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In der Stadt des Königs René

Im Provencerland, in der Hauptstadt Aix,
In kostbarer Truhe, verschlossen,
Da liegt ein wunderseltsames Buch
Mit wunderseltsamen Glossen.

Es ist ein ernstes, heiliges Buch,
Seine reinlichen Zeilen zeigen
Gebeteswort und frommen Spruch:
König René dem Guten war's eigen.

Der König war fromm, und täglich hat
Er darin sein Gebet verrichtet,
Und dann in Andacht, Blatt um Blatt,
Die Glossen dazu gedichtet.

Die sind mit Worten geschrieben nicht
Und nicht mit kahlen Lettern;
Mit glühenden Farben, mit goldenem Licht'
Lebendig blüht's aus den Blättern.

Was im Walde webt, was in Wasser und Luft
Schwimmt mit Flügel und Flossen,
Was dem Boden entquillt mit Farben und Duft,
Das lebt und webt in den Glossen.

Bald gespenstig grinst's und dämonenhaft spukt's
Um liebliche Heil'gengesichter;
Bald um Tier- und Blumengestalten zuckt's
Wie tausend phantastische Lichter.

Bald als ewiges Lerchenloblied singt's
Aus dem farbigen Tönegeschmetter –
Voll Andacht den frommen Beschauer durchdringt's
Beim Anblick der heiligen Blätter.

Ist das ein Wunder, was er sieht
Auf den farbensprühenden Seiten,
Ist's gezaubert, gemalt? – Die Gegenwart flieht,
Und er blickt zurück durch die Zeiten.

Er sieht den König, – der König sitzt
Auf den Stufen vor seinem Throne,
Von der Stirne, darauf ein Gedanke blitzt,
Ist zurückgeschoben die Krone.

Er sieht den König, – der König blickt
Wie von Farben und Lichtern trunken;
Der Königsmantel, von Golde gestickt,
Ist ihm von der Schulter gesunken.

Er sieht den König, – ein Buch voll Schrift
Und geheimnißsinnigen Lettern
Ruht ihm auf dem Knie, und mit Pinsel und Stift
Der König schreibt auf den Blättern.

In phantastisches Laubwerk, auf goldenen Grund
Der König malt einen Tiger, –
Da rauscht von Brocat der Vorhang, und
Vor dem König verneigt sich ein Krieger.

»Euer Herzogtum Anjou, Herr, verschluckt
Hat's Ludwig, der bissige Streiter.« –
Der König fährt auf, seine Lippe zuckt,
Was thun? Er winkt, er malt weiter.

Und er malt hinein in den goldenen Grund
Zwischen dorniges Rankengegitter
Einen Geier. – Da rauscht der Vorhang, und
Vor dem König verneigt sich ein Ritter.

»O Herr, Euer ganzes sicilisches Reich
Ward die Beute der spanischen Reiter.« –
Der König fährt auf; doch er faßt sich gleich,
Und beugt sich zum Buch und malt weiter.

Und malt, und blau eine Blume winkt
Hervor aus dem goldenen Grunde,
Und ein Vogel daneben sein Liedlein singt
Und singt's bis zur heutigen Stunde.

Er singt: »O Blümlein, o löse mir gleich
Das tiefe, das dunkle, geheime,
Das dumme Rätsel: Der mehrt sein Reich,
Und der macht Bilder und Reime ...

* * *

Von Arles fuhr ich acht Tage später nach Aix hinüber. Auf der Fahrt ärgerte ich mich über die Cypressenallee, die längs der Ebene von La Craux meilenweit die Bahnlinie begleitet. Gern schweifte hier der Blick, das nahe Meer ahnend, über die weite melancholische Steinwüste wie in die Unendlichkeit hinaus. Aber durch die sonst so poetischen Bäume wird einem, von Sekunde zu Sekunde das Sehen, kurz vor dem Auge, gleichsam wie mit dem Messer abgeschnitten, was zuletzt sogar physisch weh thut.

