dachte freilich anders. Und es ist ihr schlecht bekommen, sie wurde vom Wolf gefressen. Aber auch die alten Normannen dachten anders.
Sonst gäbe es heute keine Normandie, und die halbe Weltgeschichte wäre nicht geschehen ...
* * *
Am zerklüftetsten wird die Falaise bei Étretat, wo sie, in phantastischer Weise zerrissen und durchlöchert, allerlei seltsame Bildungen darstellt, denen das Volk womöglich noch seltsamere Namen gegeben hat. Außerdem erfreut sich Étretat eines ausgedehnten Austernheerdes, und die Austern sind hier, mit einer kleinen Übertreibung, fast so billig wie Brombeeren. Darum gilt aber auch das Austernessen hier lange nicht für so vornehm wie sonstwo. Hier lohnt es sich der Mühe gar nicht. Es sieht einen doch niemand darum an.
Ich nächtete in Étretat. Am andern Tag aber wanderte ich über Aport nach Fécamp.
Diese Stadt kennt die Menschheit hauptsächlich von gewissen großen, schwarzen, bauchigen Flaschen her, mit sehr einfachen, geistlich angehauchten Etiquetten darauf, welche nachahmen zu dürfen, Mancher viele Millionen gäbe. Der religiöse Anhauch dieser Aufschriften mit ihrem schwarzen Kreuz ist in der heutigen Industrie des Ortes, die in hoher Blüte steht, das Einzige, was an die alte weltgeschichtliche Bedeutung von Fécamp erinnert. Denn die alte Welt kannte Fécamp nur als Abtei. Sie war eine der bedeutendsten in den nördlichen Gegenden. Ihre Aebte trugen die Mitra und waren oft reicher und mächtiger als die Könige von Frankreich. Und so war sie auch architektonisch eine der größten Herrlichkeiten des Mittelalters. Aber die Ligue, die Hugenottenbewegung und die Revolution haben gründlich aufgeräumt. Alle Denkmäler der Jahrhunderte, alle Erinnerungszeichen der Großen, von den ersten Normannenherzögen bis auf Casimir, den König von Polen, der hier seine Tage beschloß, alle Merkzeichen der stolzen Aebte und der frommen Heiligen, alles ist verweht, alles spurlos hinweggefegt vom Hauche dieser neuen Zeit.
Nur die Kathedrale ragt noch immer empor als wunderbare gewaltige Ruine. Auch die Martinskapelle und die Kapelle Unserer lieben Frau sind, wenn auch verwüstet, doch nicht zerstört.
Und von den vielen tausend Statuen steht hie und da noch eine auf dem Sockel. Der heilige Benediktus von Nursia, der Urpatron, ist zufällig verschont geblieben. Von den andern hat zwar selten einer den Kopf behalten, aber doch vielleicht eine Hand, oder einen Fuß, oder wenigstens ein Stück Mantel. Zwei Jahrhunderte konnten nicht ganz zerstören, was sieben andere gebaut hatten. Gestiftet wurde Fécamp von Herzog Richard, genannt Ohnfurcht.
Richard verlor bereits als Kind seinen Vater Wilhelm Langdegen, behauptete aber nicht nur sein Herzogtum gegen den König von Frankreich, sondern stieß sogar den letzten Karolinger vom Thron und setzte sein Mündelkind den Grafen Hugo Capet darauf.
Er begründete somit die dritte Dynastie von Frankreich.
Er ist einer der ruhmreichsten Herzöge der Normandie. Seiner Schlachten und Siege sind unzählige. Und er war sehr fromm. Er stiftete nicht nur Fécamp; er baute auch die Kathedrale Notre-Dame zu Rouen, er erweiterte die Abtei Saint-Ouen daselbst und er wurde der Urheber von vielen anderen Kirchen und Stiftungen.
Er fand aber außerdem Zeit zu allerlei Liebesabenteuern, von denen die Chroniken und Reimgedichte der nächsten Zeit viel Ergötzliches zu erzählen wissen. Reizend und zugleich lehrreich ist die Geschichte seiner zweiten Verheiratung.
Noch zu Lebzeiten seiner ersten Gemahlin, der Dame Eumarette, kam Richard einmal auf der Jagd zu einem Förster, » la femme du quel blessa mult fortement les yeuls et le cœur du duc, de sorte que, transporté de passion, il n'eut pas honte de s'en découvrir au mary mesme, lequel entre le dépit, le respect et la crainte, en donne advis à sa femme qui, aussi prudente que chaste, supposa en sa place sa sœur Gonnore. Ceste pucelle, belle d'esprit et de corps sceut si bien ménager les bonnes grâces du duc, qu'il la retint près de luy.« Und dann werden die Kinder dieses außerehelichen Verhältnisses aufgezählt: ein Sohn Richard, Erzbischof von Rouen, ein zweiter Sohn Mauger, Graf von Corbeil, eine Tochter Emma, Gemahlin des Königs Emeldret von England, eine andere Hautoise, Gemahlin des Herzogs von Bretagne, und Mathilde, die spätere Gräfin von Chartres.
Nach dem Tode der Dame Eumarette gab Richard der schönen Gonnore den Vorzug vor seinen andern Geliebten wie vor den Töchtern der Großen, und machte sie zu seiner rechtmäßigen Gemahlin. In der Nacht nach dieser Hochzeit war der Herzog sehr verwundert, daß seine Gemahlin ihm den Rücken zukehrte und lachend fragte er sie nach dem Grund: » C'est qu'aultrefois, seignor, dist-elle en riant de mesme, j'étais dans vostre lit comme mignonne et servante, et de ceste heure j'y suis comme maistresse de la moitié.«
Sogar mit dem Teufel trieb dieser Richard seine Allotria. Er ist derselbe, von dem Uhland sagt: Graf Richard in der Normandie erschrak in seinem Leben nie, und er entriß nicht nur einem Gespenst seine Handschuhe, sondern auch dem Teufel eine arme Seele, eine sündige Pfaffenseele, was etwas heißen will nach dem Glauben aller Zeiten. Aber als er sein eigenes Stündlein kommen fühlte, da wurde ihm doch ein bißchen bang. » Et il alla à Fécamp et fit bastir son sépulchre, non en eglise, mais hors le mur, sous une gouttière, afin que la pluye lave son corps sale de mult péchéz.« So der geistliche Chronist. Die Volksauffassung wich davon ab. Nach ihr wollte Richard sich gründlich einwässern, um sich recht unbrennbar zu machen. Er wollte dem Teufel einen letzten Possen spielen.
Wenn man so aus den alten Schriftstellern in Vers oder Prosa einzelne Stellen heraushebt, mag der Leser Wunder meinen, welche Fundgruben von Humor und menschlichen Dokumenten diese Scharteken seien. Das ist ein Irrtum. Solche Stellen sind selten darin. Es sind verschwindende Oasen in dem trostlosen Einerlei ewiger Kriegserzählungen und Waffenbeschreibungen, und Berichten von Schlachten und Belagerungen, und Gefangenschaften, – von »heleben lobebaeren, von großer arebeit, von küener recken striten«, und allem Tumult des Mittelalters.
Man bekommt das bald satt. Und auch die alten Ruinen, die uns melancholisch machen, wollen wir nicht allzusehr bedauern. Das lebendige Leben ist schöner.
Also zurück nach Havre. Und hinüber nach Trouville. Die Gelegenheit ist günstig. Im Vorhafen, am Grand-Quai, wo auch die gewaltigen Dampfer von Southampton anlegen, harren sie, die leichtbeschwingten schlanken Fahrzeuge, die nach Honfleur, nach Dives, nach Caen und nach Trouville führen. Auch an Gesellschaft fehlt es nicht. Die kleinen Dampfer sind immer zum Sinken voll. Und alle Nationen und Sprachen sind in dem engen Raum vertreten und alle Stände und Lebensalter, alle in freudiger Erregtheit. Denn jeder denkt an Trouville. Jeder an erhöhten Genuß des Daseins. Und jeder denkt doch etwas anderes, der Müde an Erfrischung, der Kranke an Genesung, das Fräulein denkt an Eroberungen der junge Mann an gutes Glück, der reiche Pächter an die Table-d'hôte, der Dichter an die Schönheit, der versimpelte Millionärsohn an das Gold und die Banknoten der Spieltische, das Kind, das glücklichste von allen, an bunte Muscheln. Denn an dem wunderbaren Perlmutterstrand von Trouville wächst für Tausende tausenderlei Glück, und was daneben wächst, sucht man, bis zu einem gewissen Grad, decent zuzudecken.
Nach Trouville kam ich gerade zur ›Großen Woche‹ – nicht aus Absicht, aus reinem Zufall. Der Mensch findet immer das am ehesten, was er nicht sucht. Eigentlich gehörte Trouville nicht in mein Thema. Denn Trouville in der ›Großen Woche‹, das ist › Boulevard‹, das ist › Tout Paris‹, das ist, wenn Sie wollen, › Cosmopolis‹, – alles, nur nicht Normandie.
Und wer kein Sportsmann ist – oder Philosoph, – dem rate ich, in der ›Großen Woche‹ nicht in Trouville zu wohnen; es könnte ihm gehen, wie jener Dame am Tage der großen Regatta. Es war in einem der großen Strand-Cafés, wo man das Meer und den Wettkampf der schneeweißen stolzen Segel gerade vor Augen hatte, und die Dame wollte immer vom Kellner wissen, ob denn die Geschichte noch nicht bald losgehe. Der Kellner erklärte ihr, daß die Regatta ja in vollem Gange sei und gab ihr Erläuterungen, die aber wenig nutzten. Er wurde zuletzt ungeduldig, und mit einem » mais, Madame, il faut s'y connaitre«, wandte er sich achselzuckend von ihr ab. Jedes Ding hat eben seine Wissenschaft.
Und »jedes Tierchen hat sein Pläsirchen«. Dieser Satz wird einem klar, ob man einer Dorfkirchweih oder der ›Großen Woche‹ in Trouville beiwohnt. Und da wie dort haben die Beneidetsten das geringste Vergnügen. In der ewigen Sorge, daß man sie nicht für arme Tierchen, sondern für recht große Tiere halte, geht ihnen das Beste verloren. Das sind die ärmsten armen Tierchen. Aber sie ahnen ihre Armut nicht und sind darum nicht unglücklich. Sie haben ihr Pläsirchen.
Wagner, der Famulus des Faust, sah sich bald an Feld und Wiesen satt. Ich habe mich noch viel bälder an Wettrennen sattgesehen, und als in Trouville, oder vielmehr drüben in Dauville, aus der andern Seite der Touques, um den großen Preis geritten und gewettet wurde, da bin ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, nicht hinüber gegangen und kann deshalb von diesem Weltereigniß nichts erzählen. Ich habe aber an diesem Tag die Tapferkeit der Menschen bewundert. Der Tag war einer der heißesten, alle Wege waren hoch mit feinem Staub bedeckt, und niemand fiel es ein, auch nur einen Tropfen Wasser zu spritzen. Umsonst floß ein starker Fluß mitten durch den Ort, umsonst wälzte der Ocean seine Wogen heran; nicht ein Spritzerchen. Als die Auffahrt begann, in zehn Minuten war ganz Trouville, und Dauville mit, eine einzige dicke Staubwolke, in der man zu erblinden und zu ersticken drohte. Und niemand beklagte sich.