In Aix wollte ich arbeiten. Die Stadt hat keine eigentlich großartige Umgebung. Aber schön und stimmungsvoll ist hier die Welt, wo man hinausgeht. Gärtenüberdeckte Engthäler, von rötlichgelben Felsen umschlossen, von vielbogigen malerischen Aquädukten überspannt, wechseln mit sanften Hügelketten, wo zwischen terrassenartigen Olivenpflanzungen cypressenumschattete Landhäuser liegen. Einzelne Gruppen hoher Pinien, hie und da ein malerischer Wartthurm aus der Sarazenenzeit, halbzerfallene Windmühlen, die oft nur noch einen Arm verzweiflungsvoll in den blauen Himmel hineinstrecken, und jene Aquädukte bilden überall die stehende malerische Staffage. Hier muß man Daudet's Contes de mon moulin lesen. Kein einziger dieser von Rosmarin und Ginster überwucherten Felsenhügel ist ohne solche Mühle, die nicht nur den Heimchen und Eidechsen und lichtscheuen Schleiereulen, sondern auch jedem andern zur Verfügung stehen, ganz wie es Daudet so wundervoll schildert. Als Mühlen sind sie gründlich abgedankt. Die moderne Industrie hat sie außer Dienst gesetzt. Und wie Abgedankte sehen sie aus, recht wie Invaliden, das einzige melancholische in der weiten sonnenheitern Welt.

Selbst die ältesten Aquädukte sind nicht so invalid wie diese Windmühlen. Denn künstliche Wasserleitungen braucht das Land heute noch ebenso notwendig wie zur Zeit der Griechen und Römer. Die ganze Fruchtbarkeit des Landes beruht auf dem überall angewandten künstlichen Bewässerungssystem. Nicht ein Tropfen Wasser fließt hier in natürlicher Weise seine Wege: denn jeder Tropfen ist kostbar. Jedes noch so geringfügige Quellchen wird in die künstliche Kanalisation hineingezogen. Die Fortleitung des Wassers geschieht aber heute nicht ausschließlich durch Ueberführungen, d. h. durch Aquädukte, obwohl diese noch in einer Massenhaftigkeit auftreten wie nicht leicht irgendwo sonst; vielmehr wird das unentbehrliche Element fast ebenso häufig durch Unterführungen, nach dem Gesetz der kommunizirenden Röhren, über die Unebenheit des vielgegliederten Bodens hinweggebracht. Oft, wenn man an gar nichts denkt, steht man vor einem kreisrunden Loch, aus dem ein mächtiger Schwalch von Wasser emporquillt, um von hier in offenen, aber ausgemauerten und wohlcementirten Kanälen mit rasender Hast weiterzueilen. Das sind keine romantischen, das sind echt moderne Wasser, Wasser, die keine Zeit haben.

Aber auch ganz wilde Gegenden gibt es in der Nähe von Aix, starre Felseinöden und menschenverlassene Hochwüsten, die, von immergrünen Eichen und duftigem Thymianrasen bedeckt, sich hoch über den fruchtbaren Thälern in sonniger Einsamkeit hinziehen, und wo der Wanderer stille Waldverborgenheit und freien ungehemmten Blick in eine große weite Welt zugleich genießen kann. Kaum daß man hier von Zeit zu Zeit einer wilden Schafheerde und ihrem noch wilderen Hirten begegnet, oder einem Jäger, der auf Rebhühner und Krammetsvögel lauert. Dieser ist keine wohlthuende Erscheinung. Auch rings um die Stadt, auf Wegen und Stegen, überall kauert's und lauert's mit der Flinte. Man ist seines Lebens nicht sicher. Die Bewohner dieser ›schönen liedervollen wonnigen Provencerthäler‹ hegen für die Lerchen und Nachtigallen eine sehr unplatonische Liebe ...

Zum bloßen Beschauen der Welt insbesondere geht hier Niemand vor die Stadt. Zu diesem Zweck gehörte mir die wunderbare Gegend ganz allein. Namentlich bin ich nie einem Studenten außerhalb der Mauern begegnet. Nur auf dem Cours, der Hauptstraße der Stadt, der Canebière von Aix, bummelt man auf und nieder. Das allein ist chic. In Deutschland hat es noch nicht einmal der Gipfel des Studententums, der Korpsstudent, bis zu dieser Höhe der Kultur gebracht.