Die Auffahrt sah ich mit an. Hart an der Brücke zwischen Trouville und Dauville saß ich unter dem Leinwanddach einer kleinen Wirtschaft mitten zwischen Bauern und Bäuerinnen; und die Anmerkungen dieser Leutchen, die sich, als praktische Normannen, mit Strömen von Cidre den Staub aus der Kehle schwemmten, waren nicht weniger interessant als das vorüberziehende Schauspiel selbst. Ich will aber nicht sagen, daß mich dieses nicht sehr interessirt hätte. Eine solche Fülle prunkhafter Eleganz sieht man nicht alle Tage, und selten erscheinen die fascinirenden Herrlichkeiten des Reichtums in solcher Gehäuftheit.
Wo ein Aas ist, versammeln sich die Raben, sagt die Bibel. Auch von den weißen Tauben gilt etwas ähnliches, und das umsomehr, je weniger sie einfach weiß sind, je mehr sie in zauberhaften exotischen Farben schillern wie Paradiesvögel, wie sinnverwirrende Fabelwesen, wie Blumenwunder aus einem unglaublichen Märchenreich. Denn so wirken sie auf ein unbefangenes Auge. Und wenn man, wie zufällig man auch hereingeschneit ist, doch nicht ganz unbefangen ist; wenn man bedenkt, wie wenig sich in diesem »Triumphzug der Venus« die Elemente unterscheiden lassen, die reinen und die unreinen, wie man zu sagen pflegt, die Schönheiten der Welt, der vornehmen Welt, und die andern, die aus der Gosse stammen und zur Gosse zurückkehren; wenn man das bedenkt, trotz aller Augenlust dabei, und sich fragt, was der eigentliche Sinn des ganzen Aufzugs sei: man wird nur zu dem einen Schluß kommen: es ist eine eklatante Apotheose der käuflichen Schönheit.
Oder wäre es richtiger, das dumme Epitheton, das uns so störend ins Ohr klingt, wegzulassen und einfach zu sagen: Apotheose der Schönheit? Wär's richtiger? – Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß die farbenfreudigen glänzenden Bilder vor meinen Augen plötzlich wie ausgelöscht waren, um Erinnerungsvorstellungen Platz zu machen, die ich vor einigen Tagen drüben in Havre aufgenommen hatte. Das waren Bilder anderer Art, und scheinbar hatten sie mit den gegenwärtigen nichts gemein.
Ich sah in enge, schmutzige, lichtlose Gäßchen, in die sich noch nie ein goldener Strahl der Sonne verirrt hat, die einem, selbst in diesen heißen Augusttagen, eine feuchte muffige Kellerluft entgegenhauchten, daß man sich des Schauderns nicht erwehren konnte; die von nassem Schmutz starrten, als ob sie einen kalten, ekelhaften, stinkenden Schweiß ausschwitzten. Und in diesen Gäßchen, wo einem der Atem auszugehen drohte, sah ich Löcher sich öffnen, unsägliche Schmutzlöcher, am hellen Tag von trübem Lampenlicht traurig erleuchtet, die Schwellen triefend vom Unrat der Gosse, Höhlen, in die man die letzten Verbrecher nicht mehr einsperren dürfte, weil alle Anwälte der Menschlichkeit sich dagegen erheben würden. Aber freiwillig, wie man sagt, dürfen sie bewohnt werden, und wenn du näher zusiehst, erkennst du mit Entsetzen, was diese Höhlen sein wollen: als Tempel der Lust wollen sie gelten!
Diese Vorstellungen beschäftigten mich plötzlich, während es an mir vorüberfuhr, mit feurigen Rossen, einzeln, gepaart, ganze Wagen voll, exotische Schönheitsblüten, von allen Kostbarkeiten der Erde umgeben, ganz eingehüllt in Wohlgerüche, das holdseligste Lächeln auf den Lippen, lauter Königinnen, eine stolzer als die andere. Das fuhr an mir vorüber, – an das andere aber mußte ich denken. Und die beiden haben doch nichts miteinander zu thun?
* * *
Das Schönste von Trouville ist sein Strand. Er ist es besonders durch sein östliches Gegenüber, das Cap de la Hève, das mit seiner hellen feurigen Farbigkeit an südliche Landschaft gemahnte, wenn nicht einige geschmacklos zopfige Architekturen die Illusion so gründlich zerstörten. Den Gipfel des Ungeschmacks bildete ein gewisses schneeweißes Privatmonument, das im Volksmund der ›Zuckerhut‹ genannt wird, obwohl es eine etwas andere Form hat: so daß ich jenem frechen, aber geistreichen Straßenjungen von Havre nicht ganz unrecht geben konnte. Draußen auf der wogenumbrandeten Jetée erklärte er einer Gesellschaft von Herren und Frauen nebst andern Dingen auch dieses Denkmal und schreckte dabei vor den derbsten Ausdrücken nicht zurück.
Der kleine Kerl war sehr interessant. Er gab seine Erklärungen unaufgefordert und gratis, aus reiner Verliebtheit in seine eigene Beredtsamkeit. Ich nahm ihn später ins Gebet. Er war 14 Jahre alt und hatte im ganzen zwei Jahre lang die Schule besucht, die Armenschule von Havre. Dabei hätte er es nicht nur an schlagfertigem Witz, sondern auch an Eleganz der rhetorischen Kunst mit jedem Redner aufnehmen können.
Ich mußte unwillkürlich nach Hause denken, wo auch der letzte aus dem Volke acht volle Jahre in die regelmäßige Volksschule und darauf zwei weitere Jahre in eine ›Fortbildungsschule‹ gezwungen wird, ohne daß sich jemand ernstlich fragte, ob mit dieser ewigen Schulhockerei, und den herrschenden Lehrmethoden, die Intelligenz wirklich entwickelt und befördert oder aber ob sie nur gezähmt werden soll. Und doch müßte jeder denkende Patriot sich diese Frage stellen. Die Mittel und Methoden, wie der materielle Nationalreichtum gehoben wird, werden jahraus jahrein von tausenden Köpfen diskutirt; ob aber die nationale Intelligenz, wovon jener in erster Linie abhängt, im Anwachsen oder im Verarmen begriffen ist, darum scheint sich kein Mensch zu kümmern. Oder wenn man es thut, thut man es in wenig intelligenter Weise. Man brüstet sich mit dem Verschwinden der Analphabeten – obwohl man doch wissen müßte, daß einmal unsere größten Dichter nicht schreiben konnten. Man verkennt das Wesen der Intelligenz. Man legt ein Gewicht darauf, daß alles lesen und schreiben kann; obwohl es einzig darauf ankommt, was geschrieben und was gelesen wird. Ein Stamm ist ein Stamm, und du kannst an ihm nicht wissen, welche Kräfte und Säfte in ihm quellen. Erst die Blüten und Früchte, die oben an den Gipfeln, im goldenen Licht der Sonne hervorbrechen, geben darüber Aufschluß. Die modern-demokratische Weltanschauung, wie sie sich zuerst in der Reformation manifestirt, hat über die Funktionen der obern und untern Teile eines Volksorganismus bedenkliche Begriffe in die Welt gesetzt, die bei den Romanen bis jetzt wenig, bei den Deutschen aber einen ungeheuren Einfluß ausgeübt haben.
Solche Gedanken kann man sich in Havre machen. In Trouville kommt man kaum dazu. Auf diesem flimmernden Perlmutterstrand, der sich weit, weit hinausdehnt, und gegen den, wenn sich die Flut erhebt, das Meer in unbeschreiblicher Größe und Majestät heransteigt, in diesem heitern Gewimmel von Badenden und Zuschauern, unter diesen Tausenden von jauchzenden Kindern kann kein Grübeln auskommen, kann kein mürrischer Gedanke Herrschaft gewinnen.
Die Kinder sind einfach bezaubernd. Ihre unwillkürlichen Schreie der Lust wirken unwiderstehlich.
Und es sind viele große Kinder darunter. Allerliebste Kinder. Im Salon sind sie es vielleicht nicht. Dort sind sie vielleicht strenge, stolze, vielleicht sogar hochmutige Fräulein. Im Spiel der Wellen, angesteckt von der allgemeinen Lust, werden sie unbewußt zu Kindern. Das gewaltige Element scheint alle dummen Kleinlichkeiten von ihnen abzuwaschen, daß nichts als die einfache schöne Natürlichkeit zurückbleibt. Wer niemals Nymphen baden und in neckischem Spiel sich vergnügen sah, in Trouville kann er es sehen.
Eines Gedankens freilich wird man sich nicht erwehren können. Man wird sich fragen müssen, was die Trennung der Geschlechter in deutschen Seebädern für einen Sinn hat. Und man wird diesen Sinn hier nicht leicht begreifen. Ich habe aber viel darüber nachgedacht und konnte zuletzt nur eines annehmen: wir müssen uns zu wenig gesellschaftliche Erziehung zutrauen. Aber dann sollten wir doch konsequent sein, dann sollten wir auch im Ballsaal die Trennung der Geschlechter polizeilich einführen; denn hier zeigen die Frauen fast mehr von ihrer Gestalt als im Seebade.
Einen Vorwurf muß man den Pariser illustrirten Blättern machen, die dem Zusammenbaden der beiden Geschlechter immer nur groteske Seiten abzugewinnen suchen und ganz falsche Bilder geben.
Natürlich baden nicht lauter Kinder, es baden auch Alte. Und das ist dann nicht immer lieblich anzusehen. Das mag schon zur Karrikatur herausfordern.
Und gelegentlich kommt auch einmal eine Frechheit vor. Die Franzosen haben Sinn dafür. Und jene Tauben, von denen die Rede war, verirren sich wohl einmal an den Strand, wenn auch kaum ins Wasser. Eine sah ich dennoch. Mit ihrem langen Kleid watete sie hinein. Sie unterschied sich um kein Haar von einer großen Dame. Als sie aber auf den Strand zurückkehrte und vor einer größeren Gesellschaft ihr triefendes Kleid auswand, waren ihre Geberden cynisch, so Cynisch, daß ich sie nicht beschreiben kann. Ihre Gesellschaft lachte. Es war Pariser Jeunesse dorée.
Mit dem Badeleben als solchem hat aber ein derartiger Vorfall nichts zu thun. Er bedeutete nur ein Hereinragen gewisser Pariser Sitten. So sind die Franzosen: Ich habe beim Baden in guter Gesellschaft nicht ein einziges Mal einen lüsternen Blick wahrgenommen. Diese jungen Männer waren immer die Wohlanständigkeit selbst. Aber dafür müssen sie sich gelegentlich entschädigen dürfen. » Tous les genres sont permis, hors le genre ennuyeux«, meinte Voltaire, und das genre canaille wird nun einmal in Frankreich nicht zu den langweiligen gerechnet.