Wenn der Philister von Aix an Sonntagen aufs Land geht, so geschieht es, um seine Villa zu besuchen, und sich darin gütlich zu thun, allein oder mit Nachbarn. Frau und Kinder aber läßt er zu Hause. Die mögen in die Kirche gehen, wenn sie Lust haben. Wein und Brot jedoch nimmt er mit und Salz und Schmalz. Dazu schießt er sich, wenn es gut geht, ein Kaninchen, jedenfalls aber ein halbes Dutzend Singvögel, und bald dreht sich der Spieß an der Flamme, und durch die offene Thür dringt einladender Duft ins Freie. Auch Wasser brodelt im Blechgeschirr und gemahlener Kaffee steht bereit. Wer vorübergeht, wird zur Mahlzeit geladen – wenn auch nicht gerade im Ernst.

Mit meinem Wirt aus der Rue de Rome war ich oft auf seiner Villa. Sie lag am Rand von mächtigen Felsabstürzen, unmittelbar über dem Dörfchen Mareuil, das mein Gastgeber von Marius und von, was weiß ich sonst noch, ableitete. Diese sogenannte Villa – bei uns sagte man Gartenhäuschen – unterschied sich wesentlich von ihren Schwestern, und ihr Eigentümer war besonders stolz auf sie. Sie war nämlich in ein altes Gemäuer hineingebaut, unter dessen Schutt mein Gastwirt einen goldenen Ring gefunden hatte. Dieser Ring, behauptete er, sei der Siegelring des Königs René, und die alten Mauern seien die Ruinen seines Sommersitzes gewesen. Der König René war aber der einzige König, der in der Provence regiert hat, und die Provençalen sind darum noch heute stolz auf ihn. Sie heißen ihn König René den Guten, auch den Frommen, sie heißen ihn sogar den heiligen René. Er war nämlich sanften Wesens und von Kriegs- und Soldatenwesen wollte er nicht viel wissen. Seine Lieblingsbeschäftigung war die Malerei. In der Bibliothek zu Aix liegt noch sein Gebetbuch, das er selber mit wunderbaren Miniaturen bemalt hat, wie Albrecht Dürer dasjenige des Kaisers Maximilian. Für die heutige Zeit würde der gute René nicht passen. Er war kein angelsächsisch angehauchter, er war ein konsequenter Christ.

Mein Wirt aber schwur nicht höher als auf diesen einzigen provençalischen König, und jeden Sonntag hielt er Hof auf seinem königlichen Schloß und lud dazu seine ländlichen Freunde. Auch ich ging oft mit hinaus und spielte Boccia mit und lauschte dem musikalischen Idiom der Troubadours. Denn nur dieses sprach man auf dem Schloß des Königs René. Bei einer solchen Gelegenheit erfuhr ich denn auch, daß Marius, wovon der Name Mareuil ja kommt, ein französischer General war, unter dem, vor ungefähr tausend Jahren, die ›Prussiens‹ eine fürchterliche Niederlage erlitten haben, genau auf der Stelle, wo heute das Dorf Mareuil liegt.

Nachmittags kam manchmal der Pfarrer von Mareuil herauf. Nun war mir längst aufgefallen, daß hier auf dem Lande, trotz der stillen Jahreszeit, auch an Sonntagen fast Niemand in die Kirche ging, einige Frauen und Kinder ausgenommen, während die andern sich vergnügten oder arbeiteten. Ich drückte dem Pfarrer darüber meine Verwunderung aus. »Was sollen sie auch in der Kirche«, antwortete er leichthin, »sie können nicht lateinisch, sie würden sich langweilen; bei ihrer Arbeit unterhalten sie sich besser. Mais ce sont toutefois de bons chrétiens. Sie lassen sich von mir trauen, ich muß ihre Kinder taufen, und wenn es zum Sterben geht, rufen sie mich auch.«