Trouville's Berühmtheit ist sehr jung. Dennoch ist der Ort mit seiner Umgebung nicht ohne bedeutende historische Erinnerungen. Zwei Könige traten hier auf, ein erster und ein letzter, beide in sehr verschiedenen Stimmungen, aber beide in weltgeschichtlichen Momenten: Der eine, um sein Königreich, das uralte Erbteil seiner Familie in heimlicher feiger Flucht zu verlassen; der andere, um sich, als echter Normanne, ein fremdes Königreich zu erobern mit List und furchtbarer Gewaltthat, nur unterstützt vom Hohenpriester zu Rom, gemäß dem Satze: Fortem dii adjuvant.
In einer engen schmutzigen Gasse zu Trouville zeigt man dem Fremden ein unscheinbares Haus, wo sich Louis Philippe versteckt haben soll, bevor er sich einschiffen konnte, um nach England zu entweichen. Und hinter Trouville, in der Richtung gegen Pont l'Evêque, auf einer reizenden Anhöhe über der Touques, sieht man noch die Ruinen des alten Schlosses Bonneville, wo Wilhelm der Eroberer am liebsten gewohnt hat.
Ganz in der Nähe hat er sich auch eingeschifft, eine kleine Strecke westlich von Trouville, an der Mündung der Dive. Ein ziemlich bescheidenes Denkmal bezeichnet die Stelle, – wenn diese nicht etwa vom Meere verschluckt worden ist. Denn die alten Chroniken reden von einem Promontorium, auf dem Wilhelm zum ersten Mal sein Heer versammelt und gemustert habe. Der kleine Vorsprung aber, auf dem sich das Denkmal erhebt, hätte dazu nicht Raum geboten.
Diese Heeresmusterung Wilhelms – die unfreiwilligerweise Monate gedauert hat – muß ein buntes Bild dargeboten haben. Denn wenn man den Chroniken glauben darf, waren alle Abenteurer der halben Welt hier zusammengelaufen. Und der Bastard Wilhelm, der Sohn Roberts des Teufels, war nur der erste unter ihnen. » Ego, Guillemus, cognomine Batardus«, hub er selber seine Proklamationen an. Er wollte England erobern, das ganze; die andern trachteten jeder nach einem Fetzen davon, einem größeren oder kleineren. Nur darum waren sie herbeigeeilt. Ihr Sold wollte wenig heißen; die Hauptsache war, was sie sich versprechen ließen, was sie sich ausbedangen: der ein Landgut, der ein Schloß, der eine Stadt, der eine reiche Engländerin zur Frau, andere eine Pfründe, eine Abtei oder ein Bistum, andere alle Beute die sie machen könnten. Alle menschlichen Begehrlichkeiten machten sich geltend. Und Wilhelm, sagt die Chronik, wies Niemand zurück, er versprach jedem, was er nur haben wollte.
So setzte sich das Heer des Eroberers zusammen und da ist es kein Wunder, wenn die Chronik reimt:
Quant ils virent Normanz venir
Mult veissiez Engliez frémir,
Gens esmover, et estormir
Li uns ruir, Ii altres pâlir ...
Da mag sich jeder leicht eine Vorstellung machen, wie dieses Volk bei einem andern Volke, den unglückseligen englischen Sachsen wirtschaftete, bis aus all diesen Schrecken und Grausamkeiten, aus all diesen Verheerungen mit Feuer und Schwert doch wieder etwas sehr Lebenskräftiges und Herrliches und Dauerndes hervorwuchs, eine neue Nation, eine neue Sprache, eine neue Kultur.
Wenn man so einen Blick ins Mittelalter wirft und das schreckliche Wüten der Menschen gegeneinander betrachtet, da wird Mancher schaudernd bekennen, daß er davon nichts begreift, daß er mit dieser Menschheit nichts gemein hat. Ein Vergleich mit unsern heutigen Sitten liegt nahe. Wir haben es herrlich weit gebracht. Daß Grausamkeit eine Lust sein könne, verstehen wir gar nicht mehr; sie ist uns ein Entsetzen. Das Christentum ist in uns Fleisch geworden. Andere nennen's Menschlichkeit. Wir sind ganz anders als die Alten; wir sind so mild, so friedliebend, so weichherzig, so mitleidig. Wir können vor allem kein Blut sehen. – Aber sind wir auch gerechter geworden?
Bei dieser Frage fällt mir ein, mit Recht oder Unrecht, was mir eines Tages in der Stadt Amiens begegnet ist. Ich kam dort in ein Gasthaus zum Mittagessen, und der Wirt, der mich ohne weiteres für einen Engländer nahm (weil sich ein Deutscher wohl nicht leicht dahin verirrt), fragte mich, ob ich die Kathedrale schon besucht, und ob ich, hinter dem Chor, das berühmte Weinende Kind gesehen habe. Das müsse ich sehen. Das sei eines der größten Kunstwerke der Welt. Kurz, ich mußte erfahren, daß dieses Weinende Kind für das Wunder von Amiens galt und daß die guten Einwohner der Stadt so halb und halb in dem Glauben lebten, daß man die ganze ungeheure Kathedrale nur gebaut habe, um das Weinende Kind hineinzusetzen.
Solche Aufbauschungen eines Nebensächlichen und Geringfügigen sind in der Welt nicht selten. Denn dieses Weinende Kind zu Amiens ist ein ziemlich albernes Werk aus der Zeit des Zopfes.
Aber mein Wirt konnte sich nicht genug thun in seinen kunstsinnigen Lobpreisungen. Und die Preußen, fuhr er fort, die haben wohl gesehen, was dahinter steckt und ... Er machte die volkstümliche Geberde des Mausens.
– Was, rief ich empört, sie haben Ihr Kind gestohlen?
– Daran ist kein Zweifel, sie haben alles gestohlen.
– Aber dann kann ich es ja nicht sehen, leider.
– Doch, dank unserm hochwürdigen Herrn Erzbischof können Sie es sehen.
– Ach! Das klingt ja wie ein Mirakel. Ist Ihr Erzbischof ein Heiliger, eine Art Peter von Amiens?
– Nein, er war nur schlau. Er kannte die Preußen. Er ließ eine Copie machen und setzte sie an die Stelle. Das Original vergrub er in dem Keller seines Palastes. In Berlin aber, im Museum, standen dann die Preußen grinsend vor dem gefälschten Werk und freuten sich ihres Raubes, bis sie eines Tages erfuhren, wie sie gefoppt worden sind. Da gerieten sie in Wut und zerschmetterten den falschen Marmor und versenkten ihn in den schmutzigen Wassern ihrer Stadt ...
Das ist die Geschichte von dem Weinenden Kinde von Amiens, das an seinem Platze sitzt und weint, obwohl es die Preußen gestohlen; – oder das am Ende weint, weil es die Preußen gestohlen haben.
* * *
Auch der Ort Dives, an der Mündung des gleichnamigen Flusses, und die Stadt Cabour, gegenüber gelegen, sind vielbesuchte Badeplätze. Ueberhaupt reiht sich hier, westlich von Trouville, ein Badestrand an den andern.
An dieser Küste entlang zu wandern ist sehr vergnüglich. Man kann dabei zwei Wege einschlagen, den Landweg oder den Seeweg. Jener führt nahe bei der Küste als herrliche Straße durch die grünste Landschaft der Welt, durch die obstreichste, durch die bezauberndste Gegend der ganzen Normandie. In rythmischem Auf und Ab führt er über Thäler und Hügel und gewährt entzückende Fernblicke, bald hinein ins Land, bald hinaus aufs weite Meer.
Aber es war heiß zu meiner Zeit, und die Straße staubig und ein ewiges Fahren darauf, hin und her, daß sich dieser Weg weithin als weißer Wolkenstreif sichtbar machte. Und ich hasse den Staub, und die geringe Scheu der Menschen vor diesem Uebel ist mir die größte Unbegreiflichkeit, ist mir ein wahrer Greuel.
Ich wählte darum den Seeweg. Ich zog Schuhe und Strümpfe von den Füßen ... Wahrhaftig, ich bin kein Kneippianer, aber man muß sich nach Ort und Umständen zu richten wissen.
Und mein Wandern war köstlich. Ein breiter Strohhut schützte mich vor der brennenden Sonne, die Seeluft erhöhte das Atmen zu erquickender Lust; ich ging bald im Wasser, bald auf dem feuchten Sande, ganz wie es mir beliebte. Nicht immerfort kann man so wandern. Plötzlich, wenn man an nichts denkt, bemerkt man, daß in die Wellen, die einem um die Füße spielen, eine nervöse Unruhe kommt und immer größer wird. Und ein fernes dumpfes Geräusch macht uns aufmerksam. Wir schauen auf; wir sehen, wie draußen der Horizont sich hebt, wie eine hohe Linie näher und näher rückt. Das ist die Flut. So beginnt sie. Dann werden die Strandwellen immer unruhiger, immer stärker, immer ungestümer, und wenn du unerfahren bist und sorglos, plötzlich reckt sich eine auf und fällt wie in blinder Leidenschaft über dich her, daß du ganz erschrockene Augen machst.
Da ist es aus mit dem Seeweg: da bleibt nichts übrig, als die Flucht zu ergreifen. Und das ist manchmal nicht leicht. Oft führt der Ausweg nur über Mauern und steile Felsen hinweg.
* * *
Caen ist die Hauptstadt von Calvados, mit welchem Wort drei Dinge benannt werden, einmal das Departement, dann ein berühmter Schnaps aus Cidre gebrannt, und zuerst und vor allem jene seltsamen Felsgestalten vor der Küste, die gleich wachhabenden Riesen im Meer aufragen und ein Zeichen und ein Maßstab find, wie unaufhaltsam sich das Meer ins Land hineinfrißt, Schritt für Schritt, ohne daß selbst die härtesten Felsen es aufzuhalten vermögen.
Ich habe bereits gesagt, wie anmutig und liebenswürdig sich die Landschaft dieser Gegend darstellt. Wer Sinn und Auge für landwirtschaftliche Dinge hat, dem wird besonders die Art der Tierfütterung hier auffallen, die übrigens durch die ganze Normandie dieselbe ist. Grünfutter nach Hause zu schaffen und gar zuzurichten, erspart sich der normannische Landwirt. Er läßt nicht nur das gewöhnliche Weideland, sondern auch die feinsten Futterstücke, alle Kleearten, Wicken, Hafer, alles was grün gefüttert werden soll, vom Vieh selber abgrasen. Zu diesem Zweck werden die Tiere an Pflöcke gebunden, in Reih und Glied, oft gegen hundert Stück, und jedem ist mit der Länge seines Strickes sein Maß zugegeben. Ein Tiervolk, das daran nicht gewöhnt wäre, würde natürlich die Hälfte verderben und in den Boden treten. Doch hier geht kein Halm verloren. Diese normannischen Rinder lassen so saubere Arbeit hinter sich wie die schärfste Sense, und man muß bewundern, wieviel Vernunft eine gute Erziehung sogar einer dummen Kuh beibringen kann.