Uebrigens sah ich in der Umgegend von Aix nicht nur die Kirchen, sondern auch die Schulhäuser immer leer stehen. Es sind das schöne zierliche Häuschen, nach einer Schablone erbaut, durch alle Provinzen des weiten französischen Reiches hin. Ich sah zwar bei Klosterfrauen und Klosterbrüdern manchmal eine Hand voll blauhemdiger Abc-Schützen ein- und auslaufen, sogar auf offener Straße sah ich solche kirchliche Lehrer und Lehrerinnen unterrichten; von den Staatsschulen habe ich nie eine in Gang gesehen. Einen Schulmeister habe ich nie gesprochen. Er hätte vielleicht auch gefunden, daß die Jungen ganz recht hätten, wenn sie fern blieben, da sie sich bei ihm ja nur langweilen würden. Doch bezweifle ich ein wenig, daß, in diesem Fall, der Schulmeister so ehrlich gesprochen hätte, wie der Priester. Der Unterrichtsminister aber mag sich mit der Kirche trösten. » Ce sont de bons chrétiens toutefois«, sagte monsieur le curé. Der Minister kann sagen: » Toutefois ce sont de bons républicains«. Sie sind es in der That, trotz ihrer Schwärmerei für den König René.

Ehemals war Aix die berühmte Hauptstadt der Provence, wo Adel und Klerus ein reiches und glänzendes Leben entfalteten; heute scheint die alte Stadt von Gott und der Welt verlassen. Nur die alten stolzen Paläste zeugen noch von der untergegangenen Herrlichkeit. Darunter sind Denkmäler der feinsten italienischen Renaissance, Palastbauten großen Stils, wie sie außer Italien in solcher Gehäuftheit kaum wieder gefunden werden. Viele unter ihnen, besonders die ältesten und künstlerisch bedeutendsten, sind unbewohnt und zum Theil dem Verfall anheimgegeben; die Fenster sind eingebrochen und die Höhlungen mit Brettern verschlagen.

Und in Hunderten von Städten Frankreichs lassen sich ungefähr die gleichen Thatsachen konstatiren. Auf mich haben sie besonders in Bourges und in Reims einen unvergeßlichen Eindruck gemacht. In beiden Städten fühlt man sich wie auf einsamen stillen Inseln, auf seltsamen vergessenen Ueberbleibseln einer längst untergegangenen Welt. Eine tiefe Wehmut umfängt den Geist an solchen Orten. Märchen aus uralten Zeit kommen einem hier nicht aus dem Sinn. Träume steigen auf und Gespenster.

Aber man ist auch ein moderner Mensch und hat nebenbei auch nüchterne Gedanken. Welcher Deutsche, der Paris kennen gelernt hat, beneidet nicht die Franzosen um diese Hauptstadt, um diesen Herd von unerschöpflichen materiellen und geistigen Lebenskräften? Wer aber dann die Provinzen sieht, mag von seinem Neid geheilt werden. Er sieht nun, wie Paris die Provinzen auffrißt, um sich damit zu mästen. Das ist also nicht das Herz des Landes. Denn je kräftiger der Herzschlag eines Körpers ist, desto reichlicher und gedeihlicher werden alle Teile des Organismus ernährt. Sie will aber auch gar nicht das Herz sein. Vielmehr vergleicht sie sich, wie schon ihr Name sagt, mit dem Haupt, dem Kopf, dem Hirn.

Und das Hirn darf am Ende schon, wenn ein Volk im geistigen Wettkampf der Nationen oben bleiben will, bis zu einem gewissen Grad auf Kosten der übrigen Teile die besten Kräfte des Organismus verbrauchen. Sofern nur diese Säfte an sich reichlich fließen, wird der Gesammtorganismus keinen Schaden nehmen. Das ist das Gesetz aller höheren Organisation. Je mehr Kraft vom Kopf auszugehen hat, um so mehr der Kräfte wird er absorbiren müssen. Schlimm ist es nur, wenn, wie man zu sagen pflegt, der Kopf nicht auf dem rechten Flecke sitzt, und zu bedauern wäre eine Nation, die in diesem Punkt, mit Recht oder Unrecht, an sich selber zweifelte.


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