Man kann nicht über die Normandie reden, ohne ein Wort über Architektur zu sagen. Schon die bescheidene Privatarchitektur ist hochinteressant. Zwar ist heute der eigentümliche normannische Stil längst aufgegeben, und da man in diesem Stil nur aus Holz gebaut hat, ist auch aus früheren Jahrhunderten wenig übrig geblieben, am wenigsten in den großen Städten.
Aber alles ist doch nicht zerstört. Und in Caen und Rouen, wie auch an vielen kleineren Orten, kann man noch hinlängliche Einzelheiten sehen und sich Gedanken darüber machen. Und kann bewundern, wie zierlich und fest zugleich, aber auch wie unendlich eng und beschränkt diese Völker ihre Wohnungen bauten, diese Normannen, vor denen schon die ganze Welt gezittert hat, und die, inmitten der schmalen vielgiebeligen Gäßchen, ihre Paläste für öffentliches Wesen nicht stolz genug einrichten, ihre Kathedralen nicht weit und hoch genug wölben, nicht reich genug schmücken konnten. Denn etwas Größeres, Schöneres, Ueberwältigenderes, als diesen Justizpalast zu Rouen, hat, an Profanarchitektur, die ganze mittelalterliche Welt nicht hervorgebracht. Und von der Kathedrale dieser Stadt und der Kirche St. Ouen wäre noch überschwänglicheres zu sagen.
Die Normandie ist das klassische Land des mittelalterlichen Bauens. Wenn man dabei nur an Rouen denkt, das ja in der Gotik am meisten genannt wird, hat man keine Ahnung von dem architektonischen Reichtum des Landes. Wer davon einen Begriff bekommen will, muß von Dorf zu Dorf wandern, er wird oft genug in den geringsten Nestern alte Kirchen finden von überraschender Größe und Schönheit. Sie mögen etwas erlebt haben in all den Jahrhunderten. Denn diese Kirchen auf den Landorten sind sogar vielfach älter als die in den großen Städten.
Ueberraschend sind einige Werke der Spätgotik, dieser sozusagen Fin-de-siecle-Blüte der Gotik, dieses letzten kühnen Aufflackerns vor dem Ende.
Die Franzosen heißen diese Entwicklungsstufe höchst charakteristisch style flamboyant. Die strengere ästhetische Auffassung spricht hier vom Verfall des gotischen Stils. Damit darf sich jedoch der Laie nicht irre machen lassen. Richtig ist, daß diese Spätgotik oft genug die strenge Gesetzlichkeit aufgibt und einer ungesetzlichen Willkür freien Spielraum läßt. Aber sie macht auch ebenso oft aus diesen Ausschweifungen wieder Tugenden, indem sie alle Arten Kühnheiten wagt, die uns entzücken und hinreißen. Das eklatanteste Beispiel ist gleich das Straßburger Münster. Was an diesem wohl am meisten bewundert wird, ist seine Turmpyramide, und gerade die stammt aus der »Verfallzeit« der Gotik. Und wahrlich, das ist – style flamboyant, das ist vollkommene Ueberwindung aller Schwere, alles spröden Stoffs, aller Materie, aller natürlichen Gesetzlichkeit. Und im Grunde, ihrem ganzen innern Wesen nach, wohnte der Gotik nicht erst am Ende, sondern wohnte ihr schon von Anfang an dieser transcendentale Hang inne.
Ihre Hauptstärke zeigt die Spätgotik in kleineren Verhältnissen. Sie entfaltet hier oft eine wunderbare Grazie. Das Entzückendste, was man in dieser Art sehen kann, ist St. Etienne »auf dem Berg« zu Paris, dem sich dann in derselben Stadt St. Sévérin und St. Germain l'Auxerrois würdig anreihen. Diese alle aber werden übertroffen von St. Maclou zu Rouen.
Man nennt in architektonischem Betracht immer nur Rouen, fast niemals Caen, aber diese Stadt ist nicht weniger interessant. In der Gotik zwar kommt es Rouen nicht gleich. Einmal ist dessen Justizpalast einzig in der Welt. Und seine Kathedrale mit ihrer überwältigenden Größe, mit ihrem unabsehbaren Reichtum, sein St. Ouen, mit seiner reinen stilvollen Schönheit und Harmonie, sein St. Maclou, mit seiner phantastischen Kühnheit, seiner genialen Seltsamkeit: sie haben unter den gotischen Kirchen von Caen, soviele und schöne ihrer sind, gewiß nicht ihresgleichen. Aber dafür besitzt Caen in seiner Abbaye aux Dames vielleicht den bedeutendsten romanischen Dom von ganz Frankreich.
Diese Kirche und Abtei ist eine Gründung der frommen Königin Mathilde, der Frau des Eroberers. Sie liegt auch hier begraben.
Ihr Lebenswerk, die berühmte Stickerei zu Bayeux, ist noch heute farbig und als Kunstwerk lebendig fortwirkend; das Lebenswerk ihres Mannes, mit allerhand Hinterlist und unsäglichen Grausamkeiten begonnen, besteht ebenfalls fort, und nicht nur als eine Sprache, die durch alle Teile der Welt hin vernommen wird, sondern wohl auch als das, worin eine Sprache wurzelt. Und sie beide selber? Sie liegen ruhend in dem bescheidenen Caen, – wenn anders noch ein Stäubchen von ihnen übrig ist!
Gestorben ist der Eroberer zu Rouen unter merkwürdigen Umständen. Sein Sohn Robert hatte sich schon früher gegen ihn empört und sich gewaltthätig der Normandie zu bemächtigen gesucht. Sein zweiter Sohn, Wilhelm der Rote, blieb so lange am Krankenlager seines Vaters, bis er merkte, daß es mit ihm zu Ende ging, dann eilte er nach England, um von dem Königreich Besitz zu ergreifen. So endete Wilhelm in unglaublicher Verlassenheit. Niemand war da, um ihm die Augen zuzudrücken und ein Gebet zu sprechen. Keine Sterbeglocke läutete. Die seinen Tod zuerst entdeckten, beraubten und plünderten ihn und ließen ihn am Boden liegen, fast nackt, in schmachvoller Unwürdigkeit.
Zuletzt, als es schon die höchste Zeit war, brachte der Erzbischof von Rouen die Leiche nach Caen. Hier, in der Kathedrale, unter Beiwohnung des ganzen Volkes, schritt man zur Beisetzung. Aber noch einmal trat eine Verhinderung ein. Ein Mann erhob sich aus dem Volke, ein gemeiner Bauer. »Haltet ein,« rief er, »begrabt den König nicht in diesem Fleck der Erde, hier wird er in Ewigkeit nicht Ruhe finden; denn der Boden gehört mir, er ist mir genommen worden wider alles Recht.«
So wurde dem Manne, der ein Königreich erobert hatte, sein Grab streitig gemacht von dem letzten seiner Unterthanen. Und wie seltsam! Wie charakteristisch für diese Zeit! Die Klage des Bauern wurde anerkannt, und erst nach einem Vertrag mit ihm konnte die Beerdigung vollzogen werden.
Aber man hatte das Grab zu kurz gemessen, und als man den ungeheuren Leichnam, einfach mit dem königlichen Mantel umhüllt, in die Grube zwang, da platzte der morschgewordene Leib und verbreitete einen solchen Pestgeruch um sich her, daß alles, voller Entsetzen, die Flucht ergriff.
Dieser Wilhelm war aber nicht nur ein großer Eroberer, er war auch der stärkste und schönste und, trotz aller Frömmigkeit, vielleicht der geistreichste und vorurteilsloseste Mann seiner Zeit.
Man muß jedoch nicht glauben, daß sich in Caen heute jemand an Wilhelm den Eroberer erinnerte. Derartige historische Erinnerungen werden in Frankreich am wenigsten gepflegt. Sie hätten auch nur dazu dienen können, das starke Einheitsbewußtsein der Nation zu schwächen. Heute feiern die Franzosen die Jungfrau von Orleans als Nationalheilige. Auch die Normannen feiern mit. Sie bedenken nicht einen Augenblick, daß sie, als auf der Seite Englands kämpfend, selber die Jungfrau von Orleans verbrannt haben. Aber daß er einmal etwas anderes gewesen sein soll als ein Franzose, das wird ein Franzose nie begreifen, ob er aus lothringischen, flandrischen oder brittanischen Gegenden stamme. Und dieses Nichtbegreifen, diese Naivetät, ist vielleicht gar eine Tugend. Wenigstens ist sie eine Stärke.
In Caen am wenigsten pflegt man große Erinnerungen. Das ist keine Musenstadt. Ich wurde aber dort in überraschender Weise an eine solche erinnert, wenigstens an eine, die man gern so nennt. An der Gasttafel hörte ich plötzlich deutsche Laute an mein Ohr schlagen. »Wo waren Sie heute Nachmittag gewesen?« klang es, etwas gebrochen, vom andern Ende der Tafel her, wo verschiedene junge Herren saßen. Und die Antwort lautete: »Ich bin mit meiner Schwester in Eidelberg gewesen!« Ich mußte für mich lachen. Es waren offenbar Sätze aus der Otto'schen Grammatik. Und ich freute mich herzlich, daß man in Frankreich die öffentliche Wirtstafel benutzt und benutzen darf, um deutsch zu lernen. Das ist ein Fortschritt.
Die gute Stadt Caen scheint sich in ihrer Unbedeutsamkeit als geistige Kulturstätte bewußt zu sein. Sie ist nur auf Eines stolz, auf – ihre Zubereitung der Kuttelflecke. In einem viel besungenen Couplet kommt das rührend zum Ausdruck. Da wird zugegeben, daß Caen weder gewaltige Feldherrn, noch große Schriftsteller, noch berühmte Poeten hervorgebracht hat, aber dafür etwas, das viel mehr Geschmack besitzt, denn
II donna le jour aux Tripes
Faites à la mode de Caen,
Lesquelles sont les principes
D'un cœur vraiment normand.
Ich habe zwar kein normannisches Herz, und Kuttelflecke sind nicht meine Leibspeise, aber es gefiel mir dennoch sehr wohl in dieser naiven Stadt, wo ich das Leben billig und die Menschen außerordentlich herzlich und entgegenkommend fand. Doch mußte ich bald nach Havre zurück. Dort bestieg ich, an einem wundervollen goldigen Septembermorgen, den ›Épervier‹, den kleinen Seine-Dampfer, und auf solchem vogelleichten Gefährt fuhr ich gen Rouen, dieser Stadt der großen Dome – aber auch der großen Dichter, der größten ihrer Nation.